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01 Zum Tod Johannes Agnolis
From: wadi_wien@hotmail.com
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Johannes Agnoli ist am Sonntag im Alter von 78 Jahren in Lucca
gestorben. Aus diesem Anlaß nachstehendes Gespräch über Kommunismus,
Osso buco und was ihm sonst noch wichtig war.
Die Werke von Johannes Agnoli sowie zwei Festschriften zu seinem 70.
und 75. Geburtstag sind im Freiburger Ça ira Verlag erschienen.
Ebendort wird demnächst auch der Sammelband "Transformation des
Postnazismus" herauskommen, der Agnolis Vortrag "Die Verhärtung der
politischen Form. Das Kapital und die Zukunft des Faschismus am Ende
der liberaldemokratischen Epoche" enthalten wird, den er im April
2001 in Wien bei dem Kongreß "Vom Postfaschismus zum demokratischen
Faschismus" gehalten hat.

Die Zerstörung des Staates mit den Mitteln des Marxismus-Agnolismus
Johannes Agnoli im Gespräch mit Joachim Bruhn
Joachim Bruhn: Lenin hat eimal auf die Frage, was Revolutionäre in
nicht-revolutionären Zeiten tun sollten, gemeint, sie hätten sich in
"Geduld und Theorie" zu üben; Du dagegen sagst, es ginge um Geduld
und Ironie. Ist das nicht eine Methode, es sich, wenn auch in
Grenzen, angenehm zu machen? Wie kommt es, daß Du einerseits ein mit
vielen Wassern der Dialektik gesalbter Staatsfeind bist, andererseits
aber von der Hans-Seidel-Stiftung der CSU bis hin zu Walter Momper
von allen hofiert wirst - soweit, daß der "Stern" Dich in seiner
Titelgeschichte "Zwanzig Jahre '68" als Hofnarren der Revolution
denunzierte? Hat die Ironie über die Theorie gesiegt? Macht Dich das
so angenehm?
Johannes Agnoli: Warum denn nicht? Daß ein Revolutionär immer mit
bitterböser Visage herumlaufen soll, ist eine überkommene
mitteleuropäische Tradition, die keineswegs zu dem Bild paßt, das ein
authentischen Revolutionär abgeben sollte. Man braucht doch kein
Jesuit, Jakobiner oder Bolschewik sein, bloß weil man vorhat, den
Staat zu zerstören. Der echte Revolutionär muß sich immer einen Rest
von Ironie und Selbstironie bewahren. Der Kommunismus ist wichtig,
aber Osso buco ist auch nicht ohne. Daß es ein breites politisches
Spektrum ist, mit dem ich bekannt bin, also von der Seidel-Stiftung
bis zu Momper, stört mich nicht weiter. Der Kontakt zur
Seidel-Stiftung kam Durch eine Einladung zustande - und das war dann
auch das erste und letzte Mal, daß ich dort erwünscht war; und Walter
Momper hat meine Seminare besucht und dann, was Durchaus zur
menschlichen Freiheit gehört, aus meinen Ausführungen die falschen
Schlußfolgerungen gezogen.
J.B: Gegen die deutschvölkische Neigung zum Moralisieren und zum
Rauchverbot vorzugehen, ist gerade in der Linken geboten. Schließlich
soll der Kommunismus kein schönes, wahres, gutes Prinzip
verwirklichen, sondern Osso buco für alle. Mir ging es aber um die
Ironie. Ist sie nicht die humorige Variante der Skepsis? Ich
erinnere, daß Dir Ekkehard Krippendorff einmal in der "taz" mit den
Worten "Ein Agnolist wird 60" zum Geburtstag gratuliert hat. Was tust
Du, wenn Dir die Organisationsfrage gestellt wird? Bist Du
organisierbar?
J. A.: Nein, ich bin nicht organisationsfähig, Und eigentlich müßte
in der "taz" auch gestanden haben -- wenn es das nicht tat, hole ich
es hiermit nach -, daß in dem Moment, in dem der
Marxismus-Agnolismus, den ich vertrete, zum politischen Programm
irgendeiner Gruppe erhoben würde, ich sofort aus meiner eigenen
Theorie austrete, sozusagen. Was das Organisieren anbelangt, habe ich
eigentümlicherweise ja doch etwas geschaffen oder mitgeschaffen: die
Novembergesellschaft und den Republikanischen Club in Berlin. Allen
Vereine, in denen ich sonst gewesen bin, haben mich immer nach zwei,
drei Jahren ausgeschlossen.
J.B.: Sogar in der SPD warst Du als selbstironisches Mitglied?
J. A.: Ja, und man hat mich nach drei, vier Jahren wieder
ausgeschlossen. 1957 bin ich eingetreten, 1961 war ich schon wieder
draußen.
J.B.: Wie kamst Du überhaupt auf die Idee, Sozialdemokrat zu werden?
J. A.: Das war nicht schwer. Bei den Bundestagswahlen 1957 hatte
Adenauer die absolute Mehrheit gewonnen. Und da saßen wir in Tübingen
und waren der Meinung, daß man sich gegen diese CDU-Übermacht
betätigen sollte. Ich bin also 1957 der SPD beigetreten, 1958
begannen dann die Diskussionen um das zum Godesberger Programm, und
dann wurde ich Mitglied einer Arbeitsgruppe des Ortsvereins Tübingen,
die die Aufgabe hatte, ein Gegenprogramm zu entwickeln. Und da haben
wir mit dem SDS zusammengearbeitet, es gab also die Allianz SPD-SDS.
In dieser Gruppe war übrigens auch die Assistentin von Ernst Bloch,
die mit ihm von Leipzig nach Tübingen gekommen war. Diesen Entwurf
reichten wir dann zum Godesberger Parteitag ein,- zusammen mit
anderen Gegenentwürfen, u.J. A. dem von Wolfgang Abendroth aus
Marburg. Ich war übrigens damals Gastdelegierter auf dem Godesberger
Parteitag...
J.B.: Das ist es ja, diese Deine bemerkenswerte Gabe, die man oft in
der Halbwelt findet, sich in jedem Milieu bewegen zu können, egal ob
Parteitag oder Häuserkampf, ob als SPD-Delegierter oder auf
Kongressen der italienischen Sozialisten.
J. A.: Langsam, langsam. Ich war nicht SPD-Delegierter. Ich wurde
nicht etwa vom Ortsverein Tübingen per Wahl zum Delegierten ernannt,
sondern ich bin einfach hingefahren und habe mir eine Gästekarte
geben lassen. Also war ich ein selbsternannter Gastdelegierter. Und
bei dem Kongreß der italienischen Sozialisten 1962 -- das fällt mir
nur jetzt ein, weil Du mir unterstellst, auf allen Hochzeiten zu
tanzen -- habe ich mich auch, mit meiner Frau Barbara zusammen, zum
Gastdelegierten gemacht. Und Du mit Deinem moralistischen, typisch
deutschen Eifer, der im Satz von den vielen Hochzeiten steckt, läßt
unter den Tisch fallen, daß dabei ich meine sozialistische Identität
nie aufgegeben habe.
J.B.: Was heißt denn hier Identität? Gelegentlich einer Diskussion
über Menschenrechte in Berlin habe ich den Verdacht gewonnen, daß Du
gerne von Deiner "Generallinie" abweichst. Du hast sie programmatisch
mit Deinem Aufsatz "Von der Kritik der Politikwissenschaft zur Kritik
der Politik" formuliert, nimmst aber oft eine ambivalente Haltung
ein, indem Du einerseits den Politikwissenschaftlern die Kritik der
Politik um die Ohren haust, und andererseits denjenigen, die die
Kritik der Politik betreiben, als Politikwissenschaftler
entgegentrittst, der über das Erbe der bürgerlichen Aufklärung
doziert.
J. A.: Ganz genau. Weil ich es auf jeden Fall für unproduktiv halte,
wenn man in einem Streitgespräch mit einem Konservativen, einem
Sozialdemokraten oder einem anderen Vertreter des bürgerlichen
Staates fundamentalistisch argumentiert. Ich bin eher der Meinung,
daß es notwendig ist, mit den Waffen der anderen zu arbeiten. Die
pauschale, kategorische, geradezu kategoriale Ablehnung mag einen als
Sieger aus dem Disput hervorgehen lassen, aber die Sache bringt das
nicht voran.
J.B.: Ironie als Zersetzung des Konsensus von innen, immanente Kritik also?
J. A.: Nein, nicht immanent, sondern von innen her, das ist etwas
anderes. Immanente Kritik bedeutet, daß man für das System ist.
J.B. Nein, immanent im Sinne der Kritischen Theorie, d.h. daß
unterstellt werden muß, im Gegenstand der Kritik sei ein Rest
objektiver Vernunft präsent, und dies als Selbstschutz unterstellt,
als Vergewisserung eines Allgemeinen, das den Kritiker davor schützen
soll, zum pathologischen Fall, zum Querulanten zu werden. Diese
Teilhabe an objektiver Vernunft allerdings dem Kapital und seinem
Staat zu unterstellen, wie es die Marxisten tun, ist Projektion,
Ideologieproduktion ...
J. A.: Das sind Widersprüche...
J. B.: ... ist Rationalisierung, indem das Allgemeine, nur weil es
eben allgemein ist, irgendwie am Wesen der Gattung partizipiert, d.h.
an einen Rest von wie auch immer kommunismusträchtiger Zukunft
verwaltet. Siehe nur die gängige Kritik an den Menschenrechten, wo
plötzlich die resolutesten Autonomen reden, als wären sie eine
Untergruppe von amnesty international; sind sie dann ja auch. Wenn es
zum Beispiel um die Grundrechte geht, um die Menschenrechte, dann
sagt man gemeinhin, daß es die historische Mission des Kommunismus
ist, die Verheißungen der bürgerlichen Revolution einzulösen. Das
wäre dann die immanente Kritik, d.h. Apologie im höheren Sinne. Und
die Kritik von innen?
J. A.: Darüber will ich schon hinausgehen, denn es geht meines
Erachtens nicht nur darum zu beurteilen, welche Errungenschaft einen
auch revolutionären Charakter haben, also, hegelisch gesprochen,
nicht nur etwas Partielles haben, das nur für eine Klasse oder Gruppe
Gültigkeit besitzt oder Vorteile bringt, sondern wirklich
verallgemeinerbar ist. Denn ich bin keineswegs der Ansicht, daß --
und damit komme ich auf das zu sprechen, was ich mit Doktrinalismus
meine -- daß alles, was die bürgerliche Revolution hervorgebracht
hat, abzuschaffen ist, daß alles, was das Christentum gemacht hat,
teuflisch ist. Man muß schon sehen, daß wir, wenn wir in unseren
"Blütenträumen", wie Goethe zu sagen pflegte, von der Assoziation der
Freien und Gleichen sprechen, wir nicht gleichzeitig damit die
Freiheit der Meinungsäußerung als Errungenschaft der bürgerlichen
Revolution abwerten oder gar abschaffen wollen.
