Heft 8 des Marxistischen Forums

Gerhard Branstner
Das Prinzip Gleichheit

 


Prolog

Die Ungleichheit bringt die Menschheit um

Wie halten es unsere "modernen Sozialisten" mit der Ungleichheit?

Der wirkliche Sozialismus ist keine Utopie

Der Kommunismus ist das Gesetz der Vernunft

Epilog


Prolog

Die Gleichheit war immer und ist bis heute das Thema meines Lebens. An ihr orientierte sich der Sinn aller Fragen. Ihre Voraussetzungen und ihre Folgen enthalten für mich alle Probleme dieser Welt: Die Entstehung und die Lösung dieser Probleme. Die Gleichheit ist mir das notwendigste und das edelste menschliche Prinzip. Ihm gebührt der höchste Rang.

 

Aller Wert und alle Bewertung dieser Welt beruhen auf dem Vergleich. Und aller Vergleich beruht auf der Gleichheit. Sie ist die Voraussetzung. Wenn die Teilnehmer eines Hundertmetersprints nicht die gleichen Voraussetzungen haben, sondern einer einen schweren Sack tragen muß, ein anderer nur eine Tüte Pflaumen, wieder ein anderer mit fliegendem Start loslaufen darf und der andere aus dem Stand starten muß, wenn einige frei durchlaufen können, während anderen ein Bein gestellt wird, so ist das absoluter Blödsinn. Die wirkliche Fähigkeit der Sportler kann sich nicht erweisen. Aber das wirkliche Leben ist so. Es ist absoluter Blödsinn. Gleichheit der Voraussetzungen, im Sport die selbstverständlichste Regel, ist im gesellschaftlichen Leben das Unselbstverständlichste. Ohne die Gleichheit sind die wirklichen individuellen Unterschiede nicht realisierbar und nicht bewertbar. Gleichheit in diesem Sinne ist mithin das gerade Gegenteil von Gleichmacherei. Gleichheit ist vielmehr Bedingung der Ungleichheit.

Aber, und das wußte schon Eduard Bernstein: "Gleichheit setzt Gemeinschaft der Güter voraus." Unsere PDS-Vordenker, "Reformer" etc. (im Folgenden "moderne Sozialisten" oder kurz mS genannt), die alle Irrtümer von Bernstein abschreiben, schreiben eben diese Wahrheit nicht ab.

Und diese Wahrheit wußte nicht nur Bernstein, die wußte schon Marx und die wußten schon die großen Utopisten und die Bibel. Und die Naturvölker wußten diese Wahrheit nicht nur, sie lebten sie. Ihre immer wieder mit Erstaunen und Bewunderung beobachtete Heiterkeit beruhte auf ihrer Freiheit, und ihre Freiheit beruhte auf ihrer sozialen Gleichheit. Und umgekehrt: "Die soziale Ungleichheit schlägt um in soziale Unfreiheit. (E. W. Böckenförde)

Es ist ein Unding, die Freiheit der Gleichheit opfern zu wollen. Und Freiheit ohne Gleichheit ist nicht nur Illusion, sondern ausgemachter Betrug, wenn nicht gar lebensgefährliche Irreführung. Was für die Freiheit gilt, gilt auch für die Demokratie, auch sie hat die Gleichheit zur unabdingbaren Voraussetzung. Natürlich ist zur Kenntnis zu nehmen, daß Gemeineigentum nicht automatisch zu Gleichheit und Gleichheit nicht automatisch zu Freiheit und Demokratie führt. Davon unberührt gilt, daß die Freiheit die Gleichheit zur Voraussetzung hat und die Gleichheit das Gemeineigentum. Es ist evident, daß sich an der Frage der Gleichheit die politischen Fronten definieren. Wer politisch sich als links versteht, ist das nur wirklich, indem er das Prinzip Gleichheit bejaht. Und es ist nur logisch, daß die allgemeinen Menschenrechte erst begründbar sind, wenn sie von der Idee der Gleichheit ausgehen. Gleiche Rechte sind ohne die Idee der Gleichheit ohne Sinn.

Das Prinzip Gleichheit drängt auf seine Voraussetzung. Es ist der mächtigste sittliche Hebel zur Überwindung des Privateigentums an den Produktionsmitteln. Und es hat die Realisierung aller humanistischen Ideale zur Folge.

Das Prinzip Gleichheit vervollständigt die marxistische Geschichtsauffassung in ihrer menschlichen Seite.

 

Die Ungleichheit bringt die Menschheit um

Eine erste kleine Kostprobe auf die "Gleichheit" im Kapitalismus: "Auf unvorstellbare 4 300 Milliarden DM (4,3 Billionen), eine Zahl mit dreizehn Stellen - ist 1994 das Geldvermögen der privaten Haushalte angewachsen ... Und die Geldtürme schießen weiter in die Höhe. Sie haben sich in den vergangenen Jahrzehnten meist im Zehnjahresabstand verdoppelt ... Das Geldvermögen ist extrem ungleich verteilt. 1988 hatte die untere Hälfte der Haushalte" (einen) "Anteil von ganzen 1,3 Prozent am Netto-Geldvermögen ... die reichsten fünf Prozent allein 35,9 Prozent ... Die Kluft zwischen Wohlhabenden und Habenichtsen hat sich seither noch weiter aufgetan ... Man dürfte bei einer Schätzung nicht weit danebenliegen, wenn man annimmt, daß das reichste eine Prozent der deutschen Haushalte 1994 in Wirklichkeit ein Viertel bis ein Drittel des gesamten Geldvermögens von 4 300 Milliarden Mark sein eigen nennt." Oder: "Um 20 bis 25 Prozent wird der Jahresüberschuß der Siemens AG 1996 steigen - bei weiterem deutlichen Stellenabbau." (Handelsblatt)

Der Irrsinn ist komplett: Der Arbeiter produziert mit dem Reichtum anderer seine eigene Armut bis zur Arbeitslosigkeit. Der zunehmenden Verarmung einerseits (wobei die Entwicklung in der Dritten Welt hier noch ausgespart bleibt) steht die genau umgekehrte Entwicklung auf der anderen Seite gegenüber, nämlich das zunehmende Wachstum überschüssigen Kapitals. Überschüssig heißt, daß es weder investiert oder als Kaufkraft realisiert wird, sondern auf den internationalen Finanzmärkten etc. herumvagabundiert oder als Gläubiger von der Staatsverschuldung profitiert. Das überschüssige Kapital verspricht dort mehr Gewinn. Also wird der gemachte Profit dorthin verlagert, und zwar in unvorstellbaren Größenordnungen. Allein das überschüssige Kapital in der BRD beläuft sich auf gegenwärtig etwa 1 000 Milliarden Mark. Das ist ein ungeheurer Entzug von Investitionsmitteln und Kaufkraft.

Die Gewinnsteuern hatten in der BRD 1960 einen Anteil von ca. 35 Prozent am Gesamtsteueraufkommen. 1992 nur noch ca. 17 Prozent, während im gleichen Zeitraum der Anteil der Lohnsteuer von ca. 12 Prozent auf ca. 36 Prozent stieg. Nun war aber schon 1960 der Unterschied zwischen dem Einkommen der kapitalistischen Unternehmer und dem der Lohnarbeiter unmenschlich. Die danach eingetretene Umkehrung in den Besteuerungsanteilen beider Bevölkerungsschichten entlarvt nur das Groteske dieser Unmenschlichkeit. Die großen Kapitalisten wissen nicht, wohin mit dem Geld und lassen es vagabundieren, verlangen aber noch größere Steuervergünstigungen, die kleinen Verdiener müssen immer mehr in die Staatskasse zahlen. Aber was mit diesem Geld geschieht, bestimmen wiederum die Großen: Die Reichen werden immer reicher, und der Staat wird immer ärmer und spart auf Befehl der Reichen an den Armen. Der Widerspruch, daß ein Land immer reicher wird, aber immer weniger Geld hat und auf die schäbigste Art am Notwendigsten spart, ist also kein Rätsel. Der Widerspruch erklärt sich daraus, daß die großen Kapitalisten von den Arbeitern und vom Staat immer mehr Geld abziehn und immer weniger für Investitionen und Kaufkraft und Steuern verausgaben. Dieser Widerspruch, im Grunde der Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit, droht Dimensionen anzunehmen, wo er dem Kapitalismus selbst aus dem Ruder läuft und die letzte Krise des Kapitalismus einläutet.

 

Wer Eigentümer der Produktionsmittel ist, bestimmt über Menschen. Er entscheidet, ob wir Arbeit haben und welche wir haben und welche nicht; er entscheidet über unser Schicksal, über Krieg und Frieden, Leben und Tod, er entscheidet über unsere Gedanken und über unseren Geldbeutel, er entscheidet über die Chancengleichheit, d. h. er verordnet die Chancenungleichheit, ihr Ausmaß und ihre Folgen, die Ungleichheit in der Bildung und in der medizinischen Versorgung (5 348 Menschen in Afrika sind bisher in diesem Jahr an Meningitis gestorben. 4 500 von ihnen könnten bei entsprechender Medikation noch leben - aber: Die Hälfte der Millionäre in Hamburg bezahlt nicht einen Pfennig Einkommenssteuer.) Der Eigentümer an den Produktionsmitteln entscheidet über die Ungleichheit vor Gericht (wo der Arme für das gleiche Delikt höher bestraft wird als der Reiche), er spaltet die Menschen in übersättigte und verhungernde, verwaltende und verwaltete, belehrende und belehrte. Er bestimmt die Ungleichheit von Mann und Frau. Und die Ungleichheiten nehmen zu. In der ersten Welt und in der Dritten Welt und im Verhältnis beider Welten. Und um das ertragen zu können, lassen wir uns das Gegenteil einreden und reden uns selber das Gegenteil ein. Der Eigentümer der Produktionsmittel entscheidet über uns wie über würdelose und willenlose Objekte. Die Frage des Eigentums ist auch eine Frage der Moral, und zwar ihre oberste.

Eine Frage von ganz eigener Bedeutung ist das Eigentum an Grund und Boden. Der Boden, die Erde ist ein einmaliger Wert, ein allen gegebener, der grundsätzlich nicht Eigentum eines einzelnen, der nicht apartes Eigentum sein darf. Er ist ein begrenztes Gut: was der eine hat, ist dem anderen genommen. Die Erde, der Grund und Boden, sollte durch ein absolutes Tabu gleich einem Heiligtum vor aller privaten Aneignung geschützt werden. Nur dann kann sie jedem einzelnen Schutz und Geborgenheit bieten. Gemeineigentum, was in letzter Konsequenz Nichteigentum heißt, das Gemeineigentum an Grund und Boden ist eine elementare Bedingung der Gleichheit. Die Entwicklung im Kapitalismus nimmt jedoch den genau entgegengesetzten Lauf: Auf dem Wege kriegerischer Eroberungen, gesetzlichen und ungesetzlichen Raubes, durch Restitution, kalte Enteignung und unendlich viele andere Formen kapitalistischer Kriminalität wird der Grund und Boden immer mehr zu Privateigentum, zum Gewinnobjekt gemacht. Reste von staatlichem oder Gemeineigentum werden immer geringer, während die Zahl der Bodenlosen, der vom Kapitalismus erzeugten "Zigeuner" zunimmt. Und das nicht nur am Amazonas.

 

Eine immer charakteristischer werdende Ungleichheit ist die von Arm und Reich gegenüber der Umweltzerstörung. Die Folgen der Umweltzerstörung werden immer drastischer. Und der Arme hat zunehmend darunter mehr zu leiden als der Reiche. Er kann sich keinen Umweltbunker leisten oder eine Villa in weniger gefährdeten Weltgegenden. Und welche Regionen dieser Erde den Umweltkatastrophen weitestmöglich entzogen oder ausgeliefert werden, wird nicht von den armen Regionen bestimmt, sondern von den reichen. Die von den reichen Zonen verursachten und unvermeidlich auf uns zukommenden Umweltkatastrophen treiben den Gegensatz von arm und reich ins Infernalische.

