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Petra Bach

Die Krise des "Sozialstaats" und die Stellung der Kommunisten

Jahrelang gefiel sich die Linke in der Rolle des drohenden Warners vor "dem Sozialabbau". Angeblich arbeitete das Kapital schon in den siebziger Jahren daran, endlich die "Sozialpartnerschaft" aufzukündigen. Doch anders als in der Wahrnehmung dieser Linken, garantierten "Sozialstaat" und "Sozialpartnerschaft" in diesen Jahren den gesellschaftlichen Frieden in der Bundesrepublik. Niemand, weder Gewerkschaften noch Kapital, beabsichtigte, hieran etwas zu ändern, und die Prophezeihungen der einsamen linken Warner verhallten ungehört. Die Linke machte sich vor einer Arbeiterklasse lächerlich, die anhand der Realität ihrer Lohnabrechnungen feststellen konnte, daß Reallohnsteigerungen möglich waren.

Fünf Jahre nach dem Beitritt der neuen Bundesländer stehen viele Gewißheiten der alten Bundesrepublik zur Disposition. Gefahr für den "Standort Deutschland" ist in aller Munde, je nach politischer Herkunft wird ein Um- oder Abbau des "Sozialstaats" gefordert, und sogar die Nutznießer einer Ausweitung der Staatstätigkeit empfehlen Mäßigung. So plädiert Joschka Fischer für Zurückhaltung bei kostspieligen politischen Plänen der Grünen, und Dieter Wunder, Vorsitzender der GEW, möchte den eintönig gewordenen Ruf seiner Gewerkschaft nach mehr Lehrern durch neue, "qualitative", Forderungen ersetzt wissen.

Im Sommer 1995 erschien eine Ausgabe der Beilage zur Zeitschrift Das Parlament, die sich des strittigen Themas "Sozialstaat" angenommen hatte. Kern des Heftchens sind die Aufsätze eines Vertreters der Gewerkschaften und eines der Arbeitgeber. [1] Die Gegenüberstellung dieser Autoren ermöglicht einen Blick auf die Bandbreite der Probleme und die Positionen der gesellschaftlichen Akteure Arbeit und Kapital. Darüber hinaus soll gefragt werden, wo innerhalb dieser gesellschaftlichen Debatte der Platz der Kommunisten sein kann.

Die Kosten der Einheit

Der Standpunkt der Gewerkschaften wird von G. Bäcker, einem Mitarbeiter des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts der Hans-Böckler-Stiftung des DGB formuliert. Bäcker grenzt sich von dem in der öffentlichen Diskussion suggerierten Bild ab, der "Sozialstaat" an sich sei in einer Krise, eine Argumentation, die sich mit den Stichworten "Inflation des Anspruchsdenkens", "Mißbrauch des Sozialstaats", "Versorgungsstaat", etc. verbinde. Vielmehr gehe es einzig um das Problem, daß der Rahmen zur Finanzierung des "Sozialstaats" sich aufgrund äußerer Umstände geändert habe. Der neue Rahmen sei enger gezogen, aufgrund des enormen Finanzbedarfes im Gefolge des Beitritts der neuen Bundesländer, kombiniert mit der wachsenden Unfähigkeit des Kapitals, die vorhandenen Arbeitskräfte zu beschäftigen. So weit, im Kern, die Argumentation des Gewerkschafters.

Die Sozialleistungsquote, d. h. der Anteil der im Sozialbudget enthaltenen Leistungen am Bruttosozialprodukt, liegt heute in den alten Bundesländern nach Angaben Bäckers mit 30,3 % "unter dem Durchschnittswert der achtziger Jahre". Nach Angaben des von der Bundeszentrale für politische Bildung herausgegebenen Deutschland-Handbuches fand die stärkste Ausweitung des "Sozialstaats" zwischen 1965 und 1975, mit einer seitdem nicht wieder erreichten Steigerung der Quote von ca. 22 auf ca. 32 % (Bild 1) statt, ohne daß zu diesem Zeitpunkt eine Krise des Sozialstaats ausgerufen worden wäre.

Seitdem oszilliert die Quote um etwa 30 % und betrug beispielsweise 1991 29,7 % [2]. Eine nennenswerte Ausweitung des Sozialstaats im Westen der Bundesrepublik hat es seit 1975 tatsächlich nicht gegeben. Woher resultiert dann das Problem heute?

Bild 1: Sozialleistungsquoten (Aufwendungen in % des Bruttosozialprodukts) [3]

Sozialleistungsquoten

Ein anderes Bild ergibt sich dann, wenn die neuen Bundesländer in die Betrachtung miteinbezogen werden. In den neuen Bundesländern erreicht die Sozialleistungsquote angesichts des fast vollständigen Zusammenbruchs der industriellen Basis einen Rekordwert von 70 %. Damit aber wird die gesamtdeutsche Quote auf 34 % hochgetrieben. Von dieser Seite her hat es also eine durchaus kräftige Ausweitung des "Sozialstaats" gegeben.

Von einer "Anspruchsinflation", "Sozialstaatsmißbrauch" oder dergleichen als Ursache der Krise des "Sozialstaats" kann keine Rede sein. Aber alle Sozialsysteme der Bundesrepublik, Rentenversicherung, Arbeitslosenversicherung, Krankenversicherung, etc., werden heute von 16 - 17 Millionen Menschen zusätzlich beansprucht.

Dies wäre für sich genommen kein Problem, wenn die Beschäftigten in den neuen Bundesländern in der Lage wären, einen gleichwertigen Beitrag zur Finanzierung der Sozialsysteme zu leisten. Bei einer Million Erwerbslosen und einer Erwerbslosenquote von 13,3 %, die durch Abwanderung und Pendler (1 Million), Umschulung, ABM und Vorruhestand (1,5 Millionen) erheblich geschönt ist [4], können die Beschäftigten in den neuen Bundesländer nur einen unterproportionalen Beitrag zur Finanzierung der Sozialausgaben leisten.

Wohlgemerkt geht es hier nicht um steuerfinanzierte Leistungen, wie z. B. die sog. "Investitionshilfen" für die neuen Bundesländer, sondern ausschließlich um den Sozialtransfer, von dem ein Großteil aus beitragsfinanzierten Systemen geleistet wird. Allein in den Jahren 1992 und 1993 waren dies insgesamt etwa 52 Mrd DM.

Selbst bürgerliche Politiker, wie Heiner Geißler, sprechen von einem "'Solidaritätszuschlag in der Arbeitslosen- und Rentenversicherung' von drei Prozentpunkten, mit dem die Beitragszahler Leistungen für die neuen Länder finanzierten." [5]

Dies war eine bewußte politische Entscheidung, bei der heute manchem bürgerlichen Politiker oder Journalisten mulmig wird. So beklagt ein Herr Kannengießer im Leitkommentar der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: "Mit der Entscheidung für die Sozialunion wurde 1990 nicht nur das Leistungsrecht, sondern auch das Finanzierungssystem vorgegeben. Das ist heute kaum noch zu korrigieren. So manche versicherungsfremde Leistung wäre erst gar nicht eingeführt worden, wenn der Bund sie hätte von Anfang an bezahlen müssen. Er hätte dann nämlich den Preis dafür einfordern müssen und Steuern erhöhen müssen." [6]

Der mit der Sozialunion eingeschlagene Weg zur Begleichung der Kosten der Einheit war und ist ein Weg auf dem Rücken der lohnabhängigen Beschäftigten. Während Beamte und Selbständige ebenfalls zur Kasse gebeten würden, wenn die Sozialleistungen für die neuen Bundesländer aus dem Steueraufkommen zu zahlen wären, ruht diese Last heute allein auf den Schultern der beitragspflichtig Beschäftigten.

Die Kosten der industriellen Reservearmee

Nicht nur in den neuen Bundesländern verschärft die wachsende industrielle Reservearmee der Erwerbslosen die Finanzierungskrise des Sozialstaats. Auch in den alten Bundesländern hat die Arbeitslosigkeit mit 8,3 % im Jahresdurchschnitt 1995 einen neuen Rekord erreicht. [7] Nach Angaben der Bundesanstalt für Arbeit beliefen sich allein 1993 die direkten und indirekten Kosten der industriellen Reservearmee auf 116 Mrd. DM.