J.B.: Das Recht auf die freie Meinung ist doch die Kehrseite zur
Verpflichtung auf nichts als Ideologie; wie stets im Staat: gleiche
Rechte, gleiche Pflichten. Es geht doch nicht um die Freiheit zum
Gewerbe, sondern um die Befreiung von der Meinung. Die freie
Assoziation wird das subjektive Denken aus der Rechtsform
emanzipieren, d.h. es wahrheitsfähig machen. Und Du weißt am besten,
daß Hegel, den Du so sehr schätzt, von Begriff wie Sache der Meinung
keine besonders gute Meinung hatte.
J. A.: Dann habe ich eben in dieser Angelegenheit wiederum von Hegel
keine gute Meinung. Da kommen wir dem Kern der Sache schon etwas
näher: Für mich gibt es keine heiligen Texte. Ich liebe Hegel, aber
ich liebe auch Marx, und den Goethe dazu. Daß ich Goethe liebe,
hindert mich nicht daran, das eine oder andere Gedicht eine
Katastrophe zu nennen.
J.B.: Hegels Verachtung, damit zugleich ironische Würdigung der
Meinung für der Fortschritt des Weltgeistes soll nicht als Zitat ex
cathedra herhalten, sondern ich meine, daß Hegel, wenn er über die
Meinung spricht und sie in ein Verhältnis setzt zur Wahrheit, zur
Erkenntnis, zur Philosophie, daß dann die Meinung als nichts anderes
sich erweist denn als Inbegriff der normalen Verblendung, die man
braucht, um in dieser absurden Gesellschaft die eigene
Selbsterhaltung zu verfolgen. Die Kritik am Recht auf freie Meinung
zielt ja nicht auf eine kommunistisch zu erzwingende Pflicht, die
Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu sagen.
J. A.: Ja, das steckt im deutschen Idealismus. Bei Fichte ist es
dieser schöne, sprachlich schöne, in anderen Sprachen nicht
wiederzugebende Unterschied zwischen "Ansicht" und "Einsicht"; bei
Hegel ist es der zwischen "Meinung" und "Wahrheit". Wenn ich aber
sage, daß es für mich keine heiligen Texte gibt, meine ich natürlich
etwas anderes: Ich frage nicht zuerst: Was sagt Hegel, was sagt Marx?
Ich bin kein Philologe, zum Glück für die. Sondern ich schaue, ob
das, was die Klassiker sagen, meinen Kopf ertüchtigt, die
Wirklichkeit zu analysieren; und die Wirklichkeit nicht nur zu
analysieren, sondern ob es dazu taugt, perspektivisch sozusagen, das
Nachdenken über eine andere Form der gesellschaftlichen Synthesis zu
befördern ...
J.B.: Das Thema Deiner vorletzten Vorlesung an der FU Berlin: "Die
Sache selbst"...
J. A.: Und das wiederum kommt von Hegel.
J.B.: ... die Sache selbst also. Hegel, Marx Adorno sind nur
insoweit relevant, als sie zu ihrer Aufhellung beitragen. Marx zum
Beispiel ist recht brauchbar nicht, weil er ein Genie gewesen sein
soll, sondern weil er sich mit Mühe und Arbeit zum objektiven
Reflexionsorgan der logischen Unmöglichkeit wie historischen
Aussichtslosigkeit des Kapitals befähigt hat. Wenn das Kapital denken
könnte, dann dächte es sich in Marx unter der Perspektive seiner
Abschaffung. Gut. Aber: Gerade dann ist Wahrheit keine
anzuerkennende, keine passiv widerzuspiegelnde oder aktivistisch zu
bekennende, sondern eine erst zu machende. Die Wahrheit des "Kapital"
ist die Abschaffung des Kapitals; bis zur gelingenden Revolution
können wir nicht wissen, ob Marx Recht hat, und danach ist die Frage
langweilig. Das befreit die Wahrheit aus dem Theorie-Praxis-Schema,
gibt aber doch wohl keine Anweisung auf Ironie. Meinung jedenfalls
ist die subjektive Praxis von Ideologie, und auch Skepsis ist nur
Meinung, nämlich eine schlechte von der Erkenntnisfähigkeit des
Individuums. Ist nicht Ironie die mild humorige Version der Skepsis,
d.h. der Zweifel als Kabarett?
J. A.: Nein. Die Ironie geht gegen den Systemzwang, gegen die
idealistische Konstruktion der Totalität als einer geschlossenen
Anstalt mit Schießscharten. Die Kraft des Zweifels will sagen, daß
eine Kritik, die in sich hermetisch abgeschlossen ist, die den
berühmten Satz "De omnibus est dubitandum" nicht zweifelsfrei
anerkennt, keine sehr gute Position sein kann. Die Kritik wird aber
substanzlos, wenn sie darin besteht, aus einer gesicherten Position
heraus die andere Position abzurteilen. Die Kritik ist nicht der
Scharfrichter, sie steht nicht außerhalb, sie ist Fleisch vom
Fleische. Und darauf hat sie zu reflektieren, in Selbstkritik und
Ironie.
J.B.: Eben das meint der dialektische Wahrheitsbegriff, aber als
Ideologiekritik, nicht unter dem Signum von Ironie und Skepsis. Man
muß keineswegs alles bezweifeln, schon gar nicht als Dienst an einer
Maxime, aber jedenfalls die Alltagsreligion des Kapitals, an der auch
der Kritiker wider Willen teilhat, weil er eben Geld verdienen und
ausgeben muß, um zu leben. Das Geld ist die erste ideologische Macht,
und ich erinnere mich nicht, daß Montaigne dazu irgendetwas
Relevantes bemerkt hätte außer der treffenden Einsicht, es sei immer
zu wenig. Gerade in puncto der Kritik wundert mich um so mehr Deine
spürbare Ablehnung der Kritischen Theorie, und zwar unter zwei
Aspekten: Zum einen stammt ja der Satz, es gebe keine Erkenntnis ohne
einen Schuß Paranoia oder Idiosynkrasie, von Adorno. Die Bedingungen
der Erkenntnis folgen nicht nur aus ihr selbst; die subjektive
Disposition zur Erkenntnis kommt aus einer wie immer relativen
Untauglichkeit zur Normalität. Die Gesellschaft zu erkennen setzt
voraus, daß der Kritiker nicht gesellschaftsfähig ist und daß er
daran leidet. Und zum anderen ...
J. A.: Ich habe überhaupt nichts gegen die Kritische Theorie, aber
einiges gegen den Adornizismus. Diese Definition von Adorno ist ja
genau der Grund, warum ich gegen ihn bin. Es reicht ja auch zu sagen,
daß ein Mensch ohne ein Stück Wahnsinn nicht intelligent ist. Man
braucht also weder die Paranoia noch die Idiosynkrasie zu bemühen.
Ich habe gar nicht soviel gegen die Kritische Theorie an sich,
vielmehr gegen ihre Sprache.
J.B.: Allerdings ist Deine Praxis der Kritik nicht so sehr
verschieden von dem, was Kritische Theorie darunter versteht. Warum
kannst Du die Theorie Deiner eigenen Praxis nicht anerkennen, wenn
sie Dir in philosophischer Form entgegentritt? Hast Du eigentlich
Aversionen gegen Freud und die Psychoanalyse?
J. A.: Entschieden.
J.B.: Warum? Weil die Psychoanalyse auf Dich nicht zutrifft?
J. A.: Nicht einmal deswegen. Zunächst muß ich sagen, daß ich mich
nicht besonders um die Psychoanalyse gekümmert habe. Sie ist nicht
mein Problem, und die Zeiten des Universalgenies sind nun auch
vorbei. Ein wenig Arbeitsteilung muß es schon geben. Aber das, was
ich von Freud gelesen habe, weckt in mir den ganz bestimmten
Verdacht, daß Freud nur die Erfahrung verallgemeinert hat, die er mit
der Wiener Bourgeoisie der Jahrhundertwende gemacht hat.
J.B.: Freud, ein Kind seiner Zeit, das ist wie Marx, ein Denker des
19. Jahrhunderts. Die ganz gewöhnliche soziologische und historische
Freud-Kritik.
J. A.: Was gängig ist, braucht deshalb noch lange nicht falsch zu
sein. Jedenfalls habe ich dennoch diese Schlußfolgerung gezogen, eine
soziologische, banale, empirische, oberflächliche meinetwegen ohne
daß ich deshalb eine theoretische Position gegen Freud bezogen hätte.
J.B.: Mich wundert, daß Du, was das Verhältnis von Theorie und Praxis
anbetrifft, in einer kritisch-theoretischen Perspektive
argumentierst, weil es für Dich keine fix und fertige Theorie gibt,
die nun einer Wirklichkeit aufzudrücken ist, also ein Dogma, wonach
die Wirklichkeit sich zu richten hat, sondern die Theorie ist ein
Prozeß der Kritik und der Selbstkritik. Ihre Wahrheit hat sie nicht
als Theorie, nicht also nach positivistischen Kriterien der inneren
logischen Stimmigkeit à la Popper, sondern ihre Wahrheit hat sie als
werdende Wirklichkeit. Eine revolutionäre Theorie ist erst dann wahr,
wenn sie sich überflüssig gemacht hat. Wenn man das
Theorie-Praxis-Verhältnis so faßt, hat man schon ein durchschlagendes
Argument mobilisiert gegen die Politiken der Arbeiterbewegung, gegen
ihr Verhältnis zur Theorie, aber auch gegen das Verhältnis der
Intellektuellen zur Arbeiterbewegung. Das Resultat wäre dann doch,
die in sich schiefe Relation von Theorie und Praxis zu transformieren
in eine Konstellation von Kritik & Krise; das Wahrheitskriterium von
Theorie wäre nicht mehr das idealistische der adaequatio intellectus
ad rei, sondern das materialistische veritas est index sui et falsi.
Das kommt von Spinoza, ist jedoch purer Adorno. Du bist
praktizierender Adornit, aber Du willst nichts davon wissen. ohne es
zu wissen. Wie kommt das? Woher die Abwehr, die Verdrängung?