 

Die Gleichheit der Menschen ist ihr höchstes Gut. Sie ist das höchste Gebot des Humanismus. Sie ist die Voraussetzung von aller Freiheit und Individualität. Ohne Gleichheit gibt es keine Gerechtigkeit, keine Brüderlichkeit, keine reelle Demokratie. All das wird durch das privatkapitalistische Eigentum an den Produktionsmitteln ausgehöhlt und in sein Gegenteil verfälscht. Umgekehrt ist die Gleichheit, selbst noch als Utopie, der Wertmaßstab, an dem gemessen das Eigentum an Produktionsmitteln und an Grund und Boden als Verbrechen evident wird.

Das kapitalistische Eigentum ist das Fundament des gewaltigen staatlichen, politischen, juristischen und ideologischen Apparats, der auf den Menschen lastet und sie sittlich in die absolute Verelendung treibt, der sie korrumpiert und ohnmächtig macht.

 

Die Ungleichheit, begründet in der ungleichen Stellung zu den Produktionsmitteln, ist der Anfang und das Ende aller Übel. Sie zerstört schließlich die Existenzgrundlagen der Menschheit und führt zur absoluten sittlichen Verelendung. Der sittlich verelendete Mensch ist aber unfähig, der Zerstörung seiner Existenzgrundlagen entgegenzuwirken. Der Teufelskreis ist geschlossen. Das ist die Krise des späten Kapitalismus, seine letzte Krise.

 

Wie halten es unsere "modernen Sozialisten" mit der Ungleichheit?

"Die Zeit der großen Utopien und Visionen ist vorbei ...", sagt der Politologe Kurt Sontheimer. Woher weiß der das? Ist nicht vielmehr das genaue Gegenteil richtig?: "Wir leben in einer Zeit, in der nur die utopisch erscheinenden Lösungen wirkliche Lösungen sind." Das war meine Auffassung in "Mensch - wohin?" neunzehnhundertdreiundneunzig und das ist sie noch heute. Angesichts der Ungeheuerlichkeit der Bedrohung unserer Existenz und der Jämmerlichkeit der gutbürgerlichen Abhilfeversuche kann nur die große Lösung unsere Rettung sein. Die Mutlosigkeit nach dem Zusammenbruch der Welt des "realen Sozialismus" ist verständlich, aber sie birgt auch einen gefährlichen Irrtum. Diesem Irrtum unterliegen mit besonderer Inbrunst unsere "modernen Sozialisten": "Auch heute scheint klar, daß die Dominanz des kapitalistischen Profitsystems überwunden werden muß. Dazu gehört jedoch auch die Einsicht, daß der Kapitalismus nicht nur 'kapitalistisch' ist." (Kommentar: Es brauchte nicht diese selbstgefällige "Erkenntnis" unserer mS, um zu wissen, daß der Kapitalismus, ob nun außer ihm oder durch ihn oder trotz ihm auch positive Elemente, zivilisatorische Errungenschaften und Möglichkeiten aufweist. Das also kann nicht die Frage sein. Keine Klassengesellschaft gab oder gibt es pur. Daß die Klassengesellschaft nicht pur ist, davon lebt sie und daran stirbt sie. Das konnte man schon vor zwanzig Jahren in meiner "Kantine" nachlesen, allerdings ein bißchen dialektischer. Kapitalismus pur, wie sollte das funktionieren? Arsen, das weiß jeder Krimileser, wird ja auch nicht pur gereicht, sondern in Tee oder in der Suppe. Wer frißt schon Rattengift pur? Was soll da das Lob der Suppe?)

Ein anderer mS: "'Großformatiges' Gemeineigentum funktioniert weder politisch noch ökonomisch." (Kommentar: Daß ein Geschlechtsverkehr bei einem verunglückten Versuch nicht zur Befruchtung geführt hat, besagt nicht, daß Geschlechtsverkehr eine unfruchtbare Übung ist.)

Ein anderer: Nach dem Scheitern des Sozialismus schon wieder wissen zu wollen, wie ein zukünftiger Sozialismus aussehen soll, wäre "verheerend"! (Kommentar: Gerade das Scheitern ist doch eine unschätzbare Erfahrungsquelle. Es wäre "verheerend", diese Quelle vertrocknen zu lassen.)

Ein anderer: "Nichts fürchte ich mehr, als ein Abheben in Theorie, Ideologie und Fernstrategie." (Kommentar: Die "Fernstrategie", die hier gefürchtet wird, ist nichts anderes als das Anvisieren der Revolution. Der alte Friedrich Ebert war da unverblümter, wenn er bekannte: "Ich hasse die Revolution wie die Sünde.")

Ein anderer: Wir brauchen die Effizienz des Kapitalismus, um die von der kapitalistischen Marktwirtschaft verursachten Schäden zu beheben. (Kommentar: Das ist weniger witzig als der Kabarettwitz: Frage: Wozu brauchen wir die Politiker? Antwort: Zur Lösung der Probleme, die ohne sie nicht entstanden wären. - Aber ganz ohne Witz: Was kostet eine an der Umweltzerstörung gestorbene Tierart? Oder die an ihr gestorbene Gattung Mensch? Welche kapitalistische Effizienz kann das bezahlen? Ich bitte um Antwort, meine lieben mS.)

Das war nur eine kleine Blütenlese von dem, was unsere mS an "Erkenntnissen" und "Lösungen" zu bieten haben. Ich will die Autoren nicht beim Namen nennen in der Hoffnung, daß es ihnen eines Tages peinlich werden sollte, dergleichen von sich gegeben zu haben.

Den "modernen Sozialisten" ist die Illusion gemeinsam, den Kapitalismus dadurch abschaffen zu können, daß sie ihm den Sozialismus (falls ihnen noch an ihm gelegen ist) irgendwie unterschummeln. Dieser Illusion war schon Eduard Bernstein aufgesessen, allerdings unter historischen Bedingungen, wo dieser Kinderglaube fast verzeihlich war. Wenn unsere mS heute abermals fern aller Erkenntnis des wirklichen Wesens des Kapitalismus auf derartige Illusionen verfallen, dann erfinden sie nicht nur das Fahrrad zum zweiten mal; sie erfinden das Fahrrad, das nicht geht, zum zweiten mal. Auf unsere "modernen Sozialisten" trifft der schöne Spruch zu: Sie glauben nur, was sie sehen; deshalb sehen sie nur, was sie glauben.

"Die revolutionäre, wenn man will kopernikanische, Wende bei Karl Marx war die Einsicht, daß der entscheidende Gegner, die entscheidende Bedrohung der Demokratie nicht die Macht des Staates, sondern die Macht des Privateigentums sei." (Uwe-Jens Heuer in Utopie kreativ 59/95) In der Nachfolge von Hegel mußte sich Marx von der Auffassung seines Vorläufers lösen, im Staat die Inkarnation aller Historie zu sehen. Schon vor Marx hatten auf ihre Weise die utopischen Sozialisten das Privateigentum als die Ursache allen Übels erkannt. Und über Jahrhunderte, wo nicht Jahrtausende, war das Gemeineigentum nicht nur Utopie, sondern gesellschaftliche Wirklichkeit gewesen, nämlich als Lebensbedingung der Naturvölker. In reduzierter Form lebte das Gemeineigentum in vielen Varianten selbst in der Klassengesellschaft fort, beispielsweise als dörfliches Gemeineigentum. Aber nun wollen die "modernen Sozialisten", indem sie die grundlegende Bedeutung des Gemeineigentums an den Produktionsmitteln kastrieren, die "kopernikanische Wende" rückgängig machen. Das Eigentum an den Produktionsmitteln ist aber das klassische historische Kriterium, durch das sich die jeweilige Gesellschaftsordnung definiert. Wer dieses Kriterium verwischt oder leugnet, macht die menschliche Geschichte undefinierbar und folglich unerfaßbar. Das ist ein klassischer Fall von Irrationalismus.

Der Kapitalismus ist in den letzten Jahrzehnten in eine neue Etappe seiner Entwicklung eingetreten. Ein wesentliches Kennzeichen dieser neuen, letzten Etappe des Kapitalismus sind die zunehmenden Probleme in der Kapitalverwertung. Während sich die Erschließung neuer Möglichkeiten verlangsamt, beschleunigt sich die Reduktion der bisherigen Möglichkeiten. Und das in doppelter Weise. Einerseits stößt die Ausbeutung der Natur mehr und mehr an ihre objektiven Grenzen, und andererseits weist der Kapitalismus zunehmend systemimmanente, subjektive Grenzen in der Kapitalverwertung auf. Das zeigt sich in der Umwandlung der konjunkturellen, zeitweiligen Arbeitslosigkeit in die strukturelle, ständige Massenarbeitslosigkeit in der Ersten Welt und im Massensterben der Arbeitskräfte in der Dritten Welt. Ein Vertreter der Zapatistas in Mexiko formuliert in Worten von schlichter Wahrheit: "Erstmalig ist die Mehrheit der Menschen für den Kapitalismus nicht interessant, nicht als Arbeitskraft, nicht als Verbraucher. Vielleicht können wir nun einen eigenen Weg gehen."

Wenn der von den großen Kapitalisten gemachte Profit, statt in Kaufkraft und Investitionen verwandelt zu werden, auf den Geldmärkten vagabundiert oder in toten Immobilien angelegt wird, gräbt der Kapitalismus sein eigenes Grab. In Anbetracht dieser (wenn man nur will, ohne weiteres durchschaubaren) Kausalität mutet das Geplapper unserer mS über die Gebrechen des Kapitalismus und die Lösungsvorschläge, gelinde gesagt, dilettantisch und beschönigend an. Waltet hier nun Schwachheit oder Heuchelei?

Die Selbstregulierung der kapitalistischen Ökonomie, sprich Marktwirtschaft, läuft, je mehr auf sie geschworen wird, desto mehr gegen den Baum. Der Markt reguliert immer weniger, er wird immer mehr dereguliert: durch falsche Bedürfnisse, fehllenkende Werbung, marktbeherrschende Konzerne, falsche Preise, illegale und legale Vereinbarungen und mafiose Wirtschaftskriminalität. Der Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen ist, alles in allem gesehen, in sein kritisches Stadium eingetreten: Der Kapitalismus läuft sich selbst aus dem Ruder, die Produktionsverhältnisse und die Produktivkräfte entladen ihren unheilvollen Widerspruch als Zerstörung der Natur. Die gesellschaftlichen Gesetze geraten, statt ihm zu dienen, in Widerspruch zum Gesetz der Anpassung, dem Gesetz der Einheit von Mensch und Natur. Der Dritte Weltkrieg hat bereits begonnen. Und er ist mörderischer als alle bisherigen Kriege zusammengenommen. Er erscheint nur in einer anderen Form. Er erscheint als sozialer Krieg, als Vernichtung von Arbeitskräften in Form der Massenarbeitslosigkeit und als jährlich millionenfacher Tod von Kindern und arbeitsfähigen Menschen in der Dritten Welt. Und er erscheint als "Krieg" gegen die Natur. "Unübersehbar ist die Tendenz, daß die jährlichen Umweltschäden die Jahreszuwächse des Bruttosozialprodukts übertreffen. Im Grund ist der Wachstumseffekt schon negativ." (Klaus Steinitz) Der Umweltschutz ist zum Ablaßhandel verkommen. "... Erinnerungen an die Zukunft: Menschen mit Sauerstoffmasken, hustende statt singende Vögel, Bäume, die sich weigern zu wachsen ... Noch gibt es keine Schilder: Wir empfehlen, nicht zu atmen. Wie lange wird es noch dauern, bis solche Warnungen zum Wohl der Volksgesundheit auftauchen werden?" (Eduardo Galeano) Solche Warnungen sind jetzt schon nötig und werden immer nötiger, denn: "In den USA sterben jährlich 16 000 Menschen an den Folgen der Luftverschmutzung." (jW)

Der Dritte Weltkrieg ist nicht nur der letzte, er ist auch der erste vollkommen kapitalistische Krieg, denn er ist der Krieg der Reichen gegen die Armen, der Umweltzerstörer gegen die an der Umweltzerstörung Umkommenden. Er ist tatsächlich "das letzte Gefecht". In ihm wird die letzte Ungleichheit ausgetragen, die Ungleichheit vor dem Umwelttod. Der Reiche baut sich seinen Umweltbunker, der Arme ist der tödlichen Gefahr hilflos ausgesetzt. Es sei denn, er erschlägt den Verursacher seines Elends.