Um das ganze Ausmaß der Rückwirkungen der Kosten der industriellen Reservearmee auf den Sozialstaat ermessen zu können, soll nun zunächst der Argumentation des Mitarbeiters des arbeitgebernahen Kölner Instituts der deutschen Wirtschaft, Herrn Seffen, gefolgt werden.

Seffen führt die gegenwärtige "Investitions- und Beschäftigungsschwäche" "ganz wesentlich" auf die Erhöhung der Arbeitskosten zurück. Allerdings seien nicht die Löhne an sich zu hoch, sondern die Lohnnebenkosten. So sei der Personalzusatzkostenanteil an den Personalkosten von 1975 (= 39,6 %) bis 1995 (= 44,5 %) unverhältnismäßig stark um 4,9 % gestiegen. Ursache dieses Anstiegs sei die demographische Entwicklung, die dazu führe, daß mehr Leistungsempfängern (Rentnern) weniger Beitragszahler (Personen im arbeitsfähigen Alter) gegenüberständen.

Damit haben wir die Standardargumente des Kapitals zum Sozialstaatsproblem, wie sie gegenwärtig in sämtlichen Medien breitgetreten werden, in all' ihrer Dürftigkeit erfaßt. Diese Argumentation ist grundfalsch. Die demographische Entwicklung, mit der hauptsächlich argumentiert wird, steht nur in einem sehr losen Zusammenhang mit den Beitragseinnahmen der Sozialsysteme. Zurecht betont auch Bäcker, daß Wachstumsrate, Produktivität und Beschäftigungsniveau eine nachhaltigere Wirkung auf die Sozialsysteme haben, als die demographische Entwicklung. Letzere beeinflußt lediglich die Größe des Arbeitskräftepotentials, ein andere Frage ist, in welchem Maße das Kapital überhaupt daran interessiert und in der Lage ist, sich dieses Potentials tatsächlich und anders als als Lohndrücker zu bedienen. Ein Blick auf Tabelle 1 zeigt, daß dieses Interesse in den letzten Jahrzehnten deutlich abgenommen hat.

Tabelle 1: Bevölkerung, Erwerbstätige, Arbeitslose (früheres Bundesgebiet) [8]

 

1960

1992

Veränderung
[absolut]

Veränderung
[%]

Erwerbstätige
(in 1000)

26.247

29.141

+ 2.894

+ 11,0

Bevölkerung
(in 1000)

55.433

64.865

+ 9.432

+ 17,0

Arbeitslose
(in 1000)

271

1.808

+ 1.537

+ 567,2

Erwerbsquote
(Anteil der Erwerbstätigen an der Bevölkerung)

47,4 %

44,9 %

- 2,5 %

 

Erwerbstätige und Arbeitslose
(in 1000)

26.518

30.949

+ 4.431

+ 16,7

Erwerbsquote auf dieser Grundlage

47,8 %

47,7 %

- 0,1 %

 

Ungeachtet linker Spekulationen über das "Ende der Lohnarbeit" [9] ist die absolute Zahl der Beschäftigten seit 1960 gestiegen, nämlich um 2.894.000 Personen oder 11 %. Auf diese Tatsache zieht man sich auf Seiten des Kapitals gerne zurück, um die Fähigkeit der "Marktwirtschaft" zu belegen, die Erwerbslosigkeit wieder zurückzuführen. So prahlt Hilmar Kopper in einer Hochglanzbroschüre der Herrhausen-Gesellschaft: "Allein in den letzten zehn Jahren, genauer gesagt: zwischen 1983 und 1992, hat die westdeutsche Wirtschaft immerhin 3,7 Millionen neue Arbeitsplätze - netto! - geschaffen." [10]

Allerdings hat diese Prahlerei den folgenden "Schönheitsfehler": Da die Bevölkerung seit 1960 um 17 % gestiegen ist [11], hat sich die Erwerbsquote (das Verhältnis von Leistungsempfängern zu Beitragszahlern) drastisch von 47,4 auf 44,9 % verschlechtert.

Spricht die Verschlechterung der Erwerbsquote vordergründig für Herrn Seffen, der die Ursache der Krise des Sozialstaats darin sieht, daß immer weniger Beschäftigte für den Sozialstaat aufkommen müssen, so enthüllt die Betrachtung der Entwicklung der Erwerbslosigkeit sofort seine demagogischen Absichten.

Die Erwerbslosigkeit ist im betrachteten Zeitraum um einen unglaublichen Prozentsatz, nämlich um 567,2 % gestiegen. Rechnet man, was als zulässig gelten sollte, Erwerbstätige und die prinzipiell arbeitsfähigen Erwerbslosen zusammen und berechnet auf dieser Grundlage die Erwerbsquote, so ist diese lediglich minimal von 47,8 auf 47,7 % gesunken.

Mehr Leistungsempfänger bei weniger Einzahlern gibt es also nicht deshalb, weil immer mehr Rentner nicht mehr arbeiten können , sondern weil das Kapital nicht in der Lage ist, daß vorhandene Arbeitskräfteangebot zu absorbieren.

Dabei läßt Tabelle 1 diesen Tatbestand noch nicht einmal in aller Deutlichkeit hervortreten. Verschärfend kommt hinzu, daß das Statistische Jahrbuch zu den Erwerbstätigen auch Teilzeitbeschäftigte zählt, ohne dies besonders auszuweisen. Da die Mehrzahl der in den letzten Jahren neugeschaffenen Arbeitsplätze Frauenarbeitsplätze waren und Frauen weit überproportional teilzeitbeschäftigt sind, kann mit vollem Recht angenommen werden, daß die reale Unterbeschäftigung weit höher liegt, als die Tabelle ausweist, mit den entsprechenden Konsequenzen für die Sozialsysteme: Die Beitragszahlungen von Teilzeitbeschäftigen sind natürlich geringer als die von Vollzeitbeschäftigten.

Zudem würde man weit erschreckendere Ergebnisse erzielen, wenn die neuen Bundesländer in die Betrachtung miteinbezogen würden, was hier nicht geschehen konnte, um die Vergleichsmöglichkeit zum Jahr 1960 zu haben.

Weiter ist zu berücksichtigen, daß seit 1960 die Arbeitszeit von Vollzeiterwerbstätigen deutlich verkürzt worden ist, die vorhandene Arbeit sich also bereits auf mehr Schultern verteilt als dies früher der Fall war. Ein wirklicher Indikator der Fähigkeit des Kapitals, Arbeitskräfte zu absorbieren, ist eigentlich die Entwicklung des in Stunden gemessenen Arbeitsvolumens. Das Arbeitsvolumen aber ist allein zwischen 1960 und 1985 von 56 Milliarden Stunden auf 43 Milliarden Stunden zurückgegangen. [12]

Fazit ist, daß es genauso Unsinn ist, in der demographischen Entwicklung eine wesentliche Ursache der Krise des Sozialstaats zu sehen, wie den Hebel für Lösungen dort anzusetzen. Von solchen Vorschlägen sind allerdings die Medien voll. So wird neben aufmunternden Appellen an deutsche Staatsbürger, sich wieder kräftiger zu vermehren, die Theorie vertreten, das Rentenproblem könne durch vermehrte Zuwanderung gelöst werden. In einer anderen Variante soll durch eine - sicherlich zu begrüßende - verstärkte Einbeziehung von Frauen in die Erwerbstätigkeit der Sozialstaat gerettet werden. Wieder andere wollen, während sämtliche Großunternehmen ihren Personalüberhang durch Frühverrentung loswerden wollen, das Rentenalter heraufsetzen.

Alle diese Vorschläge könnten nur greifen, wenn die Unternehmen tatsächlich mehr Arbeitskräfte beschäftigen würden. Danach sieht es jedoch gegenwärtig keineswegs aus, und die Entwicklung der letzten 30 Jahre deutet ebenfalls nicht darauf hin.

