Heft 8 des Marxistischen Forums
Gerhard
Branstner
Das Prinzip Gleichheit
Prolog
Die Ungleichheit
bringt die Menschheit um
Wie halten es
unsere "modernen Sozialisten" mit der Ungleichheit?
Der wirkliche
Sozialismus ist keine Utopie
Der Kommunismus
ist das Gesetz der Vernunft
Epilog
Prolog
Die Gleichheit
war immer und ist bis heute das Thema meines Lebens. An ihr orientierte sich
der Sinn aller Fragen. Ihre Voraussetzungen und ihre Folgen enthalten für mich
alle Probleme dieser Welt: Die Entstehung und die Lösung dieser Probleme. Die
Gleichheit ist mir das notwendigste und das edelste menschliche Prinzip. Ihm
gebührt der höchste Rang.
Aller Wert und
alle Bewertung dieser Welt beruhen auf dem Vergleich. Und aller Vergleich
beruht auf der Gleichheit. Sie ist die Voraussetzung. Wenn die Teilnehmer eines
Hundertmetersprints nicht die gleichen Voraussetzungen haben, sondern einer
einen schweren Sack tragen muß, ein anderer nur eine Tüte Pflaumen, wieder ein
anderer mit fliegendem Start loslaufen darf und der andere aus dem Stand
starten muß, wenn einige frei durchlaufen können, während anderen ein Bein
gestellt wird, so ist das absoluter Blödsinn. Die wirkliche Fähigkeit der Sportler
kann sich nicht erweisen. Aber das wirkliche Leben ist so. Es ist absoluter
Blödsinn. Gleichheit der Voraussetzungen, im Sport die selbstverständlichste
Regel, ist im gesellschaftlichen Leben das Unselbstverständlichste. Ohne die
Gleichheit sind die wirklichen individuellen Unterschiede nicht realisierbar
und nicht bewertbar. Gleichheit in diesem Sinne ist mithin das gerade Gegenteil
von Gleichmacherei. Gleichheit ist vielmehr Bedingung der Ungleichheit.
Aber, und das
wußte schon Eduard Bernstein: "Gleichheit setzt Gemeinschaft der Güter
voraus." Unsere PDS-Vordenker, "Reformer" etc. (im Folgenden
"moderne Sozialisten" oder kurz mS genannt), die alle Irrtümer von
Bernstein abschreiben, schreiben eben diese Wahrheit nicht ab.
Und diese
Wahrheit wußte nicht nur Bernstein, die wußte schon Marx und die wußten schon
die großen Utopisten und die Bibel. Und die Naturvölker wußten diese Wahrheit
nicht nur, sie lebten sie. Ihre immer wieder mit Erstaunen und Bewunderung
beobachtete Heiterkeit beruhte auf ihrer Freiheit, und ihre Freiheit beruhte
auf ihrer sozialen Gleichheit. Und umgekehrt: "Die soziale Ungleichheit
schlägt um in soziale Unfreiheit. (E. W. Böckenförde)
Es ist ein
Unding, die Freiheit der Gleichheit opfern zu wollen. Und Freiheit ohne
Gleichheit ist nicht nur Illusion, sondern ausgemachter Betrug, wenn nicht gar
lebensgefährliche Irreführung. Was für die Freiheit gilt, gilt auch für die
Demokratie, auch sie hat die Gleichheit zur unabdingbaren Voraussetzung.
Natürlich ist zur Kenntnis zu nehmen, daß Gemeineigentum nicht automatisch zu
Gleichheit und Gleichheit nicht automatisch zu Freiheit und Demokratie führt. Davon
unberührt gilt, daß die Freiheit die Gleichheit zur Voraussetzung hat und die
Gleichheit das Gemeineigentum. Es ist evident, daß sich an der Frage der
Gleichheit die politischen Fronten definieren. Wer politisch sich als links
versteht, ist das nur wirklich, indem er das Prinzip Gleichheit bejaht. Und es
ist nur logisch, daß die allgemeinen Menschenrechte erst begründbar sind, wenn
sie von der Idee der Gleichheit ausgehen. Gleiche Rechte sind ohne die Idee der
Gleichheit ohne Sinn.
Das Prinzip
Gleichheit drängt auf seine Voraussetzung. Es ist der mächtigste sittliche
Hebel zur Überwindung des Privateigentums an den Produktionsmitteln. Und es hat
die Realisierung aller humanistischen Ideale zur Folge.
Das Prinzip
Gleichheit vervollständigt die marxistische Geschichtsauffassung in ihrer
menschlichen Seite.
Die Ungleichheit bringt die Menschheit um
Eine erste
kleine Kostprobe auf die "Gleichheit" im Kapitalismus: "Auf
unvorstellbare 4 300 Milliarden DM (4,3 Billionen), eine Zahl
mit dreizehn Stellen - ist 1994 das Geldvermögen der privaten Haushalte
angewachsen ... Und die Geldtürme schießen weiter in die Höhe. Sie haben sich
in den vergangenen Jahrzehnten meist im Zehnjahresabstand verdoppelt ... Das
Geldvermögen ist extrem ungleich verteilt. 1988 hatte die untere Hälfte der
Haushalte" (einen) "Anteil von ganzen 1,3 Prozent am
Netto-Geldvermögen ... die reichsten fünf Prozent allein 35,9 Prozent ...
Die Kluft zwischen Wohlhabenden und Habenichtsen hat sich seither noch weiter
aufgetan ... Man dürfte bei einer Schätzung nicht weit danebenliegen, wenn man
annimmt, daß das reichste eine Prozent der deutschen Haushalte 1994 in
Wirklichkeit ein Viertel bis ein Drittel des gesamten Geldvermögens von
4 300 Milliarden Mark sein eigen nennt." Oder: "Um 20
bis 25 Prozent wird der Jahresüberschuß der Siemens AG 1996 steigen - bei
weiterem deutlichen Stellenabbau." (Handelsblatt)
Der Irrsinn ist
komplett: Der Arbeiter produziert mit dem Reichtum anderer seine eigene Armut
bis zur Arbeitslosigkeit. Der zunehmenden Verarmung einerseits (wobei die
Entwicklung in der Dritten Welt hier noch ausgespart bleibt) steht die genau
umgekehrte Entwicklung auf der anderen Seite gegenüber, nämlich das zunehmende
Wachstum überschüssigen Kapitals. Überschüssig heißt, daß es weder investiert
oder als Kaufkraft realisiert wird, sondern auf den internationalen
Finanzmärkten etc. herumvagabundiert oder als Gläubiger von der
Staatsverschuldung profitiert. Das überschüssige Kapital verspricht dort mehr
Gewinn. Also wird der gemachte Profit dorthin verlagert, und zwar in
unvorstellbaren Größenordnungen. Allein das überschüssige Kapital in der BRD
beläuft sich auf gegenwärtig etwa 1 000 Milliarden Mark. Das ist
ein ungeheurer Entzug von Investitionsmitteln und Kaufkraft.
Die
Gewinnsteuern hatten in der BRD 1960 einen Anteil von ca. 35 Prozent am
Gesamtsteueraufkommen. 1992 nur noch ca. 17 Prozent, während im gleichen
Zeitraum der Anteil der Lohnsteuer von ca. 12 Prozent auf ca.
36 Prozent stieg. Nun war aber schon 1960 der Unterschied zwischen dem
Einkommen der kapitalistischen Unternehmer und dem der Lohnarbeiter unmenschlich.
Die danach eingetretene Umkehrung in den Besteuerungsanteilen beider
Bevölkerungsschichten entlarvt nur das Groteske dieser Unmenschlichkeit. Die
großen Kapitalisten wissen nicht, wohin mit dem Geld und lassen es
vagabundieren, verlangen aber noch größere Steuervergünstigungen, die kleinen
Verdiener müssen immer mehr in die Staatskasse zahlen. Aber was mit diesem Geld
geschieht, bestimmen wiederum die Großen: Die Reichen werden immer reicher, und
der Staat wird immer ärmer und spart auf Befehl der Reichen an den Armen. Der
Widerspruch, daß ein Land immer reicher wird, aber immer weniger Geld hat und
auf die schäbigste Art am Notwendigsten spart, ist also kein Rätsel. Der
Widerspruch erklärt sich daraus, daß die großen Kapitalisten von den Arbeitern
und vom Staat immer mehr Geld abziehn und immer weniger für Investitionen und
Kaufkraft und Steuern verausgaben. Dieser Widerspruch, im Grunde der
Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit, droht Dimensionen anzunehmen, wo er
dem Kapitalismus selbst aus dem Ruder läuft und die letzte Krise des
Kapitalismus einläutet.
Wer Eigentümer
der Produktionsmittel ist, bestimmt über Menschen. Er entscheidet, ob wir
Arbeit haben und welche wir haben und welche nicht; er entscheidet über unser
Schicksal, über Krieg und Frieden, Leben und Tod, er entscheidet über unsere
Gedanken und über unseren Geldbeutel, er entscheidet über die
Chancengleichheit, d. h. er verordnet die Chancenungleichheit, ihr Ausmaß
und ihre Folgen, die Ungleichheit in der Bildung und in der medizinischen
Versorgung (5 348 Menschen in Afrika sind bisher in diesem Jahr an
Meningitis gestorben. 4 500 von ihnen könnten bei entsprechender
Medikation noch leben - aber: Die Hälfte der Millionäre in Hamburg bezahlt
nicht einen Pfennig Einkommenssteuer.) Der Eigentümer an den Produktionsmitteln
entscheidet über die Ungleichheit vor Gericht (wo der Arme für das gleiche
Delikt höher bestraft wird als der Reiche), er spaltet die Menschen in
übersättigte und verhungernde, verwaltende und verwaltete, belehrende und
belehrte. Er bestimmt die Ungleichheit von Mann und Frau. Und die
Ungleichheiten nehmen zu. In der ersten Welt und in der Dritten Welt und im
Verhältnis beider Welten. Und um das ertragen zu können, lassen wir uns das
Gegenteil einreden und reden uns selber das Gegenteil ein. Der Eigentümer der
Produktionsmittel entscheidet über uns wie über würdelose und willenlose
Objekte. Die Frage des Eigentums ist auch eine Frage der Moral, und zwar ihre
oberste.
Eine Frage von
ganz eigener Bedeutung ist das Eigentum an Grund und Boden. Der Boden, die Erde
ist ein einmaliger Wert, ein allen gegebener, der grundsätzlich nicht Eigentum
eines einzelnen, der nicht apartes Eigentum sein darf. Er ist ein begrenztes
Gut: was der eine hat, ist dem anderen genommen. Die Erde, der Grund und Boden,
sollte durch ein absolutes Tabu gleich einem Heiligtum vor aller privaten
Aneignung geschützt werden. Nur dann kann sie jedem einzelnen Schutz und
Geborgenheit bieten. Gemeineigentum, was in letzter Konsequenz Nichteigentum
heißt, das Gemeineigentum an Grund und Boden ist eine elementare Bedingung der
Gleichheit. Die Entwicklung im Kapitalismus nimmt jedoch den genau
entgegengesetzten Lauf: Auf dem Wege kriegerischer Eroberungen, gesetzlichen
und ungesetzlichen Raubes, durch Restitution, kalte Enteignung und unendlich
viele andere Formen kapitalistischer Kriminalität wird der Grund und Boden
immer mehr zu Privateigentum, zum Gewinnobjekt gemacht. Reste von staatlichem
oder Gemeineigentum werden immer geringer, während die Zahl der Bodenlosen, der
vom Kapitalismus erzeugten "Zigeuner" zunimmt. Und das nicht nur am
Amazonas.
Eine immer
charakteristischer werdende Ungleichheit ist die von Arm und Reich gegenüber
der Umweltzerstörung. Die Folgen der Umweltzerstörung werden immer drastischer.