Der Kapitalist, der aus moralischen Gründen aus dem mörderischen System aussteigen will, begeht mindestens ökonomischen Selbstmord. Im skrupellosen Konkurrenzkampf ist dem Kapitalisten sein Überleben wichtiger als das Überleben der Menschheit. Das Hemd ist ihm näher als der Rock, das Heute ist ihm wichtiger als das Morgen. Die Hoffnung, daß im Kapitalismus ihm eigene Kräfte der Rettung liegen, ist absolut trügerisch. Die einzige Hoffnung ist, daß die Zerstörung der Umwelt, bevor sie endgültig und unumkehrbar ist, zu einer unerträglichen Qual wird und die Gequälten die Verursacher ihres Elends unschädlich machen. Es sei denn, die noch immer drohende Atombombe hat das Problem gelöst, oder die soziale Revolution. Die Atombombe, die soziale Revolution und die Umweltkatastrophe sind die möglichen drei großen "Endzeit-Ereignisse". Wir können nicht sagen, in welcher Abfolge und in welcher Verbindung sie eintreten oder welches die anderen auslöst oder überflüssig macht. Sicher ist nur, daß sie den kapitalistischen Teufelskreis durchbrechen. Die Frage ist nicht, ob der Sozialismus kommt, sondern ob er rechtzeitig und unter welchen Voraussetzungen er kommt. Das Gesetz der Anpassung als Naturgesetz des Menschen wird zum Scharfrichter des Kapitalismus. "Die Frage steht dann nicht mehr, wo (im Kapitalismus oder im Sozialismus) es sich besser lebt, sondern wo es sich überlebt." ("Menschen - wohin?") Der Weg zum Sozialismus wird von dem zum Verbrechen gewordenen Kapitalismus bestimmt, d. h., der Kapitalismus überläßt dem Sozialismus seine Konkursmasse: den Rest von Menschheit, wie er ihn zugerichtet hat. Und niemand kann heute sagen, wie dieser Rest aussehen wird.

Wie stellen sich da unsere "modernen Sozialisten"? "Von einem sozialistischen Standpunkt aus gibt es kaum eine Institution und kaum eine Eigentums- oder Demokratieform, die für sich genommen abzulehnen wäre. Ausgenommen jene, die aufgrund ihres totalitären Charakters abzulehnen wäre. Alle anderen Institutionen, die realhistorisch praktiziert wurden bzw. denkmöglich sind, (...) sind multifunktional und haben immer komplexe und damit gegensätzliche Folgen." Dieses Kauderwelsch von Michael Brie ist angesichts des millionenfachen Elends und der tödlichen Bedrohungen auf dieser Welt eine schlimme Zumutung. Aber auch verständlichere Formulierungen machen die Zumutung nicht annehmbarer. "Die kapitalistische Moderne hat ihre Entwicklungspotentiale nachgewiesen. Ihre Beschränktheit, ihre Einseitigkeit ist jedoch nicht überwunden ... Wirtschaftsdemokratie muß zu einer Gegenmacht gegen Kapitalverwertungsinteressen werden." So André Brie in Utopie kreativ 61/95. Wirtschaftsdemokratie ist das Gegenteil von Kapitalismus, an ihr würde er auf der Stelle verenden. Aber es soll ja nur seine "Einseitigkeit" überwunden werden. Bleibt also die Frage, wie wäscht man dem Bären den Pelz, ohne ihn naß zu machen? Und woher die "Gegenmacht" nehmen? Sehr einfach: die wird aus dem Hut gezaubert, nämlich als "Stärkung der Zivilgesellschaft". Halleluja! Wir leben in der Zeit der falschen Propheten!

Bei aller Kompliziertheit der Fragen, ihre Lösung ist ganz einfach: Ohne Eigentum kann man kein Eigentum zügeln. Auch nicht bändigen oder fesseln oder über es verfügen. Die Erlangung der "Gegenmacht" Eigentum mag ein längerer Prozeß sein und in unvorhergesehenen Formen ablaufen, ober ohne einen bestimmten und jeweils bestimmbaren Umfang sozialistischen Eigentums ist der mörderischen Profitwirtschaft nicht beizukommen.

Natürlich wäre es töricht, Möglichkeiten, die der Kapitalismus bietet, nicht zu nutzen. Nicht nur, um dem Sozialismus vorzuarbeiten, sondern vor allem, um den vom Kapitalismus gebeutelten Menschen konkret und unmittelbar zu helfen. Aber da gibt es klare Kriterien und Grenzen. Die Hilfe von heute darf nicht das Verbrechen von morgen begünstigen. Wir sind nicht für die Schaffung von Arbeitsplätzen in Munitionsfabriken oder in der Umweltvernichtung. Evolution und Revolution haben ein erkennbares dialektisches Verhältnis, und Reformen können nur in diesem Verhältnis gedacht oder gemacht werden. Alles andere ist entweder illusionistische oder demagogische Verantwortungslosigkeit. Oder es ist die dumme Ausrede des Opportunisten.

Auch wenn der Sozialismus heute und morgen nicht möglich ist, so ist er doch heute und morgen nötig, denn jeder Tag ist ein Tag mehr Unheil und mehr Verlust. Soll man einem Arbeiter in einer Landminenfabrik die Arbeit in seiner Fabrik (also die Beihilfe zum Mord) ausreden oder besser den Kapitalismus? Der richtige Kampf für das richtige Ziel kann nie zu früh sein, aber es kann morgen schon zu spät sein. Beispielsweise für den Schwarzafrikaner, der auf eine Mine getreten ist. Der Kapitalismus muß ab sofort "abgewickelt" werden. Der Sozialismus kommt schon jetzt jeden Tag einen Tag zu spät. Also muß der Sozialismus auch heute und morgen gefordert werden. Wir sind nicht Sozialisten ab übermorgen. Oder doch? "... Solange ich noch kein tragfähiges und im Detail durchdachtes Gegenkonzept habe, versuche ich die Potentiale zu erschließen, die in diesem System immer noch drinstecken." So Peter Porsch (ND vom 29.11.95) Und also kommen wir vor lauter Erschließen der "Potentiale" zu keinem Gegenkonzept. Der Kapitalismus wartet mit der Zerstörung dieser Welt nicht, bis die Erschließer etwas erschlossen haben. Und wenn der Kapitalismus die Welt vernichtet hat und die Erschließer zur Strafe überleben müßten, würden sie unverdrossen weiter nach den "Potentialen" suchen und darüber noch immer nicht zu einem "durchdachten Gegenkonzept" gekommen sein. Und zu einem Konzept zum Erschließen natürlich auch noch nicht.

 

Der wirkliche Sozialismus ist keine Utopie

Der "reale Sozialismus" war nicht der wirkliche, der notwendige, sonst wäre er nicht untergegangen.

Überdies ist es an der Zeit, nach den richtigen Maßstäben zu fahnden. Nicht nach denen der Sieger, und auch nicht nach denen der Verlierer. Beider Maßstäbe sind schon deshalb fragwürdig, weil es keine eindeutigen Sieger oder Verlierer gibt. Noch hat die Geschichte ihr Wort nicht gesprochen.

Die DDR ist nicht untergegangen, weil sie schlechter war als die BRD, sondern weil sie ökonomisch schwächer war. Die besseren Seiten des "realen Sozialismus" werden nicht oder falsch gemessen. (Wenn ein Faustkämpfer und ein Schachspieler in den Ring gestellt werden, wer wohl wird gewinnen? Blöde Frage, klar. Aber die Wirklichkeit ist noch blöder.) Zur Zeit der Modrow-Regierung war die DDR das demokratischste und freieste Land der Welt. Wir konnten reisen, wohin wir wollten, wir konnten reden und schreiben, was wir wollten, wir hatten die unabhängigste Kunst, die unabhängigste Presse und das unabhängigste Fernsehen, denn es war noch nicht verwestlicht. Keiner hoffte oder glaubte, die Demokratie zu wählen, die hatten wir ja, und die Runden Tische dazu. Was also hat gesiegt?

 

Die Ursache des Scheiterns des "realen Sozialismus" war vordergründig der Mangel an Ökonomie. Und der Mangel an Ökonomie wird mit dem Mangel an Demokratie erklärt. Wieso hat der Mangel an Demokratie in der kapitalistischen Ökonomie nicht negativ gewirkt. Im Gegenteil würde Demokratie in der Ökonomie den Kapitalismus zugrunde richten. (Daher ist die Forderung nach demokratischer Verfügung über das Kapital ein Widerspruch in sich.) Wolfgang Berger, ein Insider der Wirtschaftsführung der DDR, berichtet von "gemeinsamen Beratungen mit den Generaldirektoren, seinerzeit offen, konstruktiv, demokratisch und streitbar", ein zwischen kapitalistischen Wirtschaftsbossen undenkbarer Vorgang. Daran hat es also nicht gefehlt.

Im Folgenden einige Merkmale und Schandmale des falschen Sozialismus, keineswegs vollständig und ohne systematische Ordnung:

1. Der "reale Sozialismus" ist vordergründig an der uneffizienten Ökonomie gestorben, aber auch an dem Mangel an Demokratie, aber in besonderer Weise. Während der Kapitalismus auch ohne Demokratie auskommt - in der kapitalistischen Wirtschaft ist sie sogar der reine Widersinn -, ist die Demokratie im Sozialismus tatsächlich ein ökonomisches Erfordernis. Ohne Demokratie ist kein wirkliches sozialistisches Gemeineigentum an den Produktionsmitteln, ist eine sozialistische effiziente Produktion nicht möglich. Die Lehre aus dem Versagen des "Staatseigentums" im "realen Sozialismus" ist nicht das gemischte Eigentum oder dergleichen, sondern das wirkliche gesellschaftliche Eigentum (was für eine bestimmte Zeit gemischtes Eigentum nicht ausschließt). Bedingung ist jedoch sozialistische Demokratie, und die ist dem "realen Sozialismus" ein ewiges Rätsel geblieben. Vieles, was im Kapitalismus auch ohne Demokratie kapitalistisch funktioniert, funktioniert im Sozialismus ohne Demokratie nicht sozialistisch, wenn überhaupt. Und überdies hat Demokratie, insbesondere die sozialistische, ihren Eigenwert.