J. A.: Wenn Du damit aufhörst, zu psychoanalysieren, dann kann ich
das ohne Probleme unterschreiben. Denn mit dem Verhältnis von Theorie
und Praxis verhält es sich doch so: Man spricht allerorten von der
"Einheit von Theorie und Praxis". Was das genau ist, das weißt Du
nicht, ich wahrscheinlich auch nicht. Wir reden darüber, wir
versuchen eine Vermittlung zu finden. Ob sie gelingen kann, weiß ich
nicht. Ich habe auch nichts gegen die Kritische Theorie im großen
geschichtlichen Zusammenhang. Das merkst Du zum Beispiel daran, daß
ich Habermas geradezu den Verrat an der kritischen Theorie vorwerfe,
und daß ich es empörend finde, daß er im Ausland immer noch als der
Vertreter der Kritischen Theorie gilt. Ich habe allerdings an
bestimmten Positionen der Kritischen Theorie einiges auszusetzen. An
dem von Horkheimer und Adorno gemeinsam verfaßten Werk
beispielsweise, das ich sehr schätze, das ich sehr gerne lese, das
ich nicht nur gerne lese, sondern das ich für sehr wichtig halte, das
ich teilweise aber auch für im Prinzip verfehlt halte, die "Dialektik
der Aufklärung".
J.B: Mit Deiner Position zur kritischen Theorie ist nicht so sehr
Deine Haltung zur sog. Frankfurter Schule gemeint. Zum Beispiel ist
klar, daß im Zuge der Revoltversuche von 1968 eine ganze Reihe
treffender Kritiken an Adorno und Horkheimer geäußert worden sind,
gerade was die ökonomiekritischen und staatskritischen Momente
anbetrifft, insbesondere von Hans-Jürgen Krahl. Aber die Stellung der
kritischen Theorie zur Wahrheitsfrage und zum Theorie-Praxis-Problem
geht nicht auf in dem, was Adorno/Horkheimer gesagt haben.
J. A.: Auf das Problem der Wahrheit kommen wir vielleicht später
noch, jetzt zur Kritischen Theorie. In irgendeiner italienischen
Zeitung wurde über mich geschrieben, ich sei ein Vertreter der
Kritischen Theorie. Warum nicht? Wegen sowas gehe ich nicht gleich
auf die Barrikaden. Da kommen wir auf einen wesentlichen Punkt: Wenn
wir von Kritischer Theorie reden, meinen wir kritisches Denken,
kritisches marxistisches Denken. Kritische Theorie ist auch für mich
nicht die Person von Horkheimer, von Adorno oder die Frankfurter
Schule. Zur Einheit von Theorie und Praxis gehört ja allemal, daß das
theoretische Denken in der Lage sein soll, Ereignisse nicht nur
richtig einzuschätzen, sondern aufzugreifen in ihrer Negativität, im
Hegelschen Sinn, in ihrer Negativität gegenüber dem Bestehenden zu
begreifen und also in die Situation einzugreifen. Was ich Adorno
politisch vorwerfe, ist, daß die Kritische Theorie meiner Auffassung
nach -- kann sein, daß ich mich hier irre, aber Irren ist menschlich
-- nicht in der Lage gewesen ist, die Negativität, also die Ablehnung
des Bestehenden in seinem eigenen theoretischen Sinn, in der
Studentenbewegung zu begreifen.
J.B.: Du meinst, er sei, wie Gramsci sagt, kein organischer, kein
intervenierender Intellektueller gewesen?
J. A.: Ja, so kann man das vielleicht sagen. Ich meine nicht einmal
in dem Sinne intervenieren, wie ich es damals tat -- ich war noch
jung, gerade erst 40 -; ich bin auf die Straße gegangen. Ich verlange
ja nicht von Adorno, daß er auf die Straße geht, sondern ich verlange
von einem kritischen Theoretiker, daß er in der Lage ist, das
kritische Potential einer an sich sehr konfusen Bewegung zu
begreifen. Und ich habe den Eindruck, daß er nicht einmal den Versuch
gemacht hat, dies zu tun.
J.B.: Aber da spielt die fundamentale Differenz hinein, die in Deinen
Schriften nicht ausreichend und eigentlich gar nicht bedacht wird,
daß Adorno und Horkheimer immer aus der Erfahrung des
Nationalsozialismus reflektiert haben, aus dem Umschlag der
bürgerlichen Gesellschaft in die kapitale Barbarei heraus gedacht
haben, während Du den Nazismus nach Maßgabe des italienischen
Faschismus verstehst. Die Konsequenz dessen ist, daß die Rolle des
Antisemitismus ignoriert oder verkannt wird. Deine Differenz zu
Horkheimer/Adorno in Sachen Studentenbewegung rührt meines Erachtens
daher; und zweitens hat Adorno in einem Aufsatz von 1969, der
ironischerweise "Marginalien über Theorie und Praxis" heißt, als
notorischer Pessimist deutscher Aufklärungsfähigkeit die historische
Perspektive des 68er Aufbruchs -- erst auf die Straße, dann
Vegetarismus oder Reformismus --, wenn auch einigermaßen
fatalistisch, vorweggenommen, prognostischer und kritischer als Du.
J. A.: Daß die Perspektiven der Bewegung von '68 nur pessimistisch zu
beurteilen gewesen sind, dieser Ansicht war ich immer. In den
Diskussionen in Berlin, etwa mit Rabehl und Dutschke, habe ich immer
gesagt, daß die Sache scheitern werde. Nur war bei mir das
Bewußtsein, daß die Revolte scheitern werde, nicht verbunden mit dem
Gedanken, daß sie sinnlos sei. Denn Europa -- nicht nur Deutschland
-- Europa brauchte damals eine Erschütterung, und die Erschütterung
ist gekommen: in Frankreich, in Italien, und in Deutschland. Durch
die 68er Bewegung... Und das war für mich das praktische
Entscheidende, daß da dieser maroden Gesellschaft ein gründlicher
Stoß versetzt wurde. Ich habe nicht daran geglaubt, daß etwas ganz
Neues entstehen würde. Ich war ja damals etwas älter als die meisten
Aktivisten der Zeit, die ja erst zwanzig oder zweiundzwanzig Jahre
alt waren. Ich war schon vierzig, hatte mir in meinem Leben schon ein
paar andere Gedanken gemacht. Dazu gibt es auch eine nette
Geschichte. Als die "Transformation der Demokratie" gerade erschienen
war, gab es ein Treffen in Westberlin. Plötzlich stürmte Dutschke
herein und sagte: "Johannes, wir müssen uns endlich zusammentun" --
er meinte das nicht persönlich, sondern den SDS und den
Republikanischen Club --, "wenn wir uns zusammentun, machen wir aus
Berlin eine Räterepublik." Weißt Du, was ich lakonisch geantwortet
habe? "Sag' mal Rudi, was machen wir dann mit den Besatzungsmächten?"
Das war mein Realismus damals. Ich wußte genau, daß aus der 68er
Bewegung keine Räterepublik entstehen würde. Aber ich schätzte die
Bewegung doch richtig ein: Das ist die notwendige Revolte, die etwas
Neues anstoßen wird. Das hat Adorno meines Erachtens falsch aufgefaßt.
J.B.: Mag sein, aber ich denke, daß er etwas anderes ganz richtig
gesehen hat, nämlich das typisch Deutsche der Revolte, ihre bei allem
plakativen Antifaschismus tiefgreifende Geschichtsvergessenheit,
dieses eifernd Konstruktive, das dann in die maostalinistischen
Parteiaufbauorganisation führte. Wie konnte man bloß, nachdem es eine
Deutsche Arbeitsfront gegeben hatte, einfach so vom Proletariat als
revolutionärem Subjekt reden? Ein Resultat der Faschismusanalyse, wie
Adorno es 1942 in seinem Aufsatz "Reflexionen zur Klassentheorie"
festgehalten hat, geht darauf hinaus, daß der Nazismus die
Transformation der Arbeiterklasse in produktive Staatsbürger
betreibt, daß er im Zeichen des Antisemitismus den mörderischen Block
von Kapital und Arbeit unter der Führung des Souveräns schmiedet, und
daß damit die Dialektik des Proletariats stillgelegt wurde. Die
Studentenbewegung hat das komplett ignoriert, und schlimmer, alle
Versuche der Studentenbewegung wieder an das "revolutionäre
Potential" der Arbeiterklasse anzuknüpfen, taten so, als sei
Auschwitz ungeschehen zu machen, d.h eigentlich nie geschehen und
unwesentlich.
J. A.: Das ist aber eine, sagen wir mal, nicht verallgemeinerbare
Situation in Deutschland. In Italien ist die Verlötung der
Studentenbewegung und der Arbeiterbewegung ohne weiteres gelungen.
Aber doch noch einmal zum Thema Faschismus und Nationalsozialismus.
Ich war immer der Meinung, daß es nicht richtig ist, alle Formen des
Faschismus, -also den italienischen, den deutschen, den spanischen,
den französischen in einen Topf zu werfen. Damit beraubt man sich der
Fähigkeit überhaupt, den Faschismus zu analysieren. Daß der
Nationalsozialismus natürlich für die Theoriebildung von Horkheimer
und Adorno eine große Rolle gespielt hat, da bin ich d'accord. Mir
kommt gerade ein neuer Gedanke, der vielleicht meine Position zur
Kritischen Theorie nachvollziehbar macht. Mein Einstieg in die
Kritische Theorie, Einstieg in die adornitische Fassung der
Kritischen Theorie, war die Lektüre der "Dialektik der Aufklärung".
Ich habe damals nicht reflektiert, inwiefern in diesem Werk die
Kritik am Nationalsozialismus enthalten ist, also die Kritik an der
Depravation der Vernunft in der Politik durch den
Nationalsozialismus. Da ich mich ja selbst als Kind der Aufklärung
begreife, schien mir diese Kritik am Rationalismus der Aufklärung
gefährlich, weil nämlich der Einstieg in die Kritik über die
Abweisung der instrumentellen Vernunft weiterführt zur restlosen
Abweisung der Vernunft überhaupt, zum Irrationalismus.
J.B.: Das ist die Dialektik der Aufklärung selbst, ist gerade der
Gegenstand von Adorno/Horkheimers Untersuchung. Was heißt denn hier
Aufklärung? War die Aufklärung überhaupt jemals mehr oder jemals
etwas anderes als die philosophische Avantgarde der Kapitalisierung?
J. A.: Aber die restlose Abweisung der Vernunft hat doch bei vielen
Intellektuellen in Italien und Frankreich in den Irrationalismus
geführt.
J.B.: Ja, sie sind Nietzscheaner geworden, Heideggerfans,
Postrationalisten - dies aber in der Konsequenz des Rationalismus
selbst. Man kann die Konsequenz nicht von ihren eigenen Prämissen
abspalten. Jeder Kant findet seinen Heidegger und der wieder seinen
Sloterdijk. Aber wie würdest Du den Begriff der Kritik in fünf Sätzen
zusammenfassen?