Und der Arme hat zunehmend darunter mehr zu leiden als der Reiche. Er kann sich
keinen Umweltbunker leisten oder eine Villa in weniger gefährdeten
Weltgegenden. Und welche Regionen dieser Erde den Umweltkatastrophen
weitestmöglich entzogen oder ausgeliefert werden, wird nicht von den armen
Regionen bestimmt, sondern von den reichen. Die von den reichen Zonen
verursachten und unvermeidlich auf uns zukommenden Umweltkatastrophen treiben
den Gegensatz von arm und reich ins Infernalische.
Die Gleichheit
der Menschen ist ihr höchstes Gut. Sie ist das höchste Gebot des Humanismus.
Sie ist die Voraussetzung von aller Freiheit und Individualität. Ohne
Gleichheit gibt es keine Gerechtigkeit, keine Brüderlichkeit, keine reelle Demokratie.
All das wird durch das privatkapitalistische Eigentum an den Produktionsmitteln
ausgehöhlt und in sein Gegenteil verfälscht. Umgekehrt ist die Gleichheit,
selbst noch als Utopie, der Wertmaßstab, an dem gemessen das Eigentum an
Produktionsmitteln und an Grund und Boden als Verbrechen evident wird.
Das
kapitalistische Eigentum ist das Fundament des gewaltigen staatlichen,
politischen, juristischen und ideologischen Apparats, der auf den Menschen
lastet und sie sittlich in die absolute Verelendung treibt, der sie korrumpiert
und ohnmächtig macht.
Die
Ungleichheit, begründet in der ungleichen Stellung zu den Produktionsmitteln,
ist der Anfang und das Ende aller Übel. Sie zerstört schließlich die
Existenzgrundlagen der Menschheit und führt zur absoluten sittlichen
Verelendung. Der sittlich verelendete Mensch ist aber unfähig, der Zerstörung
seiner Existenzgrundlagen entgegenzuwirken. Der Teufelskreis ist geschlossen.
Das ist die Krise des späten Kapitalismus, seine letzte Krise.
Wie halten es unsere "modernen Sozialisten" mit
der Ungleichheit?
"Die Zeit
der großen Utopien und Visionen ist vorbei ...", sagt der Politologe Kurt
Sontheimer. Woher weiß der das? Ist nicht vielmehr das genaue Gegenteil
richtig?: "Wir leben in einer Zeit, in der nur die utopisch erscheinenden
Lösungen wirkliche Lösungen sind." Das war meine Auffassung in
"Mensch - wohin?" neunzehnhundertdreiundneunzig und das ist sie noch
heute. Angesichts der Ungeheuerlichkeit der Bedrohung unserer Existenz und der
Jämmerlichkeit der gutbürgerlichen Abhilfeversuche kann nur die große Lösung
unsere Rettung sein. Die Mutlosigkeit nach dem Zusammenbruch der Welt des
"realen Sozialismus" ist verständlich, aber sie birgt auch einen
gefährlichen Irrtum. Diesem Irrtum unterliegen mit besonderer Inbrunst unsere
"modernen Sozialisten": "Auch heute scheint klar, daß die
Dominanz des kapitalistischen Profitsystems überwunden werden muß. Dazu gehört
jedoch auch die Einsicht, daß der Kapitalismus nicht nur 'kapitalistisch'
ist." (Kommentar: Es brauchte nicht diese selbstgefällige
"Erkenntnis" unserer mS, um zu wissen, daß der Kapitalismus, ob nun
außer ihm oder durch ihn oder trotz ihm auch positive Elemente, zivilisatorische
Errungenschaften und Möglichkeiten aufweist. Das also kann nicht die Frage
sein. Keine Klassengesellschaft gab oder gibt es pur. Daß die Klassengesellschaft
nicht pur ist, davon lebt sie und daran stirbt sie. Das konnte man schon vor
zwanzig Jahren in meiner "Kantine" nachlesen, allerdings ein bißchen
dialektischer. Kapitalismus pur, wie sollte das funktionieren? Arsen, das weiß
jeder Krimileser, wird ja auch nicht pur gereicht, sondern in Tee oder in der
Suppe. Wer frißt schon Rattengift pur? Was soll da das Lob der Suppe?)
Ein anderer mS:
"'Großformatiges' Gemeineigentum funktioniert weder politisch noch
ökonomisch." (Kommentar: Daß ein Geschlechtsverkehr bei einem
verunglückten Versuch nicht zur Befruchtung geführt hat, besagt nicht, daß
Geschlechtsverkehr eine unfruchtbare Übung ist.)
Ein anderer:
Nach dem Scheitern des Sozialismus schon wieder wissen zu wollen, wie ein
zukünftiger Sozialismus aussehen soll, wäre "verheerend"! (Kommentar:
Gerade das Scheitern ist doch eine unschätzbare Erfahrungsquelle. Es wäre
"verheerend", diese Quelle vertrocknen zu lassen.)
Ein anderer:
"Nichts fürchte ich mehr, als ein Abheben in Theorie, Ideologie und
Fernstrategie." (Kommentar: Die "Fernstrategie", die hier
gefürchtet wird, ist nichts anderes als das Anvisieren der Revolution. Der alte
Friedrich Ebert war da unverblümter, wenn er bekannte: "Ich hasse die
Revolution wie die Sünde.")
Ein anderer: Wir
brauchen die Effizienz des Kapitalismus, um die von der kapitalistischen
Marktwirtschaft verursachten Schäden zu beheben. (Kommentar: Das ist weniger
witzig als der Kabarettwitz: Frage: Wozu brauchen wir die Politiker? Antwort:
Zur Lösung der Probleme, die ohne sie nicht entstanden wären. - Aber ganz ohne
Witz: Was kostet eine an der Umweltzerstörung gestorbene Tierart? Oder die an ihr
gestorbene Gattung Mensch? Welche kapitalistische Effizienz kann das bezahlen?
Ich bitte um Antwort, meine lieben mS.)
Das war nur eine
kleine Blütenlese von dem, was unsere mS an "Erkenntnissen" und
"Lösungen" zu bieten haben. Ich will die Autoren nicht beim Namen
nennen in der Hoffnung, daß es ihnen eines Tages peinlich werden sollte,
dergleichen von sich gegeben zu haben.
Den
"modernen Sozialisten" ist die Illusion gemeinsam, den Kapitalismus
dadurch abschaffen zu können, daß sie ihm den Sozialismus (falls ihnen noch an
ihm gelegen ist) irgendwie unterschummeln. Dieser Illusion war schon Eduard
Bernstein aufgesessen, allerdings unter historischen Bedingungen, wo dieser
Kinderglaube fast verzeihlich war. Wenn unsere mS heute abermals fern aller
Erkenntnis des wirklichen Wesens des Kapitalismus auf derartige Illusionen
verfallen, dann erfinden sie nicht nur das Fahrrad zum zweiten mal; sie
erfinden das Fahrrad, das nicht geht, zum zweiten mal. Auf unsere
"modernen Sozialisten" trifft der schöne Spruch zu: Sie glauben nur,
was sie sehen; deshalb sehen sie nur, was sie glauben.
"Die
revolutionäre, wenn man will kopernikanische, Wende bei Karl Marx war die
Einsicht, daß der entscheidende Gegner, die entscheidende Bedrohung der
Demokratie nicht die Macht des Staates, sondern die Macht des Privateigentums
sei." (Uwe-Jens Heuer in Utopie kreativ 59/95) In der Nachfolge von Hegel
mußte sich Marx von der Auffassung seines Vorläufers lösen, im Staat die
Inkarnation aller Historie zu sehen. Schon vor Marx hatten auf ihre Weise die
utopischen Sozialisten das Privateigentum als die Ursache allen Übels erkannt.
Und über Jahrhunderte, wo nicht Jahrtausende, war das Gemeineigentum nicht nur
Utopie, sondern gesellschaftliche Wirklichkeit gewesen, nämlich als Lebensbedingung
der Naturvölker. In reduzierter Form lebte das Gemeineigentum in vielen
Varianten selbst in der Klassengesellschaft fort, beispielsweise als dörfliches
Gemeineigentum. Aber nun wollen die "modernen Sozialisten", indem sie
die grundlegende Bedeutung des Gemeineigentums an den Produktionsmitteln
kastrieren, die "kopernikanische Wende" rückgängig machen. Das
Eigentum an den Produktionsmitteln ist aber das klassische historische
Kriterium, durch das sich die jeweilige Gesellschaftsordnung definiert. Wer dieses
Kriterium verwischt oder leugnet, macht die menschliche Geschichte
undefinierbar und folglich unerfaßbar. Das ist ein klassischer Fall von Irrationalismus.
Der Kapitalismus
ist in den letzten Jahrzehnten in eine neue Etappe seiner Entwicklung eingetreten.
Ein wesentliches Kennzeichen dieser neuen, letzten Etappe des Kapitalismus sind
die zunehmenden Probleme in der Kapitalverwertung. Während sich die
Erschließung neuer Möglichkeiten verlangsamt, beschleunigt sich die Reduktion
der bisherigen Möglichkeiten. Und das in doppelter Weise. Einerseits stößt die
Ausbeutung der Natur mehr und mehr an ihre objektiven Grenzen, und andererseits
weist der Kapitalismus zunehmend systemimmanente, subjektive Grenzen in der
Kapitalverwertung auf. Das zeigt sich in der Umwandlung der konjunkturellen,
zeitweiligen Arbeitslosigkeit in die strukturelle, ständige
Massenarbeitslosigkeit in der Ersten Welt und im Massensterben der
Arbeitskräfte in der Dritten Welt. Ein Vertreter der Zapatistas in Mexiko
formuliert in Worten von schlichter Wahrheit: "Erstmalig ist die Mehrheit
der Menschen für den Kapitalismus nicht interessant, nicht als Arbeitskraft,
nicht als Verbraucher. Vielleicht können wir nun einen eigenen Weg gehen."
Wenn der von den
großen Kapitalisten gemachte Profit, statt in Kaufkraft und Investitionen
verwandelt zu werden, auf den Geldmärkten vagabundiert oder in toten Immobilien
angelegt wird, gräbt der Kapitalismus sein eigenes Grab. In Anbetracht dieser
(wenn man nur will, ohne weiteres durchschaubaren) Kausalität mutet das
Geplapper unserer mS über die Gebrechen des Kapitalismus und die
Lösungsvorschläge, gelinde gesagt, dilettantisch und beschönigend an. Waltet
hier nun Schwachheit oder Heuchelei?
Die
Selbstregulierung der kapitalistischen Ökonomie, sprich Marktwirtschaft, läuft,
je mehr auf sie geschworen wird, desto mehr gegen den Baum. Der Markt reguliert
immer weniger, er wird immer mehr dereguliert: durch falsche Bedürfnisse,
fehllenkende Werbung, marktbeherrschende Konzerne, falsche Preise, illegale und
legale Vereinbarungen und mafiose Wirtschaftskriminalität. Der Widerspruch
zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen ist, alles in allem
gesehen, in sein kritisches Stadium eingetreten: Der Kapitalismus läuft sich
selbst aus dem Ruder, die Produktionsverhältnisse und die Produktivkräfte entladen
ihren unheilvollen Widerspruch als Zerstörung der Natur. Die gesellschaftlichen
Gesetze geraten, statt ihm zu dienen, in Widerspruch zum Gesetz der Anpassung,
dem Gesetz der Einheit von Mensch und Natur. Der Dritte Weltkrieg hat bereits
begonnen. Und er ist mörderischer als alle bisherigen Kriege zusammengenommen.
Er erscheint nur in einer anderen Form. Er erscheint als sozialer Krieg, als
Vernichtung von Arbeitskräften in Form der Massenarbeitslosigkeit und als
jährlich millionenfacher Tod von Kindern und arbeitsfähigen Menschen in der
Dritten Welt. Und er erscheint als "Krieg" gegen die Natur.