Daß nicht die demographische Entwicklung, sondern die Erwerbslosigkeit Ursache der Probleme des Sozialstaats ist, gibt indirekt auch der BDA zu - jedenfalls dann, wenn Arbeitsminister Blüm den Großunternehmen mit der Einschränkung des Vorruhestands droht. So verlautbarte der BDA im Dezember 1995: "Die Pläne von Bundesarbeitsminister Blüm, den Vorruhestand durch Altersteilzeit zur ersetzen, seien grundsätzlich erwägenswert. Neue Modelle müßten jedoch sowohl für die Arbeitnehmer als auch für die Arbeitgeber ausreichend attraktiv sein, sonst verschiebe sich der Entlassungsdruck von den älteren zu den jüngeren Arbeitnehmern." [13]

Der Gewerkschaftsautor Bäcker benennt im Gegensatz zu Seffen die Problematik der Verengung des Arbeitsmarktes als Kernpunkt der Finanzierungsprobleme des Staates. Doch hat er Lösungen anzubieten? Er erhebt - wir haben es geahnt - die energische Forderung nach "aktiver Arbeitsmarktpolitik". Es folgt dann das nach VW-Vorbild leicht verjüngte, uralte Inventar der gewerkschaftlichen Waffenkammer: "öffentlich geförderte Beschäftigung, (...) vielfältige Formen tarifvertraglicher und individueller Arbeitszeitverkürzung in großen Schritten auch ohne Lohnausgleich, (...) eine wachstums- und beschäftigungsfördernde Haushalts-, Struktur- und Industriepolitik". Als Kommunist - und nicht nur dann - wird man bezweifeln, daß derlei Maßnahmen eine mehr als lindernde Wirkung zeigen können, nachdem sie dies in den letzten 25 Jahren nicht getan haben.

Realistischer scheint es, mit dem Grafen Lambsdorff davon auszugehen, daß das Kapital in der Zukunft immer weniger in der Lage sein wird, die industrielle Reservearmee zu absorbieren. Hören wir daher seine ungewöhnlich deutlichen Worte: "Jetzt kommt es erneut zu einem tiefgreifenden Strukturwandel. Auch bisherige Wachstumsbereiche im produzierenden Gewerbe sind von dauerhaften Arbeitsplatzverlusten betroffen, (...). Der Dienstleistungssektor kann diese Einbrüche anders als früher nicht mehr auffangen.

Das Ende des Ost-West-Konflikts, die Globalisierung der Märkte, verstärken den Wettbewerbsdruck in den Hochlohnländern. Die Folgen sind bekannt: Betriebsverlegungen in Länder mit günstigeren Rahmenbedingungen, Arbeitszeitverkürzungen auf breiter Front, Ersatz von Vollzeit- durch Teilzeitarbeit, Einsatz von freien Mitarbeitern, Wachstum der Schattenwirtschaft, hohe Sockelarbeitslosigkeit, aufgrund des Beschäftigungsrückgangs Zerreißproben für die lohnbezogene Sozialversicherung."

Lambsdorff resümiert, alle Vorstellungen seien unzeitgemäß, "wir könnten und sollten an einer Arbeitnehmergesellschaft festhalten, in der der Anteil der abhängig Beschäftigten an den Erwerbspersonen bei etwa 90 % liegt. Beides ist unrealistisch. Nur wagt bisher niemand, dies offen auszusprechen. (...) Der in der Vergangenheit erreichte Arbeitnehmeranteil an den Erwerbspersonen läßt sich in unserer dynamischen Wirtschaft mit ihrer wachsenden internationalen Verflechtung nicht künstlich zementieren."

Doch meine niemand, dies sei die Bankrotterklärung des Kapitals. Herr Graf hält für die Erwerbslosen durchaus einen Ausweg bereit: "Die abhängige Arbeit kann nicht alleiniges Leitbild der Beschäftigungs- und Sozialpolitik sein. Wir müssen den Weg in die Selbständigkeit stärker erleichtern (...)." [14]

Und weil dies ein so bestechender Einfall war, wurde Lambsdorff zwei Monate später von Bundeskanzler Kohl sekundiert: "Deutschland brauche unbedingt eine Gründungswelle im Mittelstand, weil jede Neugründung durchschnittlich vier Arbeitsplätze schaffe. Außerdem fehlten rund 800.000 Selbständige. Kohl forderte eine neue Kultur der Selbständigkeit. Hintergrund der Äußerung Kohls ist die Erkenntnis, daß es angesichts der hohen Arbeitslosigkeit mit allgemeinen Bekenntnissen zur Marktwirtschaft nicht mehr weiter gehen könne." [15]

Sinkende Nettoverdienste

Nach der Auseinandersetzung mit den Ursachen der Krise des "Sozialstaats" wendet sich Bäcker, der Gewerkschaftsautor, der Behauptung zu, der Sozialstaat sei leistungsfeindlich. Weil er in der Tradition der sozialdemokratischen Gewerkschaftsbewegung den "Sozialstaat" verteidigen will, versucht er natürlich, diesen Vorwurf zu entkräften. Er meint Argumente darin gefunden zu haben, daß im gegebenen Steuer- und Versicherungssystem mittlere Einkommen relativ höher belastet werden als höhere. Dies entspricht zwar den Tatsachen und erklärt sich dadurch, daß sowohl im Steuer- als auch im Versicherungssystem Bemessungsgrenzen existieren, ab denen die Höhe der Abzüge nicht weiter steigt. Sind diese Grenzen in der Besteuerung einmal erreicht, ist zwar die absolute Größe der Steuern höher als bei einem niedrigeren Einkommen, die relative Belastung nimmt jedoch mit steigendem Einkommen schnell ab. In der Sozialversicherung nimmt aufgrund der fixen Höchstgrenzen sogar die absolute Höhe nicht mehr zu. Bäcker unterstellt aber mit dieser Argumentation, der Sozialstaat könne nur dann als "leistungsfeindlich" bezeichnet werden, wenn er höhere Einkommen belaste.

Schon die Frage nach der "Leistungsfeindlichkeit" führt in ein gänzlich falsches Fahrwasser. Die Abgabenbelastung der Arbeitnehmereinkommen wird hiermit aus der Sicht des Kapitals und dessen Frage beleuchtet, ob Arbeitskräfte ausreichend motiviert sind, Mehrwert zu schaffen. Dagegen liegt das Problem für die Arbeiterklasse ganz woanders. Nicht erst durch die Steuer- und Abgabenerhöhungen des Jahres 1995 werden mittlere und kleine Einkommen so stark belastet, daß die Nettoeinkommen und damit der Lebensstandard der Arbeiterklasse sinkt.

Nach den von Bäcker selbst angegebenen Zahlen führt die Belastung der Arbeitnehmereinkommen durch Steuern und Abgaben dazu, daß das Nettoeinkommen des Durchschnittsverdieners heute bei lediglich 60 % des Bruttoeinkommens liegt. Mit dem 1. Januar 1996 steigt der Beitragssatz zur Rentenversicherung von 18,6 auf 19,2 % und werden die durchschnittlichen Krankenversicherungsabgaben im Westen auf 13,5 % angehoben. Mit der Einführung der zweiten Stufe der Pflegeversicherung zum 1. Juli 1996 wird der Pflegeversicherungssatz von 1,0 auf 1,7 % steigen. Die Nettoverdienste der Durchschnittsverdiener werden also in Zukunft weniger als 60 % des Bruttos erreichen.

Zurecht weist Bäcker darauf hin, daß die Bewertung steigender Steuern und Abgaben entscheidend davon abhängt, ob die Arbeiterklasse diese aus Lohnsteigerungen oder aus der Lohnsubstanz finanzieren muß. Offensichtlich gehen die Steuer- und Abgabenerhöhungen der letzten Jahre jedoch an die Lohnsubstanz. Tatsache ist, daß die Nettorealeinkommen in den achtziger Jahren schwach gestiegen sind und seit 1993 sinken.

Eine gelungene Illustration dafür bietet Horst Afheldt in derselben Ausgabe der Beilage zum Parlament: "Nichts zeigt dies deutlicher als der Abschluß in der Metallindustrie vom 07.03.1995. Die Lohnerhöhung von 4 % (5 % beim Stundenlohn durch Arbeitszeitverkürzung) wird wohl zu Recht als das gerade noch Erträgliche für die Konkurrenzfähigkeit der Metallindustrie bezeichnet. Möglicherweise ist sie schon zu hoch. Man rechnet daher mit verschärften Rationalisierungen und Arbeitsplatzabbau. (...). Doch schon diese 'bis zum Rande gehende Ausschöpfung des Rahmens' führt zu einer Senkung des Nettorealverdienstes: Von den 4 % Mehrverdienst sind mindestens 30 % an erhöhten Steuern und Sozialabgaben abzuführen. Das sind 1,2 %; es verbleiben + 2,8 %. Von den gesamten Steuern sind 1995 7,5 % Ergänzungsabgabe zu entrichten; es bleibt + 0,9 %. Die Inflationsrate beträgt zwischen 2 und 2,8 %. Somit entsteht ein Verlust von 1 - 2 % des Nettorealverdienstes 1995 und 1996." [16]:

Das Symbol "Sozialhilfe"

Zu der Behauptung, der Sozialstaat sei "leistungsfeindlich", gehört die Klage, der Abstand der Sozialhilfe zu den unteren Lohngruppen sei nicht gewahrt. Hier haben wir ein Thema, mit dem sich so recht die Emotionen schüren lassen. Welchem lohnabhängigen Beschäftigten kommt nicht die Wut, wenn man ihm vorrechnet, daß das Sozialamt der fünfköpfigen Familie eines arbeitsscheuen Trunkenboldes nicht nur monatlich 3000,- DM überweist, sondern auch die Wohnung (1200,- DM Warmmiete) zahlt, und zudem regelmäßig Sonderleistungen wie Kleidergeld, etc., beantragt werden. Doch ist auch dieses Problem komplizierter, als es die kapitalapologetische Demagogie darstellt.