A: Daß das nicht geht, weißt Du selbst. Aber gut, ich lasse mich auf
das Wagnis ein, und werde mich auf einen präzisen theoretischen
Hintergrund beziehen: Kritik als die Sache selbst. Vielleicht ist das
metaphorisch in dem "De omnibus est dubitandum" enthalten. Wenn ich
sage, daß es für mich keine heiligen Texte gibt, dann verstehe ich
auch das unter Kritik. In der materialen Spezifizierung bedeutet
Kritik ganz einfach, zu versuchen, das Kriterium zu finden, an dem Du
die Wirklichkeit messen kannst und sollst. Dieses Kriterium kann nur
in der Sache selbst aufgefunden werden, ist also keine Meinung, ist
Ausdruck von Vernunft.
J.B.: Nein, das gerade ist ja die Schwierigkeit. Man muß doch
festhalten, daß es so ungeheurer schwierig ist, dies Kriterium als
allgemeingültiges ausfindig zu machen, das eine andere Perspektive
eingenommen werden müßte, d.h. die materialistische Dechiffrierung
des Wahrheitsbegriffs als Ausdruck gewisser transzendentaler
Bedürfnisse der Vergesellschaftung durchs Kapital. Dann kommen wir
einerseits auf die traurige Determination der Denkform durch die
Warenform, andrerseits auf das Movens des Individuums, die Denkform
zu kritisieren. Das ist dann die Idiosynkrasie ...
J. A.: Das ist nicht Idiosynkrasie, sondern das ist das erste
Postulat des kritischen Denkens: Aufpassen, wenn man ein Kriterium
aufstellt, daß es nicht ...
J.B.: ...der Projektion des eigenen in die Sache entspringt. Aber
dies für den Moment beiseite: Bei Marx, der seinem "Kapital" immerhin
den Untertitel einer Kritik, einer "Kritik der politischen Ökonomie"
gegeben hat, wird der Kritikbegriff schon genauer gefaßt, und er wird
gefaßt in dem präzis Hegelschen Sinne, daß nicht die Theorie der
Praxis äußerlich gegenübersteht, sondern daß das Denken ein Moment
des materiellen Prozesses der Vergesellschaftung selbst ist, also der
Gesellschaft als Totalsubjekt. Die marxsche Kritik behauptet, daß das
Kapital intelligibel ist, aber der Beweis dafür ist ein außer der
Kritik liegendes, praktisches Kriterium.
J. A.: Die ganze Theorie des Warenfetischismus ist zugleich Kritik:
Was ist wirklich das, was als Ware erscheint? Kritik ist es auch,
wenn man erkennt, daß die Ware ein vertracktes Ding mit
metaphysischen Mucken und theologischen Grillen ist. Die Ware ist
nicht ein Gut, das man so kauft, sondern ein gesellschaftliches
Verhältnis. Und wenn ich die Ware so angucke, dann ist Kritik im
methodologischen, also im epistemologischen Sinne, eine radikale
Absage an die Empirie, an den Empirismus. Das ist Kritik. Zum
Erkenntniskriterium: Ich habe ein Erkenntniskriterium, das
materialistisch sehr gut faßbar ist: veri criterium est et ipsum est.
Und das ist natürlich von Giambattista Vico. Das war damals ein
revolutionärer Satz. Vico, einer der Ahnherren des historischen
Materialismus, über den es ja den schönen Aufsatz von Max Horkheimer
gibt, hat als einer der ersten eine voll ausgebildete
Basis-Überbau-Theorie entwickelt. Er schrieb über das Römische Reich
und vertrat die These, daß die Geschichte als Kampf um das
Eigentumsrecht zwischen Patriziat und dem Plebejertum zu begreifen
sei.
J.B.: Gut, Vico, aber sein Satz, die Menschen könnten nur das
begreifen, was sie selbst gemacht haben, sie könnten daher jedenfalls
die Geschichte begreifen, dieser Satz, der mit am Anfang des
Materialismus steht, ist doch durch eben die Geschichte überholt
worden, die das Kapitalverhältnis entbunden hat. Für den
Materialismus bedeutet dies, daß er keine Philosophie der Arbeit sein
kann, will er nicht Ideologie sein. Wo und wie hast Du eigentlich
Marxismus gelernt?
J. A.: Wie ich zu Marx kam? Zu Fuß, zu den Sitzungen der KPD in
Tübingen; zum "Kapital" kam ich erst später. Die ersten Schriften,
die ich zu sehen bekam, war diese zweibändige Ausgabe der
"Ausgewählten Werke" im Dietz-Verlag, die in den fünfziger Jahren
erschienen. Marx und Lenin waren mir aber zu diesem Zeitpunkt bereits
bekannt, weil ich im faschistischen Italien die Schule besucht habe
und dort gehörte zum Unterricht auch Philosophie und damit auch Marx.
Dann hörte ich in Tübingen drei Vorträge von Eduard Spranger gegen
den Marxismus, der klipp und klar bewies, daß zuerst der Geist da
war, dann erst kam die Materie. Da wollte ich es genau wissen und
selbst die Texte lesen. Das war 1954, die KPD war noch nicht
verboten, wenn auch die Kampagne gegen sie schon in vollem Gang war,
und ich ging zur KPD und kaufte im Parteibüro die zwei Bände ab. Die
staunten nicht schlecht. Ich ging nach Hause und begann zu lesen.
Damals war ich ein ausgemachter Hegelianer, und wenn diese
Selbstironie gestattet ist, dann könnte man sagen: Mein Weg zu Marx
war der Weg von Marx zu sich selber, durch Hegel hindurch. Vorher
hatte ich die Pariser Manuskripte gelesen - während ich in der Fabrik
arbeitete, - und da war ich dermaßen verblüfft über den marxschen
Entfremdungsbegriff. Ich kannte Entfremdung nur als Hegelsche
Kategorie, -aber diese Marxsche Idealisierung der Kategorie in bezug
auf die Arbeit, auf den Arbeitsprozeß, stimmte genau mit meiner
unmittelbaren Erfahrung überein.
J.B.: Und wie kamst Du unter die Arbeiter?
J. A.: Als Hilfsarbeiter in einer Holzverarbeitungsfabrik in Urach,
1948. Ich arbeitete auf dem Holzplatz mit Jakob, einem
kommunistischen Kumpel. Wir waren dort zu zweit und fuhren die Stämme
ins Sägewerk. Mein Kumpel war herrlich. Er war schon zu Weimarer
Zeiten Kommunist gewesen und hat mir, wie ich Dir anhand einer wahren
Geschichte, also keiner Anekdote, zeigen werden, beigebracht, warum
in Deutschland aus dem Kommunismus nichts werden konnte: 1949, als
gewählt werden sollte. fragte mich Jakobs Frau: "Hans, was soll i
denn wähla, morge?" Und da sagte Jakob, mein Genosse, Altkommunist,
der wieder in die KPD eingetreten war: "Du bischt eine Frau, und Du
wählscht CDU. Und damit basta! Das war, bitte schön, der deutsche
Kommunismus der damaligen Zeit.
J.B.: Du warst zuvor in britischer Kriegsgefangenschaft gewesen, in
Ägypten, und bist dann 1948 nach Deutschland gekommen ...
J. A.: Ja, mit einem Transport. Ich wurde nach Münsterlager in
Westfalen gebracht und dort entlassen. In der Gefangenschaft hatte
ich einen Kumpel, einen Buchhändler übrigens, der in Urach wohnte.
Der klärte mich darüber auf, daß Urach in der Nähe von Tübingen sei,
und so bin ich dort gelandet. Ich hatte weder Geld noch Papiere, da
bin ich Arbeiter geworden.
J.B.: Und Du hattest keine Möglichkeit, nach Italien zurückzukehren?
J. A.: Ich hatte keine Papiere, ich war auch nicht deutscher
Staatsangehöriger, d.h. mein Status war vollständig ungeklärt. Aber
um zu meiner Marx-Lektüre zurückzukehren: Als ich dann in Tübingen
studierte, habe ich angefangen, "Das Kapital" zu lesen. 1956 hatte
ich dann schon promoviert und gab mit Gerhard Lehmbruch ein Seminar
über die Pariser Manuskripte, 1958 hielt ich zwei Vorlesungen an der
Technischen Hochschule in Stuttgart, und damit galt ich auch schon
als Marxist.
J.B.: Das war zu einer Zeit, als kaum jemand Marx kannte, die, als
Iring Fetscher und andere den Marx der Frühschriften entdeckten,
dessen Humanismus die Pfaffen begeisterte.
J. A.: In der Tat: Meine ersten Vorträge hielt ich auf Tagungen der
Evangelischen Akademien. Und der Erstgutachter meiner Doktorarbeit
war Erwin Metzke, der Herausgeber der "Marxismus-Studien" der
Evangelischen Studentengemeinde. Aber wie dem auch sei. Mein Zugang
zu Marx war deshalb so leicht, weil ich ein Hegelianer war. Lenin hat
viel dummes Zeug gesagt, aber der eine Satz von ihm: Man kann Marx
nur verstehen, wenn man zuvor Hegels "Wissenschaft der Logik"
verstanden hat, ist so richtig, daß Lenin selbst der beste Beweis
dafür ist. Hätte er die Logik begriffen, dann hätte er anders gedacht
und gehandelt, nicht wahr? - In Stuttgart hielt ich also meine ersten
Vorlesungen, und zwar über die Revolution ganz im allgemeinen. Da
hatte ich meine ersten Erfolgserlebnisse. Diese Vorlesungen hielt ich
an der Technischen Hochschule - ich war frisch gebackener Doktor, das
muß 1957 gewesen sein, also ich war 33 Jahre alt, und es gab
Studenten aus Tübingen, die nach Stuttgart kamen, um mich zu hören.
Und das hat zu sehr bösem Blut geführt, weil einer der Studenten
gesagt hat, in einer Stunde bei mir würde man mehr lernen als in
einer ganzen Vorlesung von Theodor Eschenburg. Das wurde ihm auch
kolportiert, und das waren so meine Erfolgserlebnisse. Ich war in
Tübingen nie im SDS gewesen. Im Gegenteil: dieser Arbeitskreis zum
Godesberger Programm, dem ich mich angeschlossen hatte, galt dem SDS
als ein Haufen von Reaktionären, was an sich nicht richtig war. Aber
es handelte sich um eine elitäre Gruppe. Mit dem SDS hatte ich erst
später zu tun, als ich Assistent in Köln wurde, vorher nicht. 1957
angesichts des großen Wahlsiegs von Adenauer, sind wir dann , drei
Freunde, Kommilitonen in die SPD eingetreten. Ohne großes Zutun war
ich sofort einer der Sprecher des linken Flügels. Mein Zugang zu Marx
war, um darauf zurückzukommen, kein intellektueller. Hinter diesem
Zugang stand schon eine gewisse Lebenserfahrung. Ich war damals immer
wieder über meine Studienkollegen verblüfft. Erstens waren sie alle
jünger als ich, zweitens hatte ich Krieg, Gefangenschaft und die
Erfahrung der Fabrikarbeit hinter mir. Ich hatte immer den Eindruck,
daß sie keine Lebenserfahrung hatten. Ihr Leben war ohne Umwege
verlaufen: Abitur, dann das Studium. Meine Kommilitonen, das waren
ganz sympathische, hochgescheite Leute, aber für mich hatten sie
einfach keine Lebenserfahrung. Ich war nur durch Zufall in die
Universität gekommen. Ich arbeitete in dieser Fabrik, im Trockenraum
für die Bretter, als auf einmal meine Hauswirtin hineinstürzte und
mir sagte, eine Postkarte sei von der Uni gekommen, ich wäre zum
Studium zugelassen worden. Das war wirklich reiner Zufall, weil ich
mich schon vergebens beworben hatte, nachdem endlich meine Papiere
aus Italien gekommen waren. Nun gut, so kam ich zu Spranger und
wollte als Erstsemester gleich sein Hauptseminar besuchen. Ich
legitimierte das mit meiner Erfahrung in der Kriegsgefangenschaft, wo
ich im Auftrag des britischen Militärs Unterricht in Geschichte und
Philosophie gehalten hatte. Er examinierte mich daraufhin, und weil
ich alles wußte, wurde ich zum Hauptseminar zugelassen.