2. Eine Schutzgrenze, Mauer genannt, war nötig. Sie war so nötig wie die Schutzmaßnahmen des Gärtners für die jungen Pflanzen, um sie nicht der Verunkrautung auszusetzen oder in Wind und Wetter umkommen zu lassen. Wer wäre schon so idiotisch, einen Gärtner nach der Notwendigkeit dieser Maßnahmen zu fragen? Aber mußten die Maßnahmen so brutal, so stur und unflexibel, so unfreundlich gegenüber den friedlichen Grenzpassanten, so inhuman, so ungeschickt, so aufwendig, so material-, kosten- und menschenverschlingend praktiziert werden? Und ohne den von der Bevölkerung erwarteten Effekt, daß wir ungestört unsere Sache betreiben können? Und mußte die "Mauer" so verlogen begründet werden? Auch wenn sie notwendig war, war sie doch eine erhebliche Einschränkung unserer Freiheit. Warum wurde das nicht gesagt? Warum sind unsere Oberen niemals ehrlich gewesen?

3. Ein grundlegender Fehler war die politische Amputation des Proletariats. Einerseits wurde es fetischisiert wie ein Deus ex machina (gleich der Fetischisierung der historischen Gesetze), andererseits wurde es, statt es zur Diktatur zu ermächtigen, der Diktatur unterworfen: Der Diktatur der Partei, die wiederum wurde der Diktatur des ZK unterworfen, das wiederum der Diktatur des Politbüros unterworfen wurde. Statt der Diktatur des Proletariats hatten wir die Diktatur über das Proletariat. Die Folgen dieser Verkehrung waren verheerend.

4. Einer der schwerwiegendsten Fehler war die dilettantische, unmoralische, machtorientierte, ideologisierte, unglaublich dumme ökonomische Politik. Das beginnt mit dem grundlegenden Fehler, das kapitalistische Verhältnis von Tauschwert und Gebrauchswert, in dem der Gebrauchswert Mittel zum Zwecke des Tauschwerts ist, zu übernehmen, statt dieses Verhältnis in sein Gegenteil umzukehren. Dieses dem Sozialismus fremde Verhältnis kann im Sozialismus nicht funktionieren, womit aber die komplette Ökonomie nicht funktioniert. Ein Beispiel: Wenn eine extremer Hitze ausgesetzte Abgasanlage, um zu sparen, mit 50 Prozent weniger Material hergestellt wird, setzen die Verglühungsschäden nicht doppelt so schnell, sondern dreimal so schnell ein. Die ursprünglich auf 10 Jahre ausgelegte Laufzeit reduziert sich auf etwa 3 Jahre. Folglich müssen in zehn Jahren nicht eine, sondern drei Anlagen hergestellt werden. Also dreifacher Produktionsaufwand, dreifache Einbauarbeit, dreifache Kosten für den Kunden, nicht gerechnet Transport, Laufereien, Ärger usw. Und endlich ist der Materialeinsatz statt einmal eine Einheit in zehn Jahren dreimal ½ Einheit, also 50 Prozent höher. Aber abgerechnet und prämiert werden 50 Prozent Materialeinsparung. Im Ganzen eine ungeheuerliche Verlustrechnung. Im Kapitalismus ein gutes Geschäft. Gerhard Schürer: "Wenn man den Gewinn zur Hauptkennziffer aller Leistungen macht und man hat falsche Preise, kann man das ganze System nur diskreditieren." Das ist nun ziemlich naiv, und zwar vorne und hinten. Wie sollen in den oben geschilderten Beispiel richtiger Gewinn und richtige Leistungen und richtige Preise möglich sein? Kommt noch die mangelnde Arbeitsorganisation mit Ausfallzeiten und Überstunden hinzu, was falsche Lohnkosten bedeutet, ist die ökonomische Idylle im Sozialismus vollständig. Wenn aber der Verbraucher statt eine Abgasanlage in zehn Jahren drei bezahlen muß, tritt (selbst bei gegenläufigen Entwicklungen auf anderen Gebieten) eine Verarmung ein. Die Verarmung der Gesellschaft als ganze ist nicht weniger eklatant.

Betreffend die Einführung des "Neuen ökonomischen Systems" in der DDR stellte Wolfgang Berger fest, "daß es für ein kleines Land wie die DDR allein sehr schwierig werden würde, die Umgestaltung zu Ende zu bringen, wenn es nicht gelänge, die Sowjetunion und die anderen RGW-Länder zu analogem Vorgehen zu veranlassen". Das "analoge Vorgehen" fand aber nicht statt, wie überhaupt der RGW ein Witz auf eine wirkliche sozialistische Gegenseitigkeit war. Die gleiche "Gegenseitigkeit" zeigte sich in allen anderen Fragen, so auch in der Frage der kommunistischen Ziele. Wolfgang Berger erinnert sich, "wie schroff Ulbricht damals den Generalsekretär der KP der CSSR, Novotny, kritisierte, als dieser die 'Schaffung der Grundlagen des Kommunismus' auch für sein Land proklamierte; zu einer Zeit, wie Ulbricht sagte, als die Arbeiterfrauen in den Städten der CSSR vor den Fleischerläden Schlange standen". Was hier von Ulbricht kritisiert wurde, nämlich ohne alle Voraussetzungen und auf eigene Faust den Kommunismus in einem Lande errichten zu wollen, wurde wenig später von Honecker auch für die DDR postuliert. Dieser kindische Geschichtshokuspokus war aber der absolute Abschied von einem seriösen historischen Denken und Handeln.

5. Die Fehler und Mängel des "realen Sozialismus" können nicht mit seiner Armut entschuldigt werden, mit seinen miserablen Ausgangsbedingungen. Selbst die ärmste Familie kann ihren Haushalt in Ordnung halten und ohne Schulden und Disproportionen leben. Die künstlichen Mängel im "realen Sozialismus" sind nicht der Planwirtschaft sondern im Gegenteil mangelnder Planung geschuldet, sowohl die Mängel in der Warenversorgung, in der Materialbereitstellung, in der Zulieferung wie auch der Arbeitskräftemangel und dergleichen. Ein gerechter Leistungslohn war in dessen Folge nicht möglich. Das Ergebnis war die Lähmung der Triebkräfte des Sozialismus.

6. Ein weiterer Fehler war die zunehmende soziale Polarisierung. Die Intershops waren das sichtbarste, aber nicht das wesentlichste Zeichen: Das Grand-Hotel Ecke Friedrichstraße/Unter den Linden ist da schon bezeichnender: Während hier ein exklusives Publikum in einer anderen Welt lebte, ging der sozialistische Normalbürger in Prenzlauer Berg auf halber Treppe auf ein stinkendes Klo. Diese und ähnliche Polarisierungen dienten nicht dem Sozialismus, sondern führten zu seinem Untergang. Sie zerstörten das Vertrauen der Menschen in den Sinn des Sozialismus.

7. Einen ersten Überblick über die Verbrechen Stalins gab Chruschtschow auf dem 20. Parteitag der KPdSU: Er verwies auf die "Vernichtung der besten Kommandokader der Armee und Flotte. Er gab Stalin die Verantwortung für die Niederlagen der Roten Armee 1941 und 1942, für die Vertreibung der Völker der Kalmyken, Karatschaier, Thetschenen, Inguschen und anderer aus ihrer Heimat während des Krieges ... Chruschtschow machte Stalin verantwortlich für die tiefe Krise der sowjetischen Landwirtschaft und für die groben Fehlschläge in der Außenpolitik ... daß Führungskader ... von NKWD-Schergen gefoltert und hingerichtet worden waren. Ein Raunen ging durch den Saal, als er bekanntgab, daß das gleiche Schicksal auch mehr als die Hälfte der Delegierten des ‘Parteitages der Sieger’ (1934) und fast drei Viertel der dort gewählten ZK-Mitglieder ereilt hatte." Und Victor Serge berichtet, daß "die GPU, d. h. die Tscheka, unter einem neuen Namen noch mächtiger wurde und schließlich die gesamte revolutionäre Generation der Bolschewiki auslöschte".

8. Ein ungeheurer Schaden wurde der sowjetischen Wissenschaft und Wirtschaft zugefügt, indem unzählige Physiker und andere Naturwissenschaftler mundtot gemacht wurden; erinnert sei nur an den grotesken Kampf gegen das "reaktionäre Einsteinianertum". Hinzu kommt der politisch-moralische Schaden, der durch die Kastration der Gesellschaftswissenschaften und Künste angerichtet wurde, erinnert sei hier nur an die Ermordung des bedeutenden Regisseurs Meyerhold. Die Intellektuellenverfolgung, die Judenverfolgung, die Unterdrückung der geistigen Kreativität führte zu einer existentiellen Amputation gravierenden Ausmaßes.

9. Ein empfindlicher Schaden wurde der Wirtschaft durch die krankhaft-starre Trennung der militärischen und zivilen Produktion zugefügt, was die Überführung von technischen u. a. Entwicklungen aus dem militärischen in den zivilen Bereich prinzipiell unmöglich machte. "Die Gewißheit, daß mindestens ein militärisches Gleichgewicht geschaffen worden war, veranlaßte die sowjetische Führung immer noch nicht dazu, nunmehr zu Lasten der Rüstung weitaus größere Mittel für ein schnelles Wachstum der zivilen Bereiche der Volkswirtschaft freizugeben sowie eine dementsprechende Strategie und moderne progressive Wirtschaftspolitik zu entwickeln." (Wolfgang Berger)

 

Das ist, wie gesagt, nur eine unsystematische und lückenhafte Aufzählung der Fehler, Vergehen und Verbrechen des "realen Sozialismus". Wenn wir die Abermillionen Ermordeten und Paralysierten in ihrer wissenschaftlichen, militärischen, ökonomischen, künstlerischen, moralischen, politischen Potenz bewerten, wenn wir die Aberbillionen materiellen Schäden, gleich, in welcher Währung, bewerten, wenn wir bewerten, was der "reale Sozialismus" ignoriert, verschlafen, verketzert, verpönt oder kaputtgemacht hat, erkennen wir, daß hier ein permanenter Selbstmord eines Gesellschaftssystems stattgefunden hat. Hätte Marx diesen, den "realen Sozialismus" vorausgesagt, hätte man ihn für einen perversen Kaffeesatzwahrsager gehalten. Voraussagen kann man aber nur die historische Notwendigkeit, nicht ihre Verfehlung.

 

Würden wir die vermeidbaren Fehler und Verbrechen des "realen Sozialismus" abziehen, bliebe ein absolut lebensfähiger, überlebensfähiger, überlegener Sozialismus übrig. Wenn aber der Sozialismus schon ohne die vermeidbaren Fehler etc. überlebensfähig ist, wie sollte er es mit den ihm natürlichen Stärken nicht sein? Fragen wir also einmal nicht, was falsch gemacht wurde, sondern was nicht gemacht wurde.

 

Wie wird der wirkliche Sozialismus gemacht? Zunächst einmal mit Humor, mit der wirklichen Sozialisten eigenen Heiterkeit. "Ein Gespenst geht um in Europa." Ist es vorstellbar, daß Stalin oder Honecker ein Parteiprogramm auf solche Weise begonnen hätten? Oder daß sie wie Lenin zum Jahreswechsel ihren Genossen schreiben, daß sie ihnen und sich wünschen, im kommenden Jahr weniger wesentliche Fehler zu machen als im vergangenen? Solcher Humor, solche historische Heiterkeit ist von unschätzbarem Wert, denn sie ist unverzichtbare Bedingung der Selbstkritik und der revolutionären Flexibilität. Sowohl Marx wie Lenin trennten sich unglaublich schnell von Irrtümern und Fehleinschätzungen, von nicht mehr notwendigen Maßnahmen und dergleichen Belastungen. Damit werden aber oft schlimme Verluste vermieden. Ein Zitat aus meiner Schrift "Das eigentliche Theater": "Der Ernst ist der Schutzmantel gegen die eigene Unsicherheit und die Verunsicherung durch andere ... Der Ernst gebärdet sich selbstherrlich. Er verleiht sich Würde und wird zur Überzeugung ... Wenn Marx die Heiterkeit als wesentliche Form des menschlichen Geistes definiert, so muß der Ernst als verkehrte Form des menschlichen Geistes diffamiert werden. Freiheit macht heiter, und Heiterkeit macht frei. Unfreiheit macht ernst, und Ernst macht unfrei." Selbstredend kann Humor nicht verordnet, aber er kann als Staatsraison erlaubt und hoch angesehen werden. Als das ist er die schönste Ermunterung der Kritik von unten nach oben und eine Entkrampfung aller Politik. Die politische Heuchelei, die unnatürliche Sprache der Politik ist an den Ernst gebunden. Die Sprache des Sozialismus muß menschlich, natürlich sein. Das setzt Humor voraus. Die zukünftige Menschheit wird heiter sein, oder sie wird nicht sein.