"Unübersehbar ist die Tendenz, daß die jährlichen Umweltschäden die
Jahreszuwächse des Bruttosozialprodukts übertreffen. Im Grund ist der
Wachstumseffekt schon negativ." (Klaus Steinitz) Der Umweltschutz ist zum
Ablaßhandel verkommen. "... Erinnerungen an die Zukunft: Menschen mit
Sauerstoffmasken, hustende statt singende Vögel, Bäume, die sich weigern zu
wachsen ... Noch gibt es keine Schilder: Wir empfehlen, nicht zu atmen. Wie
lange wird es noch dauern, bis solche Warnungen zum Wohl der Volksgesundheit
auftauchen werden?" (Eduardo Galeano) Solche Warnungen sind jetzt schon
nötig und werden immer nötiger, denn: "In den USA sterben jährlich
16 000 Menschen an den Folgen der Luftverschmutzung." (jW)
Der Dritte
Weltkrieg ist nicht nur der letzte, er ist auch der erste vollkommen
kapitalistische Krieg, denn er ist der Krieg der Reichen gegen die Armen, der
Umweltzerstörer gegen die an der Umweltzerstörung Umkommenden. Er ist
tatsächlich "das letzte Gefecht". In ihm wird die letzte Ungleichheit
ausgetragen, die Ungleichheit vor dem Umwelttod. Der Reiche baut sich seinen
Umweltbunker, der Arme ist der tödlichen Gefahr hilflos ausgesetzt. Es sei
denn, er erschlägt den Verursacher seines Elends.
Der Kapitalist,
der aus moralischen Gründen aus dem mörderischen System aussteigen will, begeht
mindestens ökonomischen Selbstmord. Im skrupellosen Konkurrenzkampf ist dem
Kapitalisten sein Überleben wichtiger als das Überleben der Menschheit. Das
Hemd ist ihm näher als der Rock, das Heute ist ihm wichtiger als das Morgen.
Die Hoffnung, daß im Kapitalismus ihm eigene Kräfte der Rettung liegen, ist
absolut trügerisch. Die einzige Hoffnung ist, daß die Zerstörung der Umwelt,
bevor sie endgültig und unumkehrbar ist, zu einer unerträglichen Qual wird und
die Gequälten die Verursacher ihres Elends unschädlich machen. Es sei denn, die
noch immer drohende Atombombe hat das Problem gelöst, oder die soziale
Revolution. Die Atombombe, die soziale Revolution und die Umweltkatastrophe
sind die möglichen drei großen "Endzeit-Ereignisse". Wir können nicht
sagen, in welcher Abfolge und in welcher Verbindung sie eintreten oder welches
die anderen auslöst oder überflüssig macht. Sicher ist nur, daß sie den
kapitalistischen Teufelskreis durchbrechen. Die Frage ist nicht, ob der
Sozialismus kommt, sondern ob er rechtzeitig und unter welchen Voraussetzungen
er kommt. Das Gesetz der Anpassung als Naturgesetz des Menschen wird zum
Scharfrichter des Kapitalismus. "Die Frage steht dann nicht mehr, wo (im
Kapitalismus oder im Sozialismus) es sich besser lebt, sondern wo es sich
überlebt." ("Menschen - wohin?") Der Weg zum Sozialismus wird
von dem zum Verbrechen gewordenen Kapitalismus bestimmt, d. h., der
Kapitalismus überläßt dem Sozialismus seine Konkursmasse: den Rest von
Menschheit, wie er ihn zugerichtet hat. Und niemand kann heute sagen, wie
dieser Rest aussehen wird.
Wie stellen sich
da unsere "modernen Sozialisten"? "Von einem sozialistischen
Standpunkt aus gibt es kaum eine Institution und kaum eine Eigentums- oder
Demokratieform, die für sich genommen abzulehnen wäre. Ausgenommen jene, die
aufgrund ihres totalitären Charakters abzulehnen wäre. Alle anderen Institutionen,
die realhistorisch praktiziert wurden bzw. denkmöglich sind, (...) sind
multifunktional und haben immer komplexe und damit gegensätzliche Folgen."
Dieses Kauderwelsch von Michael Brie ist angesichts des millionenfachen Elends
und der tödlichen Bedrohungen auf dieser Welt eine schlimme Zumutung. Aber auch
verständlichere Formulierungen machen die Zumutung nicht annehmbarer. "Die
kapitalistische Moderne hat ihre Entwicklungspotentiale nachgewiesen. Ihre
Beschränktheit, ihre Einseitigkeit ist jedoch nicht überwunden ...
Wirtschaftsdemokratie muß zu einer Gegenmacht gegen
Kapitalverwertungsinteressen werden." So André Brie in Utopie kreativ
61/95. Wirtschaftsdemokratie ist das Gegenteil von Kapitalismus, an ihr würde
er auf der Stelle verenden. Aber es soll ja nur seine "Einseitigkeit"
überwunden werden. Bleibt also die Frage, wie wäscht man dem Bären den Pelz,
ohne ihn naß zu machen? Und woher die "Gegenmacht" nehmen? Sehr
einfach: die wird aus dem Hut gezaubert, nämlich als "Stärkung der
Zivilgesellschaft". Halleluja! Wir leben in der Zeit der falschen
Propheten!
Bei aller
Kompliziertheit der Fragen, ihre Lösung ist ganz einfach: Ohne Eigentum kann
man kein Eigentum zügeln. Auch nicht bändigen oder fesseln oder über es verfügen.
Die Erlangung der "Gegenmacht" Eigentum mag ein längerer Prozeß sein
und in unvorhergesehenen Formen ablaufen, ober ohne einen bestimmten und
jeweils bestimmbaren Umfang sozialistischen Eigentums ist der mörderischen
Profitwirtschaft nicht beizukommen.
Natürlich wäre
es töricht, Möglichkeiten, die der Kapitalismus bietet, nicht zu nutzen. Nicht
nur, um dem Sozialismus vorzuarbeiten, sondern vor allem, um den vom
Kapitalismus gebeutelten Menschen konkret und unmittelbar zu helfen. Aber da
gibt es klare Kriterien und Grenzen. Die Hilfe von heute darf nicht das
Verbrechen von morgen begünstigen. Wir sind nicht für die Schaffung von
Arbeitsplätzen in Munitionsfabriken oder in der Umweltvernichtung. Evolution
und Revolution haben ein erkennbares dialektisches Verhältnis, und Reformen
können nur in diesem Verhältnis gedacht oder gemacht werden. Alles andere ist
entweder illusionistische oder demagogische Verantwortungslosigkeit. Oder es
ist die dumme Ausrede des Opportunisten.
Auch wenn der
Sozialismus heute und morgen nicht möglich ist, so ist er doch heute und morgen
nötig, denn jeder Tag ist ein Tag mehr Unheil und mehr Verlust. Soll man einem
Arbeiter in einer Landminenfabrik die Arbeit in seiner Fabrik (also die
Beihilfe zum Mord) ausreden oder besser den Kapitalismus? Der richtige Kampf
für das richtige Ziel kann nie zu früh sein, aber es kann morgen schon zu spät
sein. Beispielsweise für den Schwarzafrikaner, der auf eine Mine getreten ist.
Der Kapitalismus muß ab sofort "abgewickelt" werden. Der Sozialismus
kommt schon jetzt jeden Tag einen Tag zu spät. Also muß der Sozialismus auch
heute und morgen gefordert werden. Wir sind nicht Sozialisten ab übermorgen.
Oder doch? "... Solange ich noch kein tragfähiges und im Detail
durchdachtes Gegenkonzept habe, versuche ich die Potentiale zu erschließen, die
in diesem System immer noch drinstecken." So Peter Porsch (ND vom
29.11.95) Und also kommen wir vor lauter Erschließen der "Potentiale"
zu keinem Gegenkonzept. Der Kapitalismus wartet mit der Zerstörung dieser Welt
nicht, bis die Erschließer etwas erschlossen haben. Und wenn der Kapitalismus
die Welt vernichtet hat und die Erschließer zur Strafe überleben müßten, würden
sie unverdrossen weiter nach den "Potentialen" suchen und darüber
noch immer nicht zu einem "durchdachten Gegenkonzept" gekommen sein.
Und zu einem Konzept zum Erschließen natürlich auch noch nicht.
Der wirkliche Sozialismus ist keine Utopie
Der "reale
Sozialismus" war nicht der wirkliche, der notwendige, sonst wäre er nicht
untergegangen.
Überdies ist es
an der Zeit, nach den richtigen Maßstäben zu fahnden. Nicht nach denen der
Sieger, und auch nicht nach denen der Verlierer. Beider Maßstäbe sind schon
deshalb fragwürdig, weil es keine eindeutigen Sieger oder Verlierer gibt. Noch
hat die Geschichte ihr Wort nicht gesprochen.
Die DDR ist
nicht untergegangen, weil sie schlechter war als die BRD, sondern weil sie
ökonomisch schwächer war. Die besseren Seiten des "realen
Sozialismus" werden nicht oder falsch gemessen. (Wenn ein Faustkämpfer und
ein Schachspieler in den Ring gestellt werden, wer wohl wird gewinnen? Blöde
Frage, klar. Aber die Wirklichkeit ist noch blöder.) Zur Zeit der
Modrow-Regierung war die DDR das demokratischste und freieste Land der Welt.
Wir konnten reisen, wohin wir wollten, wir konnten reden und schreiben, was wir
wollten, wir hatten die unabhängigste Kunst, die unabhängigste Presse und das
unabhängigste Fernsehen, denn es war noch nicht verwestlicht. Keiner hoffte
oder glaubte, die Demokratie zu wählen, die hatten wir ja, und die Runden
Tische dazu. Was also hat gesiegt?
Die Ursache des
Scheiterns des "realen Sozialismus" war vordergründig der Mangel an
Ökonomie. Und der Mangel an Ökonomie wird mit dem Mangel an Demokratie erklärt.
Wieso hat der Mangel an Demokratie in der kapitalistischen Ökonomie nicht
negativ gewirkt. Im Gegenteil würde Demokratie in der Ökonomie den Kapitalismus
zugrunde richten. (Daher ist die Forderung nach demokratischer Verfügung über
das Kapital ein Widerspruch in sich.) Wolfgang Berger, ein Insider der
Wirtschaftsführung der DDR, berichtet von "gemeinsamen Beratungen mit den
Generaldirektoren, seinerzeit offen, konstruktiv, demokratisch und
streitbar", ein zwischen kapitalistischen Wirtschaftsbossen undenkbarer
Vorgang. Daran hat es also nicht gefehlt.
Im Folgenden
einige Merkmale und Schandmale des falschen Sozialismus, keineswegs vollständig
und ohne systematische Ordnung:
1. Der
"reale Sozialismus" ist vordergründig an der uneffizienten Ökonomie
gestorben, aber auch an dem Mangel an Demokratie, aber in besonderer Weise.
Während der Kapitalismus auch ohne Demokratie auskommt - in der
kapitalistischen Wirtschaft ist sie sogar der reine Widersinn -, ist die
Demokratie im Sozialismus tatsächlich ein ökonomisches Erfordernis. Ohne Demokratie
ist kein wirkliches sozialistisches Gemeineigentum an den Produktionsmitteln,
ist eine sozialistische effiziente Produktion nicht möglich. Die Lehre aus dem
Versagen des "Staatseigentums" im "realen Sozialismus" ist
nicht das gemischte Eigentum oder dergleichen, sondern das wirkliche
gesellschaftliche Eigentum (was für eine bestimmte Zeit gemischtes Eigentum
nicht ausschließt). Bedingung ist jedoch sozialistische Demokratie, und die ist
dem "realen Sozialismus" ein ewiges Rätsel geblieben. Vieles, was im
Kapitalismus auch ohne Demokratie kapitalistisch funktioniert, funktioniert im
Sozialismus ohne Demokratie nicht sozialistisch, wenn überhaupt. Und überdies
hat Demokratie, insbesondere die sozialistische, ihren Eigenwert.