J.B.: Und wie ging es dann weiter mit Marx und Dir?
J. A.: Erst habe ich, 1954, die Frühschriften gelesen, die
eigentliche Kapitallektüre kam später, Ende der 50er Jahre. Als ich
Assistent wurde in Köln, da hatte ich das "Kapital" zwar noch nicht
studiert, aber es gelesen. Aber mir hat das theoretische Einfinden in
Marx gar keine Schwierigkeiten gemacht, weil ich ja den Hegel kannte.
J. B.: Da fangen die Probleme erst an. Wenn man den Marx durch die
Brille von Hegel liest, dann kann es leicht passieren -- und Dir
ist's wohl passiert--, daß man den Marx und seinen Begriff der Arbeit
bißchen weltgeistmäßig versteht, d.h. glaubt, man sei im Jenseits des
Idealismus, wenn man Geist durch Arbeit ersetzt hat. Daß man glaubt,
Marx -- und damit komme ich schon wieder auf den Kritikbegriff --
bzw. die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie sei eine
Rekonstruktion der historischen Bewegung, in deren Verlauf die
Arbeit, vertreten durch die Klasse, ihre unerklärliche
Selbstentfremdung in Privateigentum und Kapital zurücknimmt; der
Augenblick, in dem die Selbstentfremdung der Arbeit revolutionär
zerstört wird, das ist dann der Kommunismus, d.h. die Befreiung der
Arbeit. Insoweit Marx so argumentiert, hat Lenin die hegelsche Logik
doch verstanden. Nach meiner Auffassung sind alle derartigen
"Umstülpungen" Hegels falsch, weil sie an der Wertformanalyse
vorbeigehen, d.h. die Abstraktion der reproduktiven Tätigkeit zur
Arbeit schlechthin außer acht lassen. Das Kapital, nicht die Arbeit,
ist der Geist. Und das Subjekt der Geschichte ist, zumindest nach dem
Faschismus, nicht mehr der Klassenkampf, die Arbeit, die
Arbeiterklasse, sondern, wie Marx sagt, das "automatische Subjekt",
die begrifflose Selbstverwertung des Kapitals um seiner selbst willen.
J. A.: Da triffst Du einen der kritischen Punkte der Marx-Rezeption,
gerade, was den jungen Marx angeht. Ich meine auch, daß der Marx nach
1848/49, in den Londoner Studienjahren, mit den Frühschriften
insofern bricht, als er vom Begriff des Privateigentums übergeht zu
dem der Produktionsweise. Marx hat sozusagen später das Erbe von
Hegel, d.h. die Fortsetzung der Arbeitsidolatrie mit proletarischen
Mitteln, abgewiesen.
J.B.: Und daß es dann mit der Verherrlichung der Arbeit ein Ende
haben muß. Die Abschaffung der Lohnarbeit kann nur gelingen als
Befreiung von der Arbeit; hat es sich also mit dem "Recht auf
Arbeit". Die Perspektive des Kampfes gegen die Arbeit ist für Dich,
glaube ich, der theoretische Grund gewesen, Dich in eine gewisse Nähe
zur proletarischen Autonomiebewegung zu begeben, zum Operaismus.
J. A.: Ja, aber ich habe immer die Autonomiebewegung in Deutschland
und die italienische Autonomie fein säuberlich auseinandergehalten,
denn die deutsche Autonomie war ein Produkt von Intellektuellen, von
Studenten, von Lehrern usw.; sie hat den tatsächlichen Kern der
Autonomie, die theoretische Ausarbeitung, nicht nur gar nicht zur
Kenntnis genommen, sondern auch...
J.B.: Du meinst Mario Tronti, Raniero Panzieri, Antonio Negri...
J.J. A.: Man hat vor allem Panzieri nicht zur Kenntnis genommen. Die
Theorie der Autonomie umfaßt ja zwei Hauptpunkte: Auf der
organisatorischen Ebene die Autonomie der Klasse vor jeder Form der
zentralen Organisation, also die "autovalorisatione de la classe",
und zweitens aber die Autonomie des variablen Kapitals, des
unabhängigen Kapitals gegenüber dem konstanten Kapital. Unabhängige
Variable bedeutet, daß das variable Kapital nicht an die Bewegung des
konstanten Kapitals angekoppelt ist, autonom ist. Diese Sichtweise
nahm die Rechte zum Anlaß, um zu behaupten, daß die Arbeiterbewegung
die italienische Industrie kaputt gemacht habe.
J.B.: In Deutschland war es so, daß die Autonomie im Zuge des
Häuserkampfs einige Konjunktur bekam, also die Theorien von
Karl-Heinz Roth, Detlev Hartmann e tutti quanti konsumiert wurden.
Aber diese Autonomie war das, was früher Sponti hieß; entsprechend
nah hatte sie an den Kloaken der Lebensphilosophie gebaut. Hartmanns
"Leben als Sabotage" war die Bohèmeliteratur des schwarzen Blocks.
J. A.: Wobei ich schon sagen muß, daß die Häuserkampfbewegung in
Berlin einige Ansätze dieser zweiten Richtung, der proletarischen
Autonomie, enthalten waren. Der Häuserkampf in Berlin richtete sich
einmal gegen die staatlich gebotenen Formen der politischen Aktion,
und er war zweitens eindeutig antikapitalistisch. Erst später wurden
aus Instand-Besetzern Hausbesitzer. Aber die Autonomie in
Deutschland, also z.B. die Theorie von Karl-Heinz Roth, war für mich
deshalb uninteressant, weil sie ganz und gar eine Angelegenheit der
Intellektuellen war. Nicht die Sache selbst, sondern die Sache der
Intellektuellen, eben beschränkt auf Studenten, was ja nichts
Negatives ist. Aber der Operaismus in Italien war eine ernste Sache,
er war eine Arbeitersache.
J.B.: Karl-Heinz Roth hat also den Operaismus so in die BRD
importiert wie Wolfgang Fritz Haug den Gramscianismus?
J. A. Ein guter Vergleich, aber ich ziehe doch meine Version vor: Sie
haben es ins Deutsche übersetzt, also falsch. Was Haug und Gramsci
betrifft, nun, ein Anhänger Gramscis bin ich nie gewesen.
J.B: Auch nicht des Gramsci der Turiner Rätebewegung von 1919/1920?
J.J. A.: Das ist ein ganz anderer!
J.B.: Das ist doch der Gramsci, der bei Panzieri eine große Rolle spielt ...
J. A.: Bei Gramsci muß man verschiedene Sachen berücksichtigen. Was
nicht zur Genüge bedacht wird in der deutschen Gramsci-Rezeption,
aber auch nicht in Italien, ist die Tatsache, daß aus den Texten, den
Zetteln, die Gramsci im Gefängnis beschrieben hat, ein Werk
konstruiert wurde. Man hat einfach, und daran ist auch Togliatti mit
seiner PCI-Gründungslegende schuld, alle die Stellen, die thematisch
zusammengehören, beispielsweise zur Rolle des Intellektuellen, in ein
Heft zusammengefaßt, auch wenn sie in einem Abstand von drei oder
vier Jahren geschrieben wurden und ganz und gar nicht einheitlich und
widerspruchslos zu verstehen sind. Die "Quaderni del carcere" sind
eben ein Forschungstagebuch und kein theoretisch kohärentes Werk.
Erst jetzt werden die "Quaderni" einfach chronologisch geordnet
herausgegeben. Gramsci bleibt aber historisch eine interessante
Gestalt.
J.B.: Vielleicht können wir hier auf das Verhältnis von Gramsci zu
Amadeo Bordiga kommen oder auch ganz allgemein auf das Verhältnis der
offiziellen Arbeiterbewegung zu den Häretikern. Bordiga war einer der
wenigen, die den roten Staatskapitalismus analysiert haben. Was kann
man von den Häretikern lernen?
J.J. A.: Häresien sind Bewegungen, die überhaupt etwas in der
Weltgeschichte voranbringen. Das Interessante an den Häresien sind
nicht ihre Thesen, sondern ihre großartige Fähigkeit zur immanenten
Kritik. Das kommt davon, daß der Häretiker kein Abtrünniger ist ...
J.B.: ... und vielmehr der Urchrist, der im Namen der autonomen
Gemeinde gegen Papst und Kirche opponiert. Ist er nicht auch der
konsequente Demokrat, der im Namen der Grundrechte gegen Staat und
Bürokratie angeht?
J.A.: ... er ist der Urchrist, der das Heilige Buch der Bücher
richtig interpretieren will, also gegen die Fehlinterpretationen der
Kirche einschreitet. Dadurch deckt er die Irrtümer und die
Schwachstellen der Herrschenden; und nicht, indem er eine andere
Wahrheit verkündet. Er hat keine andere Wahrheit.
J.B.: Also doch im Namen des Volkes, von dem alle Gewalt ausgeht,
gegen den Staat?
J.A.: Nein, Moment mal. Ich bin ein Häretiker innerhalb des
Marxismus, innerhalb der Absage an den Staat, nicht innerhalb der
Staatsbejahung. Das ist wohl was anderes.
J.B.: Es wurde nichts anderes behauptet. Dennoch, Dein Verhältnis zum
Grundgesetz ist ein bißchen uneindeutig. Wenn Du sagst, Dein Weg ging
von der Politikwissenschaft über die Kritik der Politikwissenschaft
zur Kritik der Politik ...
J. A.: Und in dieser Wegbeschreibung liegt auch ein Stück der
Berechtigung der Abendrothschen Schule.
J.B.: Ja, aber als historische, nicht als sachliche Berechtigung.