Bäcker liegt völlig richtig, wenn er ausführt, daß nur dann ein Mißverhältnis zwischen Sozialhilfe und Arbeitseinkommen auftritt, wenn es sich um Familien mit mehreren Kindern, hoher Miete und einem Verdiener handelt. Die Ursache hierfür liegt - kurioserweise - im Wesen des Kapitals. Das Kapital kauft die Arbeitskraft auf dem Markt als individuelle Arbeitskraft. Es interessiert sich nicht dafür, ob diese Arbeitskraft eine Familie unterhält oder ihr Geld allein verjubelt. Es zahlt allein das Arbeitsvermögen - und dies ist unabhängig von der Existenz oder Nichtexistenz einer Familie [17].

Ganz anders das Sozialamt, das nicht kapitalistisch, sondern nach dem Bedarfsprinzip verfährt. Es zahlt das, was als Durchschnitts-Existenzminimum dieser Gesellschaft gilt, pro Kopf, plus einer Wohnung. Die Größe der Wohnung errechnet sich ebenfalls aus der Summe der pro Kopf zugestandenen Quadratmeter und ist unabhängig davon, ob der Wohnungsmarkt gerade horrende Mieten verlangt oder nicht.

Weil der Standpunkt des Kapitals, nur die gekaufte Arbeitskraft zu zahlen, der Reproduktion der Gesellschaft zutiefst feindlich ist (ein ökonomisch rational handelndes Individuum sorgt nicht mehr für Nachwuchs, wenn dieser Nachwuchs ihm nur Kosten verursacht), verteilt der Staat seit den fünfziger Jahren die vom Kapital gezahlten Löhne über Steuern und Abgaben so um, daß Nachwuchs wenigstens nicht zum finanziellen Ruin der Eltern führt. Doch schafft der Einkommenstransfer über den Familienlastenausgleich keineswegs einen hinreichenden Ausgleich für die mit dem Heranwachsen von Kindern verbundenen Kosten.

Deshalb lohnt es sich für den Alleinverdiener mit drei Kindern, tausend Mark Miete und einem Nettolohn von 2700 DM zum Sozialamt zu gehen, anstatt eine Arbeit anzunehmen. Ja, man muß es den Vielen, die es nicht tun, hoch anrechnen.

Eine Lösung des Problems im Interesse der Arbeiterklasse kann jedoch nicht darin bestehen, die knapp bemessenen Sozialhilfesätze zu senken. Die Lösung des Problems kann nur darin liegen, daß erstens, durch eine Wohnungsbaupolitik im Interesse der Arbeiterklasse, die die Kapitallogik für den Wohnungsmarkt aufhebt, ein ausreichendes Angebot bezahlbarer Mietwohnungen geschaffen wird, und daß zweitens ein ausreichender Lastenausgleich für die Versorgung von Kindern gewährt wird.

Auch Bäckers Ziel ist die "Verbesserung des Familienlastenausgleich". Allerdings bleibt bei ihm im Dunkeln, ob er damit die konservative Familienpolitik nur noch weiter ausbauen will. Eine Politik im Interesse der Arbeiterklasse darf jedoch genau dies nicht tun. Der Lastenausgleich darf nicht die Funktion haben, die traditionelle Arbeitsteilung in der Familie zu stabilisieren. Deshalb kann die Forderung nach einer Verbesserung der finanziellen Situation von Eltern nicht isoliert erhoben werden, sondern muß im Verbund mit anderen Forderungen stehen.

Dazu gehört an erster Stelle die ersatzlose Streichung des Artikel 6 Absatz 1 des Grundgesetzes über den besonderen Schutz der Familie. Alle hierauf beruhenden Regelungen müssen mit dieser Streichung entfallen. Das betrifft beispielsweise das Ehegattensplittung, die kostenlose Mitversicherung von Familienmitgliedern in der Krankenversicherung, die Gewährung von steuerlichen Freibeträgen für Kinder, entsprechende Zuschläge im öffentlichen Dienst, etc. Ehe und Familie müssen jegliche Art staatlicher Förderung verlieren.

Zweitens ist der Absatz 2 des Artikels 6 GG über das Erziehungsrecht der Eltern durch einen Paragraphen zu ersetzen, der das Recht des Kindes auf materielle Versorgung, Betreuung, Erziehung und Ausbildung durch den Staat formuliert. Die dazu notwendigen Betreuungseinrichtungen und ein Ganztagsschulbetrieb sind zu schaffen, entsprechend auszustatten und erhalten gegenüber dem Kind Entscheidungsbefugnisse, die dem Elternrecht vorangehen. Der Besuch dieser Einrichtungen ist verpflichtend. Der Staat trägt die Kosten für Betreuung, Ausbildung und Krankenversicherung der Kinder. Den Eltern wird bis zu einer bestimmten Einkommensgrenze zum Ersatz ihrer Auslagen für Ernährung und Bekleidung eines Kindes ein einheitliches Kindergeld gezahlt, das sich in der Höhe deutlich von dem heutigen Kindergeld unterscheidet. [18]

Damit wäre das Mißverhältnis zwischen Sozialhilfesätzen und kleinen Einkommen beseitigt. Eine Senkung der Sozialhilfe wäre überflüssig.

Niedriglohnsektor

Die Anhänger einer Senkung der Sozialhilfe verschleiern in der öffentlichen Debatte systematisch, warum die Ausgaben für die Sozialhilfe in den letzten Jahren so immens gestiegen sind. Da wird - gegen besseres Wissen - immer wieder der faule Sozialhilfeempfänger beschworen, der nicht arbeiten gehen will und sich mit seiner halben Kinokarte pro Monat ein schönes Leben macht. [19]

In der Realität wird der Hauptteil der Sozialhilfe, 1993 waren dies 63,4 %, als "Hilfe in besonderen Lebenslagen" gezahlt. Das sind insbesondere Zahlungen an Pflegebedürftige in Heimen, aber auch Hilfen für Kranke oder Behinderte. Der kleinere Teil der Sozialhilfe, 1993 36,8 %, wird als regelmäßige "Hilfe zum Lebensunterhalt" gezahlt. Von den Empfängern dieser Leistungen sind ein Drittel Asylbewerber. Diese in den Arbeitsmarkt integrieren zu wollen, würde bedeuten, aus Asylbewerbern Arbeitsemigranten zu machen. Rund ein Drittel der Sozialhilfeempfänger sind arbeitslos. Hiervon stellen alleinstehende Mütter mit Kindern unter 15 Jahren die Hälfte. Diese stehen dem Arbeitsmarkt nicht oder nur eingeschränkt zur Verfügung, da Einrichtungen zur Betreuung der Kinder fehlen. Damit verbleibt nur ein sehr geringer Teil von Sozialhilfeempfängern, die überhaupt mit arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen erreicht werden können. [20]

Dies zu wissen und trotzdem den Eindruck zu erwecken, immer mehr Menschen würden ihren Job an den Nagel hängen, um sich vom Sozialamt versorgen zu lassen, ist ein offenkundiger Fall von sozialer Demagogie. Völlig zurecht zeigt Bäcker auf, was sich hinter den Angriffen auf die Sozialhilfe seitens der Arbeitgeberverbände verbirgt. Es ist das Interesse an der Etablierung eines Niedriglohnsektors, entsprechend dem Rezept der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gegen Arbeitslosigkeit: "Nicht die Arbeit geht aus, sondern die Arbeitskräfte sind zu teuer."

