Carl Wiemer

Konspiration des Schweigens

Du ein Arzt! An einem einzigen Patienten wärst
du zugrunde gegangen. Weh dir, wenn du ihn
nicht gerettet hättest!

(Elias Canetti: Das Geheimherz der Uhr)

Nach vorsichtigen Schätzungen werden Jahr für Jahr in den Krankenhäusern und Arztpraxen der Bundesrepublik ca. 100.000 Patienten versehrt. Angesichts dieser bemerkenswerten Statistik, die diese Einrichtungen mit zu den gefährlichsten Aufenthaltsorten im Land stempelt, wundert man sich, daß man nicht mehr hört über Fahrlässigkeit und Stümperei, über Geldgier und schlimmstenfalls auch Sadismus, denen alljährlich so viele zum Opfer fallen. Ein ehernes Tabu scheint über den Machenschaften eines ganzen Berufsstandes zu liegen. Sofern diese doch einmal zum Gegenstand der Debatte gemacht werden, geschieht dies in einer Sprache, die ihr Thema euphemistisch verfehlt, der Pfusch wird als ‘Kunstfehler’ sanktioniert. Der Gestaltungsweise eines Kunstwerks angenähert, bedeutete allerdings jeder chirurgische Eingriff ein Desaster, weswegen sich die besten Chirurgen als Handwerker begreifen.

Als fahrlässige geraten die Schlampereien von Ärzten selten, als vorsätzliche gar nicht in den Blick. Schon terminologisch bleiben die Verheerungen, die fehlgeschlagene Behandlungen zur Folge haben, in der Sphäre des tragischen Einzelfalls, der einem Ereignis höherer Gewalt angenähert wird. Wenn jedoch, nach Aussagen von Ärzten [ 1 ], etwa achtzig Prozent der in der Bundesrepublik praktizierenden Mediziner an ihren Kunden Behandlungen vornehmen, für die es keine ausreichende Begründung gibt, wenn gesunde Patienten aus Geldgier operiert und therapiert werden, dann ist die Grenze zur Fahrlässigkeit überschritten und statt des durch Fahrlässigkeit hervorgerufenen Kunstfehlers dreht es sich um vorsätzliche und mitunter schwere Körperverletzung. Es ist ein dringendes Gebot, daß diese Praxis vieler Ärzte aus dem Zwielicht terminologischer Verpuppung gerückt und unter klaren begrifflichen Bestimmungen besehen wird. Diese Bestimmungen müssen auch kriminalistischer Art sein. Nicht weniger verlangt das Heer der Versehrten, das deutsche Ärzte in juristisch sanktionierter Unverantwortlichkeit produzieren. Es ist das Recht eines jeden dieser Versehrten, nicht länger als bedauerlicher Einzelfall rubriziert, sondern als Exempel einer systematischen Produktion von Opfern betrachtet zu werden. Erst dieser Status machte seinen Fall zum Politikum. Er zeitigte daneben auch juridische Konsequenzen, indem er ihm eine Entschädigung für erlittene Versehrungen ebenso garantierte wie eine wirkungsvolle Bestrafung des Täters. Solange jedoch in der öffentlichen Diskussion das Märchen vom ‘Kunstfehler’ nachgebetet wird, solange also die Imago des Arztes unter den Bedingungen des bestehenden Gesundheitssystems nicht angetastet wird, wird die Diskussion wie immer bisher im Sande verlaufen. Unter diesen Umständen bleibt dem Versehrten die Abgeltung seiner zivil- und strafrechtlichen Ansprüche gegenüber dem Täter verwehrt. Neu ist nicht das Dilemma, daß Patienten oft Opfer ärztlicher Geldgier und Stümperei werden, aber neu muß die Perspektive sein, unter der dieses Dilemma betrachtet wird. Dabei ist es ein Ziel, die Verantwortlichkeit der Täter für ihr Tun herzustellen, wenn nötig, ihnen diese mit allen Mitteln beizubringen. Denn selbst im Fall einer zivilrechtlichen Entschädigung des Opfers kommt der Arzt strafrechtlich fast immer ungeschoren davon. Die Forderung, daß es mit der juristischen Toleranz gegenüber furchtbaren Ärzten ein Ende haben muß, ist alt. Aber ein Mißstand, wie schreiend er auch immer sei, muß nur lange genug existieren, um die Weihen des Ehrwürdigen und der Tradition zu empfangen. Bisher scheiterte jeder Versuch, wirksame Kontrollmechanismen im Gesundheitswesen einzuführen – nicht nur auf dem Sektor der Abrechnung ärztlicher Leistungen, sondern auch auf dem Feld des medizinisch Gebotenen – am Widerstand der beteiligten Lobbies von Ärzteverbänden und Pharmaindustrie, welche allesamt ein Interesse an der Aufrechterhaltung des status quo haben.