J. A.: Das ist was anderes.
J.B.: Hier fällt mir immer mein Lieblingszitat aus den "Grundrissen"
ein. Worum es dabei geht, ist das Verhältnis von Staat und
Grundgesetz. Meiner Meinung nach, die ich aber von Dir bezogen habe,
ist das Grundgesetz nichts anderes als die Geschäftsordnung des
Staates. Weder enthält es Rechte gegen Staat, noch erteilt es dem
Staat irgendeinen bindenden Auftrag, es organisiert die Staatsgewalt
und ihre gewaltenteilige Praxis. D'accord. Trotzdem läßt Deine Kritik
der Politik nicht klarwerden, inwieweit nun das Ausspielen des
Grundgesetzes gegen den Staat ein Mittel der Kritik "von innen" oder
selbst noch ein politikwissenschaftlicher Tatbestand darstellt. Oder
ist beides gar das gleiche?
J. A.: Weder das eine noch das andere. Nein, wenn ich das Grundgesetz
gegen den Staat pointiere, dann fällt das ins Kapitel "Ironisierung
der Wirklichkeit". Ich vertrete nicht die englische Position, daß
sich die Bourgeoisie ans eigene Portepee fassen soll, wenn sie von
den Menschenrechten redet. Ich habe einmal vom unfreiwilligen Humor
des Grundgesetzes gesprochen. Das ist keine immanente Kritik
Abendrothscher Prägung -- also Verfassungsnorm versus
Verfassungswirklichkeit-, sondern das ist die Ironisierung meiner
Auffassung, wonach die Verfassungsnorm die Normierung der
Wirklichkeit ist und nichts anderes.
J.B.: Sehr recht, aber diese Ironisierung der Wirklichkeit ist eben
zugleich Teil Deiner relativen Beliebtheit. Die Ironie soll geistigen
Spielraum schaffen, Distanz zum Staat als wenigstens formale
Bedingungen, sein Unwesen zu verstehen, gut, aber schafft sie nicht
nur Skepsis?
J. A.: Zu meinem Verhältnis zum Staat gehört auch, daß ich Herrn
Glotz, als er anläßlich der Mescalero-Affäre die Professoren bei sich
versammelt hatte und mich fragte, wie ich es verantworten könne, als
Staatsfeind Geld vom Staat zu erhalten, antwortete: Herr Glotz, als
Staatsfeind freue ich mich über jeden Pfennig, den ich dem Staat
wegnehme. Wenn der Staat aus Versehen oder wegen des Beamtenrechts
die Subversion finanziert, soll dann etwa die Subversion sich
weigern, das Geld zu nehmen? Das wäre das, was ich deutschen
Moralismus oder Romantizismus nenne
J.B.: Der Moralismus geht anders, er geht so, wie in der Bewegung
gegen die Berufsverbote, als sich Leute den Judenstern anhefteten und
sich verfolgt fühlten, nur weil sie nicht Lehrer werden durften. Das
ist deutsch.
J. A.: Ja, in meinem Aufsatz über das Recht auf Rebellion steht auch
drin, daß ich nicht verstehe, wie der Staat in den Augen der Leute zu
einem Ungeheuer wird, nur weil er sich zur Wehr setzt gegen
diejenigen, die ihn zerstören wollen. Was soll er denn sonst tun?
Wenn ich das Programm habe, den Staat zu zerstören, dann kann ich
doch nicht lamentieren, wenn der Staat mich bekämpft, Ich kann mich
ja ruhig wehren, auch juristisch, und brauche absolut nicht den
Märtyrer spielen. Aber diese Larmoyanz zeigt, daß man nichts
begriffen hat.
J.B.: Du hast gesagt, Du verstehst Dich als Häretiker inmitten einer
Bewegung, die auf die Zerstörung des Staates geht. Du sagst
Zerstörung, nicht Aufhebung des Staates. Das klingt zum Glück nicht
sehr marxistisch. Kommen wir doch auf das traurige Verhältnis von
Marxismus und Anarchismus zu sprechen. Die Hoffnungen, die die
Arbeiterbewegung seit Ferdinand Lassalle und Friedrich Engels in das
allgemeine Wahlrecht gesetzt hat, haben natürlich mit Marx nichts zu
tun - Befreiung auch von der Politik, darum geht es. Nun hat Marx die
Hegelsche Rechtsphilosophie leider nicht genügend kritisiert, aber in
den Schriften zur Pariser Kommune beispielsweise argumentiert er
gegen den Staatssozialismus, argumentiert anti-politisch. Wie
verstehst Du die fatale Spaltung zwischen Klassenkampf und
Staatsfeindschaft. Das ist doch eine sehr ungute Spaltung, das muß
doch nicht sein. Marx und Bakunin hätten sich ja fast schon 1842 in
Berlin im philosophischen Seminar getroffen, im selben Jahr, in dem
Bakunin seinen Aufsatz "Die Reaktion in Deutschland" schrieb, und da
ist schon die ganze Differenz zu Hegels Philosophie enthalten.
Bakunin vertritt die Negation, Marx, als ebenfalls Junghegelianer,
die Negation der Negation, von der dann seine Parteigänger behaupten,
alles andere sei schlecht abstrakte Negation. Geht das nicht anders?
J. A.: Ja, das ist tatsächlich eine ungute Spaltung. Wahrscheinlich
ist sie die ursprüngliche Spaltung, die die ganze
Emanzipationsbewegung kaputtgemacht hat. Eine historische Bemerkung
dazu: Man kann nur dann über Marxismus und Anarchismus reden, wenn
man die Diskussion völlig von der um die historischen Figuren Marx
und Bakunin abkoppelt. Beide waren sie autoritäre, eingebildete
Knochen und haben einen Privatkrieg geführt, der dann leider
theoretisiert und ideologisiert wurde als Krieg und Antagonismus
zweier Bewegungen. Ich habe da überhaupt keine, wie es so schön
heißt, Berührungsängste. Die Weltgeschichte, nach Ansicht Schillers
bekanntlich das Weltgerichte, hat in diesem Punkt der anarchischen
Kritik an bestimmten marxistischen Staatsauffassungen eindeutig recht
gegeben.
J.B.: Sagst Du anarchisch oder anarchistisch?
J.J. A.: Ich sage anarchisch. Die Anarchie ist eine Bewegung, ein
Zustand, eine Gesellschaftsformation, der Anarchismus ist eine
Doktrin. Und wenn wir der Historie Gerechtigkeit widerfahren lassen
wollen, dann müssen wir sagen, daß Marx eine Theorie entwickelt hat,
Bakunin aber nicht. "Staatlichkeit und Anarchie" von Bakunin, das
Marx gründlich durchgenommen hat, ist eine einzige große
Aneinanderreihung von Prinzipienerklärungen und keine Analyse. Wenn
ich ein wenig vereinfachen darf, dann würde ich sagen, daß die beiden
Pole, also der Marxismus und der Anarchismus, synthetisiert gehören,
zum Anarchokommunismus zusammengefügt, denn es muß auch in
Deutschland endlich das zusammenkommen, was wirklich zusammengehört.
Es gibt bei Marx genügend Hinweise darauf, daß Bakunin recht hatte.
Nimm seine Kritik am Gothaer Programm von 1878. Diese Kritik sagt
eindeutig, daß mit dem Aufbau des Sozialismus der Abbau des Staates
beginnt.
J.B.: Aber der Abbau des Staates ist etwas anders als seine
Abschaffung. Vorhin hast Du von Zerstörung gesprochen ...
J.J. A.: .... bei Marx ist eigentlich weder von Aufheben noch von
Abschaffen, sondern von Absterben die Rede. Und das ist der Fehler im
marxschen Denken über den Staat. Wenn ich von marxscher Staatstheorie
spreche, ersetze ich stillschweigend das Wort "absterben", das
sowieso von Engels stammt, durch "abschaffen". Es geht darum, den
Staat abzuschaffen. Und das Abschaffen steckt der Sache nach in der
Schrift über die Pariser Kommune, nichts von wegen Absterben oder
Aufheben. Die Umkehrung, die völlige Umkehrung -- Verfälschung kann
man sagen -- der marxschen Perspektive im Exrealsozialismus merkst Du
daran, daß es dort heißt, daß der Staat den Sozialismus aufbaut, im
Gegensatz zur Gothaer Programmkritik, in der mit dem Aufbau des
Sozialismus der Abbau des Staates beginnt. Und damit ist die Sache
geklärt.
J.B.: Und insofern war dann der Bankrott des rotgetünchten
Staatskapitalismus ein einzigartiger historischer Fortschritt, weil
nun auch praktisch bewiesen ist, daß der Staat unmöglich ein Hebel
sein kann zum Kommunismus.
J. A.: Dem würde ich zustimmen. Der Staat der französischen
Revolution allerdings war ein Instrument der bürgerlichen Klasse
gegen die Vergangenheit. Heute hat der Staat, der bürgerliche Staat,
der Verfassungsstaat, der sog. demokratische Staat aufgehört,
Instrument der Emanzipation zu sein -- unabhängig davon, ob Du die
parlamentarische oder präsidiale Regierungsform nimmst. Die
Staatlichkeit als solche ist ein Organisationsprinzip, das nicht
emanzipatorisch sein kann.
J.B.; Auch nicht als "sozialistischer Staat des ganzen Volkes".
J.J. A.: Es gibt diese Äußerung von Wyschinski in den Moskauer
Prozessen, wo er den berühmten qualitativen Sprung ins Spiel bringt,
indem er sinngemäß sagt, daß es gälte, den Staat bis zur extremsten
Form der Macht auszubauen, damit er dann überflüssig wird. Das ist
pure Legitimationsideologie. Und heute, nach dem Zusammenbruch des
Ostens stehen wir vor der Situation, daß sich die Linke, und dazu
gehören auch viele Autoren der Zeitschrift "Konkret"...
J.B.: Ja, zum Beispiel Georg Fülberth, der sich zum
leidenschaftlichsten Patrioten erklärt, den die DDR jemals im Westen
hatte.
J.A.: ... diese Leute überlegen sich einfach nicht ernsthaft, welche
Lehren aus dieser Erfahrung zu ziehen sind. Die Ursachen des
Zusammenbruchs selbst sind ja eindeutig, der ökonomische Bankrott,
aber die Analyse fehlt. Ich kann mich noch gut erinnern an ein
Streitgespräch, das ich in Berlin mit Anfang der 60er Jahre mit
Peter-Christian Ludz geführt habe. Damals habe auch ich an einen
anders gearteten Freiheitsbegriff im Osten geglaubt. Ich sprach von
der Sowjetunion als Hoffnung der Völker. Wenn sich diese Hoffnung als
trügerisch, als falsch erwiesen hat, ist es höchste Zeit, den
Ursachen nachzugehen.