Aufgrund der Existenz des Sozialstaats ist Erwerbslosigkeit heute kein existenzbedrohendes Problem des Lohnarbeiters. Jedenfalls bislang sinkt der Lebensstandard eines deutschen Lohnarbeiters, der seine Arbeitskraft nicht mehr verkaufen kann, nicht so weit, daß er gezwungen wäre zu hungern, geschweige denn zu verhungern. Neue ökonomische Gesetzmäßigkeiten haben sich auf diesem Boden herausgebildet. Der niedrigste Lohn kann nicht unter das Niveau von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe sinken, weil ein ökonomisch rational handelndes Individuum nicht bereit wäre, eine solche Arbeit anzunehmen.

In der Tat ist eine Senkung der Sozialhilfesätze - wie natürlich auch des Arbeitslosengeldes bzw. der Arbeitslosenhilfe - ein Hebel zum Verschiebung des gesamten Lohnniveaus und Lohngefüges nach unten, denn die Absenkung des staatlich garantierten Existenzminimums schafft Motivation zur Annahme von Arbeiten beispielsweise auf dem heutigen Sozialhilfeniveau. Ergebnis könnte ein Arbeitsmarkt nach amerikanischem Muster sein, wo in den letzten Jahrzehnten vor allem im Dienstleistungsbereich - aber nicht nur dort - Arbeitsplätze entstanden sind, die den arbeitenden Menschen kaum die Möglichkeit lassen, zu existieren. An solchen Verhältnissen kann der Arbeiterklasse natürlich nicht gelegen sein. [21]

Privatisierung der Rentenversicherung?

Herr Seffen, der Mitarbeiter des Kölner Instituts der deutschen Wirtschaft, strebt im Einklang mit den Arbeitgeberverbänden - Grundlage seines Artikels ist eine Denkschrift des BDA - eine stärkere Privatisierung von Elementen des Sozialstaats an.

In Privatisierung und Liberalisierung das beste Mittel wirtschaftlicher Effektivität zu sehen ist zwar seit dem Untergang des osteuropäischen Bauernsozialismus' in große Mode gekommen, wird dadurch jedoch nicht richtiger. [22] Für das Gesundheitswesen jedenfalls läßt sich empirisch belegen, daß die Wunderwaffe "Privatisierung" als kostensenkendes Mittel nicht funktioniert. So wurden in den USA mit seinem privaten Gesundheitssystem 12,6 % (1993) des Volkseinkommens für Gesundheit ausgegeben. Das Gesundheitssystem der Bundesrepublik benötigte dagegen nur 9,3 % des Volkseinkommens. Das private Gesundheitssystem der USA ist damit nicht nur teurer als das beitragsfinanzierte der BRD, es ist auch uneffektiver, denn es versorgt keineswegs die Gesamtheit der Bevölkerung.

Zudem sehen Privatversicherungen keinen Solidarausgleich zwischen den Versicherten vor. Das heißt, die Versicherten zahlen ihre Prämien in risikobezogener Höhe - wer krank ist zahlt eben mehr als der Gesunde, wer alt ist mehr als der Junge. Man muß kein Kommunist sein, um hierin eine Verletzung jeglicher Grundsätze eines gesellschaftlichen Solidarsystems zu sehen.

Doch unbeirrt strebt Seffen in der Rentenversicherung eine sogenannte "Stärkung der Eigenvorsorge" an. Darunter wird die Ausgliederung von Teilen der Rentenversicherung aus dem Generationenvertragsmodell verstanden, zugunsten des Abschlusses privater Zusatzversicherungen.

Während nicht recht erkennbar ist, worin der Vorteil für den durchschnittlichen Arbeitnehmer liegen soll, wenn er Beträge, die ihm vorher direkt vom Bruttolohn abgezogen wurden, nun an eine private Versicherung zahlt, liegen die Vorzüge für die Kapitalseite auf der Hand. Die Arbeiterklasse ist allein für die "Eigenvorsorge" verantwortlich, das Kapital also der Verpflichtung enthoben, davon 50 % zu tragen. Ebenso bleibt das Kapital von zukünftigen Beitragserhöhungen verschont.

Zweitens, und dies scheint der Arbeitgeberseite ebenfalls am Herzen zu liegen, wird die private "Kapitalbildung" gefördert. Das bedeutet, daß sich das Angebot an Kapital auf dem Markt vergrößert und daraus resultieren sinkende Zinsen für Unternehmen, die Kapital aufnehmen wollen.

Steuerfinanzierung beitragsfremder Leistungen und Stärkung der Selbstverwaltung

Seffen wie Bäcker treten für die Steuerfinanzierung beitragsfremder Leistungen der Sozialversicherungssysteme ein. Hier wird deutlich, daß Kapital und Arbeit gemeinsames Interesse daran haben, den staatlichen Zugriff auf die von ihnen gemeinsam finanzierten und verwalteten Versicherungssysteme zu unterbinden.

Das bedeutet, sich gegen die Gewährung von Leistungen an Personen zu wenden, die nicht in diese Systeme eingezahlt haben. Dies trifft zum Beispiel auf Rentenzahlungen an Aussiedler, Hausfrauen und für Ausbildungszeiten zu. Ebenso fällt hierunter die Zahlung von Umschulungsmaßnahmen für "abgebrochene" Studenten, Fortbildungskurse für Hausfrauen oder Aussiedler, etc. Sind solche Zahlungen politisch gewünscht, zum Beispiel an Rentner in den neuen Bundesländern, so sind diese aus dem Steueraufkommen zu leisten.

Mitunter hört man von Schlaumeiern, es handele sich bei der Umstellung von Beitrags- auf Steuerfinanzierung um eine Milchmädchenrechnung, bei der der Steuerzahler das zahle, was der Beitragszahler nicht mehr zahlt. Es geht jedoch grundsätzlich um die finanzielle Heranziehung von Selbständigen und Beamten, die in die gesellschaftlichen Versicherungssysteme keine Beiträge einzahlen. Dadurch würde die Finanzgrundlage erheblich verbreitert. Ganz im Gegensatz dazu ist das Verhältnis von Steuer- und Beitragsfinanzierung in den letzten Jahren immer weiter zu Lasten der Beitragsseite verschoben worden (siehe dazu Tabelle 2).

Tabelle 2: Umschichtung der Finanzierung der Sozialsysteme von Steuern auf Beiträge

 

1980

1993

Anteil der Beiträge am Sozialbudget

61,8 %

63,9 %

Anteil der Steuern am Sozialbudget

36,1 %

33,9 %

In der Tat wäre - wie Seffen vorrechnet - der finanzielle Erfolg einer Umkehr dieser Entwicklung durchgreifend. Würden alle versicherungsfremden Leistungen steuerfinanziert, würde der Anteil der Personalzusatzkosten an den Arbeitskosten des Kapitals um 3 % auf 41,5 % sinken, der größte Teil des Anstiegs der Personalzusatzkosten zwischen 1975 und 1995 von 4,9 % wäre damit aufgefangen. Die Netto(!)verdienste der Arbeitnehmer stiegen um rund 5 %.

Bäcker fordert als guter Gewerkschafter zusätzlich die Anhebung der Beitrags- und Versicherungspflichtgrenzen. Größere finanzielle Entlastung für die Versicherungssysteme würde natürlich die Aufhebung der Grenzen bringen.

Grundsätzlich ist die Arbeiterklasse - wie das Kapital - daran interessiert, die Versicherungsysteme, also Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung, vor dem Zugriff anderer Klassen zu schützen. [23] Vor allem beinhaltet dies einen Schutz gegenüber produktionsfernen Schichten, die sich gerne aus den von den produzierenden Klassen gefüllten Töpfen bedienen möchten. Klassisch kommt dies in den Plänen der Grünen zur Gesundheitsreform zum Ausdruck. Bei Beibehaltung der Beitragsfinanzierung der Kassen soll ein "konzertierter Gesundheitsrat" die "regionale Versorgung" steuern. In diesem Rat finden sich "Vertreter der öffentlichen Hand, der Krankenkassen, der Ärzte, der Heil- und Pflegeberufe sowie der Patienten" [24] - nicht zu finden sind dagegen die Beitragszahler, die ja keineswegs mit den auch im Grünen Modell mitspracheberechtigten Patienten identisch sind.