2. Eine
Schutzgrenze, Mauer genannt, war nötig. Sie war so nötig wie die
Schutzmaßnahmen des Gärtners für die jungen Pflanzen, um sie nicht der
Verunkrautung auszusetzen oder in Wind und Wetter umkommen zu lassen. Wer wäre
schon so idiotisch, einen Gärtner nach der Notwendigkeit dieser Maßnahmen zu
fragen? Aber mußten die Maßnahmen so brutal, so stur und unflexibel, so
unfreundlich gegenüber den friedlichen Grenzpassanten, so inhuman, so
ungeschickt, so aufwendig, so material-, kosten- und menschenverschlingend
praktiziert werden? Und ohne den von der Bevölkerung erwarteten Effekt, daß wir
ungestört unsere Sache betreiben können? Und mußte die "Mauer" so
verlogen begründet werden? Auch wenn sie notwendig war, war sie doch eine
erhebliche Einschränkung unserer Freiheit. Warum wurde das nicht gesagt? Warum
sind unsere Oberen niemals ehrlich gewesen?
3. Ein
grundlegender Fehler war die politische Amputation des Proletariats. Einerseits
wurde es fetischisiert wie ein Deus ex machina (gleich der Fetischisierung der
historischen Gesetze), andererseits wurde es, statt es zur Diktatur zu
ermächtigen, der Diktatur unterworfen: Der Diktatur der Partei, die wiederum
wurde der Diktatur des ZK unterworfen, das wiederum der Diktatur des Politbüros
unterworfen wurde. Statt der Diktatur des Proletariats hatten wir die Diktatur
über das Proletariat. Die Folgen dieser Verkehrung waren verheerend.
4. Einer
der schwerwiegendsten Fehler war die dilettantische, unmoralische,
machtorientierte, ideologisierte, unglaublich dumme ökonomische Politik. Das beginnt
mit dem grundlegenden Fehler, das kapitalistische Verhältnis von Tauschwert und
Gebrauchswert, in dem der Gebrauchswert Mittel zum Zwecke des Tauschwerts ist,
zu übernehmen, statt dieses Verhältnis in sein Gegenteil umzukehren. Dieses dem
Sozialismus fremde Verhältnis kann im Sozialismus nicht funktionieren, womit
aber die komplette Ökonomie nicht funktioniert. Ein Beispiel: Wenn eine
extremer Hitze ausgesetzte Abgasanlage, um zu sparen, mit 50 Prozent
weniger Material hergestellt wird, setzen die Verglühungsschäden nicht doppelt
so schnell, sondern dreimal so schnell ein. Die ursprünglich auf 10 Jahre
ausgelegte Laufzeit reduziert sich auf etwa 3 Jahre. Folglich müssen in
zehn Jahren nicht eine, sondern drei Anlagen hergestellt werden. Also dreifacher
Produktionsaufwand, dreifache Einbauarbeit, dreifache Kosten für den Kunden,
nicht gerechnet Transport, Laufereien, Ärger usw. Und endlich ist der
Materialeinsatz statt einmal eine Einheit in zehn Jahren dreimal
½ Einheit, also 50 Prozent höher. Aber abgerechnet und prämiert
werden 50 Prozent Materialeinsparung. Im Ganzen eine ungeheuerliche
Verlustrechnung. Im Kapitalismus ein gutes Geschäft. Gerhard Schürer:
"Wenn man den Gewinn zur Hauptkennziffer aller Leistungen macht und man
hat falsche Preise, kann man das ganze System nur diskreditieren." Das ist
nun ziemlich naiv, und zwar vorne und hinten. Wie sollen in den oben
geschilderten Beispiel richtiger Gewinn und richtige Leistungen und richtige
Preise möglich sein? Kommt noch die mangelnde Arbeitsorganisation mit
Ausfallzeiten und Überstunden hinzu, was falsche Lohnkosten bedeutet, ist die
ökonomische Idylle im Sozialismus vollständig. Wenn aber der Verbraucher statt
eine Abgasanlage in zehn Jahren drei bezahlen muß, tritt (selbst bei
gegenläufigen Entwicklungen auf anderen Gebieten) eine Verarmung ein. Die
Verarmung der Gesellschaft als ganze ist nicht weniger eklatant.
Betreffend die
Einführung des "Neuen ökonomischen Systems" in der DDR stellte
Wolfgang Berger fest, "daß es für ein kleines Land wie die DDR allein sehr
schwierig werden würde, die Umgestaltung zu Ende zu bringen, wenn es nicht
gelänge, die Sowjetunion und die anderen RGW-Länder zu analogem Vorgehen zu
veranlassen". Das "analoge Vorgehen" fand aber nicht statt, wie
überhaupt der RGW ein Witz auf eine wirkliche sozialistische Gegenseitigkeit
war. Die gleiche "Gegenseitigkeit" zeigte sich in allen anderen
Fragen, so auch in der Frage der kommunistischen Ziele. Wolfgang Berger
erinnert sich, "wie schroff Ulbricht damals den Generalsekretär der KP der
CSSR, Novotny, kritisierte, als dieser die 'Schaffung der Grundlagen des Kommunismus'
auch für sein Land proklamierte; zu einer Zeit, wie Ulbricht sagte, als die
Arbeiterfrauen in den Städten der CSSR vor den Fleischerläden Schlange standen".
Was hier von Ulbricht kritisiert wurde, nämlich ohne alle Voraussetzungen und
auf eigene Faust den Kommunismus in einem Lande errichten zu wollen, wurde
wenig später von Honecker auch für die DDR postuliert. Dieser kindische
Geschichtshokuspokus war aber der absolute Abschied von einem seriösen
historischen Denken und Handeln.
5. Die
Fehler und Mängel des "realen Sozialismus" können nicht mit seiner
Armut entschuldigt werden, mit seinen miserablen Ausgangsbedingungen. Selbst
die ärmste Familie kann ihren Haushalt in Ordnung halten und ohne Schulden und
Disproportionen leben. Die künstlichen Mängel im "realen Sozialismus"
sind nicht der Planwirtschaft sondern im Gegenteil mangelnder Planung
geschuldet, sowohl die Mängel in der Warenversorgung, in der
Materialbereitstellung, in der Zulieferung wie auch der Arbeitskräftemangel und
dergleichen. Ein gerechter Leistungslohn war in dessen Folge nicht möglich. Das
Ergebnis war die Lähmung der Triebkräfte des Sozialismus.
6. Ein
weiterer Fehler war die zunehmende soziale Polarisierung. Die Intershops waren
das sichtbarste, aber nicht das wesentlichste Zeichen: Das Grand-Hotel Ecke
Friedrichstraße/Unter den Linden ist da schon bezeichnender: Während hier ein
exklusives Publikum in einer anderen Welt lebte, ging der sozialistische
Normalbürger in Prenzlauer Berg auf halber Treppe auf ein stinkendes Klo. Diese
und ähnliche Polarisierungen dienten nicht dem Sozialismus, sondern führten zu
seinem Untergang. Sie zerstörten das Vertrauen der Menschen in den Sinn des
Sozialismus.
7. Einen
ersten Überblick über die Verbrechen Stalins gab Chruschtschow auf dem
20. Parteitag der KPdSU: Er verwies auf die "Vernichtung der besten
Kommandokader der Armee und Flotte. Er gab Stalin die Verantwortung für die
Niederlagen der Roten Armee 1941 und 1942, für die Vertreibung der Völker der
Kalmyken, Karatschaier, Thetschenen, Inguschen und anderer aus ihrer Heimat
während des Krieges ... Chruschtschow machte Stalin verantwortlich für die
tiefe Krise der sowjetischen Landwirtschaft und für die groben Fehlschläge in
der Außenpolitik ... daß Führungskader ... von NKWD-Schergen gefoltert und
hingerichtet worden waren. Ein Raunen ging durch den Saal, als er bekanntgab,
daß das gleiche Schicksal auch mehr als die Hälfte der Delegierten des
‘Parteitages der Sieger’ (1934) und fast drei Viertel der dort gewählten
ZK-Mitglieder ereilt hatte." Und Victor Serge berichtet, daß "die
GPU, d. h. die Tscheka, unter einem neuen Namen noch mächtiger wurde und
schließlich die gesamte revolutionäre Generation der Bolschewiki
auslöschte".
8. Ein
ungeheurer Schaden wurde der sowjetischen Wissenschaft und Wirtschaft zugefügt,
indem unzählige Physiker und andere Naturwissenschaftler mundtot gemacht
wurden; erinnert sei nur an den grotesken Kampf gegen das "reaktionäre
Einsteinianertum". Hinzu kommt der politisch-moralische Schaden, der durch
die Kastration der Gesellschaftswissenschaften und Künste angerichtet wurde,
erinnert sei hier nur an die Ermordung des bedeutenden Regisseurs Meyerhold.
Die Intellektuellenverfolgung, die Judenverfolgung, die Unterdrückung der
geistigen Kreativität führte zu einer existentiellen Amputation gravierenden
Ausmaßes.
9. Ein
empfindlicher Schaden wurde der Wirtschaft durch die krankhaft-starre Trennung
der militärischen und zivilen Produktion zugefügt, was die Überführung von
technischen u. a. Entwicklungen aus dem militärischen in den zivilen
Bereich prinzipiell unmöglich machte. "Die Gewißheit, daß mindestens ein
militärisches Gleichgewicht geschaffen worden war, veranlaßte die sowjetische
Führung immer noch nicht dazu, nunmehr zu Lasten der Rüstung weitaus größere
Mittel für ein schnelles Wachstum der zivilen Bereiche der Volkswirtschaft
freizugeben sowie eine dementsprechende Strategie und moderne progressive Wirtschaftspolitik
zu entwickeln." (Wolfgang Berger)
Das ist, wie
gesagt, nur eine unsystematische und lückenhafte Aufzählung der Fehler,
Vergehen und Verbrechen des "realen Sozialismus". Wenn wir die
Abermillionen Ermordeten und Paralysierten in ihrer wissenschaftlichen,
militärischen, ökonomischen, künstlerischen, moralischen, politischen Potenz
bewerten, wenn wir die Aberbillionen materiellen Schäden, gleich, in welcher
Währung, bewerten, wenn wir bewerten, was der "reale Sozialismus"
ignoriert, verschlafen, verketzert, verpönt oder kaputtgemacht hat, erkennen
wir, daß hier ein permanenter Selbstmord eines Gesellschaftssystems
stattgefunden hat. Hätte Marx diesen, den "realen Sozialismus"
vorausgesagt, hätte man ihn für einen perversen Kaffeesatzwahrsager gehalten.
Voraussagen kann man aber nur die historische Notwendigkeit, nicht ihre
Verfehlung.
Würden wir die
vermeidbaren Fehler und Verbrechen des "realen Sozialismus" abziehen,
bliebe ein absolut lebensfähiger, überlebensfähiger, überlegener Sozialismus
übrig. Wenn aber der Sozialismus schon ohne die vermeidbaren Fehler etc.
überlebensfähig ist, wie sollte er es mit den ihm natürlichen Stärken nicht
sein? Fragen wir also einmal nicht, was falsch gemacht wurde, sondern was nicht
gemacht wurde.