J.B.: Du sagst also, daß sich in den marxschen Schriften zur Pariser
Kommune, in der Kritik des Gothaer Programms, aber auch in den
Jugendschriften eine Reihe einschlägige Bemerkungen zum Thema finden
lassen. Aber wie läßt sich, über das Zitateklauben hinaus, diese
revolutionäre Synthese von, sagen wir einmal vorläufig, von Marxismus
und Anarchismus, auf der Ebene der Analyse Kapitals und der
Souveränität theoretisch begründen? Also nicht zwei Bewegungen
addieren, sondern die Notwendigkeit ihrer Einheit als das Gebot "der
Sache selbst" begründen?
J.A.: Ich kritisiere den bürgerlichen Verfassungsstaat ja nicht, weil
die bürgerliche Verfassung das ist, was ein Carl Schmitt von ihr
denkt, also die Institutionalisierung der Herrschaft einer
Schwatzbude, sondern ich kritisiere ihn als Staat, und zwar als den
Staat des Kapitals. Wer von der Warenform spricht, darf von der Form
Staat nicht schweigen, so ist das. Die Form Staat ist die den
kapitalistisch-bürgerlichen Gesellschaften entsprechende Synthese,
ihre politische Synthese. Insofern kann man eine Kritik am Kapital
nicht trennen von einer Kritik am Staat. Du kannst diese beiden
Formen der Kritik nur dann trennen, wenn Du meinst, der bürgerliche
Staat sei als Form etwas wertfreies, eine Entität, eine Wesenheit für
sich, über deren gute und schlechte Seiten man sich zwar unterhalten
kann, die aber als Form auf alle Fälle notwendig ist. Und ich würde
noch weitergehen und mit aller Vorsicht sagen, daß der Staat ohne
Kapital gar kein Staat ist, daß es also falsch ist, alle politischen
Formen vor dem Auftauchen des Bürgertums und der neuen
Produktionsweise als Staatsformen zu bezeichnen. Im Mittelalter hat
es überhaupt keinen Staat gegeben, das Reich war nicht der erste
Staat der Deutschen. Es gab keine Trennung von ökonomischer und
politischer Macht. Es gab keine Trennung zwischen dem Feudalherren
auf dem Land und dem Feudalherren im Palast. Das gleiche gilt für die
Kirche. Und bei der Kirche gibt es noch etwas ganz Besonderes: Einer
der köstlichsten Widersprüche der Weltgeschichte liegt in der
Verteidigung des Privateigentums seitens der Kirche, die eine
Großorganisation ist, und die an sich kein Privateigentum an
Produktionsmitteln haben darf. Und ausgerechnet diese Organisation
hält das Privateigentum für das heiligste aller Güter.
J.B.: Klingt, als habe sich der Bolschewismus daran ein Vorbild genommen.
J.A.: Ja, Rom, das ist wirklich ein lohnendes Kapitel der
Weltgeschichte. Das Prinzip des demokratischen Zentralismus stellt
nichts anderes dar als die Säkularisierung des Prinzips Roma locuta,
causa finita.
J.B.: Dann das Verhältnis von Scholastik und Inquisition, der falsche
Gottesbegriff als Todesurteil, die Moskauer Prozesse, Stalin als der
Pabst des Proletariats, als der Heiland der Einheit von weltlicher
und geistiger Herrschaft ....
J. A.: Giordano Bruno und Galilei haben aber im Gegensatz zu Bucharin
nie irgendeine Schuld gestanden.
J.B.: Über den Zusammenhang von Ideologie und Terror waren sie
vielleicht aufgeklärter als Bucharin. In diesem Zusammenhang liegt
ein Moment der Logik der Form Staat. Die Trennung von Ökonomie und
Politik ist es, die die spezifische Form schafft, in der
kapitalistische Gesellschaften sich synthetisieren, d.h. die
sekundäre Einheit auf dem gesellschaftlichen Boden der restlos
vollzogenen Spaltung. Die Linken kamen auf die Schnapsidee vom Staat
als Werkzeug für jedermann, weil sie das Kapital als Summe von
Einzelkapitalien, nicht als sozialen Prozeß der Verwertung, nicht als
Verhältnis gefaßt haben. Marx begreift das Kapital als ein
gesellschaftliches Produktionsverhältnis. Die Linken dagegen lösen
ihn im Kräfteverhältnis der Klassen auf, und dann erscheint der Staat
irgendwann als Schiedsrichter. Aber das Kapital, als soziales
Verhältnis betrachtet, als ein die Reproduktion der fatalen
Gesellschaft organisierendes gesellschaftliches Verhältnis, oder wie
Du sagst, als Zwangsverhältnis der sozialen Reproduktion -- dieses
soziale Verhältnis kann sich als ökonomisches Verhältnis nur
darstellen, wenn es sich zugleich zu einem politischen verdoppelt und
als staatlicher Gewaltapparat plus bürgerlichem Recht auftritt.
J.A.: Marx schreibt ja in der "Grundrissen", daß alle Verhältnisse in
der bürgerlichen Gesellschaft politische Formen annehmen. Deshalb
spreche ich von den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen".
Damit entgehst Du dem Fehler, der nicht nur ein theoretischer war,
sondern der auch ganz praktische Konsequenzen hatte, nämlich Ökonomie
und Politik im Sinne von Basis und Überbau zu trennen. Als ich die
"Transformation der Demokratie" in Italien veröffentlichen wollte,
wurde sie vom Laterza-Verlag abgelehnt, weil das Buch nicht
marxistisch genug sei. Die Linke denkt heute von den Institutionen
immer noch, sie seien der reine Überbau. Sie haben Hegel nicht
gelesen, das Verhältnis von Wesen und Erscheinung nicht begriffen.
Wenn Du von Hegel ausgehst und mit ihm sagst: "Das Wesen muß
erscheinen", dann kannst Du die ganze abstrakte Trennung von Basis
und Überbau aufrollen. Zu meinen, der Machtapparat...
J.B.: Der Souverän,,,
J.A: .. zu meinen, daß das, was ich den gesamtgesellschaftlichen
Organisator nenne und Du den Souverän, nur der reine Überbau sei, das
war politisch ein schwerer Fehler. Sie haben den bürgerlichen Staat
nicht verstanden.
J.B.: Und das war nicht irgendein Fehler, sondern einer mit Methode.
Merkwürdig nur, daß, wo immer die Abkehr vom Dogmatismus sich
vollzog, von der "relativen Autonomie" des Staates die Rede war. Die
Autonomen verschwanden, der Staat wurde einer. Die Lücke -- aber man
wollte sie um jeden Preis finden -- wurde von den
Kommunikationstheoretikern und den Postrationalen gefüllt.
Interessant, wie der Staat, je intensiver man ihn "ableitete", vom
Kapital an immer längerer Leine gehalten wurde. Spricht man dagegen
vom Kapital als dem politischen Ausdruck negativer
Vergesellschaftung, dann gibt's nichts mehr "abzuleiten" und vielmehr
was zu kritisieren, nämlich die Verdoppelung des Kapitals in Ökonomie
und Politik. Das ist etwas ganz anderes, aber nichts für Politologen.
J.J. A.: Dieses falsche Staatsverständnis hat eine lange Tradition.
Wenn wir einmal zurück in die Geschichte gehen: ich erinnere mich
noch sehr gut daran, wie nach meinen Vorträgen, die der SDS
organisierte, gleich zu Beginn der Diskussion immer der gleiche
Einwand kam, ich würde den Staat nicht ableiten aus dem Bestehen des
Kapitals, aus den Verwertungsschwierigkeiten des Kapitals. Diese Rede
kam ganz mechanisch. Auch die Hochschulreform in Berlin
beispielsweise wurde, unabhängig davon, ob sie kritisiert oder bejaht
wurde, nur durch den einen Fokus betrachtet: Ist sie eine Antwort auf
die Verwertungsschwierigkeiten des Kapitals oder ist sie es nicht?
Der Herrgott sieht alles, aber der Marxist weiß, was es bedeutet.
J.B.: Danke, ich wollte wieder auf die Ironie zu sprechen kommen. Du
bist ein sehr auf das Aphoristische gehender Denker, und man wundert
sich, daß Du je Deine Kraft für anderes verausgabt hast als für
Zwischenrufe, das macht den Charme Deiner Agitation aus. Zwar würdest
Du Deinen Marxismus nicht für eine gelungene Pointe verkaufen, aber
für ein halbes Dutzend? Aber die Kehrseite ist, daß Du auch kein
systematischer Denker bist, nicht in dem Sinne, daß Du unter
Systemzwang leiden solltest, sondern in dem, daß Du es leider
versäumt hast, die Arbeit, die Du Dir gemacht hast, in einen
übergreifenden Zusammenhang zu bringen. Ein Mensch wie Roman Herzog
hat eine "Allgemeine Staatslehre" geschrieben, aber Du leider keine
"Allgemeine Staatskritik".
J. A.: Ja, wenn ich das sympathisch ausdrücken mochte, dann sage ich,
ich bin ein Freund der kleinen Form. Wenn ich es böse sage, dann
liegt es an meiner Weigerung zur kontinuierlichen Arbeit.
J.B.: Du meinst, Du hast Dich mit Deinem privaten Kampf gegen die
Arbeit, mit Deinem persönlichen Recht auf Faulheit um einen Teil
Deiner Wirkung gebracht.
J. A.: Richtig. Es ist bekannt, daß ich mit meiner Faulheit
kokettiere. Aber andererseits bin ich ein fanatischer Leser, und da
gerade liegt mein Fehler, wenn man da überhaupt von Fehler sprechen
kann. Lesen kostet Zeit, während Habermas schreibt. Aber Du hast
recht, ein Systematiker bin ich nicht. Daß immer das Bedürfnis
vorhanden war, ich möge einer sein, merkst Du daran, wie zäh sich die
Legende hält, ich säße an einer Summa zur Kritik der Politik.
J.B.: Das wäre dann der Marxismus-Agnolismus. -Aber trotz Recht auf
Faulheit und trotz aller Kritik am Systemzwang wundert es doch für
einen Staatsfeind von Deinen Graden, daß Du Dich nie zum Zusammenhang
der Form Staat erstens mit der Nation, zweitens mit Nationalismus,
drittens dann mit Antisemitismus und Rassismus geäußert hast. Das ist
doch ein thema probandum.
J. A. : Wir sprachen eben schon von Basis und Überbau. Damit hat das
zu tun, mit dem Funktionieren des bürgerlichen Staates hat der
Nationalismus zu tun, und zwar im Kontext der ideologischen
Konsensusbildung.
J.B.: Das halte ich für einen Irrtum.