 

Der Sozialismus gliedert sich in zwei Stufen. Die erste Stufe ist geprägt durch die überkommenen alten, ihm wesensfremden Bedingungen. Diese Bedingungen sind von der unterschiedlichsten, vielfältigsten Art: Sie wirken in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens und können nur allmählich durch dem Wesen des Sozialismus gemäße Bedingungen ersetzt werden. Die zweite Stufe zeichnet sich durch die Übereinstimmung von Bedingung und Wesen des Sozialismus aus.

Für die erste Stufe des Sozialismus ist im wesentlichen das Folgende charakteristisch: Die strategisch wichtigsten Produktionsmittel, Banken und dergleichen werden in Gemeineigentum überführt. Gemeineigentum führt nicht zwangsläufig zu Sozialismus, aber ohne es ist er nicht möglich. Staatliche Macht ohne ökonomische Macht ist eine Form von historischer Idiotie: Wie will man mit leerem Beutel sozialistische Aufgaben realisieren? Und wie soll sich ein solcher Staat halten und behaupten? Gemeineigentum ist jedoch nur in Teilen in einem Akt oder in einigen schnellen Aktionen herzustellen. Es in einem Zuge pur herstellen zu wollen ist eine aparte Form von Proletkult. Typisch für die erste Stufe des Sozialismus ist vielmehr das "Absterben" des kapitalistischen Eigentums als natürlicher Prozeß.

Die Produktionsverhältnisse sind bekanntlich Entwicklungsform oder Fessel der Produktivkräfte. Vor allem aber sind sie Form oder Fessel der Bedürfnisse. Und wenn sie Fessel der produktivsten Bedürfnisse sind, werden sie gesprengt. Umgekehrt ausgedrückt: Nur die Produktionsverhältnisse setzen sich durch, die das produktivste, das triebkräftigste Bedürfnis in Freiheit setzen. Jedes Bedürfnis drängt nach seiner Verwirklichung, aber selbst das natürlichste, vernünftigste, menschlichste, verbreitetste kann sich nicht durchsetzen, wenn es nicht das im gegebenen Falle produktivste ist. Und selbst das unnatürlichste, unvernünftigste, aparteste setzt sich durch, wenn es das produktivste ist. So waren beispielsweise die kapitalistischen Produktionsverhältnisse die Form, in der das Profitbedürfnis als das beim gegebenen Stand der Produktivkräfte (der Vergesellschaftung der Produktion) produktivste Bedürfnis in Freiheit gesetzt und zum dominierenden gemacht wurde, auch wenn es das unmenschlichste und überdies ein apartes Bedürfnis, das Bedürfnis einer Minderheit war.

So lief es in der bisherigen Geschichte ab. Nicht aber ist es so im Falle des Sozialismus. Sein triebkräftigstes, produktivstes Bedürfnis meldet sich nicht vorher an, um von neuen Produktionsverhältnissen in Freiheit gesetzt zu werden. Es kann sich nicht in einem Prozeß der natürlichen Auslese durchsetzen.

Die Beseitigung des Widerspruchs von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen setzt den Widerspruch zwischen Produktion und Bedürfnissen frei. Der Widerspruch von Produktion und Bedürfnissen ist aber der kreativste, natürlichste Widerspruch. Allerdings nur, wenn die Bedürfnisse ihre kreativste; natürlichste Form annehmen. Wenn sie von ihrer kapitalistischen Deformation befreit sind. Bedingung dafür ist die Herstellung sozialistischer Produktionsverhältnisse. An die Stelle der aparten Profitbedürfnisse treten die vom sozialistischen Verteilungsprinzip (jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Leistungen) geregelten Bedürfnisse, die potentiell eine höhere Triebkraft der Produktion darstellen. (Jedem nach seinen Leistungen gilt hier für alle, während es im Kapitalismus bestenfalls nur für die Arbeiter, aber nicht für die Kapitalisten gilt, womit der Sozialismus schon auf dieser wichtigen Ebene Gleichheit an die Stelle der Ungleichheit setzt.) Nun wird aber der Widerspruch von Produktion und Bedürfnissen als Triebkraft im Sozialismus zum ersten Mal in der Geschichte nicht auf spontane, pragmatische Weise effektiv, sondern nur vermittels bewußter Handhabung und Gestaltung. Und das ist nicht ein einmaliger Akt, sondern ein widerspruchsvoller und langandauernder Prozeß, in dessen Verlauf der Sozialismus eine heute noch ungeahnte ökonomische Kraft entwickeln wird (wie der Kapitalismus eine gestern noch ungeahnte ökonomische Kraft entwickelt hat). Das sozialistische Verteilungsprinzip regelt die Bedürfnisse nur quantitativ. Die Qualität der Bedürfnisse, ihre Eigenschaft als sozialistische Triebkraft der Produktion bedarf einer gesamtgesellschaftlichen Konzeption und der ständigen öffentlichen Diskussion, um die spezifisch sozialistischen Bedürfnisse in Form von Wertvorstellungen zu allgemein anerkannten und allgemein effektiven zu machen.  Die spezifisch sozialistischen Bedürfnisse müssen als produktive Kraft ebenso organisiert werden wie die Arbeit selber. Allein dieser Prozeß bedingt aber eine neue Art von Demokratie. Da kann die bürgerliche Demokratie nichts nützen, im Gegenteil.

Wie sollten sich diese sozialistischen Bedürfnisse schon vor oder während des Übergangs zum Sozialismus als neue Produktionsverhältnisse verlangende Bedürfnisse zur natürlichen Auslese anmelden?

Bedürfnisse sind spezifisch sozialistisch, wenn sie den Gesetzen zweiter Ordnung, vor allem aber dem Gesetz erster Ordnung, dem Gesetz der Anpassung, dem Einklang von Natur und Mensch entsprechen. Die Bedürfnisse verlangen die entsprechenden Gebrauchswerte, und nicht nur die Gebrauchswerte der Produkte, sondern auch der Produktion und der Produktionsweise. Damit ist die Umkehrung des Verhältnisses von Tauschwert und Gebrauchswert (die Verwandlung des Tauschwerts zum Mittel des Gebrauchswerts) verbindlich. Die dialektisch bestimmende, zwecksetzende Rolle des Gebrauchswertes ist das Kriterium des Sozialismus als qualitativ höhere Gesellschaftsordnung nicht nur auf ökonomischer, sondern auch auf allgemein menschlicher Ebene. Was sich rückwirkend auch als ökonomisches Stimulans auszahlt.

Ohne einer Marktwirtschaft im kapitalistischen Sinne Raum zu geben, muß der Sozialismus auf seiner ersten Stufe marktwirtschaftliche Formen und Elemente selbstverständlich weitgehend nutzen. Mit dem Kapitalismus den Tauschwert oder die Warenwirtschaft abschaffen zu wollen wäre ökonomischer Anarchismus. Logischerweise kann man auch den Markt nicht abschaffen.

Der Vorzug des Sozialismus gegenüber dem Kapitalismus liegt nicht in der höheren Arbeitsproduktivität, sondern in ihrer effektiveren Verwertung. Nämlich wenn der natürliche Vorgang, die Arbeitsproduktivität voll in reale (sinnvollen Bedürfnissen dienende und der Umwelt angepaßte) Gebrauchswerte umzusetzen, wiederhergestellt wird, nachdem er durch die Klassengesellschaft zunehmend verkehrt worden war. Wenn aber der Sozialismus, statt Wegwerfartikel zu erzeugen, die Arbeitsproduktivität vernünftig verwertet, kann er selbst bei niedrigerer Arbeitsproduktivität einen höheren gesellschaftlichen und individuellen Reichtum erzeugen als der Kapitalismus. Die Überlegenheit des Sozialismus über den Kapitalismus verwirklicht sich primär nicht in einer höheren Arbeitsproduktivität, sondern in einer höheren, sinnvolleren Verwertung der Arbeitsproduktivität. Das setzt aber, wie bereits festgestellt, einen Prozeß praktischer sozialistischer Demokratie voraus, um sozialistische Wertvorstellungen zu ermitteln bzw. zu entwickeln. Wenn Lenin behauptet, daß die sozialistische Demokratie liberaler sei als der Liberalismus, sich in ihrem Wesen aber nicht darauf reduziere, so ist die operative Gebrauchswertermittlung ein Beweis auf diese Behauptung.

Ein weiteres Charakteristikum des wirklichen Sozialismus ist die gesellschaftliche Organisation der Arbeit. Lenin stellt fest, "daß das Proletariat einen im Vergleich zum Kapitalismus höheren Typus der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit repräsentiert und verwirklicht." (Unter Bedingungen des "realen Sozialismus", will heißen der Zweiten Linie der Staatspolitik, kann die Organisation der Arbeit allerdings von einem Vorteil gegenüber dem Kapitalismus in einen Nachteil umschlagen.) Die gesellschaftliche Organisation der Arbeit hat ihre Funktion auch darin, die gerechte Verteilung nach der Leistung zu sichern, denn eine mangelhafte Arbeitsorganisation führt zu unverschuldeter Leistungsminderung und damit zu unverschuldet geringerer Entlohnung. Ohne eine funktionierende sozialistische Organisation der Arbeit kann das sozialistische Leistungsprinzip nicht voll als Triebkraft wirken. (Die Bezahlung nach der Leistung ist als Triebkraft sehr vielfältig zu gestalten. So kann beispielsweise der Stücklohn als progressiver Leistungslohn angelegt werden, indem die Bezahlung pro Stück mit der Anzahl der produzierten Stücke steigt, so daß der Arbeiter an einer hohen Produktion interessiert ist. Auch die Betriebe können, wenn sie strukturell zu diesem Zwecke veranlagt sind, über die Konkurrenz auf dem Markt oder durch andere Vergleiche zu Steigerungen ihrer Leistung veranlaßt werden. Wie der sportliche Wettkampf den Kapitalismus nicht voraussetzt, so auch der ökonomische nicht.)

 

Zu einigen charakteristischen Merkmalen der zweiten Stufe des Sozialismus: Die Vollendung der ersten Stufe des Sozialismus setzt die Erste Linie der Staatspolitik voraus, und sie besteht in der Aufhebung des Widerspruchs von Gesetz und Bedingung. Die zweite Stufe zeichnet sich durch die Übereinstimmung der Bedingungen mit dem Wesen des Sozialismus aus. Das aber erst ist der authentische Sozialismus.