Wie wird der
wirkliche Sozialismus gemacht? Zunächst einmal mit Humor, mit der wirklichen
Sozialisten eigenen Heiterkeit. "Ein Gespenst geht um in Europa." Ist
es vorstellbar, daß Stalin oder Honecker ein Parteiprogramm auf solche Weise
begonnen hätten? Oder daß sie wie Lenin zum Jahreswechsel ihren Genossen
schreiben, daß sie ihnen und sich wünschen, im kommenden Jahr weniger
wesentliche Fehler zu machen als im vergangenen? Solcher Humor, solche
historische Heiterkeit ist von unschätzbarem Wert, denn sie ist unverzichtbare
Bedingung der Selbstkritik und der revolutionären Flexibilität. Sowohl Marx wie
Lenin trennten sich unglaublich schnell von Irrtümern und Fehleinschätzungen,
von nicht mehr notwendigen Maßnahmen und dergleichen Belastungen. Damit werden
aber oft schlimme Verluste vermieden. Ein Zitat aus meiner Schrift "Das
eigentliche Theater": "Der Ernst ist der Schutzmantel gegen die
eigene Unsicherheit und die Verunsicherung durch andere ... Der Ernst gebärdet
sich selbstherrlich. Er verleiht sich Würde und wird zur Überzeugung ... Wenn
Marx die Heiterkeit als wesentliche Form des menschlichen Geistes definiert, so
muß der Ernst als verkehrte Form des menschlichen Geistes diffamiert werden.
Freiheit macht heiter, und Heiterkeit macht frei. Unfreiheit macht ernst, und
Ernst macht unfrei." Selbstredend kann Humor nicht verordnet, aber er kann
als Staatsraison erlaubt und hoch angesehen werden. Als das ist er die schönste
Ermunterung der Kritik von unten nach oben und eine Entkrampfung aller Politik.
Die politische Heuchelei, die unnatürliche Sprache der Politik ist an den Ernst
gebunden. Die Sprache des Sozialismus muß menschlich, natürlich sein. Das setzt
Humor voraus. Die zukünftige Menschheit wird heiter sein, oder sie wird nicht
sein.
Der Sozialismus
gliedert sich in zwei Stufen. Die erste Stufe ist geprägt durch die
überkommenen alten, ihm wesensfremden Bedingungen. Diese Bedingungen sind von
der unterschiedlichsten, vielfältigsten Art: Sie wirken in allen Bereichen des
gesellschaftlichen Lebens und können nur allmählich durch dem Wesen des
Sozialismus gemäße Bedingungen ersetzt werden. Die zweite Stufe zeichnet sich
durch die Übereinstimmung von Bedingung und Wesen des Sozialismus aus.
Für die erste
Stufe des Sozialismus ist im wesentlichen das Folgende charakteristisch: Die
strategisch wichtigsten Produktionsmittel, Banken und dergleichen werden in
Gemeineigentum überführt. Gemeineigentum führt nicht zwangsläufig zu Sozialismus,
aber ohne es ist er nicht möglich. Staatliche Macht ohne ökonomische Macht ist
eine Form von historischer Idiotie: Wie will man mit leerem Beutel
sozialistische Aufgaben realisieren? Und wie soll sich ein solcher Staat halten
und behaupten? Gemeineigentum ist jedoch nur in Teilen in einem Akt oder in
einigen schnellen Aktionen herzustellen. Es in einem Zuge pur herstellen zu
wollen ist eine aparte Form von Proletkult. Typisch für die erste Stufe des
Sozialismus ist vielmehr das "Absterben" des kapitalistischen
Eigentums als natürlicher Prozeß.
Die
Produktionsverhältnisse sind bekanntlich Entwicklungsform oder Fessel der
Produktivkräfte. Vor allem aber sind sie Form oder Fessel der Bedürfnisse. Und
wenn sie Fessel der produktivsten Bedürfnisse sind, werden sie gesprengt.
Umgekehrt ausgedrückt: Nur die Produktionsverhältnisse setzen sich durch, die
das produktivste, das triebkräftigste Bedürfnis in Freiheit setzen. Jedes
Bedürfnis drängt nach seiner Verwirklichung, aber selbst das natürlichste,
vernünftigste, menschlichste, verbreitetste kann sich nicht durchsetzen, wenn
es nicht das im gegebenen Falle produktivste ist. Und selbst das
unnatürlichste, unvernünftigste, aparteste setzt sich durch, wenn es das produktivste
ist. So waren beispielsweise die kapitalistischen Produktionsverhältnisse die
Form, in der das Profitbedürfnis als das beim gegebenen Stand der
Produktivkräfte (der Vergesellschaftung der Produktion) produktivste Bedürfnis
in Freiheit gesetzt und zum dominierenden gemacht wurde, auch wenn es das
unmenschlichste und überdies ein apartes Bedürfnis, das Bedürfnis einer
Minderheit war.
So lief es in
der bisherigen Geschichte ab. Nicht aber ist es so im Falle des Sozialismus.
Sein triebkräftigstes, produktivstes Bedürfnis meldet sich nicht vorher an, um
von neuen Produktionsverhältnissen in Freiheit gesetzt zu werden. Es kann sich
nicht in einem Prozeß der natürlichen Auslese durchsetzen.
Die Beseitigung
des Widerspruchs von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen setzt den
Widerspruch zwischen Produktion und Bedürfnissen frei. Der Widerspruch von
Produktion und Bedürfnissen ist aber der kreativste, natürlichste Widerspruch.
Allerdings nur, wenn die Bedürfnisse ihre kreativste; natürlichste Form
annehmen. Wenn sie von ihrer kapitalistischen Deformation befreit sind.
Bedingung dafür ist die Herstellung sozialistischer Produktionsverhältnisse. An
die Stelle der aparten Profitbedürfnisse treten die vom sozialistischen Verteilungsprinzip
(jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Leistungen) geregelten
Bedürfnisse, die potentiell eine höhere Triebkraft der Produktion darstellen.
(Jedem nach seinen Leistungen gilt hier für alle, während es im Kapitalismus
bestenfalls nur für die Arbeiter, aber nicht für die Kapitalisten gilt, womit
der Sozialismus schon auf dieser wichtigen Ebene Gleichheit an die Stelle der
Ungleichheit setzt.) Nun wird aber der Widerspruch von Produktion und
Bedürfnissen als Triebkraft im Sozialismus zum ersten Mal in der Geschichte
nicht auf spontane, pragmatische Weise effektiv, sondern nur vermittels
bewußter Handhabung und Gestaltung. Und das ist nicht ein einmaliger Akt,
sondern ein widerspruchsvoller und langandauernder Prozeß, in dessen Verlauf
der Sozialismus eine heute noch ungeahnte ökonomische Kraft entwickeln wird
(wie der Kapitalismus eine gestern noch ungeahnte ökonomische Kraft entwickelt
hat). Das sozialistische Verteilungsprinzip regelt die Bedürfnisse nur
quantitativ. Die Qualität der Bedürfnisse, ihre Eigenschaft als sozialistische
Triebkraft der Produktion bedarf einer gesamtgesellschaftlichen Konzeption und
der ständigen öffentlichen Diskussion, um die spezifisch sozialistischen
Bedürfnisse in Form von Wertvorstellungen zu allgemein anerkannten und
allgemein effektiven zu machen. Die
spezifisch sozialistischen Bedürfnisse müssen als produktive Kraft ebenso
organisiert werden wie die Arbeit selber. Allein dieser Prozeß bedingt aber
eine neue Art von Demokratie. Da kann die bürgerliche Demokratie nichts nützen,
im Gegenteil.
Wie sollten sich
diese sozialistischen Bedürfnisse schon vor oder während des Übergangs zum
Sozialismus als neue Produktionsverhältnisse verlangende Bedürfnisse zur
natürlichen Auslese anmelden?
Bedürfnisse sind
spezifisch sozialistisch, wenn sie den Gesetzen zweiter Ordnung, vor allem aber
dem Gesetz erster Ordnung, dem Gesetz der Anpassung, dem Einklang von Natur und
Mensch entsprechen. Die Bedürfnisse verlangen die entsprechenden
Gebrauchswerte, und nicht nur die Gebrauchswerte der Produkte, sondern auch der
Produktion und der Produktionsweise. Damit ist die Umkehrung des Verhältnisses
von Tauschwert und Gebrauchswert (die Verwandlung des Tauschwerts zum Mittel
des Gebrauchswerts) verbindlich. Die dialektisch bestimmende, zwecksetzende
Rolle des Gebrauchswertes ist das Kriterium des Sozialismus als qualitativ
höhere Gesellschaftsordnung nicht nur auf ökonomischer, sondern auch auf
allgemein menschlicher Ebene. Was sich rückwirkend auch als ökonomisches
Stimulans auszahlt.
Ohne einer
Marktwirtschaft im kapitalistischen Sinne Raum zu geben, muß der Sozialismus
auf seiner ersten Stufe marktwirtschaftliche Formen und Elemente
selbstverständlich weitgehend nutzen. Mit dem Kapitalismus den Tauschwert oder
die Warenwirtschaft abschaffen zu wollen wäre ökonomischer Anarchismus.
Logischerweise kann man auch den Markt nicht abschaffen.
Der Vorzug des
Sozialismus gegenüber dem Kapitalismus liegt nicht in der höheren
Arbeitsproduktivität, sondern in ihrer effektiveren Verwertung. Nämlich wenn
der natürliche Vorgang, die Arbeitsproduktivität voll in reale (sinnvollen
Bedürfnissen dienende und der Umwelt angepaßte) Gebrauchswerte umzusetzen,
wiederhergestellt wird, nachdem er durch die Klassengesellschaft zunehmend
verkehrt worden war. Wenn aber der Sozialismus, statt Wegwerfartikel zu
erzeugen, die Arbeitsproduktivität vernünftig verwertet, kann er selbst bei
niedrigerer Arbeitsproduktivität einen höheren gesellschaftlichen und
individuellen Reichtum erzeugen als der Kapitalismus. Die Überlegenheit des
Sozialismus über den Kapitalismus verwirklicht sich primär nicht in einer
höheren Arbeitsproduktivität, sondern in einer höheren, sinnvolleren Verwertung
der Arbeitsproduktivität. Das setzt aber, wie bereits festgestellt, einen
Prozeß praktischer sozialistischer Demokratie voraus, um sozialistische Wertvorstellungen
zu ermitteln bzw. zu entwickeln. Wenn Lenin behauptet, daß die sozialistische
Demokratie liberaler sei als der Liberalismus, sich in ihrem Wesen aber nicht
darauf reduziere, so ist die operative Gebrauchswertermittlung ein Beweis auf
diese Behauptung.
Ein weiteres
Charakteristikum des wirklichen Sozialismus ist die gesellschaftliche
Organisation der Arbeit. Lenin stellt fest, "daß das Proletariat einen im
Vergleich zum Kapitalismus höheren Typus der gesellschaftlichen Organisation
der Arbeit repräsentiert und verwirklicht." (Unter Bedingungen des
"realen Sozialismus", will heißen der Zweiten Linie der
Staatspolitik, kann die Organisation der Arbeit allerdings von einem Vorteil
gegenüber dem Kapitalismus in einen Nachteil umschlagen.) Die gesellschaftliche
Organisation der Arbeit hat ihre Funktion auch darin, die gerechte Verteilung
nach der Leistung zu sichern, denn eine mangelhafte Arbeitsorganisation führt
zu unverschuldeter Leistungsminderung und damit zu unverschuldet geringerer
Entlohnung. Ohne eine funktionierende sozialistische Organisation der Arbeit
kann das sozialistische Leistungsprinzip nicht voll als Triebkraft wirken. (Die
Bezahlung nach der Leistung ist als Triebkraft sehr vielfältig zu gestalten. So
kann beispielsweise der Stücklohn als progressiver Leistungslohn angelegt werden,
indem die Bezahlung pro Stück mit der Anzahl der produzierten Stücke steigt, so
daß der Arbeiter an einer hohen Produktion interessiert ist. Auch die Betriebe
können, wenn sie strukturell zu diesem Zwecke veranlagt sind, über die
Konkurrenz auf dem Markt oder durch andere Vergleiche zu Steigerungen ihrer
Leistung veranlaßt werden. Wie der sportliche Wettkampf den Kapitalismus nicht
voraussetzt, so auch der ökonomische nicht.)