Das Krankenhaus ist in Deutschland ein hermetischer Raum, aus dem nichts herausdringt. Grund dafür ist die Konspiration des Schweigens, auf die sich der in ihm tätige Ärztestand geeinigt hat. Das racketförmige Verhalten funktioniert in ihm nach Maßgabe der Mechanismen, die Horkheimer geschildert hat. „Der ins Racket Aufgenommene ist gesichert, aber er ist ihm unbedingt verpflichtet. Hingegen hat er nach außen hin kein Gewissen und keine Verantwortung. Wehe ihm, wenn er die Regeln des Rackets bricht.“ (14/340) Das Soziotop der Ärzte signalisiert bereits nach außen seinen unverbrüchlichen Zusammenhalt. Die Insignien des Rackets sind weithin sichtbare Erkennungszeichen und sichern die Exklusivität der Clique, auf die der Korpsgeist niemals verzichten kann. Seine Elemente sind etwa die eigene Sprache (pseudowissenschaftliche Phraseologie), uniformiertes Auftreten (weißer Kittel) und der Name, zu dessen Bestandteil der Doktortitel wird. All das sind Bausteine der undurchdringlichen Wand, gegen die zunächst einmal jeder Patient rennt, der in einem Krankenhaus versehrt worden ist. Diese Erfahrung ist wie nichts sonst dazu angetan, den Versehrten resignieren zu lassen. Die opaken Strukturen des Medizinbetriebs und die innige Verbundenheit von Ärzten sowie den ständischen Organisationen, in denen diese zusammengefaßt sind (Ärztekammern, Kassenärztliche Vereinigung, Hartmannbund), verleihen diesen den Status von geheimbündlerischen Vereinigungen. Beschweigen von Pfusch, Verschwindenlassen von belastendem Material, Erstellen von Gefälligkeitsgutachten haben Ärzte und die an den Ärztekammern damit befaßten Gutachterkommissionen nur zu oft zum Komment ihrer Zunft gemacht. Jeder Angriff gegen ein einzelnes Racketmitglied wird als Anschlag auf den gesamten Clan gewertet. Nur so ist es möglich, daß das massenhafte Fälschen von Abrechnungen und die geläufige Durchführung von überflüssigen Behandlungen sowie die Verstümmelungen durch fehlgeschlagene Operationen so selten ans Licht der Öffentlichkeit gelangen. Das Komplott des Kartells treibt manchmal seltsame Blüten, die, sobald sie auftreten, Gegenstand allgemeiner Belustigung sind und doch nur die quasi-kriminellen Praktiken des Syndikats bloßlegen. Hin und wieder geschieht es, daß sich ein Hauptmann von Köpenick den weißen Kittel überstreift, einige Zeugnisse fälscht und so ohne jede medizinische Ausbildung in Amt und Würden eines Arztes gelangt. Sofern ihm dies einmal gelungen ist, ist er für Jahre vor Entdeckung sicher. Was in keiner anderen Branche auf Dauer gutgehen könnte, funktioniert im Medizinbetrieb sehr wohl, denn Inkompetenz und Stümperei sind hier weniger als anderswo ein Hindernis für die Karriere. Zudem ist der Zusammenhalt derer, die einmal den Initiationsritus durchlaufen haben, derart unverbrüchlich, daß sich ein Arzt kaum je finden wird, der sich über die Unkenntnis eines Kollegen empörte. Das verbietet schon die Strenge des Verhaltenskodex, der innerhalb des Rackets kollegiales Einvernehmen fordert. So sind es meistens dumme Zufälle, die den Hochstapler im Arztkittel auffliegen lassen, niemals Proteste der Kollegen. Denn diese wissen, daß der Unterschied zwischen einem Nachtwächter, der den Arzt spielt, und einem Arzt, der allenfalls zum Nachtwächter taugt, so groß nicht ist.

In der Diskussion, die alle Jahre wieder in Presse und TV geführt wird, ist fast ausschließlich von den ökonomischen Verheerungen ärztlicher Abrechnungsvirtuosität die Rede. Als ledigliche Abrechnungsbetrüger sind Ärzte nicht besser oder schlechter als andere Diebe auch. Erst indem sie die körperliche Unversehrtheit ihrer Patienten in Mitleidenschaft ziehen, werden aus Trickbetrügern mehr als Kleinkriminelle. Jedermann weiß inzwischen, daß die deutschen Ärzte es durch den routinemäßig betriebenen Abrechnungsbetrug geschafft haben, das Gesundheitssystem zum Kollabieren zu bringen. Den Schaden ihrer Unersättlichkeit tragen aber weniger sie selbst als ihre Patienten. Das ökonomische Paradox, das auf deren Rücken ausgetragen wird, lautet: Was sich betriebswirtschaftlich rechnet, stellt volkswirtschaftlich und medizinisch eine Katastrophe dar. Das deutsche Krankenversicherungssystem entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als gigantisches Ausbeutungssystem gegenüber den Versicherten, indem es dem besinnungslosen und blindwütigen Therapieren und Operieren Vorschub leistet. Für jeden Versicherten ist dieses System ein Gesundheitsrisiko, denn gesund ist schließlich nur ein Mensch, der nicht ausreichend untersucht wurde. Die Sicherheit, in der sich der Beitragszahler vor Versehrung geschützt wähnt, ist trügerisch. Die Chance, im Laufe seines Lebens als Versicherter selbst Opfer einer ärztlichen Fehldiagnose, einer Stümperei, eines Behandlungsfehlers zu werden, grenzt an Wahrscheinlichkeit, denn die Medizin neigt dazu, alles, was sie untersucht, zu pathologisieren. Und wenn ein Großteil der Behandlungen nicht indiziert ist, ebenso wie so manche Computertomographie und Röntgenaufnahme (nach Aussage der Deutschen Röntgengesellschaft ist gut die Hälfte der hierzulande vorgenommenen Röntgenuntersuchungen überflüssig. Laut einem Bericht der Süddeutschen Zeitung vom 3. 8. 2000 ist die Strahlenbelastung der Bevölkerung in den vergangenen Jahren um ein Viertel gestiegen und damit deutlich höher als in den europäischen Nachbarländern, schätzungsweise würden bis zu 50.000 Menschen jährlich an Krebs erkranken, weil sie Jahre zuvor durch medizinische Untersuchungen mit Röntgenstrahlen belastet wurden. Strahlenschützer werfen Ärzten vor, sie gefährdeten die Gesundheit ihrer Kunden, indem sie der Amortisierung der Diagnosegeräte Vorrang einräumten.), so mutet man seinem Körper einiges zu, um in den Genuß von Leistungen zu kommen, die einem als eifrigem Beitragszahler und Mitglied der Versichertengemeinschaft zustehen.