 

Zunächst zu den ökonomischen Merkmalen der zweiten Stufe. Die Nationalstaaten sind in ihrer modernen Form nichts als ein kapitalistisches Produktionsverhältnis: In ihrer Funktion der Arbeitsteilung, des Marktes, des Zolls und dergleichen. Aus dieser Funktion als Produktionsverhältnis erklärt sich ihre historische Eigenschaft, die Notwendigkeit ihres Entstehens und ihres Vergehens. Lenin: "Der in Entwicklung begriffene Kapitalismus kennt zwei historische Tendenzen in der nationalen Frage. Die erste Tendenz: Erwachen des nationalen Lebens und der nationalen Bewegungen, Kampf gegen jede nationale Unterdrückung, Schaffung von Nationalstaaten. Die zweite Tendenz: Entwicklung und Verdichtung von verschiedenerlei Beziehungen zwischen den Nationen, Niederreißen der nationalen Schranken, Schaffung der internationalen Einheit des Kapitals, des Wirtschaftslebens überhaupt, der Politik, der Wissenschaft usw. Beide Tendenzen sind das Universalgesetz des Kapitalismus. Die erste überwiegt im Anfangsstadium seiner Entwicklung, die zweite kennzeichnet den reifen, seiner Umwandlung in die sozialistische Gesellschaftsform entgegenschreitenden Kapitalismus." Und schließlich: "... das gesamte wirtschaftliche, politische und geistige Leben der Menschheit internationalisiert sich schon im Kapitalismus immer mehr. Der Sozialismus internationalisiert es vollends."

Die Überwindung der nationalen Wirtschaften, der alten Bedingungen also, stellt ein höheres Produktionsverhältnis dar und ist für die zweite Stufe des Sozialismus charakteristisch. Und als das stellt es eine höhere Qualität der Gleichheit dar.

Die Produktionsinstrumente sind nicht, wie ab und an behauptet, gesellschaftsneutral. Das Fließband ist Beispiel genug. Wenn die Arbeit (wenn schon nicht wie im Kommunismus erstes Bedürfnis) im Sozialismus immerhin ein wichtiges Bedürfnis sein, wenn jeder nach seinen Fähigkeiten arbeiten soll, müssen die Arbeitsbedingungen, speziell die Produktionsinstrumente sozialistische Gebrauchswerteigenschaften erhalten. Sie müssen der natürlichen Bewegungslust des Menschen, seiner körperlichen und geistigen Befindlichkeit angepaßt sein. Sie müssen der Willkür seines Arbeitsbedürfnisses folgen können, wenn ihm die Arbeit Bedürfnis sein soll.

Während die erste Stufe des Sozialismus den Akzent auf den zweiten Teil des Verteilungsprinzips legt: "Jedem nach seiner Leistung", liegt der Akzent auf der zweiten Stufe auf dem ersten Teil: "Jeder nach seinen Fähigkeiten". Auf der ersten Stufe kann nicht jeder unter Bedingungen arbeiten, wo er seine Fähigkeiten voll entwickeln und zum Treffen bringen kann. Auf der zweiten Stufe werden eben diese Bedingungen zum Kriterium. Voraussetzung ist, daß die Arbeitsverhältnisse, speziell die Produktionsinstrumente, der Arbeitsablauf etc. einen dementsprechenden Gebrauchswert erhalten. Dann wird der erste Teil des Verteilungsprinzips (jeder nach seinen Fähigkeiten) in seiner produktiven Potenz auf höherer Ebene wirksam: In der Übereinstimmung von Wollen, Können und Dürfen. In dieser Übereinstimmung liegt nicht nur das höchste Glück des Menschen, darin liegt auch seine höchste Kreativität. Das wird nicht nur ein Sozialismus sein, der Spaß macht, sondern ein Spaß, der Sozialismus macht.

Auf der zweiten Stufe des Sozialismus, mit dem höheren Range der Fähigkeiten und dem geringeren Range der Leistung verliert auch die Warenwirtschaft an Rang.

Die Verwaltung des Menschen durch den Menschen wird, da die alten Bedingungen mit ihren Widersprüchen und Konflikten abgeschafft sind, nicht nur weitgehend überflüssig, ihre weitgehende Reduzierung wird zur Notwendigkeit: der nichtverwaltete Mensch ist der kreativste und produktivste. Aber vollkommen kann sie noch immer nicht außer Kraft gesetzt werden. Allein die Verteilung nach der Leistung bedarf der staatlichen Maßstäbe und der staatlichen Sicherung. Tendenziell wird die Verwaltung des Menschen durch den Menschen im wirklichen Sozialismus jedoch permanent reduziert.

Mit dem gleichen Eigentum an den Produktionsmitteln, den annähernd gleichen Voraussetzungen der (unterschiedlichen) Arbeit und des (unterschiedlichen) Einkommens, der Reduzierung der Verwaltung des Menschen durch den Menschen sind qualitativ höhere Bedingungen für soziale Gerechtigkeit, Gleichheit und Demokratie gegeben. (Demokratie heißt Gleichheit der Waffen. Wenn der eine mit dem Argument operiert und der andere mit der Administration, kann von Demokratie keine Rede sein.) Demokratie ist jetzt nicht mehr die Herrschaft einer (meist fiktiven) Mehrheit über eine "Minderheit", sondern der ständige Prozeß öffentlicher Meinungsbildung und Entscheidung unter der Bedingung der prinzipiell gleichen sozialen Lage aller.

Aber nun sagt Lenin: "In Wirklichkeit schließt die Demokratie die Freiheit aus." Das ist natürlich eine Übertreibung, aber eine nötige, denn sie schließt alle ahistorischen, vor allem im "realen Sozialismus" üblichen pharisäerhaften Behauptungen von bereits verwirklichter Demokratie und Freiheit aus. Demokratie ist selbst im besten Falle immer nur die politische (also eingeschränkte) Form der Freiheit. Die Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit ist nicht nur Unfreiheit der Minderheit, sondern auch der Mehrheit, denn sie hat, wie Engels sagt, indem sie mit der einen Hand unterdrückt, nur die andere frei. Und auch die gerechteste Unterdrückung bleibt Unterdrückung, also eine moralische Belastung und Gefährdung der Unterdrücker. Und die Unterdrückung auch nur einer Minderheit bedarf der Unterdrückungsorgane, die in ihrer Tendenz zur Verselbständigung auch vor der Mehrheit nicht halt machen. Aber selbst dann, wenn keine Minderheit zu unterdrücken ist, wenn Demokratie nur noch die Funktion hat, den Anteil der Einzelnen an der Verwirklichung der gesamtgesellschaftlichen Interessen zu sichern, bleibt sie Verwaltung des Menschen durch den Menschen. Selbst dann also, wenn Demokratie als perfekte Öffentlichkeit auf der zweiten Stufe des Sozialismus faktisch oberste Legislative und Exekutive, wenn sie als permanente "Vollversammlung" direktes (unvermitteltes) Organ aller ist. Denn auch in dieser ihrer höchsten und somit letzten ("absterbenden") Form bleibt Demokratie Politik. Aber sie ist die Kultur der Politik. Demokratie ist die Wahrheit der politischen Kultur.

 

Erst wenn jeder nach seinen Bedürfnissen arbeiten und leben kann, ist er völlig frei. Das aber schließt Demokratie aus. Soviel zur wirklichen historischen Gebundenheit von Demokratie und Freiheit.

 

Die zwei Stufen der Entwicklung des Sozialismus sind historisch bedingt. Und historische Entwicklungen benötigen nun einmal auch eine historische Zeit. Da sind Ungeduld und ihr geschuldete Verkürzungen des historischen Ablaufs verständlich. (Marx und Engels und auch Lenin haben den Sozialismus auf die erste Stufe seiner Entwicklung verkürzt, was selbst dann unrichtig ist, wenn auf der ersten Stufe bereits Elemente der zweiten Stufe entstehen. Sich voll entwickeln und ihr Wesen ausbilden können sie immer erst auf der zweiten Stufe.)

Der wirkliche Sozialismus wie der Kommunismus können nur auf der wissenschaftlichen Grundlage des Marxismus realisiert werden. Nun gibt es aber den Marxismus als Wissenschaft nicht zweimal, sowenig es zwei Mathematiken oder Physiken oder Phylologien gibt. Allerdings hat er in seiner Begründung und in seinem Schicksal eklatante Eigenarten, ebenso in seiner Erneuerung.

 

Der Kommunismus ist das Gesetz der Vernunft

Marx konstatiert, daß das Recht nicht unabhängig von den ökonomischen Verhältnissen sein kann. Das gleiche gilt für die Moral. Die von den ökonomischen Verhältnissen abhängige Entwicklung von Recht und Moral ist aber eine wesentliche Bedingung für die Entwicklung der Gleichheit.

 

Der Mensch, heißt es, trägt die Verantwortung. Wer hat sie ihm aufgetragen? Hat er sie aus freien Stücken übernommen? Woher hat er sie dann genommen? Und was überhaupt hat er zu verantworten? Seine körperlichen und geistigen Anlagen? Nein, sagt man, die hat er ererbt, dafür kann er nichts. Oder die Verhältnisse, unter denen sich die Anlagen bilden? Nein, sagt man, die hat er vorgefunden, dafür kann er auch nichts. Was bleibt da übrig? Das, was er aus seinen Anlagen und seinen Verhältnissen macht, sagt man. Und womit macht er etwas daraus? Doch immer nur mit dem, was er ererbt oder vorgefunden hat, also mit dem, wofür er zugestandenermaßen nichts kann. Aber nein, sagt man, da ist doch noch etwas Drittes, da ist sein Wille. Der Mensch hat doch einen Willen, und der befähigt ihn, auf seine Anlagen und seine Verhältnisse Einfluß zu nehmen. Für seinen Willen aber ist er verantwortlich. Und woher hat er diesen Willen? Den Willen, sagt man, den Willen hat er ..., den hat er von ..., den hat er eben! Nun, das ist keine Antwort. Was der Mensch hat, muß er irgendwoher haben. Und seinen Willen hat er, ebenso wie seine übrigen körperlichen und geistigen Eigenschaften, als Anlage mitbekommen. Und da er für diese nichts kann, kann er auch nichts für seinen Willen. Also auch nichts für das, was er mit ihm macht. Der Mensch hat kein Verdienst an ihm, sowenig er ein Verdienst an seiner Geburt hat. Die mittelalterliche Gepflogenheit, aus der Geburt, aus der edlen Abkunft ein Verdienst abzuleiten, wird von uns als unsinnig abgetan. Die Auffassung, daß der Mensch für das, was nach der Geburt aus ihm wird, verantwortlich sei, ist ebenso unsinnig. Ebenso unsinnig wie das Verdienst an dem ererbten Adel oder der ererbten Veranlagung ist aber auch das Recht auf oder das Verdienst an dem ererbten Eigentum an den Produktionsmitteln. Wer dieser Logik folgt, folgt der Logik des Kommunismus.

 

Was der Mensch aus sich macht, kann er nur mit dem machen, was er nicht gemacht hat. Das gilt für seine körperlichen wie für seine geistigen Eigenschaften. Die Auffassung von der Selbstverantwortlichkeit des Menschen ist also ein absoluter Irrtum. Ist sie das wirklich? Für deine große Nase, sagt man, kannst du nichts, für deine große Faulheit aber kannst du wohl etwas. So sagt man. Und das hat seinen Sinn. Im Unterschied zu den körperlichen Eigenschaften haben die geistigen den Vorzug, im allgemeinen leichter beeinflußbar zu sein. Also versuchte man, sie zu beeinflussen. Und als sich herausstellte, daß Lob und Tadel, Belohnung und Strafe wirksame Mittel sind, um die gewünschte Beeinflussung zu erreichen, entstand allmählich die Auffassung, daß der Mensch Lob und Tadel, Belohnung und Strafe verdiene. Man schloß von der Wirksamkeit der Mittel auf ihre Berechtigung. So entstand der Aberglaube, daß der Mensch für das, was er ist, verantwortlich sei. Der folgenschwere Vorgang, die körperlichen und geistigen Eigenschaften des Menschen, statt sie in ihrer natürlichen Einheit zu begreifen, einander entgegenzusetzen, indem die geistigen aus ihrer objektiven Kausalität herausgelöst werden und der Mensch für sie haftpflichtig gemacht wird, erklärt sich also aus der leichteren Beeinflußbarkeit der geistigen Eigenschaften. Und die beeinflußbarste ist der Wille. Daher steht er im Mittelpunkt des Interesses. Über ihn vor allem kann man auf das Verhalten des Menschen einwirken, folglich macht man den Menschen vor allem für seinen Willen verantwortlich. Allein das ist er, wie wir gesehen haben, nicht.

