Das Kommunistische Manifest und die Avantgarde-Funktion der Kommunistischen Partei
Vorbemerkungen:
1. Das Anliegen der folgenden Überlegungen ist es, zur Klärung der
Spezifik des Begriffs des Politischen im Marxismus beizutragen, der
fundiert ist in der Spezifik des marxistischen Verständnisses von Theorie
und Praxis, wie es in den Feuerbach-Thesen skizziert wird, und das u.a. in
einem sehr eigentümlichen Verständnis eines behaupteten Zusammenhangs von
philosophischer Wahrheit und einer sozialen Bewegung: der Arbeiterbewegung
zum Ausdruck kommt (vgl. z.B. die lapidare Bemerkung von Engels (MEW 21,
307), daß 'die deutsche Arbeiterbewegung die Erbin der deutschen
klassischen Philosophie' sei).
2. Den Ausgangspunkt bildet ein, wenn nicht gar der zentrale Punkt, an
dem sich das Kommunistische Manifest heutzutage scheinbar erledigt
hat: die Avantgarde-Funktion.
3. Die im folgenden häufig erfolgende Bezugnahme auf Positionen der PDS
dient zum einen der Verdeutlichung der eigenen Position und ist zum
anderen der Tatsache geschuldet, daß die PDS Nachfolgepartei der SED ist
und sich damit unausweichlich mit der Avantgarde-Konzeption
auseinandersetzen muß. Es geht mir, durchaus in Solidarität, um den
Aufweis, daß die PDS andere Konsequenzen zieht, als sie mir zwingend
zu sein scheinen; es geht mir nicht um Grabenkämpfe und Anfeindungen der
PDS von 'links' in schlechter linker Tradition.
Das Folgende gliedert sich in fünf Schritte und vier markante Punkte.
I. Die Avantgarde-Funktion ist kulturell out. Das muß man zwar nicht eigens belegen, aber zwei Beispiele will ich trotzdem angeben: Die PDS hat erklärtermaßen auf die Avantgarde-Funktion verzichtet, und dies nachdrücklich als den Beitrag zur Überwindung und Erneuerung der Partei als Nachfolgepartei der SED deklariert. Und im Haugschen Wörterbuch des Marxismus liest man unter Avantgarde: "Die neuere marxistische und 'post-marxistische' Diskussion hat das A-Konzept fallengelassen." Und weiter: "Mit den epochalen Veränderungen in der Sowjetunion und in Ost-/ Mitteleuropa, dem (durch den Druck der Bewegungen erzwungenen) Verzicht der regierenden Kpen auf ihr konstitutionell verbrieftes Führungsmonopol, dem Übergang zu einem Mehrparteiensystem, dem schließlichen Sturz und Zerfall der Kpen ist das A-Konzept des ML endgültig gescheitert." (Mackenbach 1994, Sp. 806)
1. Punkt:
Ich teile diese Diagnosen: Das von den alten Kpen praktizierte
Avantgarde-Konzept ist nicht zu reparieren. Es hat einen grundsätzlichen
Konstruktionsfehler, den es nicht auszubessern gilt, sondern zu
überwinden. Ich will jetzt schon - zur Vermeidung von Mißverständnissen und
Scheindiskussionen - sagen, daß daraus nicht notwendig folgt, daß die
Avantgarde-Funktion ersatzlos zu streichen ist. Aber das ist nicht der
Ausgangspunkt. Der Ausgangspunkt ist ein Plädoyer, jenen kulturellen
Tatbestand systematisch ernst zu nehmen. Ich muß dafür einen sehr
emphatischen Begriff von geschichtlicher Erfahrung einführen. Ich würde
dann sagen, daß es eine geschichtliche Erfahrung ist, daß jenes
Avantgarde-Konzept nicht reparabel ist und daß wir dahin weder zurück
können noch sollten. Das ist kein harmloser Satz, der sich heute von selbst
versteht. Was ich damit meine, ist u.a., daß es eine geschichtliche
Erfahrung ist und nicht (z.B.) eine theoretische Einsicht. Und das hat zur
Folge, daß diese Erfahrung einen Wahrheitsgehalt hat auch dann, wenn wir
keine befriedigende, widerspruchfreie, nicht-aporetische theoretische
Erklärung finden oder wenn wir sogar zeigen könnten, daß es eine solch
befriedigende theoretische Erklärung gar nicht gibt. Konkreter: Ich komme
zu anderen Ergebnissen als die PDS, aber das ist eine andere
Interpretation derselben geschichtlichen Erfahrung. Ich habe keinen
theoretischen Beweis oder auch nur eine theoretische Plausibilisierung
dafür, daß die Konsequenz der PDS theoretisch falsch ist. Im Gegenteil. Die
Avantgarde-Funktion aufzugeben, ist eine mögliche und sinnvolle Konsequenz
des Ernstnehmens jener geschichtlichen Erfahrung. Und umgekehrt: Weiter an
der Avantgarde-Funktion festzuhalten, steht für eine andere Art von
Politik und nicht für ein vermeintlich richtigeres Verständnis dessen, was
Avantgarde marxistisch 'eigentlich' meint. Zugespitzt: der Versuch, der
PDS ein falsches Verständnis von Avantgarde vorzurechnen, ist nahe daran,
ein Fall von Nichternstnehmen jener geschichtlichen Erfahrung zu sein. Es
ist ein Versuch, die Katastrophen-Praxis der alten Kpen theoretisch
wegzuerklären.