J. A.: Was soll der Nationalismus denn anderes sein als Konsensusbildung?
J.B.: Der Nationalismus kommt von der liberté und von der egalité,
die der Staat der Menschenrechte -- ein anderer Aspekt nur des
Staates des Kapitals -- als reale Vergesellschaftungsweise stiftet.
Konsensus klingt mir zu sehr nach Integration durch Ideologie, der
außer dem Willen nichts entspricht. Dem Nationalismus entspricht aber
die reale Vergleichung der Individuen unter der Form des Subjekts,
anders gesagt: keine Warenform ohne Subjektform, ohne Rechtsform. Es
ist die Gleichheit, die Vergleichbarkeit der unter die Subjektform
gefaßten und als Subjekte identifizierten Individuen, die den Kern
der Nation ausmacht, d.h. ihre Homogenität, die dann im Nationalismus
subjektiv zu Kopfe steigt. Die Gleichheit der als Waren produzierten
Gebrauchswerte im Geld erfordert die Gleichheit der als Subjekte
organisierten Individuen im Recht. Keine Machination der Herrschenden
also scheint mir der Nationalismus zu sein, sondern objektive
Ideologie.
J.A.: Darüber kann man reden, auch wenn's mir sehr nach Ableitung
klingt. Aber mein Einwand geht in eine andere Richtung. Wenn wir
demnächst keinen Nationalstaat mehr haben in Europa, dann haben wir
nach wie vor die Form Staat, und dann wirst Du sehen, daß der
Nationalismus doch eine Konsensusideologie ist, die verschwinden
kann, ohne daß die Form Staat verschwindet ...
J.B.: ... und ohne daß die Form Nation verschwindet?
J.A:: Die Nation ist ja eine doppeldeutige Sache. Die Form Nation in
dieser spezifischen Fassung des Nationalstaates oder der
Identifizierung mit dem Nationalstaat ist ein historisches Phänomen.
Es ist nicht von ungefähr, daß der Slogan von der "Nation Europa" von
den Faschisten kommt. Die Faschisten wollen auf jeden Fall die Nation
hoch halten, deshalb sprechen sie von der Nation Europa. Aber was
soll das denn sein, die Nation Europa? Wir haben dann mit Europa
einen zentralen starken Staat, der alte Nationalismus ist damit
erledigt. Es gibt einen Europäismus oder Eurozentrismus, aber das ist
nicht mehr der Nationalstaat.
J.B.: Der Staat kann überhaupt nur in der Form des Nationalstaates
existieren. Davon hängt die Homogenisierung ab, die zu leisten seine
raison d'être ausmacht. Der Staat, nur weil er europäischer Staat
sein wird, wird doch nicht seinen Charakter als Rechtsstaat aufgeben.
J.A:. Gut, es stimmt, daß es in meiner Theorie, was den Staat
anbelangt, ein theoretisches Manko gibt. Aber jetzt ist es wirklich
zu spät, um es noch abzuschaffen. Wenn ich akademisch veranlagt wäre,
würde ich in einem meiner nächsten Vorworte schreiben: Bezüglich des
Nationalismus verweise ich auf das großartige Buch von Joachim Bruhn,
"Was deutsch ist. Zur kritischen Theorie der Nation".
J.B.: Herzlichen Dank. Trotzdem ist es seltsam, nicht nur in puncto
Nationalismus, daß Dein theoretischer Avantgardismus in Sachen der
Staatskritik blinde Flecken aufweist. Beim bürgerlichen Staat spielt
der Nationalismus keine Rolle, beim faschistischen Staat spielt der
Antisemitismus keine Rolle. Er kommt nicht vor. So warst Du zum
Beispiel einer der Wenigen, die die Arbeiten von Alfred Sohn-Rethel
rezipiert und, sagen wir's im Stil der Zeit, propagiert haben. Für
Sohn-Rethels "Ökonomie und Klassenstruktur des deutschen Faschismus"
hast Du, gemeinsam mit Bernhard Blanke und Ulf Kadritzke, ein
umfängliches Vorwort geschrieben, ein Buch, das allerdings einen
einzigartigen Fortschritt in der Faschismusanalyse bedeutet. Soviel
Fortschritt, aber wohin? In die gleiche Blindheit und Gleichheit dem
Antisemitismusproblem gegenüber, das schon den Dogmatismus
auszeichnete. Wie kamst Du zu Sohn-Rethel, immerhin dem
unbekanntesten aller kritischen Theoretiker.
J. A.: Das weiß ich selber nicht mehr so genau. Als die Schrift
veröffentlicht werden sollte, bestand Sohn-Rethel darauf, ich solle
das Vorwort schreiben. In seinem Buch exemplifiziert Sohn-Rethel am
deutschen Faschismus den Gedanken der dialektischen Einheit von
Ökonomie und Politik. Die bonapartismustheoretische Formulierung, die
Faschistenpartei sei der Reiter im Sattel der Bourgeoisie, der diese
dazu zwinge, gegen ihren empirischen Willen ihre eigene Bahn zu
reiten, ist ja auch berühmt geworden. Und diese Bonapartismustheorie
ist auch eine ganz komische Sache. Der Faschismus, der sozusagen die
Bourgeoisie für sich arbeiten läßt, ist eine korrekte Beschreibung
für den deutschen Nationalsozialismus, nicht für den italienischen.
Man kann wirklich nicht sagen, daß in Italien die Faschisten die
Bourgeoisie vor ihren Karren gespannt hätte, auf keinen Fall. Da war
die Symbiose zwischen Kapital und Regime viel stärker als in
Deutschland -- nicht formell, sondern informell. Zum Beispiel wurde
Graf Volpe de Misorata, der Vorsitzende des Vereins der italienischen
Aktiengesellschaften, Wirtschaftsminister. Der Gedanke einer
dialektischen Einheit von Ökonomie und Politik im deutschen
Faschismus jedenfalls war ein großer Fortschritt. Er ist es immer
noch.
J.B.: Trotzdem: die klassischen Faschismustheorien der Linken von
Ernst Blochs Theorie der Ungleichzeitigkeit angefangen bis hin zu
Talheimer, Trotzki und auch Sohn-Rethel ignorieren den
Antisemitismus, und sie ignorieren nicht nur den Antisemitismus,
sondern sie grenzen zudem die Massenvernichtung als gleichsam nicht
zum Begriff des Faschismus gehörig aus. Daß die Nazis vielleicht eine
neue, zwar kapitalentsprungene, aber nicht darauf reduzierbare
Gesellschaftsformation erfunden haben könnten, die Barbarei -- soviel
dialektischer Erkenntnismut kommt nicht unter. Was auch mit dem
traditionellen Marx-Verständnis zusammenhängt, er handle vom
"Grundwiderspruch", wo er doch dessen Synthesis behandelt.
J.A: So war es aber. Außerdem sind Faschismus und Antisemitismus
nicht gleichzusetzen -- noch nicht einmal Faschismus und
Konzentrationslager. In Italien z.B. hat es gar keine
Konzentrationslager gegeben.
J.B.: Es gab aber die Verbannung.
J. A.: Gut, das ist richtig. Das betraf einige tausend, nicht
hunterttausende.
J.B.: Es geht aber doch um die Vernichtungslager. Sohn-Rethel verfaßt
eine Theorie des Nationalsozialismus auf der Grundlage unmittelbarer
Erfahrungen aus dem Mitteleuropäischen Wirtschaftstages. Die
Manuskripte führen im Kern auf die frühen Dreißiger zurück. Du
schreibst nun 1973 ein Vorwort, eine Einleitung in eine
avantgardistische Theorie des Nazismus, und Du kritisierst
Sohn-Rethel nirgends dafür, unter den Konstituentien des NS den
Antisemitismus übersehen zu haben. Die sogenannte "Judenfrage" immer
noch ein sogenannter "Nebenwiderspruch"?
J. A.: Antisemitismus gab es damals sozusagen ausschließlich als
Generationenproblem, also als Auseinandersetzung mit den Vätern, die
von allem nichts gewußt haben wollen, und nicht als wesentliche
ideologische Komponente des Nationalsozialismus. Wir waren auf die
sozio-ökonomische Grundlagen des Faschismus fixiert. Auch in meine
Vorlesungen habe ich immer wieder darauf hingewiesen, daß man die
Judenausrottung nicht mit den normalen, also marxistisch gedacht: mit
sozio-ökonomischen Kategorien erklären kann.
J.B.: Liegt nicht darin das Problem, daß die kapitalistische
Normalität vom Ausnahmezustand abgekoppelt wird? Immer, wenn von
Auschwitz die Rede ist, wird auch von "Irrationalität" gesprochen,
als gebe der normale kapitalistische Geschäftsgang ein Maß der
Rationalität. Man wundert sich, daß Menschen ermordet werden, die
noch arbeiten könnten. Aber da zeigt sich, daß der Begriff von
Rationalität nur auf den Zweck-Mittel-Zusammenhang geht, auf nichts
sonst. Es ist aber eine Rationalisierung, den ausbeuterischen, also
das Leben der Arbeitskraft voraussetzenden Umgang, den das Kapital
mit Menschen pflegt, vom Massenmord abzuspalten. Was also immer noch
verwundert, das ist, daß es diese massive Verdrängungsleistung des
68er Antifaschismus gab, und daß es doch zeitgleich die kritische
Theorie gab, die den Massenmord zum Ausgang ihrer Erkenntnis
kapitaler Rationalität gemacht hat, eine Auffassung gegen die massiv
polemisiert worden ist -- gerade von den aktivistischen Studenten,
die der kritischen Theorie vorgeworfen haben, sie sei elitär,
abgehoben, elfenbeinturmartig, blutleer, wurzellos etc. Die sie also
sie mit allen erdenklichen antisemitischen Stereotypen bedacht haben.
JJ. A.: Darüber habe ich nie nachgedacht.
J.B.: Adorno und Horkheimer waren der seltsam klingenden Auffassung,
daß es in keinem Land weniger Antisemitismus gegeben habe als im
Deutschland vor Hitler. Aus dieser Beobachtung läßt sich ableiten,
daß der Nationalsozialismus nicht einfach eine Potenzierung des
Antisemitismus darstellt, sondern die schärfste Radikalisierung der
inneren Krise der bürgerlichen Gesellschaft, also der
Zusammenbruchskrise, in der der Staat des Kapitals als Nothelfer
auftreten muß. Frankreich war vor 1933 wesentlich antisemitischer als
Deutschland. Hitler hat die Juden nicht ausgerottet, weil er ein
Antisemit war (das war er natürlich), sondern er ermordete die Juden,
weil die Krise Formen annahm, in denen es geboten schien, durch die
Ausrottung der Juden aus den Deutschen, Kapitalisten und Arbeiter
eingeschlossen, ein verschworenes Mordkollektiv zu machen.
J..A:: Ja, dem stimme ich zu. Dennoch bleibt etwas Unerklärliches und
für mich Unbegreifliches.