Der Irrtum von der Selbstverantwortlichkeit des Menschen herrschte nicht immer, nicht von Anfang an. Und sein Ende ist abzusehen, denn auch die Moral hat ihre historische Entwicklung, und auch diese folgt dem Gesetz der Negation der Negation. So finden wir als erste Stufe ihrer Entwicklung eine Moral vor, die nicht auf der Selbstverantwortlichkeit des Menschen beruht. Und diese Moral hat sich zu ihrer Zeit, in der Zeit der klassenlosen Urgesellschaft, ausgezeichnet bewährt. Das hat Rasmussen bei den Eskimo beobachten können. "Ist jemand", so stellt er fest, "durch glückliche Jagd zu Überfluß gekommen, so verteilt er ihn unter Minderbegünstigte." Die gleiche Moral drückt sich in der Gerichtsbarkeit der Eskimo aus. Fridjof Nansen berichtet: "Ihre Justiz war indessen ganz eigentümlicher Art und bestand in einer Art Duell. Dieses wurde nicht, wie in zivilisierten Ländern, mit scharfen Waffen ausgefochten, der Grönländer ging hierbei, wie in anderen Dingen, vernünftiger vor: Er forderte seinen Gegner zu einem Singstreit heraus. Der Verlauf war der, daß die beiden Gegner sich in einem Kreis von Zuschauern beiderlei Geschlechts einander gegenüberstellten. Auf ein Tamburin oder eine Trommel schlagend, sangen sie nun abwechselnd Spottlieder aufeinander. In diesen Liedern erzählten sie alles, was der Gegner verbrochen hatte und versuchten, ihn nach besten Kräfte lächerlich zu machen. Wer die Zuschauer am meisten über seine Witze oder Anklagen lachen machte, blieb Sieger." Nun, da scheint man den Zufall zum Richter bestellt zu haben, und man könnte das Ganze für eine heitere Art von Gottesurteil halten nach der Devise: wer zuletzt lacht, hat recht. Doch eben darauf, wer recht hat, kam es in diesem künstlerischen Wettstreit überhaupt nicht an, also auch nicht darauf, daß der Schuldige getroffen wurde. Sinn dieses Wettstreits war es allein, den Streit aus der Welt zu schaffen, gleichgültig, auf wessen Kosten der Spaß ging. "Es steht nicht die Sühne für einen Verstoß zur Debatte. Die Gesellschaft entscheidet nicht über Recht und Unrecht. Ihr liegt jedoch daran, daß im Interesse eines harmonischen Zusammenlebens Streitigkeiten auf irgendeine Weise beigelegt werden." Der Verbrecher wird nicht als verächtlich angesehen, und auch er selbst hält sich nicht dafür. Das erklärt den für unsere Denkweise erstaunlichen Vorgang, daß bei einer Gerichtsverhandlung der Südseeinsulaner beispielsweise der Dieb und der Bestohlene einträchtig nebeneinander sitzen und freundschaftlich miteinander plaudern; auch die Angehörigen der beiden bilden keine feindlichen Parteien, sondern sitzen in fröhlicher Unterhaltung traulich beisammen. Und von den schwarzafrikanischen Naturvölkern wird berichtet, daß sich ihre Gerichtsverhandlungen zu theatralischen Vergnügungen ausweiteten, an denen die Beteiligten wie die Zuschauer den gleichen Genuß hatten.

Wie wir sehen, kamen die Naturvölker ausgezeichnet ohne den Irrtum aus, daß der Mensch für seine Eigenschaften (und Handlungen) verantwortlich sei. Wie kam es dann aber zur zweiten historischen Phase der Entwicklung der Moral, zur Moral der Eigenverantwortlichkeit des Menschen?

Als die ökonomische Differenzierung der Gesellschaft zur historischen Notwendigkeit wurde, mußte diese Differenzierung notwendig auch moralisch gerechtfertigt werden, also wurde aus dem ökonomischen Erfolg ein subjektives Verdienst und aus dem Mißerfolg eine subjektive Schuld gemacht. Die Moral der subjektiven Verantwortlichkeit war geboren. Und schließlich wurde der ökonomische Besitz nicht mehr mit dem individuellen Verdienst, sondern dieses Verdienst mit dem ökonomischen Besitz gerechtfertigt. Nicht, weil ich ihn zu Recht habe, habe ich ihn, sondern: weil ich ihn habe, habe ich ihn zu Recht. Mit einem Wort: Wer besitzt, hat Recht. Das ist die Moral der ausgebildeten Klassengesellschaft - die Moral der Besitzenden.

Die zweite Stufe der historischen Entwicklung der Moral führt also zur Subjektivierung und damit zur Vereinzelung des Menschen. Was der einzelne ist, das hat er sich selbst zuzuschreiben. Und wer mit minderen Gaben versehen und also schon von der Natur "gestraft" ist, der wird auch noch durch die Verachtung der Gesellschaft gestraft. Diese Moral stellt die Umkehrung ihres bisherigen Wesens dar.

Die Auffassung von der Selbstverantwortlichkeit des Menschen ist ein welthistorischer Irrtum, also ein unvermeidlicher. Seine Notwendigkeit erklärt sich, wie wir feststellen konnten, aus der ökonomischen Entwicklung der Gesellschaft. Und auch die Aufhebung dieses Irrtums, die dritte Stufe der Entwicklung der Moral also, erklärt sich aus ökonomischen Gründen.

Die Produktionsverhältnisse sind nicht nur Verhältnisse der Produktion, sie sind auch Lebensverhältnisse. Sie bedingen die Art, in der die Menschen sich zueinander verhalten, und damit auch die Moral dieses Verhaltens. Und wenn die Produktionsverhältnisse in sich widersprüchlich sind, so ist es auch die Moral, beispielsweise die Moral des Sozialismus. Während das Gemeineigentum an den Produktionsmitteln alle Menschen gleichstellt, bedingt das Prinzip "Jedem nach seinen Leistungen", das wie die Art des Eigentums an den Produktionsmitteln zu den Produktionsverhältnissen gehört, den Fortbestand der Moral der subjektiven Verantwortlichkeit, also den Fortbestand des oben genannten historischen Irrtums. Er besteht nicht fort, weil wir es nicht besser wissen, sondern weil er noch immer ökonomisch erforderlich ist. Die Verteilung nach der Leistung, sagt Marx, ist "noch dem Prinzip nach - bürgerliches Recht ..., es erkennt stillschweigend die ungleiche individuelle Begabung und daher Leistungsfähigkeit als natürliche Privilegien an. Es ist daher ein Recht der Ungleichheit ... Aber diese Mißstände sind unvermeidbar in der ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft ... Das Recht kann nie höher sein als die ökonomische Gestaltung der Gesellschaft." (Marx versteht unter der ersten Phase des Kommunismus den Sozialismus.)

Der Widerspruch in der Moral des Sozialismus: einerseits Gleichstellung aller Mitglieder der Gesellschaft und andererseits Fortbestand der subjektiven Verantwortlichkeit und damit der ungleichen Bewertung des Einzelnen, dieser Widerspruch ist folglich dem Widerspruch innerhalb der sozialistischen Produktionsverhältnisse, dem Widerspruch zwischen Gemeineigentum an den Produktionsmitteln und unterschiedlicher Verteilung anzulasten. Und eben dieser Widerspruch bestimmt den Sozialismus in beiden Stufen als erste Phase des Kommunismus.

Der Sozialismus ist der erste Schritt zur Wiederherstellung einer objektiven Moral. Indem er das Recht auf unterschiedliches individuelles Eigentum an den Produktionsmitteln abbaut, baut er auch die moralische Bewertung der individuellen Unterschiedlichkeit der Menschen ab. Doch das ist nur das halbe Werk. Der zweite und entscheidende Schritt zur Wiederherstellung einer objektiven Moral kann erst in der zweiten Phase des Kommunismus vollzogen werden, wo das Prinzip "Jedem nach seinen Bedürfnissen" gilt. (Richtig muß es jede r und nicht jede m heißen. Hier irrte Marx, denn bei jede m handelt es sich noch um das Objekt einer Zuteilung.) Indem das kommunistische Verteilungsprinzip die individuell unterschiedlichen Leistungen ökonomisch nicht mehr bewertet, wird auch ihre moralische Bewertung hinfällig. Sie hat nicht nur keinen Sinn mehr, sie wird widersinnig, weil sie wider das Prinzip der Verteilung nach den Bedürfnissen wirken würde. Wer mehr leistet als ein anderer und sich darauf etwas zugute hält, wird schwerlich damit einverstanden sein, daß der andere das gleiche oder sogar mehr nehmen darf als er. Das Verteilungsprinzip des Kommunismus kann nur funktionieren, wenn keiner weiterhin individuelle Fähigkeiten und Leistungen für ein persönliches Verdienst hält. Damit ist die Moral der Selbstverantwortlichkeit für immer aufgehoben. "Jeder nach seinen Bedürfnissen" heißt, keinem wird seine geringere oder größere Begabung oder seine geringere oder größere Faulheit angerechnet, darin wertet man alle gleich. Denn jeder darf nehmen, wessen er bedarf, darin ist jeder verschieden.

Marx stellt fest, daß die Gleichheit vor dem Gesetz Ungleichheit ist, weil Ungleiche (Arme und Reiche, von Natur Begabte und Unbegabte) dem gleichen Gesetz unterworfen sind. Das Recht ist Gleichmacherei. Wenn Ungleiche dem gleichen Recht unterworfen sind, also gleichgemacht werden, kommt Unrecht heraus. Das Prinzip "Jeder nach seinen Bedürfnissen" ist die generelle Lösung: Es ist die Gleichheit und die Unterschiedlichkeit in einem. Und beide sind sich gegenseitig Bedingung. Indem die Ungleichheit nicht mehr bewertet wird, wird sie erst möglich. Der Kommunismus ist nur die letzte Konsequenz des Prinzips Gleichheit. Und somit die letzte Konsequenz gegen alle Gleichmacherei. Kommunismus ist die Gleichheit der Ungleichen. Und umgekehrt.

Der Kommunismus ist eine Denknotwendigkeit. Ohne ihn kann man kein Problem zu Ende denken. Und umgekehrt: Konsequent zu Ende denken ist Kommunismus.

 

Wer aber die irrige Vorstellung, ein Verdienst daran zu haben, daß er so ist, wie er ist, fahren läßt, der läßt auch allen Hochmut fahren, allen "falschen Stolz", alle Überheblichkeit und alle Verachtung. An ihre Stelle treten Verständnis und selbstverständliche Hilfsbereitschaft. Wir können auf andere Art verantwortlich sein. Die Aufhebung der Moral der Selbstverantwortlichkeit hebt also nicht die gegenseitige Beeinflussung auf. Im Gegenteil: wer dem anderen nicht die Schuld daran gibt, daß er so ist, wie er ist, hat keinen moralischen Vorbehalt mehr, die Schwächen des anderen durch die eigenen Stärken auszugleichen. Wie umgekehrt keiner seine Schwächen verheimlicht und ihren Ausgleich behindert. Der von allem Vorurteil, von aller Moral, vom Gefühl des moralischen Schuldners wie dem des moralischen Gläubigers befreite Mensch ist der freie Mensch. Erst jetzt ist er ledig von dem Irrglauben, ein sündiges Wesen zu sein.