Dieses Konzept von geschichtlicher Erfahrung würde ich gerne diskutieren.
Es ist theoretisch sehr, sehr heikel und gewagt, denn hier geht ein Moment
von Positivismus in die Theorie ein, von dem ich hoffe, es
dialektisch-materialistisch reformulieren zu können. Was ich hier
beschwöre, richtet sich nachdrücklich gegen jeglichen theoretischen
Positivismus: Der Satz "Das alte Avantgarde-Konzept ist nicht reparabel"
ist kein 'Protokollsatz'; hier ist gerade nicht ein vermeintlich
unmittelbarer Zugriff auf soziale Realität behauptet, denn es
ist nicht einfach so, daß jenes Konzept nicht reparabel ist. Daß heute viele
Menschen diesem Satz zustimmen, ist ein Indiz seiner Realitätshaltigkeit,
aber es ist nicht der Grund seines Wahrheitsgehalts. Es schwingt etwas mit
von der Art, daß wir keine Energie mehr daran setzen, dem alten
Avantgarde-Konzept noch eine historische Chance einzuräumen, daß diesem
Konzept gleichsam die Luft ausgegangen ist und daß sich die Beweislast
verschoben hat: diejenigen, die behaupten, jenes alte Konzept sei
reparabel, haben heutzutage einen schweren Stand - nicht, weil sie in der
Minderheit sind: auch eine Minderheit kann für eine 'gute Sache' eintreten
und gleichsam die historische Wahrheit auf ihrer Seite haben, sondern weil
die Sache selbst kulturell diskreditiert ist. Heutzutage für die
Ausbesserung des alten Avantgarde-Konzeptes einzutreten, ist entfernt
vergleichbar damit, daß sich nach Darwin diejenigen ein mildes Lächeln
einfangen, die die biblische Genesis wörtlich interpretieren (und nicht
als ernstzunehmenden Mythos), also in ihr eine Konkurrenzerklärung zur
Evolutionstheorie sehen. Und das, was ich mit 'geschichtlicher Erfahrung'
beschwöre, richtet sich genauso nachdrücklich gegen den Pragmatismus: daß
jenes alte Avantgarde-Konzept nicht reparabel ist, hat seinen
Wahrheitsgrund nicht in einer Nützlichkeitsabwägung. Wer sich vom alten
Avantgarde-Konzept verabschiedet, 'weil es heutzutage nicht angesagt und
nicht durchsetzbar ist, also politisch nicht von Nutzen', der verändert die
Taktik seiner Politik, aber läßt noch offen, ob es nicht dereinst eine
historische Situation geben mag, die es wieder nützlich erscheinen läßt,
auf dieses alte Avantgarde-Konzept zurück zu kommen. Der Appell an unsere
geschichtliche Erfahrung ist demgegenüber ein Appell, das alte
Avantgarde-Konzept in der Strategie der eigenen Politik zu
verabschieden.
II. Es gibt nun verschiedene Strategien, den so evident vorliegenden
Fehler des alten Avantgarde-Konzepts zu lokalisieren.
0. Die Überzeugung, daß es sich nicht um einen Fehler des Theorems
handelt, sondern ausschließlich um eine Frage der Bedingungen der
Realisierung dieses Theorems. Wenn das schon alles ist, dann ist das eine
Strategie, sich gegenüber jener geschichtlichen Erfahrung zu immunisieren.