Zu einigen
charakteristischen Merkmalen der zweiten Stufe des Sozialismus: Die Vollendung
der ersten Stufe des Sozialismus setzt die Erste Linie der Staatspolitik
voraus, und sie besteht in der Aufhebung des Widerspruchs von Gesetz und
Bedingung. Die zweite Stufe zeichnet sich durch die Übereinstimmung der Bedingungen
mit dem Wesen des Sozialismus aus. Das aber erst ist der authentische
Sozialismus.
Zunächst zu den
ökonomischen Merkmalen der zweiten Stufe. Die Nationalstaaten sind in ihrer
modernen Form nichts als ein kapitalistisches Produktionsverhältnis: In ihrer
Funktion der Arbeitsteilung, des Marktes, des Zolls und dergleichen. Aus dieser
Funktion als Produktionsverhältnis erklärt sich ihre historische Eigenschaft,
die Notwendigkeit ihres Entstehens und ihres Vergehens. Lenin: "Der in
Entwicklung begriffene Kapitalismus kennt zwei historische Tendenzen in der
nationalen Frage. Die erste Tendenz: Erwachen des nationalen Lebens und der
nationalen Bewegungen, Kampf gegen jede nationale Unterdrückung, Schaffung von
Nationalstaaten. Die zweite Tendenz: Entwicklung und Verdichtung von
verschiedenerlei Beziehungen zwischen den Nationen, Niederreißen der nationalen
Schranken, Schaffung der internationalen Einheit des Kapitals, des Wirtschaftslebens
überhaupt, der Politik, der Wissenschaft usw. Beide Tendenzen sind das
Universalgesetz des Kapitalismus. Die erste überwiegt im Anfangsstadium seiner
Entwicklung, die zweite kennzeichnet den reifen, seiner Umwandlung in die sozialistische
Gesellschaftsform entgegenschreitenden Kapitalismus." Und schließlich:
"... das gesamte wirtschaftliche, politische und geistige Leben der
Menschheit internationalisiert sich schon im Kapitalismus immer mehr. Der
Sozialismus internationalisiert es vollends."
Die Überwindung
der nationalen Wirtschaften, der alten Bedingungen also, stellt ein höheres Produktionsverhältnis
dar und ist für die zweite Stufe des Sozialismus charakteristisch. Und als das
stellt es eine höhere Qualität der Gleichheit dar.
Die
Produktionsinstrumente sind nicht, wie ab und an behauptet,
gesellschaftsneutral. Das Fließband ist Beispiel genug. Wenn die Arbeit (wenn
schon nicht wie im Kommunismus erstes Bedürfnis) im Sozialismus immerhin ein
wichtiges Bedürfnis sein, wenn jeder nach seinen Fähigkeiten arbeiten soll,
müssen die Arbeitsbedingungen, speziell die Produktionsinstrumente sozialistische
Gebrauchswerteigenschaften erhalten. Sie müssen der natürlichen Bewegungslust
des Menschen, seiner körperlichen und geistigen Befindlichkeit angepaßt sein.
Sie müssen der Willkür seines Arbeitsbedürfnisses folgen können, wenn ihm die
Arbeit Bedürfnis sein soll.
Während die
erste Stufe des Sozialismus den Akzent auf den zweiten Teil des
Verteilungsprinzips legt: "Jedem nach seiner Leistung", liegt der
Akzent auf der zweiten Stufe auf dem ersten Teil: "Jeder nach seinen
Fähigkeiten". Auf der ersten Stufe kann nicht jeder unter Bedingungen
arbeiten, wo er seine Fähigkeiten voll entwickeln und zum Treffen bringen kann.
Auf der zweiten Stufe werden eben diese Bedingungen zum Kriterium.
Voraussetzung ist, daß die Arbeitsverhältnisse, speziell die Produktionsinstrumente,
der Arbeitsablauf etc. einen dementsprechenden Gebrauchswert erhalten. Dann
wird der erste Teil des Verteilungsprinzips (jeder nach seinen Fähigkeiten) in
seiner produktiven Potenz auf höherer Ebene wirksam: In der Übereinstimmung von
Wollen, Können und Dürfen. In dieser Übereinstimmung liegt nicht nur das
höchste Glück des Menschen, darin liegt auch seine höchste Kreativität. Das
wird nicht nur ein Sozialismus sein, der Spaß macht, sondern ein Spaß, der
Sozialismus macht.
Auf der zweiten
Stufe des Sozialismus, mit dem höheren Range der Fähigkeiten und dem geringeren
Range der Leistung verliert auch die Warenwirtschaft an Rang.
Die Verwaltung
des Menschen durch den Menschen wird, da die alten Bedingungen mit ihren
Widersprüchen und Konflikten abgeschafft sind, nicht nur weitgehend
überflüssig, ihre weitgehende Reduzierung wird zur Notwendigkeit: der
nichtverwaltete Mensch ist der kreativste und produktivste. Aber vollkommen
kann sie noch immer nicht außer Kraft gesetzt werden. Allein die Verteilung
nach der Leistung bedarf der staatlichen Maßstäbe und der staatlichen
Sicherung. Tendenziell wird die Verwaltung des Menschen durch den Menschen im
wirklichen Sozialismus jedoch permanent reduziert.
Mit dem gleichen
Eigentum an den Produktionsmitteln, den annähernd gleichen Voraussetzungen der
(unterschiedlichen) Arbeit und des (unterschiedlichen) Einkommens, der
Reduzierung der Verwaltung des Menschen durch den Menschen sind qualitativ
höhere Bedingungen für soziale Gerechtigkeit, Gleichheit und Demokratie
gegeben. (Demokratie heißt Gleichheit der Waffen. Wenn der eine mit dem
Argument operiert und der andere mit der Administration, kann von Demokratie
keine Rede sein.) Demokratie ist jetzt nicht mehr die Herrschaft einer (meist
fiktiven) Mehrheit über eine "Minderheit", sondern der ständige
Prozeß öffentlicher Meinungsbildung und Entscheidung unter der Bedingung der
prinzipiell gleichen sozialen Lage aller.
Aber nun sagt
Lenin: "In Wirklichkeit schließt die Demokratie die Freiheit aus."
Das ist natürlich eine Übertreibung, aber eine nötige, denn sie schließt alle
ahistorischen, vor allem im "realen Sozialismus" üblichen
pharisäerhaften Behauptungen von bereits verwirklichter Demokratie und Freiheit
aus. Demokratie ist selbst im besten Falle immer nur die politische (also eingeschränkte)
Form der Freiheit. Die Herrschaft der Mehrheit über die Minderheit ist nicht
nur Unfreiheit der Minderheit, sondern auch der Mehrheit, denn sie hat, wie
Engels sagt, indem sie mit der einen Hand unterdrückt, nur die andere frei. Und
auch die gerechteste Unterdrückung bleibt Unterdrückung, also eine moralische
Belastung und Gefährdung der Unterdrücker. Und die Unterdrückung auch nur einer
Minderheit bedarf der Unterdrückungsorgane, die in ihrer Tendenz zur
Verselbständigung auch vor der Mehrheit nicht halt machen. Aber selbst dann,
wenn keine Minderheit zu unterdrücken ist, wenn Demokratie nur noch die
Funktion hat, den Anteil der Einzelnen an der Verwirklichung der
gesamtgesellschaftlichen Interessen zu sichern, bleibt sie Verwaltung des
Menschen durch den Menschen. Selbst dann also, wenn Demokratie als perfekte
Öffentlichkeit auf der zweiten Stufe des Sozialismus faktisch oberste
Legislative und Exekutive, wenn sie als permanente "Vollversammlung"
direktes (unvermitteltes) Organ aller ist. Denn auch in dieser ihrer höchsten
und somit letzten ("absterbenden") Form bleibt Demokratie Politik.
Aber sie ist die Kultur der Politik. Demokratie ist die Wahrheit der
politischen Kultur.
Erst wenn jeder
nach seinen Bedürfnissen arbeiten und leben kann, ist er völlig frei. Das aber
schließt Demokratie aus. Soviel zur wirklichen historischen Gebundenheit von
Demokratie und Freiheit.
Die zwei Stufen
der Entwicklung des Sozialismus sind historisch bedingt. Und historische
Entwicklungen benötigen nun einmal auch eine historische Zeit. Da sind Ungeduld
und ihr geschuldete Verkürzungen des historischen Ablaufs verständlich. (Marx
und Engels und auch Lenin haben den Sozialismus auf die erste Stufe seiner
Entwicklung verkürzt, was selbst dann unrichtig ist, wenn auf der ersten Stufe
bereits Elemente der zweiten Stufe entstehen. Sich voll entwickeln und ihr
Wesen ausbilden können sie immer erst auf der zweiten Stufe.)
Der wirkliche
Sozialismus wie der Kommunismus können nur auf der wissenschaftlichen Grundlage
des Marxismus realisiert werden. Nun gibt es aber den Marxismus als
Wissenschaft nicht zweimal, sowenig es zwei Mathematiken oder Physiken oder
Phylologien gibt. Allerdings hat er in seiner Begründung und in seinem
Schicksal eklatante Eigenarten, ebenso in seiner Erneuerung.
Der Kommunismus ist das Gesetz der Vernunft
Marx
konstatiert, daß das Recht nicht unabhängig von den ökonomischen Verhältnissen
sein kann. Das gleiche gilt für die Moral. Die von den ökonomischen
Verhältnissen abhängige Entwicklung von Recht und Moral ist aber eine
wesentliche Bedingung für die Entwicklung der Gleichheit.
Der Mensch,
heißt es, trägt die Verantwortung. Wer hat sie ihm aufgetragen? Hat er sie aus
freien Stücken übernommen? Woher hat er sie dann genommen? Und was überhaupt
hat er zu verantworten? Seine körperlichen und geistigen Anlagen? Nein, sagt
man, die hat er ererbt, dafür kann er nichts. Oder die Verhältnisse, unter
denen sich die Anlagen bilden? Nein, sagt man, die hat er vorgefunden, dafür
kann er auch nichts. Was bleibt da übrig? Das, was er aus seinen Anlagen und
seinen Verhältnissen macht, sagt man. Und womit macht er etwas daraus? Doch
immer nur mit dem, was er ererbt oder vorgefunden hat, also mit dem, wofür er
zugestandenermaßen nichts kann. Aber nein, sagt man, da ist doch noch etwas
Drittes, da ist sein Wille. Der Mensch hat doch einen Willen, und der befähigt
ihn, auf seine Anlagen und seine Verhältnisse Einfluß zu nehmen. Für seinen
Willen aber ist er verantwortlich. Und woher hat er diesen Willen? Den Willen,
sagt man, den Willen hat er ..., den hat er von ..., den hat er eben! Nun, das
ist keine Antwort. Was der Mensch hat, muß er irgendwoher haben. Und seinen
Willen hat er, ebenso wie seine übrigen körperlichen und geistigen
Eigenschaften, als Anlage mitbekommen. Und da er für diese nichts kann, kann er
auch nichts für seinen Willen. Also auch nichts für das, was er mit ihm macht.
Der Mensch hat kein Verdienst an ihm, sowenig er ein Verdienst an seiner Geburt
hat. Die mittelalterliche Gepflogenheit, aus der Geburt, aus der edlen Abkunft
ein Verdienst abzuleiten, wird von uns als unsinnig abgetan. Die Auffassung,
daß der Mensch für das, was nach der Geburt aus ihm wird, verantwortlich sei,
ist ebenso unsinnig. Ebenso unsinnig wie das Verdienst an dem ererbten Adel
oder der ererbten Veranlagung ist aber auch das Recht auf oder das Verdienst an
dem ererbten Eigentum an den Produktionsmitteln. Wer dieser Logik folgt, folgt
der Logik des Kommunismus.