Krankenversicherung

Auch darüber hinaus gibt es Vorschläge aus der Denkschrift des BDA, die im Interesse der Arbeiterklasse liegen, weil sie im Interesse der produktiven Klassen überhaupt sind. Dies gilt zum Beispiel für die "Begrenzung der Umverteilung in der beitragsfreien Familienversicherung". Gemeint ist damit die Tatsache, daß Hausfrauen kostenlos in der Krankenversicherung ihres Mannes mitversichert sind. Die Arbeiterklasse kann sich diesem Ansinnen des Kapitals problemlos anschließen, nur darf sie sich nicht auf eine "Begrenzung der Umverteilung" beschränken lassen, sondern sollte die kostenlose Mitversicherung völlig unterbinden. Frauen sollten ebenso wie zur Rentenversicherung grundsätzlich einen eigenen Beitrag zur Krankenversicherung leisten. [25] Für Kinder würde der Staat dann einen Einheitsbeitrag in der Krankenversicherung entrichten - selbstverständlich aus dem Steueraufkommen.

Dagegen muß sich eine Reform der Krankenversicherungssysteme im Interesse der arbeitenden Klassen deutlich von der arbeitgeberseitig angestrebten Liberalisierung und Privatisierung unterscheiden. Zwar wäre auch die Liberalisierung ein Weg, ständischen Ballast über Bord zu werfen, so wenn die BDA-Denkschrift vollständige Niederlassungsfreiheit für Arzte fordert. Doch kann es nicht im Interesse der Arbeiterklasse liegen, im Gesundheitssektor die Marktlogik des Kapitals weiter zu stärken und an die Stelle ständisch beschränkter Kleinunternehmer kapitalistische (Klein-)Unternehmer zu setzen. Die Interessen der breiten Mehrheit der Bevölkerung werden am besten durch eine konsequente Verstaatlichung aller Gesundheitssysteme, bei Beibehaltung der Beitragsfinanzierung, gesichert.

Dann könnten Gesundheitszentren in effektiver Größe, in denen angestellte Ärzte arbeiten, die ärztliche Einzelpraxis und ihre horrenden Kosten ersetzen. Die zu schaffende einheitliche Krankenkasse wäre als monopolistischer Abnehmer in der Lage, die Pharmakonzerne zu einer Preis- und Produktpolitik im Interesse der Beitragszahler und nicht im Interesse des Profits zu zwingen. Pharmazeutische Produkte würden sich allein schon deshalb verbilligen, weil der Verbraucher nicht mehr die organisierte Bestechung von Ärzten durch Pharmareferenten und andere Marketingstrategien der Pharmaindustrie mitbezahlen müßte. [26]

Schließlich muß auch der Moloch Kirche aus dem Gesundheits- und Pflegesystem hinausgeworfen werden, auch in Gestalt der sog. Wohlfahrtsverbände wie Caritas und Diakonie. Dies würde neben dem begrüßenswerten politischen Gehalt ebenfalls zu einer deutlichen Verbilligung des Gesundheitswesens führen. [27]

An der "Ausdehnung der Selbstbeteiligung auf alle Leistungbereiche", wie von der BDA-Denkschrift gefordert, haben Arbeitnehmer dagegen dasselbe Interesse wie an einer "Stärkung der Eigenvorsorge" in der Rentenversicherung, nämlich keines. Für das Kapital gilt das Gleiche mit umgekehrten Vorzeichen.

Nicht die letzte Krise des Sozialstaats

Bäckers Aufsatz enthält eine Reihe positiver Ansätze. Dazu gehört die Rückführung der Finanzierungskrise des Sozialstaats auf die Krise des Arbeitsmarkts und den Finanzbedarf der deutschen Einheit, die Verteidigung der beitragsfinanzierten Versicherungssysteme sowie das Eintreten gegen die Versuche zur Etablierung eines Niedriglohnsektors. Die Kritik muß an seiner hilflosen Forderung nach "aktiver Arbeitsmarktpolitik" ansetzen.

Beide Artikel der Zeitschrift Das Parlament gehen am Hauptproblem des Sozialstaats vorbei, daß das Kapital immer weniger in der Lage ist, alle auf dem Markt vorhandenen Arbeitskräfte zu absorbieren. Der Arbeitgebervertreter mogelt sich mit dem Verweis auf die demographische Entwicklung über das Problem der Arbeitslosigkeit hinweg. Der Gewerkschafter wird mit seiner keynsianischen Forderung nach "aktiver Arbeitsmarktpolitik" wenig ausrichten.

Weiter führt dagegen der bereits zitierte Aufsatz von Afheldt im selben Heft der Beilage zum Parlament: "Für die Zunahme der Erwerbstätigen zwischen 1960 und 1990 um etwa 9 %, mußte das Bruttoinlandsprodukt (preisbereinigt) um 150 % steigen." Afheldts Konsequenz lautet: "Wachstum allein kann deshalb offensichtlich das Problem der Arbeitslosigkeit nicht lösen." Anders gesagt: Kapitalistisches Wachstum führt nicht zur Absorption der industriellen Reservearmee.

Hinzu kommt die Zuwanderung. Die Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung schätzt, daß "durch Zuwanderung von 8 Millionen Menschen aus Osteuropa und aus Entwicklungsländern ... die Bevölkerung der Bundesrepublik bis zum Jahre 2010 um 5,4 auf 85,7 Millionen anwachsen" wird [28]. Die industrielle Reservearmee wird sich also noch um 8 Millionen Personen vergrößern. Dies macht es wahrscheinlich, daß wir uns nicht in der letzten "Krise des Sozialstaats" befinden, sondern das soziale Klima in der Zukunft zunehmend rauher werden wird.

H. Afheldt weist in seinem Artikel auf die wesentliche Ursache der anwachsenden Arbeitslosigkeit hin: "Das Kapital für die Maschinen, die die Arbeiter ersetzten, muß verzinst werden. Die zunehmende Arbeitsproduktivität und die damit verbundene wachsende Kapitalintensität verlagern deshalb das entstehende Einkommen zwangsläufig immer mehr auf Einkommen aus Vermögen und Unternehmen." [29]

Diese Erkenntnis ist bereits im Jahre 1865 sehr treffend formuliert worden: "Wenn das Verhältnis dieser beiden Elemente des Kapitals (konstantes Kapital und variables Kapital, P. B.) ursprünglich 1:1 war, so wird es im Fortschritt der Industrie 5:1 usw. werden. Wenn von einem Gesamtkapital von 600 in Instrumenten, Rohstoffen usw. 300 und 300 in Arbeitslohn ausgelegt ist, so braucht das Gesamtkapital nur verdoppelt zu werden, um eine Nachfrage nach 600 Arbeitern statt nach 300 zu schaffen. Bei einem Kapital von 600, von dem 500 in Maschinerie, Materialien usw. und nur 100 in Arbeitslohn ausgelegt sind, muß dasselbe Kapital von 600 auf 3600 anwachsen, um eine Nachfrage nach 600 Arbeitern wie im vorigen Fall zu schaffen. Im Fortschritt der Industrie hält daher die Nachfrage nach Arbeit nicht Schritt mit der Akkumulation des Kapitals. Sie wird zwar noch wachsen, aber in ständig abnehmender Proportion, verglichen mit der Vergrößerung des Kapitals. Diese wenigen Andeutungen werden genügen, um zu zeigen, daß die ganze Entwicklung der modernen Industrie die Waagschale immer mehr zugunsten des Kapitalisten und gegen den Arbeiter neigen muß und daß es folglich die allgemeine Tendenz der kapitalistischen Produktion ist, den durchschnittlichen Lohnstandard nicht zu heben, sondern zu senken oder den Wert der Arbeit mehr oder weniger bis zu seiner Minimalgrenze zu drücken." [30]

Die Stellung der Kommunisten

Wo nun kann angesichts dieser Perspektiven der Platz der Kommunisten sein? Die nachfolgenden Ausführungen versuchen die Richtung zu umreißen, die die Kommunisten in der Auseinandersetzungen über die Zukunft des Sozialstaats einzuschlagen haben. Dabei ist es klar, daß eine ganze Reihe von Fragen noch weiterer Überlegungen bedarf.