1. Je nach eigener Position wird der entscheidende Fehler z.B. bei Stalin,
bei Lenin, bei Engels oder vielleicht sogar bei Chruschtschow verortet. Im
Prinzip ist das immer noch eine Stratgie des 0. Typus: die Annahme der
Entartung eines ursprünglich vernünftigen Konzepts. Dafür spricht eine
ganze Menge, denn die konkrete Praxis der KPen kann sicherlich nicht aus
dem Kommunistische Manifest abgeleitet werden. Dort steht nichts von
konstitutionell verbrieftem Führungsanspruch oder Einparteiensystem, oder,
oder. Dennoch kann und muß, wer das Avantgarde-Konzept als solches für
fatal erklärt, mit guten Gründen
2. den entscheidenden Fehler bereits im Kommunistische Manifest
verorten. Zwar kommt das Manifest ohne das Wort aus, aber die
Avantgarde-Funktion wird der Sache nach dort begründet: Die Kommunisten
"kämpfen für die Erreichung der unmittelbar vorliegenden Zwecke und
Interessen der Arbeiterklasse, aber sie vertreten in der gegenwärtigen
Bewegung zugleich die Zukunft der Bewegung." (Engels/ Marx 1848, 492) - sie
"sind also praktisch der entschiedenste, immer weiter treibende Teil der
Arbeiterparteien aller Länder; sie haben theoretisch vor der übrigen Masse
des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die
allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus." (ebd., 474) Ob
man es so nennt oder nicht: Kommunisten sind dann, deshalb und dadurch
Kommunisten, daß sie die Zukunft der Bewegung vertreten bzw. "stets das
Interesse der Gesamtbewegung" (ebd.).
2. Punkt (These):
Die von mir beschworene geschichtliche Erfahrung besagt gerade, daß es
sich nicht um die Entartung eines Theorems handelt, das als solches
unschuldig ist. Vielmehr ist es das Theorem selbst, daß jenen
Grundkonstruktionsfehler wesentlich zuläßt. (Aber eben nicht notwendig:
daß es diesen Grundkonstruktionsfehler erzwingt. Das ist eine andere
Interpretation jener geschichtlichen Erfahrung.)
III. Das Problem des Theorems ist offenkundig. Kommunisten sind ein Teil
der Bewegung, die aber die Gesamtbewegung vertreten; sie haben den anderen
etwas voraus, primär Einsicht. Das als solches ist vielleicht nicht das
Problem. "Die Kommunisten sind keine besondere Partei gegenüber den andern
Arbeiterparteien. Sie haben keine von den Interessen des ganzen
Proletariats getrennten Interessen. Sie stellen keine besonderen
Prinzipien auf, wonach sie die proletarische Bewegung modeln wollen."
(Engels/ Marx 1848, 474)
Der Kern des Problems liegt dort, wo bereits feststeht bzw. festzustehen
scheint, was das denn heißt: die Gesamtbewegung zu vertreten. Die
Kommunisten wissen bereits um "den feindlichen Gegensatz von Bourgeoisie
und Proletariat" (ebd., 493).; sie heben in "allen diesen Bewegungen die
Eigentumsfrage, welche mehr oder minder entwickelte Form sie auch
angenommen haben möge, als die Grundfrage der Bewegung hervor." (ebd.,
493) Dann und nur dann ist man Kommunist und erfüllt die
Avantgarde-Funktion.
Warum das so ist, dafür gibt es natürlich eine Begründung. Die steht,
letztlich, im Marxschen Kapital, was also das Heilige Buch des
Kommunismus ist. Diese Analogie zur Bibel ist streng und keinesfalls
polemisch-wertend gemeint: das, was es heißt, die Gesamtbewegung zu
vertreten, ist geoffenbartes Wissen, steht im Heiligen Buch geschrieben
und trägt als Trost durch alle Wechselfälle des Lebens. Kommunisten sind
dann die Missionare der Bewegung: auch Missionare haben den Heiden etwas
voraus, denn sie wissen bereits, wo die Erlösung zu finden ist, denn das
steht in den heiligen Büchern geschrieben.