Was der Mensch
aus sich macht, kann er nur mit dem machen, was er nicht gemacht hat. Das gilt
für seine körperlichen wie für seine geistigen Eigenschaften. Die Auffassung
von der Selbstverantwortlichkeit des Menschen ist also ein absoluter Irrtum.
Ist sie das wirklich? Für deine große Nase, sagt man, kannst du nichts, für
deine große Faulheit aber kannst du wohl etwas. So sagt man. Und das hat seinen
Sinn. Im Unterschied zu den körperlichen Eigenschaften haben die geistigen den
Vorzug, im allgemeinen leichter beeinflußbar zu sein. Also versuchte man, sie
zu beeinflussen. Und als sich herausstellte, daß Lob und Tadel, Belohnung und
Strafe wirksame Mittel sind, um die gewünschte Beeinflussung zu erreichen,
entstand allmählich die Auffassung, daß der Mensch Lob und Tadel, Belohnung und
Strafe verdiene. Man schloß von der Wirksamkeit der Mittel auf ihre Berechtigung.
So entstand der Aberglaube, daß der Mensch für das, was er ist, verantwortlich
sei. Der folgenschwere Vorgang, die körperlichen und geistigen Eigenschaften
des Menschen, statt sie in ihrer natürlichen Einheit zu begreifen, einander
entgegenzusetzen, indem die geistigen aus ihrer objektiven Kausalität
herausgelöst werden und der Mensch für sie haftpflichtig gemacht wird, erklärt
sich also aus der leichteren Beeinflußbarkeit der geistigen Eigenschaften. Und
die beeinflußbarste ist der Wille. Daher steht er im Mittelpunkt des
Interesses. Über ihn vor allem kann man auf das Verhalten des Menschen einwirken,
folglich macht man den Menschen vor allem für seinen Willen verantwortlich.
Allein das ist er, wie wir gesehen haben, nicht.
Der Irrtum von
der Selbstverantwortlichkeit des Menschen herrschte nicht immer, nicht von
Anfang an. Und sein Ende ist abzusehen, denn auch die Moral hat ihre
historische Entwicklung, und auch diese folgt dem Gesetz der Negation der Negation.
So finden wir als erste Stufe ihrer Entwicklung eine Moral vor, die nicht auf
der Selbstverantwortlichkeit des Menschen beruht. Und diese Moral hat sich zu
ihrer Zeit, in der Zeit der klassenlosen Urgesellschaft, ausgezeichnet bewährt.
Das hat Rasmussen bei den Eskimo beobachten können. "Ist jemand", so
stellt er fest, "durch glückliche Jagd zu Überfluß gekommen, so verteilt
er ihn unter Minderbegünstigte." Die gleiche Moral drückt sich in der
Gerichtsbarkeit der Eskimo aus. Fridjof Nansen berichtet: "Ihre Justiz war
indessen ganz eigentümlicher Art und bestand in einer Art Duell. Dieses wurde
nicht, wie in zivilisierten Ländern, mit scharfen Waffen ausgefochten, der
Grönländer ging hierbei, wie in anderen Dingen, vernünftiger vor: Er forderte
seinen Gegner zu einem Singstreit heraus. Der Verlauf war der, daß die beiden
Gegner sich in einem Kreis von Zuschauern beiderlei Geschlechts einander
gegenüberstellten. Auf ein Tamburin oder eine Trommel schlagend, sangen sie nun
abwechselnd Spottlieder aufeinander. In diesen Liedern erzählten sie alles, was
der Gegner verbrochen hatte und versuchten, ihn nach besten Kräfte lächerlich
zu machen. Wer die Zuschauer am meisten über seine Witze oder Anklagen lachen
machte, blieb Sieger." Nun, da scheint man den Zufall zum Richter bestellt
zu haben, und man könnte das Ganze für eine heitere Art von Gottesurteil halten
nach der Devise: wer zuletzt lacht, hat recht. Doch eben darauf, wer recht hat,
kam es in diesem künstlerischen Wettstreit überhaupt nicht an, also auch nicht
darauf, daß der Schuldige getroffen wurde. Sinn dieses Wettstreits war es
allein, den Streit aus der Welt zu schaffen, gleichgültig, auf wessen Kosten
der Spaß ging. "Es steht nicht die Sühne für einen Verstoß zur Debatte.
Die Gesellschaft entscheidet nicht über Recht und Unrecht. Ihr liegt jedoch
daran, daß im Interesse eines harmonischen Zusammenlebens Streitigkeiten auf
irgendeine Weise beigelegt werden." Der Verbrecher wird nicht als verächtlich
angesehen, und auch er selbst hält sich nicht dafür. Das erklärt den für unsere
Denkweise erstaunlichen Vorgang, daß bei einer Gerichtsverhandlung der
Südseeinsulaner beispielsweise der Dieb und der Bestohlene einträchtig
nebeneinander sitzen und freundschaftlich miteinander plaudern; auch die
Angehörigen der beiden bilden keine feindlichen Parteien, sondern sitzen in
fröhlicher Unterhaltung traulich beisammen. Und von den schwarzafrikanischen
Naturvölkern wird berichtet, daß sich ihre Gerichtsverhandlungen zu
theatralischen Vergnügungen ausweiteten, an denen die Beteiligten wie die
Zuschauer den gleichen Genuß hatten.
Wie wir sehen,
kamen die Naturvölker ausgezeichnet ohne den Irrtum aus, daß der Mensch für
seine Eigenschaften (und Handlungen) verantwortlich sei. Wie kam es dann aber
zur zweiten historischen Phase der Entwicklung der Moral, zur Moral der
Eigenverantwortlichkeit des Menschen?
Als die
ökonomische Differenzierung der Gesellschaft zur historischen Notwendigkeit
wurde, mußte diese Differenzierung notwendig auch moralisch gerechtfertigt
werden, also wurde aus dem ökonomischen Erfolg ein subjektives Verdienst und
aus dem Mißerfolg eine subjektive Schuld gemacht. Die Moral der subjektiven
Verantwortlichkeit war geboren. Und schließlich wurde der ökonomische Besitz
nicht mehr mit dem individuellen Verdienst, sondern dieses Verdienst mit dem
ökonomischen Besitz gerechtfertigt. Nicht, weil ich ihn zu Recht habe, habe ich
ihn, sondern: weil ich ihn habe, habe ich ihn zu Recht. Mit einem Wort: Wer
besitzt, hat Recht. Das ist die Moral der ausgebildeten Klassengesellschaft -
die Moral der Besitzenden.
Die zweite Stufe
der historischen Entwicklung der Moral führt also zur Subjektivierung und damit
zur Vereinzelung des Menschen. Was der einzelne ist, das hat er sich selbst
zuzuschreiben. Und wer mit minderen Gaben versehen und also schon von der Natur
"gestraft" ist, der wird auch noch durch die Verachtung der
Gesellschaft gestraft. Diese Moral stellt die Umkehrung ihres bisherigen Wesens
dar.
Die Auffassung
von der Selbstverantwortlichkeit des Menschen ist ein welthistorischer Irrtum,
also ein unvermeidlicher. Seine Notwendigkeit erklärt sich, wie wir feststellen
konnten, aus der ökonomischen Entwicklung der Gesellschaft. Und auch die
Aufhebung dieses Irrtums, die dritte Stufe der Entwicklung der Moral also,
erklärt sich aus ökonomischen Gründen.
Die
Produktionsverhältnisse sind nicht nur Verhältnisse der Produktion, sie sind
auch Lebensverhältnisse. Sie bedingen die Art, in der die Menschen sich
zueinander verhalten, und damit auch die Moral dieses Verhaltens. Und wenn die
Produktionsverhältnisse in sich widersprüchlich sind, so ist es auch die Moral,
beispielsweise die Moral des Sozialismus. Während das Gemeineigentum an den
Produktionsmitteln alle Menschen gleichstellt, bedingt das Prinzip "Jedem
nach seinen Leistungen", das wie die Art des Eigentums an den
Produktionsmitteln zu den Produktionsverhältnissen gehört, den Fortbestand der
Moral der subjektiven Verantwortlichkeit, also den Fortbestand des oben
genannten historischen Irrtums. Er besteht nicht fort, weil wir es nicht besser
wissen, sondern weil er noch immer ökonomisch erforderlich ist. Die Verteilung
nach der Leistung, sagt Marx, ist "noch dem Prinzip nach - bürgerliches Recht
..., es erkennt stillschweigend die ungleiche individuelle Begabung und daher
Leistungsfähigkeit als natürliche Privilegien an. Es ist daher ein Recht der
Ungleichheit ... Aber diese Mißstände sind unvermeidbar in der ersten Phase der
kommunistischen Gesellschaft ... Das Recht kann nie höher sein als die
ökonomische Gestaltung der Gesellschaft." (Marx versteht unter der ersten
Phase des Kommunismus den Sozialismus.)
Der Widerspruch
in der Moral des Sozialismus: einerseits Gleichstellung aller Mitglieder der
Gesellschaft und andererseits Fortbestand der subjektiven Verantwortlichkeit
und damit der ungleichen Bewertung des Einzelnen, dieser Widerspruch ist
folglich dem Widerspruch innerhalb der sozialistischen Produktionsverhältnisse,
dem Widerspruch zwischen Gemeineigentum an den Produktionsmitteln und
unterschiedlicher Verteilung anzulasten. Und eben dieser Widerspruch bestimmt
den Sozialismus in beiden Stufen als erste Phase des Kommunismus.
Der Sozialismus
ist der erste Schritt zur Wiederherstellung einer objektiven Moral. Indem er
das Recht auf unterschiedliches individuelles Eigentum an den
Produktionsmitteln abbaut, baut er auch die moralische Bewertung der
individuellen Unterschiedlichkeit der Menschen ab. Doch das ist nur das halbe
Werk. Der zweite und entscheidende Schritt zur Wiederherstellung einer
objektiven Moral kann erst in der zweiten Phase des Kommunismus vollzogen
werden, wo das Prinzip "Jedem nach seinen Bedürfnissen" gilt.
(Richtig muß es jede r und nicht jede m heißen. Hier irrte Marx, denn bei jede
m handelt es sich noch um das Objekt einer Zuteilung.) Indem das kommunistische
Verteilungsprinzip die individuell unterschiedlichen Leistungen ökonomisch
nicht mehr bewertet, wird auch ihre moralische Bewertung hinfällig. Sie hat nicht
nur keinen Sinn mehr, sie wird widersinnig, weil sie wider das Prinzip der
Verteilung nach den Bedürfnissen wirken würde. Wer mehr leistet als ein anderer
und sich darauf etwas zugute hält, wird schwerlich damit einverstanden sein,
daß der andere das gleiche oder sogar mehr nehmen darf als er. Das
Verteilungsprinzip des Kommunismus kann nur funktionieren, wenn keiner
weiterhin individuelle Fähigkeiten und Leistungen für ein persönliches
Verdienst hält. Damit ist die Moral der Selbstverantwortlichkeit für immer aufgehoben.
"Jeder nach seinen Bedürfnissen" heißt, keinem wird seine geringere
oder größere Begabung oder seine geringere oder größere Faulheit angerechnet,
darin wertet man alle gleich. Denn jeder darf nehmen, wessen er bedarf, darin
ist jeder verschieden.
Marx stellt
fest, daß die Gleichheit vor dem Gesetz Ungleichheit ist, weil Ungleiche (Arme
und Reiche, von Natur Begabte und Unbegabte) dem gleichen Gesetz unterworfen
sind. Das Recht ist Gleichmacherei. Wenn Ungleiche dem gleichen Recht unterworfen
sind, also gleichgemacht werden, kommt Unrecht heraus. Das Prinzip "Jeder
nach seinen Bedürfnissen" ist die generelle Lösung: Es ist die Gleichheit
und die Unterschiedlichkeit in einem. Und beide sind sich gegenseitig
Bedingung. Indem die Ungleichheit nicht mehr bewertet wird, wird sie erst
möglich. Der Kommunismus ist nur die letzte Konsequenz des Prinzips Gleichheit.