Die Linke hat sich daran gewöhnt, den Sozialstaat für eine verteidigenswertes Gut zu halten. Wie in vielen anderen Dingen auch, setzt dies das Vergessen der revolutionären Traditionen der Arbeiterbewegung voraus: "Die organisierte Arbeiterbewegung stand der staatlichen Sozialpolitik lange mißtrauisch und ablehnend gegenüber. Ihr Widerstand gegen die Anfänge des Sozialstaats steht im scharfen Kontrast zum zeitgenössischen Lamento über das Stück 'Sozialismus', das angeblich mit den Sozialversicherungen und den Anfängen staatlicher Sozial- und Gesundheitspolitik der bürgerlichen Ordnung aufgezwungen würde (...)."

Die revolutionäre Arbeiterbewegung konzentrierte sich nicht auf den Ausbau staatlicher Versicherungssysteme, sondern auf die Verbesserung der Bedingungen bei Verkauf und Verausgabung der Arbeitskraft: "Im Prinzip verlangten sie vom Staat nichts anderes als einen wirksamen Arbeitsschutz in den Betrieben. Gäbe es diesen, sei es ihre Sache, sich ein Lohnniveau zu erkämpfen, das für den Lebensunterhalt der Lohnarbeiter und ihrer Familien ausreiche und ihre Unabhängigkeit von staatlichen Almosen im Alter bzw. Krankheitsfall garantiere. Der Sozialstaat werde die Unabhängigkeit der Arbeiterorganisationen angreifen und den einzelnen Lohnarbeiter einer stets weitergehenden Kontrolle durch Staatsbeamte unterwerfen; es sei besser, auf eine staatliche Arbeitslosenunterstützung zu verzichten und sich auf die organisierte Selbsthilfe durch die gewerkschaftlichen Unterstützungskassen zu verlassen (...)." [31]

Die Konsequenz war die Forderung nach voller Selbstverwaltung der Arbeiter in den Sozialversicherungsinstitutionen. In einer Zeit, in der nahezu 50 % des vom Kapitalisten gezahlten Lohnes vom kapitalistischen Staat konfisziert und entsprechend seiner Interessen verwandt wird, wird diese Forderung neue Aktualität erlangen.

Gegenüber allen Versuchen des Staates und anderer Klassen sich der Beitragszahlungen der Arbeiterklasse zu bemächtigen, um damit Dinge zu finanzieren, die nicht den Einzahlern zu Gute kommen, verteidigen wir die beitragsfinanzierten Versicherungssysteme und treten für die strikte Anwendung des Einzahlerprinzips ein. Nur wer einzahlt, kann auch Zahlungen beanspruchen!

Darüber hinaus politisch gewünschte Sozialleistungen sind durch die gesamte Bevölkerung, nicht nur durch die Arbeitnehmer allein zu bezahlen. Politisch wünschbar ist nicht die materielle Begünstigung unproduktiver Hausfrauen und ihrer patriarchalischen Ehemänner. Politisch wünschbar ist ein "Kinderlastenausgleich", nicht der "Familienlastenausgleich" auf dem Boden der reaktionären Familienpolitik dieses Staates.

Nicht Privatisierung und Liberalisierung ist die Antwort der Kommunisten auf die Kostenexplosion des Gesundheitswesens, sondern Verstaatlichung. Das bedeutet nicht automatisch: "Kostenlose medizinische Versorgung für Alle!" [32] Dies bedeutet die Einrichtung eines nicht profitorientierten, effektiven Versorgungssystems auf dem Boden der Beitragsfinanzierung und in Selbstverwaltung der Einzahler.

Dabei dürfte klar sein, daß die Kommunisten deshalb nicht der Illusion erliegen, der Krise des Sozialstaats auf diese Weise dauerhaft Herr werden zu können. Der Sozialstaat war funktionsfähig solange die Arbeitslosigkeit ein bestimmtes Niveau nicht überschritten hatte und die Mittel der öffentlichen Kassen dazu reichten, eine Politik der Sozialpartnerschaft zu finanzieren. Heute, bei Arbeitslosenzahlen die irgendwo zwischen 6 und 8 Millionen liegen [33], ist der deutsche Sozialstaat an sein Ende gekommen. Mit seinem Ende aber kommt die Politik der Sozialpartnerschaft ebenso in die Krise wie die Gewerkschaften und die Volksparteien, die an dieser Politik festhalten wollen. Edmund Stoiber formulierte dies in der Welt am Sonntag folgendermaßen: "Wenn dieses Land die Zahl von fünf, sechs Millionen Arbeitslosen erreicht, dann reißt das soziale Netz. Dann wird dieses Land vor gewaltigen sozialen Unruhen stehen." [34] Das Kapital und seine Politiker sehen mit Recht die Flammenzeichen künftiger sozialer Unruhen und Umwälzungen. Die Aufgabe der Kommunisten besteht darin, dieser Entwicklung ein politisches Programm und eine systemsprengende Perspektive zu geben.