Es ist exakt dieser Kern des Problems, dem sich die PDS programmatisch
verweigert: sie geht programmatisch davon aus, daß es verschiedene
Weltanschauungen gibt und in der PDS geben soll, die Menschen dazu bringt,
für den Sozialismus einzutreten. Und das heißt: Das Eintreten für einen
innerparteilichen Weltanschauungs-Pluralismus ist äquivalent zum Verzicht
auf den wissenschaftlichen Kommunismus als eindeutiger Begründung des
Sozialismus. Das ist zugleich ein anderes Verständnis von Sozialismus: im
einen Fall (PDS) ist es ein als solcher gegebener Wert, zu dem viele
theoretische Wege führen; im anderen Fall ist die Bedeutung von
Sozialismus definiert durch die kommunistische Begründung. Ob Sozialismus
ein Wert ist oder aber ein durch seine theoretische Begründung definiertes
Konzept, ist nicht theoretisch entschieden, sondern eine Frage der
politischen Strategie.
IV. Der Verzicht auf die Avantgarde-Funktion ist der Verzicht auf eine
revolutionäre politische Strategie.
"Jede neue Klasse nämlich, die sich an die Stelle einer vor ihr
herrschenden setzt, ist genötigt, schon um ihren Zweck durchzuführen, ihr
Interesse als das gemeinschaftliche Interesse aller Mitglieder der
Gesellschaft darzustellen, d.h. ideell ausgedrückt: ihren Gedanken die
Form der Allgemeinheit zu geben, sie als die einzig vernünftigen,
allgemein gültigen darzustellen." (Engels/ Marx 1845/46, 47)
Revolutionäre Politik (=die bestehende Ordnung nicht reparieren, sondern
überwinden zu wollen) zu betreiben, ist es also, zu setzen, daß die
eigenen Gedanken die einzig vernünftigen sind. Philosophen mögen dann
kritteln, daß dies bloße Ideologie ist, denn selbstverständlich kann
theoretisch ein besonderes Interesse nicht zugleich allgemeines
Interesse sein. Politik aber wäre nicht revolutionäre Politik, wäre sie
nicht in diesem Sinne ideologisch.
Das Konstruktionsprinzip des alten Avantgarde-Konzeptes liegt darin, daß
es die Übereinstimmung des besonderen Interesses der Arbeiterbewegung mit
den allgemeinen Menschheits-Interessen für theoretisch verbrieft hält.
Politik ist dort nicht der Ort, an dem sich diese Übereinstimmung zu
erweisen und zu gestalten hat, sondern Politik ist das ausführende Organ
der Umsetzung der theoretisch verbrieften Einsicht dieser Übereinstimmung.
Das alte Avantgarde-Konzept will nicht wahrhaben, daß revolutionäre
Politik ideologisch ist - trotz aller Beschwörungsrituale der
Parteilichkeit von Wahrheit (bei aller Parteilichkeit von Wahrheit gab es
immer noch die 'wissenschaftliche = nicht-ideologische' Erklärung von
Welt, die verbürgte, daß Wahrheit nicht als solche parteilich ist, sondern
daß sie nur vom 'richtigen' Standpunkt erkennbar sei). Es hält
sozusagen nicht aus, daß es nicht möglich ist, die Welt so lange und so
genau wissenschaftlich zu analysieren, bis man endlich sagen kann, auf
welche Seite des Klassenkampfes man sich stellen muß. "Es gibt keinen
logischen Beweis gegen Tyrannei und Grausamkeit." (Horkheimer 1938, 221)
Das alte Avantgarde-Konzept will nicht wahrhaben, daß Parteilichkeit der
Grund, und nicht das Ergebnis der Analyse der Welt ist.
Die prinzipiell ideologische Form revolutionärer Politik zu leugnen bzw.
abzulehnen, ist die gemeinsame Basis der alten Kpen und der PDS - wenn
auch mit direkt gegenteiliger Wertung.
3. Punkt (Zusammenfassung):
Folgt man dieser gemeinsamen Basis, dann ist die Alternative
Beibehaltung oder Aufgabe der Avantgarde-Funktion gleichbedeutend mit
der Alternative: entweder missionarisch tätig sein oder Verzicht auf
revolutionäre Politik. Der theoretische Grund dieser gemeinsamen Basis ist
die Unterstellung, Parteilichkeit sei das Ergebnis der Analyse der Welt.
V. Geht man vom prinzipiell ideologischen Charakter revolutionärer Politik
aus, dann muß man als Kommunist die eigenen Gedanken für die einzig
vernünftigen setzen - und d.h. hier: die kommunistische Begründung des
Sozialismus für die allgemein gültige setzen - und zugleich die eigene
Politik so gestalten, daß erfahrbar ist und bleibt, daß die Wahrheit
dieses Setzungsakts nicht theoretisch verbrieft ist.
