Vierter Abschnitt: Die Produktion des relativen Mehrwert

10. Kapitel

Begriff des relativen Mehrwerts

Die Mehrwertrate, die im Produktionsprozeß als Verhältnis der Mehrarbeit zur notwendigen Arbeit existiert, kann bei festgesetztem Arbeitstag nur durch die Verringerung der notwendigen Arbeitszeit gesteigert werden:

"Der Verlängrung der Mehrarbeit entspräche die Verkürzung der notwendigen Arbeit, oder ein Teil der Arbeitszeit, die der Arbeiter bisher in der Tat für sich selbst verbraucht, verwandelt sich in Arbeitszeit für den Kapitalisten. Was verändert, wäre nicht die Länge des Arbeitstags, sondern seine Teilung in notwendige Arbeit und Mehrarbeit." (MEW 23/331 ff)

Da die notwendige Arbeitszeit - die Zeit, die zur Reproduktion des Werts der Arbeitskraft aufgebracht werden muß - durch den Wert der notwendigen Lebensmittel bestimmt ist, muß das Kapital die Zeit verkürzen, die zur Produktion dieser Lebensmittel gesellschaftlich aufgewandt wird, was eine Erhöhung der Produktivkraft der Arbeit erfordert:

"Eine solche Senkung des Werts der Arbeitskraft um 1/10 bedingt aber ihrerseits, daß dieselbe Masse Lebensmittel, die früher in 10, jetzt in 9 Stunden produziert wird. Dies ist jedoch unmöglich ohne eine Erhöhung der Produktivkraft der Arbeit… Es muß daher eine Revolution in den Produktionsbedingungen seiner Arbeit eintreten, d.h. in seiner Produktionsweise und daher im Arbeitsprozeß selbst. Unter Erhöhung der Produktivkraft der Arbeit verstehn wir hier überhaupt eine Verändrung im Arbeitsprozeß, wodurch die zur Produktion einer Ware gesellschaftlich erheischte Arbeitszeit verkürzt wird, ein kleinres Quantum Arbeit also die Kraft erwirbt, ein größres Quantum Gebrauchswert zu produzieren." (MEW 23/333)

Weil es dem Kapital auf die Veränderung der Mehrwertrate ankommt, verwendet es die Zwangs‑ und Rechtstitel auf fremde Arbeit, die die ihm gehörigen Produktionsmittel darstellen, als Mittel, seinem Zweck gemäß den Produktionsprozeß selbst zu verändern. Die Abhängigkeit des Kapitals von der Natur der Ware Arbeitskraft gibt also den Grund ab, das Verfügungsrecht über die Produktionsbedingungen auszunutzen und durch die Veränderung der konkreten Arbeit die Arbeitskraft seinem Verwertungsdrang gemäß zu machen:

"Es muß die technischen und gesellschaftlichen Bedingungen des Arbeitsprozesses, also die Produktionsweise selbst umwälzen, um die Produktivkraft der Arbeit zu erhöhn, durch die Erhöhung der Produktivkraft der Arbeit den Wert der Arbeitskraft zu senken und so den zur Reproduktion dieses Werts notwendigen Teil des Arbeitstags zu verkürzen. Durch Verlängrung des Arbeitstags produzierten Mehrwert nenne ich absoluten Mehrwert; den Mehrwert dagegen, der aus Verkürzung der notwendigen Arbeitszeit und entsprechender Verändrung im Größenverhältnis der beiden Bestandteile des Arbeitstags entspringt - relativen Mehrwert." (MEW 23/334)

Doch wirkt die Produktivitätssteigerung als Mittel der Verwohlfeilerung der Ware Arbeitskraft nur in Industriezweigen,

"deren Produkte den Wert der Arbeitskraft bestimmen, also entweder dem Umkreis der gewohnheitsmäßigen Lebensmittel angehören oder sie ersetzen können",

bzw. in Industrien,

"welche die stofflichen Elemente des konstanten Kapitals, die Arbeitsmittel und das Arbeitsmaterial, zur Erzeugung der notwendigen Lebensmittel liefern." (MEW 23/334)

Zudem senkt die wohlfeilere Ware dieser Industrien

"den Wert der Arbeitskraft nur pro tanto, d.h. nur im Verhältnis, worin sie in die Reproduktion der Arbeitskraft eingeht." (MEW 23/334)