Anmerkungen

  1. G. Bäcker, Sind die Grenzen des Sozialstaats überschritten? und A. Seffen, Umbau des Sozialstaats unter Sparzwang, Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 25 - 26/95, 16. Juni 1995 (alle nicht näher gekennzeichneten Zitate und Angaben beziehen sich auf diese Aufsätze).
  2. Eigene Berechnung auf der Grundlage folgender Angaben:
    Bruttosozialprodukt = 2.615 Mrd., Sozialleistungen = 776,1 Mrd.,
    nach: M. Handwerger, Die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland, Bamberg 1994, S. 130.
    Selbst von Heiner Geißler konnte man neuerdings hören: "Schließlich sei die Sozialleistungsquote in Westdeutschland von 33,4 Prozent 1982 auf 30,2 Prozent 1994 gesenkt worden. Durch die Reformen der letzten Jahre würden jährlich 60 Milliarden DM Sozialleistungen gespart." (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29.12.1995)
  3. W. Weidenfeld, H. Zimmermann, Deutschland-Handbuch, Bonn 1989, S. 317
  4. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. Juni 1995.
  5. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 29. November 1995
  6. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 6. Oktober 1995
  7. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. Januar 1996
  8. Statistisches Jahrbuch 1994, (Erwerbsquoten = eigene Berechnung)
  9. In der Zeitschrift Z wird z. B. behauptet, das Kapital sei gezwungen, die Sozialpartnerschaft und den Sozialstaat aufzukündigen, weil seit den siebziger Jahren und vor allem im Gefolge der Lean Production eine absolut wachsende Zahl von Arbeitskräften freigesetzt wird und deshalb die Staatseinkünfte sinken würden. (vgl. Heinz Bierbaum, Hans-Jürgen Urban, Erosion gewerkschaftlicher Gegenmacht? Gewerkschaften im Modernisierungsprozeß, Zeitschrift marxistische Erneuerung, Nr. 19 (September 1994), S. 38/39).
    Davon unabhängig ist es eine Tatsache, daß seit der Krise 1991/92 die absolute Zahl der Arbeitskräfte sinkt und daß dieser Prozeß trotz zeitweisen Aufwärtstrends der Konjunktur anhält, wie z. B. Arbeitsamtspräsident Jagoda ausführt: "Gegenüber ihrem bisherigen Höchststand Anfang 1992 habe sich die Beschäftigung bis Herbst 1995 (...) um 1,1 Millionen verringert. Gleichwohl werde das Niveau von 1989, dem Jahr der Wiedervereinigung, um 800.000 und der bisherige Tiefstand des Jahres 1983 noch um 2,2 Millionen Stellen überschritten." (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10. Januar 1996)
  10. Vorwort zur Broschüre "Arbeit der Zukunft - Zukunft der Arbeit", hrsg. von der Alfred-Herrhausen-Gesellschaft für internationalen Dialog, Frankfurt am Main 1994, S. 3.
  11. Dieser Zuwachs ist, neben dem Eintritt der geburtenstarken Jahrgänge in das Erwerbsalter, Ergebnis der immensen Zuwanderung. Im Saldo, also abzüglich der Rückwanderung, waren dies zwischen 1960 und 1990 7.800.000 Personen (vgl. Horst Afheld, Ausstieg aus dem Sozialstaat?, Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 25 - 26/95, 16. Juni 1995, S. 4). Hieran ist erkennbar, daß das Kapital in der Bundesrepublik stets eine Politik betrieben hat, die auf eine große industrielle Reservearmee zielt, um das Lohnniveau zu drücken.
  12. Wolfgang Zapf, Sozialstruktur und gesellschaftlicher Wandel in der Bundesrepublik Deutschland, in: Werner Weidenfeld, Hartmut Zimmermann (Hg.), Deutschland-Handbuch, Bonn 1989, S. 108.
  13. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13. Dezember 1995
  14. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. September 1995
  15. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 9. November 1995. Unter dem Banner der Mittelstandsförderung hat sich mittlerweile eine große Koalition der bürgerlichen Parteien zusammengefunden. So ließ auch Lafontaine verlauten: "Die Senkung der Lohnnebenkosten und eine ‘Mittelstandsoffensive’ seien erforderlich. ‘Durch eine kräftige Senkung der Sozialversicherungsbeiträge wollen wir alle Arbeitnehmer entlasten und vor allem Mittelstand und Handwerk helfen.’ Ähnlich wie die FDP auf ihrem Dreikönigstreffen bezeichnete Lafontaine die kleinen und mittleren Unternehmen als ‘Motor für Beschäftigung, Ausbildung und technischen Fortschritt’." (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. Januar 1996)
  16. a.a.O., S. 4.
  17. Das Kapital belegt die Unhaltbarkeit ideologisch motivierter Theorien, die behaupten eine Familie wäre zur Reproduktion der Arbeitskraft notwendig, indem es die Familie einfach auflöst, seitdem die Mechanisierung der Hausarbeit dies ermöglicht hat.
  18. Diese Zahlung muß - im Gegensatz zur Kindergeldpolitik der bürgerlichen Parteien, die desto mehr pro Kind zahlt, desto mehr Kinder da sind - ab einer bestimmten Kinderzahl, beispielsweise ab dem dritten Kind, ganz entfallen. Kommunistische Politik hat kein Interesse an einer finanziellen Förderung von Großfamilien, die es Frauen unmöglich machen, einer lohnabhängigen Beschäftigung nachzugehen. Wer trotzdem eine Großfamilie anstrebt, soll dies selber finanzieren.
    Darüber hinaus ist eine Beschränkung dringend nötig angesichts der Zuwanderung von Menschen mit dem generativen Verhalten von Agrargesellschaften, in denen eine möglichst große Kinderzahl Arbeitskräfte für den eigenen Kleinbetrieb und Versorgung im Alter bedeutet.
  19. Sozialhilfeempfänger, die sich "ein schönes Leben machen", gibt es nur dann, wenn sich Gelegenheit zur Schwarzarbeit bietet. Die Arbeiterklasse kann jedoch sehr leicht ein Programm zur Bekämpfung der Schwarzarbeit formulieren. Die Eckpunkte wären
    1. Beseitigung der 580-Mark-Jobs
    2. Rationalisierung und damit Vergünstigung der Handwerksarbeit durch Aufhebung ständischer Beschränkungen (v. a. Abschaffung des Befähigungsnachweises und Zusammenfassung der einzelnen Gewerke)
    3. Tarifbeschäftigung im Baugewerbe und wirksamere Kontrollen
    Daran hat die Arbeiterklasse aus mehreren Gründen Interesse, während gegen Punkt 1 und 2 Handwerk und Mittelstand, gegen Punkt 3 das Kapital Sturm laufen.
  20. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16. Juni., 30. Juni und 19. Juli 1995
  21. Das gilt sinngemäß auch für alle zur Zeit vom Kapital und seinen Parteien gewälzten Überlegungen, den Niedriglohnsektor durch die Hintertür einzuführen, beispielsweise durch sog. "Negativsteuern". So ist auch die verfassungsgerichtlich durchgesetzte Steuerfreistellung des Existenzminimums nichts anderes als eine Subvention der Arbeiterklasse für die Kapitalistenklasse. Auf diesem Boden ist der Kapitalist in der Lage, in den Niedriglohnsektoren niedrigere Löhne zu zahlen als zuvor: Von den miserablen Bruttolöhnen in dieser Kategorie gehen ja keine Steuern mehr ab; es werden sich also eher Menschen finden lassen, die zu diesen Kursen arbeiten - die Arbeiterklasse zahlt die Ausfälle in der Staatskasse.
  22. Vielmehr ist die wirtschaftliche Effektivität gesellschaftlicher Planung empirisch belegt durch die beeindruckenden Wachstumraten der Sowjetunion in den dreißiger Jahren (vgl. z. B. Paul Kennedy, Aufstieg und Fall der großen Mächte, Frankfurt am Main 1991, S. 451/496), sowie die Erfolge der staatlich gelenkten asiatischen Wirtschaften: "Nun ist mit unbewaffnetem Auge zu sehen, daß es sich bei den asiatischen Wachstumstigern nicht um Marktwirtschaften westlicher Prägung handelt. Selbst bei einer nachsichtigen Definition von Marktwirtschaft wird man in diesen Ländern vieles sehen, was vom reinen - und selbst im Westen nicht praktizierten - 'Laissez faire' unter Ausnutzung der komparativen Vorteile weit entfernt ist. Staatliche Koordination und Intervention - beispielhaft etwa durch das Ministerium für Industrie und Handel (Miti) in Japan - scheinen die treibenden Faktoren hinter dem asiatischen Wachstum gewesen zu sein." (Neue Zürcher Zeitung vom 22./23. Juli 1995)
  23. Dabei muß es einer grundsätzlicheren Auseinandersetzung mit dem Sozialstaat vorbehalten bleiben zu klären, ob die gemeinsame Verwaltung der Sozialsysteme durch Arbeit und Kapital durch eine Selbstverwaltung der Arbeiterklasse ohne staatliche Aufsicht zu ersetzen ist.
  24. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31.10.1995
  25. Dabei dürfte selbstverständlich sein, daß die praktische Umsetzung dieser Maßnahmen auf einer Stichtagsregelung beruhen muß. Man kann nicht Frauen, die seit Jahrzehnten nicht mehr in einem Arbeitsverhältnis gestanden haben, vor das materielle Nichts stellen. Man kann jedoch jungen Frauen von Anfang an sagen, daß sie nur dann sozial abgesichert sind, wenn sie einer Erwerbstätigkeit nachgehen.
    Daß eine solche Politik auch im Zeittrend bürgerlicher Politik liegt, beweisen die Niederlande: "Nach dem neuen Hinterbliebenenrentengesetz erhalten nach 1950 geborene Personen, die keine minderjährigen Kinder unter 18 Jahren haben, nach dem Tod ihres Partners künftig keine Hinterbliebenenrente mehr." (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 27. Dezember 1995)
  26. Wo Sparpotentiale im Gesundheitswesen liegen ist mit Händen in folgendem Beispiel zu greifen: Eine Jahrestagung der Allgemeinmediziner beklagte die Umsetzung der von Minister Seehofer eingeführten Positivlisten durch ärztliche "Qualitätszirkel". Es heißt, "daß der Name 'Qualitätszirkel' teilweise auch für kaum strukturierte Treffen ('Ärzte-Stammtische') mißbraucht werde und daß die Pharmaindustrie, die neunzig Prozent der ärztlichen Fortbildung beherrsche, nun die Qualitätszirkel infiltriere, indem sie zum Beispiel Moderatoren für solche Zirkel ausbilde." (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 1. November 1995)
  27. vgl. in derselben Ausgabe der Beilage zum Parlament: Wolfgang Klug, Mehr Markt in die Freie Wohlfahrt? Zum Problem marktwirtschaftlicher Bedingungen in der Freien Wohlfahrtspflege.
    Aus liberaler Sicht gegen die Wohlfahrtsverbände gerichtet: Das teuere Wohlfahrtskartell; Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30.12.1995.
  28. Focus 40/1994, S. 26, zit. nach: Afheldt, a.a.O., S. 8.
  29. Afheldt, a.a.O., S. 4.
  30. MEW 16 (Lohn, Preis und Profit), Berlin (DDR) 1975, S. 151 (Hervorhebung von mir, P. B.).
  31. Michael Krätke, Dieser Sozialstaat ist der unsere nicht!? Sozialistische Politik und Wirtschaft 17/1983, S. 410/412.
  32. Kranke, die noch keine Beiträge zahlen konnten, wie z. B. Minderjährige, müssen versorgt werden - aber über Beiträge aus der Staatskasse in die Versicherung. Ansonsten aber sollte das Prinzip gelten, daß nur der behandelt wird, der auch Beiträge zahlt.
  33. FAZ vom 11.01.1996, S. 13.
  34. Welt am Sonntag vom 14.01.1996.

Zuerst veröffentlicht in: Kommunistische Presse, 6. Jg., Nr. 24., Januar 1996