"Wenn die Philosophie der Praxis theoretisch behauptet, daß jede für ewig
und absolut gehaltene 'Wahrheit' praktische Ursprünge gehabt hat und daß
sie einen 'provisorischen' Wert dargestellt hat (Geschichtlichkeit jeder
Welt- und Lebensauffassung), so ist es sehr schwierig, 'praktisch'
verständlich zu machen, daß eine solche Interpretation auch für die Philosophie
der Praxis selbst gilt, ohne dabei die zum Handeln notwendigen
Überzeugungen zu erschüttern." (Gramsci 1929 ff., Bd. 6 [1932-33], 1476)
Marxistische Theorie läßt theoretisch zu, kein Marxist zu sein; man macht
keinen theoretischen Fehler, und es ist nicht so, daß man die Welt noch
nicht gut genug angeschaut hat, wenn man nicht Marxist ist. Alle
vormarxsche Philosophie hat für sich selbst - so die Feuerbach-Thesen -
das Gegenteil angenommen. Marxist zu sein ist nicht das Ergebnis eines
richtigen Anschauens der Welt, sondern eine Haltung, d.h. der gebildete
Grund, die Welt so anzuschauen, wie man es dann eben tut. Und anschauen
kann man die Welt immer auch anders.
Dann unterscheidet sich Kommunisten von Missionaren: ein Missionar kann
theoretisch nicht zugestehen, daß ein Heide zu seinem eigenen Glück und zu
seiner eigenen Erlösung kommt. Das zuzulassen, ist Häresie gegenüber dem
heiligen Buch, in dem festgeschrieben steht, wie man zur Erlösung
kommt. Es gibt zwar sehr moderate und liberale Formen des Missionarischen:
nicht alle nicht-bekehrten Heiden werden gleich unterdrückt, sondern viele
werden durchaus in Ruhe gelassen. Aber ein Missionar weiß dann trotzdem,
daß der Heide Schuld auf sich lädt bzw. seine Erlösung verpaßt. Und vor
allem: der Missionar hat kein Eigeninteresse daran, den Heiden zu
bekehren. Wenn der Heide bekehrt ist, ist das kein Beitrag zur Erlösung
des Missionars, sondern der Missionar opfert sich ja gerade auf, den
Anderen den Weg zur Erlösung zu weisen. Vielleicht spekuliert er darauf,
bei Gott Pluspunkte zu sammeln, aber gerade das wäre nach christlichem
Verständnis der sicherste Weg, sein Seelenheil zu verspielen.
Ein Kommunist kann theoretisch einem Nicht-Kommunisten seine
Weltanschauung lassen; aber praktisch muß er aus Eigeninteresse daran
interessiert sein, daß sich alle Nicht-Kommunisten am "gewaltsamen Umsturz
aller bisherigen Gesellschaftsordnung" beteiligen. Da ist bei allem
Pluralismus von Weltanschauungen und bei aller Pluralität
innerparteilicher Positionen für Gleich-Gültigkeit kein Platz.
4. Punkt:
Das Theorem der Avantgarde-Funktion läßt beide Varianten wesentlich zu.
Das meint, daß in diesem Theorem kein normativer Maßstab liegt, an dem
gemessen sich das alte Avantgarde-Konzept als eine Abweichung von dieser
Norm erweist. Wer dann als Kommunist nicht in die Rolle des Missionars
schlüpfen will, muß aktiv Politik gegen jene Variante betreiben; es hilft
dann nichts, den anderen eine falsche Interpretation anzukreiden.
Literatur
Brie, A. u.a., 1997, Zur Programmatik der Partei des Demokratischen
Sozialismus. Ein Kommentar. Berlin.
Engels, F./ Marx, K., 1845/46, Die deutsche Ideologie. In: MEW 3, Berlin
1983.
Engels, F./ Marx, K., 1848, Manifest der Kommunistischen Partei. In: MEW
4, Berlin 1974.
Gramsci, A., 1929 ff., Gefängnishefte. Kritische Gesamtausgabe, hg. v.
W.F. Haug, Hamburg 1991 ff.
Haug, W.F. (Hg.), 1994 ff., Historisch-Kritisches Wörterbuch des
Marxismus. Hamburg.
Horkheimer, M., 1938, Montaigne und die Funktion der Skepsis. In:
Horkheimer 1972.
Mackenbach, W., 1994, 'Avantgarde'. In: Haug 1994 ff., Bd. 1 (1994).
Marx, K., 1845, Thesen über Feuerbach. In: MEW 3, Berlin 1983.