Der Zweck - Senkung der notwendigen Arbeitszeit - dessentwegen das Kapital die Produktivität beständig zu steigern sucht, ist also nicht identisch mit dem Resultat der vergrößerten Produktivität in jedem einzelnen Fall. Doch ändert diese Beschränkung in der Wirkung von Produktivitätssteigerungen nichts daran, daß sie als Mittel des Kapitals fungieren und insofern eine allgemeine Notwendigkeit des Kapitals darstellen, weshalb Marx dies Resultat hier so behandelt,

"als wäre es unmittelbares Resultat und unmittelbarer Zweck in jedem einzelnen Fall' (MEW 23/335)

Wenn die Produktivitätssteigerung als Mittel zur Erhöhung der Mehrwertrate nicht unmittelbar zusammenfällt mit der Verwohlfeilerung des. Werts der Arbeitskraft, dann wird sie auch nicht vorgenommen mit dem ausdrücklichen Zweck der Senkung von v, sondern erfolgt aufgrund Von Zwängen, die sich den Kapitalisten bei ihrem Bemühen um die Vergrößerung des Mehrwerts unabhängig von dem Verhältnis der beiden Teile des Arbeitstages mitteilen. Die allgemeine Notwendigkeit wird im Handeln der Einzelkapitalisten exekutiert, ohne daß sie auf die Verringerung von v reflektieren. Ihr willentliches und bewußtes Tun entspringt den Gesetzen der Konkurrenz, auf die MARX hier hinweist, obgleich ihre Behandlung außerhalb der Ableitung des Mehrwerts ihren Platz hat:

"Die allgemeinen und notwendigen Tendenzen des Kapitals sind zu unterscheiden von ihren Erscheinungsformen" (MEW 23/335)[1]

Der Vorteil für den Einzelkapitalisten, den er mit seinem Handeln bezweckt, liegt in der Wirkung jeder Produktivitätssteigerung auf den Warenwert - sie senkt den Wert der Waren -: Diese Senkung der zur Produktion der Waren notwendigen Arbeitszeit stellt ihn im Vergleich zum gesellschaftlichen Durchschnitt besser:

"Der individuelle Wert dieser Ware steht nun unter ihrem gesellschaftlichen Wert, d.h. sie kostet weniger Arbeitszeit als der große Haufen derselben Artikel, produziert unter den gesellschaftlichen Durchschnittsbedingungen." (MEW 23/336),

was dem Kapitalisten ermöglicht, seine Ware über ihrem individuellen Wert zu verkaufen.

Unabhängig davon, in welchen Formen sich die Konkurrenz abspielt[2], wie in der Kalkulation des Kapitalisten die Produktivitätssteigerung als ein Mittel für die Erhöhung des Gewinns erscheint, kann also MARX aus der Senkung der individuell auf das Produkt verwandten Arbeitszeit begründen, daß über den Vergleich der Waren auf dem Markt ein Vorteil für den Einzelkapitalisten existiert. Das Motiv, die Produktivität in seinem Arbeitsprozeß über den gesellschaftlichen Durchschnitt zu heben, ergibt sich für jeden Einzel-Kapitalisten aus der Differenz zwischen dem wirklichen, also gesellschaftlichen und dem individuellen Wert der Produkte, die ihm einen Extramehrwert verschafft:

"Diese Steigerung des Mehrwerts findet für ihn statt, ob oder ob nicht seine Ware dem Umkreis der notwendigen Lebensmittel angehört und daher bestimmend in den allgemeinen Wert der Arbeitskraft eingeht. Vom letztren Umstand abgesehn, existiert also für jeden einzelnen Kapitalisten das Motiv, die Ware durch erhöhte Produktivkraft der Arbeit zu verwohlfeilern." ( MEW 23/336)[3]

Dieser Extramehrwert resultiert letztlich daraus, daß die produktivere Arbeit im Vergleich mit gesellschaftlicher Durchschnittsarbeit derselben Art als potenzierte Arbeit gilt, d.h. sich in einem höheren Wertprodukt darstellt, wodurch sich die zur Reproduktion des Werts der Ware Arbeitskraft notwendige Zeit verkürzt. Jeder Kapitalist

"tut im einzelnen, was das Kapital bei der Produktion des relativen Mehrwerts im großen und ganzen tut." (MEW 23/337)

Doch ist der Grund für den Extramehrwert, die Differenz in der Produktivkraft konkurrierender Kapitale, zugleich der Grund dafür, daß er wieder verschwindet,

"sobald die neue Produktionsweise sich verallgemeinert und damit die Differenz zwischen dem individuellen Wert der wohlfeiler produzierten Ware und ihrem gesellschaftlichen Wert verschwindet." (MEW 23/337)