Die Lage des Patienten ist in ökonomischer Hinsicht betrüblich, in medizinischer gefährlich und in juristischer aussichtslos. Daß die bis zu ihrem Ende gegen Krankheit Versicherten nicht nur die Zeche des gängigen Abrechnungsbetrugs zu zahlen haben, sondern auch noch im Fall ihrer von Ärzten begangenen Versehrung de facto der Rechtlosigkeit preisgegeben sind, ist ein Skandal, den keine Rechtsordnung verschmerzen kann, ohne an ihrem Begriff zu freveln. Die Versichertengemeinschaft, also eine Allgemeinheit, auszubeuten, mag hingenommen werden, da alle gleichermaßen geschädigt werden, was bereits eine Form von höherer Gerechtigkeit bezeichnet. So erlaubt die Gemeinschaft der Versicherten das wohlige Gefühl des kollektiven Betrogenseins. Als Betrogene wenigstens sind die Versicherten einander Brüder. Als Patienten, die bis zu ihrer Versehrung behandelt werden, sind sie Opfer. Opfer sind aber immer nur Einzelne. Es gibt kein Kollektiv von Opfern. Nur Einzelne, wieviele diese auch immer sein mögen, zahlen den höchsten Preis mit ihrer Gesundheit, ihrer Unversehrtheit, manchmal mit ihrem Leben. Als Opfer werden sie aus dem Kollektiv der Betrogenen ausgeschlossen. Das Kollektiv der betrogenen Versicherten ist die Gemeinschaft derer, die noch einmal mit ihrer Gesundheit davongekommen sind und mit ihren Zahlungen zum Fortbestand des korrupten Gesundheitswesens beitragen. Das merkt das Opfer dann, wenn das Unheil es ereilt hat. Es gerät in ein undurchdringliches Gestrüpp ärztlicher Kumpanei und Kameraderie – in der philiströsen Kategorie des ‘Kollegen’ meldet sich bereits der mafiose Klüngel der pressure-group an. Wiederkehrend etwa in der Formel ‘Mit kollegialen Grüßen“, die unter Ärzten gebräuchlich ist – und oft macht es zum erstenmal jene Erfahrung, die der macht, welcher als Einzelner einer gesetzwidrigen Vereinigung gegenübersteht, nämlich die Erfahrung der Ohnmacht und Hilflosigkeit gegenüber einem mächtigen Syndikat, dessen Mitglieder sich gegenseitig decken. Das Opfer wird aber nicht nur von den Versicherten und den Versicherungen im Stich gelassen, sondern auch von den Rechtsorganen des Staates, die in der Bundesrepublik lächerlich geringe Beträge für den Fall eines nachgewiesenen Behandlungsfehlers vorsehen. Im Normalfall kann das Opfer jedoch nicht einmal diese unangemessene Entschädigung von einem Zivilprozeß erwarten. Daß der Staat es durch seine Rechtsorgane zuläßt, daß der einzelne Versehrte, dessen Gesundheit oft unwiderruflich geschädigt ist, der Schutzlosigkeit preisgegeben wird, ist eine Niederträchtigkeit, der gegenüber der volkswirtschaftlich angerichtete Schaden eine vernachlässigbare Größe darstellt.

aus: Carl Wiemer, Krankheit und Kriminalität: Max Horkheimer und das Racket der Ärzte, Freiburg (ça ira-Verlag) 2001.


Anmerkungen

[ 1 ] Vgl. dazu das aufschlußreiche, anonym verfaßte Bekenntnisbuch Patient Nebensache. Aus dem Tagebuch eines Kassenarztes, München 1997. Darin findet sich auch Horkheimers Beschreibung des Ärzterackets als „Clique von Kriminellen“ wieder. Vgl. ebd., S. 36.

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