Indem er den Irrtum von der moralischen Selbstverantwortlichkeit des Menschen aufhebt, ist der Kommunismus eine sittliche Notwendigkeit. Erst jetzt kommt es zu dem freien Austausch der Individualitäten. Das aber ist das Höchste des der Menschheit Erreichbaren. Der freie Austausch der Individualitäten ist das absolute Kriterium der freien Gesellschaft.

 

Sobald jeder nach seinen Bedürfnissen, also nach seinem eigenen Maße leben kann, sobald die Produktion - und dazu gehört auch die Distribution - vollkommen dem Maße des Menschen angepaßt ist, erlangt auch der Mensch sein vollkommenes Maß. Mensch und Produktion stimmen endlich überein, womit beide das produktivste Verhältnis zueinander erreicht haben. Daher ist das Prinzip "Jeder nach seinen Bedürfnissen" auch eine ökonomische Notwendigkeit.

Ein verbreiteter Zweifel an der Möglichkeit des Kommunismus liegt in der Annahme begründet, daß die Menschen nicht genügend arbeiten werden, wenn die Befriedigung ihrer Bedürfnisse nicht mehr unmittelbar von ihrer Arbeitsleistung abhängt. Wenn wir jedoch den Aufwand für die Unterhaltung des Militärwesens über den Aufwand für das Geldwesen bis zur Wegwerfproduktion, das Steuerwesen und die entsprechenden Dienstleistungsberufe und dergleichen unsinnigen Aufwand der Klassengesellschaft abziehen, sind in den Industrieländern täglich kaum noch 2 Stunden Arbeit erforderlich. Die dafür nötige Motivation ist gewiß zu finden, wie u. a. in meiner Schrift "Heitere Poetik" auf den Seiten 173 bis 183 nachgewiesen wird. Der Kommunismus ist (wie der Sozialismus allein durch das Wegfallen von Fehlern) allein durch das Wegfallen von Kosten möglich. Man muß nur einmal damit anfangen, diese Kosten aufzulisten: das Ergebnis ist verblüffend. Sowohl, was die Höhe und die Idiotie der Kosten des Kapitalismus betrifft, als auch, was die ökonomische Rationalität des Kommunismus betrifft. Aber die grundsätzliche Verwirklichbarkeit des Kommunismus liegt in seiner inneren Dialektik. Indem das kommunistische Verteilungsprinzip und das Prinzip Gleichheit sich gegenseitig Bedingung sind, entsteht ein unvorstellbar kreativer, produktiver Prozeß. In der Darstellung der Soziologischen Transfermatik habe ich auf die unendlichen Ressourcen hingewiesen, die dieser Prozeß nutzen kann, sobald er sich in Freiheit entfaltet. Ein kleines Beispiel gibt uns schon die vergleichende Völkerkunde, wenn Sarno von den Pygmäen berichtet: "Sie waren die menschlichsten aller menschlichen Wesen und zeigten, wie in Abwesenheit aller Zwänge der modernen Zivilisation jedes Individuum das Potential, das in ihm steckte, voll verwirklichen konnte." Diese Verwirklichung des Potentials ist einer noch relativ funktionierenden Gleichheit zu verdanken.

Voraussetzung für das kommunistische Verteilungsprinzip ist eine von der unseren völlig verschiedene Wertekonstellation. Sarno schreibt über "seine" Pygmäen: "Anfänglich hatte ich gedacht, daß viele ihre Beschäftigungen belanglos und trivial seien. Jetzt waren es im Gegenteil die Machenschaften der Welt, in die ich zurückkehrte, die mir inhaltslos, ja sogar närrisch vorkamen." Im Kommunismus entscheiden wesentlich andere, in Freiheit entstandene Bedürfnisse über die Höhe der Arbeitsproduktivität, die Masse der Arbeit, die Gebrauchswerteigenschaften und dergleichen. Man darf die kommunistischen Wertvorstellungen nicht an unseren gegenwärtigen Wertvorstellungen und Bedürfnissen messen, schon gar nicht, wenn diese sich als tödlich erwiesen haben.

 

Unser Thema ist hier jedoch nicht primär der Nachweis der Notwendigkeit bzw. Möglichkeit des Kommunismus. Unser Thema ist die Gleichheit. Zu ihrem Lobe seien noch 3 Aspekte genannt:

1. Das Herzstück aller Kultur, die Kultur in den Beziehungen zwischen den Menschen, der Reichtum dieser Beziehungen basiert auf der Gleichheit. Das hat alle bisherige Geschichte im Negativen wie im Positiven bewiesen.

2. Die auf Gleichheit beruhende Freiheit macht die Heiterkeit zu einem allgemeinen Wesensmerkmal des menschlichen Zusammenlebens. Auch das hat die Geschichte zur Genüge bewiesen.

3. Mein oberstes sittliches Ideal ist die Verläßlichkeit. Nichts ist wichtiger und wunderbarer, als daß sich jeder auf jeden in allen Dingen des Lebens verlassen kann. In jeder Weltgegend und unter allen Umständen. Dann erst ist der Mensch niemals allein und hilflos. Und er kann völlig unbedenklich sein, denn er kann sich darauf verlassen, daß keiner ihm aus seiner Offenheit einen Nachteil machen wird. Die Verläßlichkeit ist der höchste und schönste Wert unseres Lebens, aber sie ist als allgemeine nur auf dem Prinzip Gleichheit verwirklichbar.

Epilog

Während in dem Essay "Verbürgerlichung - das Verhängnis der sozialistischen Parteien" ermittelt wird, was die sozialistische Bewegung keinesfalls tun darf, wird im "Prinzip Gleichheit" ermittelt, was die sozialistische Bewegung jedenfalls tun muß, um zum Ziele zu kommen.

 

Nur der beste Kommunismus ist möglich. Wie umgekehrt der Sozialismus nicht daran gestorben ist, daß er der beste war.

 

Die Frage nach den drei Quellen des Marxismus ist in Millionen Köpfe gelangt. Die Frage nach den Quellen, die Marx nicht hatte, ist weit weniger geläufig. Dabei ist sie weit produktiver. Und welche Quellen hatte er, hat sie aber nicht genutzt? Weil er nicht die Zeit dafür hatte, oder den Kopf? (Beispielsweise war Marx gleichweit wie Darwin davon entfernt, die Anpassung als Naturgesetz der Gesellschaft zu begreifen.)

Wir müssen das Gebäude des Marxismus in einigen wesentlichen Teilen umordnen und in eine andere Funktion setzen:

1. Das Gesetz der Anpassung ist das einzige Gesetz, das für Natur und Gesellschaft gleichermaßen gilt. Das macht die bisherigen Gesetze des Marxismus zu Funktionen des Gesetzes der Anpassung und somit zu Gesetzen zweiter Ordnung. Indem es als gesellschaftliches Gesetz der Anpassung des Menschen an die Natur die Spezifik der Anpassung der Natur an den Menschen gibt und die gesellschaftliche Organisation des Menschen zu einem Organ der Anpassung macht, benimmt es sich im Gebäude des Marxismus wie der Fuchs im Hühnerstall. Es erhöht die historische Notwendigkeit des Sozialismus zu einer Notwendigkeit erster Ordnung, zu einer Naturnotwendigkeit. Indem aber die Gesellschaft jetzt auch von einem Gesetz der Natur geregelt wird, wird der Marxismus um seine "natürliche" Seite erweitert.

2. Das Prinzip Gleichheit (und mit ihm die Aufdeckung des Irrtums von der Selbstverantwortlichkeit des Menschen) vervollständigt den Marxismus nach der menschlichen Seite.

3. Die Erkenntnis seiner Zweistufeneigenschaft ist Voraussetzung einer objektiven Theorie des Sozialismus. Indem auf der ersten Stufe die alten Bedingungen überwunden werden, kann sie als das Fegefeuer verstanden werden, durch das die Menschheit gehen muß. Hier werden die "Naturgesetze" der Gesellschaft im wesentlichen wieder zu Funktionen des Gesetzes der Natur, der Anpassung, gemacht, wird der rettende Übergang von der Vorgeschichte der Menschheit zu unserer "eigentlichen Geschichte" vollzogen.

Erst die zweite Stufe ist der authentische Sozialismus. Ohne diese wäre der Kommunismus Utopie. Beide Stufen offenbaren, daß sich der Sozialismus von den vorhergehenden Gesellschaftsordnungen nicht nur ökonomisch (in seiner Arbeitsproduktivität), sondern primär in seinen menschlichen Dimensionen qualitativ unterscheidet.

 

Der wirkliche Sozialismus ist kein Rätsel. Nur wer ihn nicht will, will ihn nicht erkennen, ob nun aus Feigheit oder Böswilligkeit oder weil er der Mode unterliegt. Die Behauptung von der Schwierigkeit, den Sozialismus erkunden zu können oder gar davon, ihn nicht einmal mehr als Utopie wahrnehmen zu können verdient nicht, ernstgenommen zu werden. In letzter Instanz ist der Sozialismus durch den Kommunismus bestimmt. Der Kommunismus ist (in seiner gedanklichen Vorwegnahme) Ursache des Sozialismus und zugleich Beweis von dessen Möglichkeit und Notwendigkeit. Die Gleichheit ist der erste und letzte Inhalt des Sozialismus. Sie fordert ihn und zugleich überfordert sie ihn. Die marxistische Dialektik ist in ihrem tiefsten Sinne Theorie und Methode der Übergänge.

 

Die Gleichheit als vollkommenes, komplexes, dialektisches Prinzip setzt die Aufhebung des Irrtums von der Selbstverantwortlichkeit des Menschen voraus, von der subjektiven Schuld oder dem subjektiven Verdienst an seinen Eigenschaften und Handlungen. - Die Aufhebung des Irrtums setzt das kommunistische Verteilungsprinzip "Jeder nach seinen Bedürfnissen" voraus, denn ohne dieses Prinzip hätte die Aufhebung des Irrtums keine objektive Basis. - Das kommunistische Verteilungsprinzip setzt das kommunistische Gemeineigentum, d. h. die Aufhebung des juristischen Eigentums an den Produktionsmitteln voraus.

Wir sehen die Gleichheit an eine eherne Kette gebunden. Ist das gut, oder ist das schlecht?

 

Vor Gott sind alle gleich. Und vor dem Eigentum? Es ist mächtiger als Gott. Aber es ist abschaffbar. Und dann sind auch auf Erden alle gleich. Ohne das Gemeineigentum an den Produktionsmitteln ist die Gleichheit eine Phrase - und ohne Gleichheit ist alles andere Phrase. Das Prinzip Gleichheit ist das edelste Prinzip, aber auch das anspruchsvollste. Es ist das voraussetzungsreichste und das folgenreichste Prinzip. Und es ist das inhaltsreichste Prinzip: es enthält alle Dimensionen des Humanismus, des Pazifismus, der Kultur, der Sittlichkeit bis zu den ökonomischen Bedingungen der Menschlichkeit. An seiner Mißachtung geht die Welt zugrunde, denn die Folgen seiner Mißachtung nehmen immer gefährlichere Ausmaße an. Und allein seine Verwirklichung kann die Welt retten. Es schließt in seinen Voraussetzungen und in seinen Folgen das ein, was Kommunismus heißt.

Meine Lieblingsfarbe ist nicht rot, wie man meinen sollte, meine Lieblingsfarbe ist bunt. Und bunt ist auch die Farbe des Kommunismus. Er ist die Gleichheit der Ungleichen. Und er ist die Ungleichheit der Gleichen. Das aber ist die Lösung aller Probleme unserer Welt. Wie sollten wir da den Kommunismus schließlich nicht wollen - und machen?

Aber selbst wenn er nicht das Gesetz der Wirklichkeit sein, wenn er eine bloße Utopie bleiben sollte, eines ist er über allem: Der Kommunismus ist das Gesetz der Vernunft.