In dieser Ausgleichung des individuellen Vorteils ist aber die Durchsetzung der allgemeinen Tendenz des Kapitals eingeschlossen, denn wenn durch das "Zwangsgesetz der Konkurrenz" die neue Produktionsweise sich in denjenigen Produktionszweigen durchsetzt, in denen die Lebensmittel produziert werden, ist die Mehrwertrate affiziert:

"Die allgemeine Rate des Mehrwerts wird also durch den ganzen Prozeß schließlich nur berührt, wenn die Erhöhung der Produktivkraft der Arbeit Produktionszweige ergriffen, also Waren verwohlfeilert hat, die in den Kreis der notwendigen Lebensmittel eingehn, daher Elemente des Werts der Arbeitskraft bilden." (MEW 23/338)

Mit der Wirkung der Produktivitätssteigerung auf den Wert der Waren, die erklärt, inwiefern die Produktion von relativem Mehrwert durch Produktivkraftsteigerung allgemeine Tendenz des Kapitals ist, obgleich sie die notwendige Arbeitszeit nur senkt, wenn sie den Kreis der Lebensmittel des Arbeiters tangiert, ist auch der Widerspruch des Kapitals bezeichnet, den ihm diese Methode der Mehrwertproduktion aufzwingt:[4]

"Da nun der relative Mehrwert in direktem Verhältnis zur Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit wächst, während der Wert der Waren in umgekehrtem Verhältnis zur selben Entwicklung fällt, da also derselbe identische Prozeß die Waren verwohlfeilert und den in ihnen enthaltenen Mehrwert steigert, löst sich das Rätsel, daß der Kapitalist, dem es nur um die Produktion von Tauschwert zu tun ist, den Tauschwert der Waren beständig zu senken strebt, ein Widerspruch, womit einer der Gründer der politischen Ökonomie, Quesnay, seine Gegner quälte und worauf sie ihm die Antwort schuldig blieben." (MEW 23/338 ff)

Das Kapital ist gezwungen, zum Zweck der Mehrwertproduktion durch ständige Weiterentwicklung der Produktivkräfte den Wert der Waren zu senken und damit beständig die Basis seines Reichtums zu schmälern, den es zu vermehren strebt. Damit erklärt sich auch, daß die Tendenz des Kapitals, die zur Herstellung der Waren notwendige Arbeitszeit zu verringern, nicht darauf abzielt, den Arbeitstag durch Ökonomie der Arbeit zu verkürzen. Im Gegenteil:

"Sie bezweckt nur Verkürzung der für Produktion eines bestimmten Warenquantums notwendigen Arbeitszeit." (MEW 23/339)

"Die Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit, innerhalb der kapitalistischen Produktion, bezweckt, den Teil des Arbeitstages, den der Arbeiter für sich selbst arbeiten muß zu verkürzen, um grade dadurch den andren Teil des Arbeitstages, den er für den Kapitalisten umsonst arbeiten kann, zu verlängern." (MEW 23/340)

Da sich also durch die Produktivitätssteigerung, durch die Unterwerfung des Arbeitsprozesses selbst unter das Kapital, der Zweck der relativen Mehrwertproduktion realisiert, muß sich die Untersuchung im folgenden auf die Veränderungen des Produktionsprozesses richten, die als besondere Methoden der relativen Mehrwertproduktion fungieren, unabhängig davon, wie sich die Wirkung der jeweils auf besondere Weise erreichten Produktivitätssteigerung durchsetzt. Die Behandlung dieser Produktionsmethoden liefert auch die Erklärung für die Fälle, wo relativer Mehrwert ohne Verwohlfeilerung der Waren erreicht wird:

"Wieweit dies Resultat auch ohne Verwohlfeilerung der Waren erreichbar, wird sich zeigen in den besondren Produktionsmethoden des relativen Mehrwerts, zu deren Betrachtung wir jetzt übergehn." (MEW 23/340)

Fußnoten:

[1] Die Hinweise auf die Mechanismen der Konkurrenz, die MArx hier gibt, sind also weder ein gelungener Exkurs zur Methode seiner Darstellung noch die Preisgabe der Scheidung zwischen Gesetzen des Kapitals und deren Durchsetzung der Oberflächenbewegung, der Konkurrenz. Sie sind eine aus den Bestimmungen des relativen Mehrwerts heraus notwendige Schlußfolgerung auf diese Differenz. In der ihr eigentümlichen Widersprüchen zeigt die Produktion des relativen Mehrwerts, daß sie im Bewußtsein und Handeln derer, die sie vollziehen und an ihr interessiert sind, anders erscheint denn als Notwendigkeit zur Senkung der notwendigen Arbeitszeit. Der Auffassung von Rosdolsky(Zur Entstehungsgeschichte […], I, 26), der Projektgruppe Entwicklung des Marxschen Systems/PKA u.a., die in solchen und anderen Stellen (Geld, Mehrwert, Kredit […]) seine Aufgabe des Aufbauplans, ein Hereinnehmen der Konkurrenz in das "Kapital" sehen möchten, widerspricht nicht nur die von ihnen selbst kontastierte Differenz beider Gegenstände - Gesetze des Kapitals und Formen ihrer Durchsetzung - ohne die sie die "Vermischung" im "Kapital" gar nicht feststellen könnten. Daß Marx die Formen der Konkurrenz nicht zum Gegenstand seiner Betrachtung macht, erhellt z.B. hier daraus, daß er explizit eine Erklärung vorbringt "auf Grundlage der bereits gewonnen Resultate" und die Kategorien des Extramehrwerts, der Differenz zwischen individuellem und gesellschaftlichem Wert aufführt, um das Vorhandensein eines Interesses an der Produktivitätssteigerung seitens der Einzelkapitalisten zu demonstrieren: "Die Art und Weise, wie die immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktion in der äußern Bewegung der Kapitale erscheinen, sich als Zwangsgesetze der Konkurrenz geltend machen und daher als treibende Motive dem individuellen Kapitalisten zum Bewußtsein kommen, ist jetzt nicht zu betrachten, aber soviel erhellt von vornherein: Wissenschaftliche Analyse der Konkurrenz ist nur möglich, sobald die innere Natur des Kapitals begriffen ist[…]"(MEW 23/335). Leuten die selbst an solchen Stellen scheitern, wird die "wissenschaftliche Analyse der Konkurrenz" nie möglich sein!

[2] Vgl. hierzu Resultate 5: "Industrielles Kapital, Konkurrenz der Kapitalisten und die Folgen"!

[3] Vgl. dazu Marx, Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses/63 ff:
"Produktivität der Arbeit überhaupt = Maximum von Produkt mit Minimum von Arbeit, daher möglichst Verwohlfeilerung der Waren. Dies wird zum Gesetz, unabhängig vom Willen des einzelnen Kapitalisten, in der kapitalistischen Produktionsweise […] Ihr (der kapitalistischen Produktion) Zweck, daß das einzelne Produkt etc. möglichst viel unbezahlte Arbeit enthalte, und dies nur erreicht durch die Produktion um der Produktion willen. Es tritt dies einerseits als Gesetz auf, soweit der Kapitalist, der auf zu kleiner Stufenleiter produziert, mehr als das gesellschaftlich notwendige Quantum Arbeit in den Produkten verkörpern würde. Es tritt also als adäquate Ausführung des Wertgesetzes auf, das sich erst vollständig entwickelt auf Grundlage der kapitalistischen Produktionsweise. Aber er tritt andererseits als Trieb des einzelnen Kapitalisten auf, der um dies Gesetz zu durchbrechen, oder es zu seinem eigenen Vorteil zu überlisten, den individuellen Wert seiner Ware unter ihren gesellschaftlich bestimmten Wert zu senken sucht:"

[4] Vgl. GR/593:
"Das Kapital ist selbst der prozessierende Widerspruch (dadurch). daß es die Arbeitszeit auf ein Minimum zu reduzieren strebt, während es andrerseits die Arbeitszeit als einziges Maß und Quelle des Reichtums setzt. Es vermindert die Arbeitszeit daher in de, Form der notwendigen, um sie zu vermehren in der Form der überflüssigen; setzt daher die überflüssige in wachsendem Maß als Bedingung ‑ question de vie et de mort ‑ für die notwendige. Nach der einen Seite hin ruft es also alle Mächte der Wissenschaft und der Natur, wie der gesellschaftlichen Kombination und des gesellschaftlichen Verkehrs ins Leben, um die Schöpfung des Reichtums unabhängig (relativ) zu machen von der auf sie angewandten Arbeitszeit. Nach der andren Seite will es diese so geschaffnen riesigen Gesellschaftskräfte messen an der Arbeitszeit, und sie einbannen in die Grenzen, die er heischt sind, um den schon geschaffnen Wert als Wert zu erhalten."