Und somit die letzte Konsequenz gegen alle Gleichmacherei. Kommunismus ist die
Gleichheit der Ungleichen. Und umgekehrt.
Der Kommunismus
ist eine Denknotwendigkeit. Ohne ihn kann man kein Problem zu Ende denken. Und
umgekehrt: Konsequent zu Ende denken ist Kommunismus.
Wer aber die
irrige Vorstellung, ein Verdienst daran zu haben, daß er so ist, wie er ist,
fahren läßt, der läßt auch allen Hochmut fahren, allen "falschen
Stolz", alle Überheblichkeit und alle Verachtung. An ihre Stelle treten
Verständnis und selbstverständliche Hilfsbereitschaft. Wir können auf andere
Art verantwortlich sein. Die Aufhebung der Moral der Selbstverantwortlichkeit
hebt also nicht die gegenseitige Beeinflussung auf. Im Gegenteil: wer dem
anderen nicht die Schuld daran gibt, daß er so ist, wie er ist, hat keinen
moralischen Vorbehalt mehr, die Schwächen des anderen durch die eigenen Stärken
auszugleichen. Wie umgekehrt keiner seine Schwächen verheimlicht und ihren
Ausgleich behindert. Der von allem Vorurteil, von aller Moral, vom Gefühl des
moralischen Schuldners wie dem des moralischen Gläubigers befreite Mensch ist
der freie Mensch. Erst jetzt ist er ledig von dem Irrglauben, ein sündiges
Wesen zu sein.
Indem er den
Irrtum von der moralischen Selbstverantwortlichkeit des Menschen aufhebt, ist
der Kommunismus eine sittliche Notwendigkeit. Erst jetzt kommt es zu dem freien
Austausch der Individualitäten. Das aber ist das Höchste des der Menschheit
Erreichbaren. Der freie Austausch der Individualitäten ist das absolute
Kriterium der freien Gesellschaft.
Sobald jeder
nach seinen Bedürfnissen, also nach seinem eigenen Maße leben kann, sobald die
Produktion - und dazu gehört auch die Distribution - vollkommen dem Maße des
Menschen angepaßt ist, erlangt auch der Mensch sein vollkommenes Maß. Mensch
und Produktion stimmen endlich überein, womit beide das produktivste Verhältnis
zueinander erreicht haben. Daher ist das Prinzip "Jeder nach seinen
Bedürfnissen" auch eine ökonomische Notwendigkeit.
Ein verbreiteter
Zweifel an der Möglichkeit des Kommunismus liegt in der Annahme begründet, daß
die Menschen nicht genügend arbeiten werden, wenn die Befriedigung ihrer
Bedürfnisse nicht mehr unmittelbar von ihrer Arbeitsleistung abhängt. Wenn wir
jedoch den Aufwand für die Unterhaltung des Militärwesens über den Aufwand für
das Geldwesen bis zur Wegwerfproduktion, das Steuerwesen und die entsprechenden
Dienstleistungsberufe und dergleichen unsinnigen Aufwand der
Klassengesellschaft abziehen, sind in den Industrieländern täglich kaum noch 2
Stunden Arbeit erforderlich. Die dafür nötige Motivation ist gewiß zu finden,
wie u. a. in meiner Schrift "Heitere Poetik" auf den Seiten 173
bis 183 nachgewiesen wird. Der Kommunismus ist (wie der Sozialismus allein
durch das Wegfallen von Fehlern) allein durch das Wegfallen von Kosten möglich.
Man muß nur einmal damit anfangen, diese Kosten aufzulisten: das Ergebnis ist
verblüffend. Sowohl, was die Höhe und die Idiotie der Kosten des Kapitalismus
betrifft, als auch, was die ökonomische Rationalität des Kommunismus betrifft.
Aber die grundsätzliche Verwirklichbarkeit des Kommunismus liegt in seiner
inneren Dialektik. Indem das kommunistische Verteilungsprinzip und das Prinzip
Gleichheit sich gegenseitig Bedingung sind, entsteht ein unvorstellbar
kreativer, produktiver Prozeß. In der Darstellung der Soziologischen
Transfermatik habe ich auf die unendlichen Ressourcen hingewiesen, die dieser
Prozeß nutzen kann, sobald er sich in Freiheit entfaltet. Ein kleines Beispiel
gibt uns schon die vergleichende Völkerkunde, wenn Sarno von den Pygmäen
berichtet: "Sie waren die menschlichsten aller menschlichen Wesen und
zeigten, wie in Abwesenheit aller Zwänge der modernen Zivilisation jedes
Individuum das Potential, das in ihm steckte, voll verwirklichen konnte."
Diese Verwirklichung des Potentials ist einer noch relativ funktionierenden
Gleichheit zu verdanken.
Voraussetzung
für das kommunistische Verteilungsprinzip ist eine von der unseren völlig
verschiedene Wertekonstellation. Sarno schreibt über "seine" Pygmäen:
"Anfänglich hatte ich gedacht, daß viele ihre Beschäftigungen belanglos
und trivial seien. Jetzt waren es im Gegenteil die Machenschaften der Welt, in
die ich zurückkehrte, die mir inhaltslos, ja sogar närrisch vorkamen." Im
Kommunismus entscheiden wesentlich andere, in Freiheit entstandene Bedürfnisse
über die Höhe der Arbeitsproduktivität, die Masse der Arbeit, die
Gebrauchswerteigenschaften und dergleichen. Man darf die kommunistischen
Wertvorstellungen nicht an unseren gegenwärtigen Wertvorstellungen und
Bedürfnissen messen, schon gar nicht, wenn diese sich als tödlich erwiesen
haben.
Unser Thema ist
hier jedoch nicht primär der Nachweis der Notwendigkeit bzw. Möglichkeit des
Kommunismus. Unser Thema ist die Gleichheit. Zu ihrem Lobe seien noch 3 Aspekte
genannt:
1. Das
Herzstück aller Kultur, die Kultur in den Beziehungen zwischen den Menschen,
der Reichtum dieser Beziehungen basiert auf der Gleichheit. Das hat alle
bisherige Geschichte im Negativen wie im Positiven bewiesen.
2. Die auf
Gleichheit beruhende Freiheit macht die Heiterkeit zu einem allgemeinen
Wesensmerkmal des menschlichen Zusammenlebens. Auch das hat die Geschichte zur
Genüge bewiesen.
3. Mein
oberstes sittliches Ideal ist die Verläßlichkeit. Nichts ist wichtiger und
wunderbarer, als daß sich jeder auf jeden in allen Dingen des Lebens verlassen
kann. In jeder Weltgegend und unter allen Umständen. Dann erst ist der Mensch
niemals allein und hilflos. Und er kann völlig unbedenklich sein, denn er kann
sich darauf verlassen, daß keiner ihm aus seiner Offenheit einen Nachteil
machen wird. Die Verläßlichkeit ist der höchste und schönste Wert unseres
Lebens, aber sie ist als allgemeine nur auf dem Prinzip Gleichheit
verwirklichbar.
Epilog
Während in dem
Essay "Verbürgerlichung - das Verhängnis der sozialistischen
Parteien" ermittelt wird, was die sozialistische Bewegung keinesfalls tun
darf, wird im "Prinzip Gleichheit" ermittelt, was die sozialistische
Bewegung jedenfalls tun muß, um zum Ziele zu kommen.
Nur der beste
Kommunismus ist möglich. Wie umgekehrt der Sozialismus nicht daran gestorben
ist, daß er der beste war.
Die Frage nach
den drei Quellen des Marxismus ist in Millionen Köpfe gelangt. Die Frage nach
den Quellen, die Marx nicht hatte, ist weit weniger geläufig. Dabei ist sie
weit produktiver. Und welche Quellen hatte er, hat sie aber nicht genutzt? Weil
er nicht die Zeit dafür hatte, oder den Kopf? (Beispielsweise war Marx
gleichweit wie Darwin davon entfernt, die Anpassung als Naturgesetz der
Gesellschaft zu begreifen.)
Wir müssen das
Gebäude des Marxismus in einigen wesentlichen Teilen umordnen und in eine
andere Funktion setzen:
1. Das
Gesetz der Anpassung ist das einzige Gesetz, das für Natur und Gesellschaft
gleichermaßen gilt. Das macht die bisherigen Gesetze des Marxismus zu
Funktionen des Gesetzes der Anpassung und somit zu Gesetzen zweiter Ordnung.
Indem es als gesellschaftliches Gesetz der Anpassung des Menschen an die Natur
die Spezifik der Anpassung der Natur an den Menschen gibt und die
gesellschaftliche Organisation des Menschen zu einem Organ der Anpassung macht,
benimmt es sich im Gebäude des Marxismus wie der Fuchs im Hühnerstall. Es erhöht
die historische Notwendigkeit des Sozialismus zu einer Notwendigkeit erster
Ordnung, zu einer Naturnotwendigkeit. Indem aber die Gesellschaft jetzt auch
von einem Gesetz der Natur geregelt wird, wird der Marxismus um seine
"natürliche" Seite erweitert.
2. Das
Prinzip Gleichheit (und mit ihm die Aufdeckung des Irrtums von der
Selbstverantwortlichkeit des Menschen) vervollständigt den Marxismus nach der
menschlichen Seite.
3. Die
Erkenntnis seiner Zweistufeneigenschaft ist Voraussetzung einer objektiven
Theorie des Sozialismus. Indem auf der ersten Stufe die alten Bedingungen
überwunden werden, kann sie als das Fegefeuer verstanden werden, durch das die
Menschheit gehen muß. Hier werden die "Naturgesetze" der Gesellschaft
im wesentlichen wieder zu Funktionen des Gesetzes der Natur, der Anpassung,
gemacht, wird der rettende Übergang von der Vorgeschichte der Menschheit zu
unserer "eigentlichen Geschichte" vollzogen.
Erst die zweite
Stufe ist der authentische Sozialismus. Ohne diese wäre der Kommunismus Utopie.
Beide Stufen offenbaren, daß sich der Sozialismus von den vorhergehenden
Gesellschaftsordnungen nicht nur ökonomisch (in seiner Arbeitsproduktivität),
sondern primär in seinen menschlichen Dimensionen qualitativ unterscheidet.
Der wirkliche Sozialismus
ist kein Rätsel. Nur wer ihn nicht will, will ihn nicht erkennen, ob nun aus
Feigheit oder Böswilligkeit oder weil er der Mode unterliegt. Die Behauptung
von der Schwierigkeit, den Sozialismus erkunden zu können oder gar davon, ihn
nicht einmal mehr als Utopie wahrnehmen zu können verdient nicht, ernstgenommen
zu werden. In letzter Instanz ist der Sozialismus durch den Kommunismus
bestimmt. Der Kommunismus ist (in seiner gedanklichen Vorwegnahme) Ursache des
Sozialismus und zugleich Beweis von dessen Möglichkeit und Notwendigkeit. Die
Gleichheit ist der erste und letzte Inhalt des Sozialismus. Sie fordert ihn und
zugleich überfordert sie ihn. Die marxistische Dialektik ist in ihrem tiefsten
Sinne Theorie und Methode der Übergänge.
Die Gleichheit
als vollkommenes, komplexes, dialektisches Prinzip setzt die Aufhebung des
Irrtums von der Selbstverantwortlichkeit des Menschen voraus, von der
subjektiven Schuld oder dem subjektiven Verdienst an seinen Eigenschaften und
Handlungen. - Die Aufhebung des Irrtums setzt das kommunistische Verteilungsprinzip
"Jeder nach seinen Bedürfnissen" voraus, denn ohne dieses Prinzip
hätte die Aufhebung des Irrtums keine objektive Basis. - Das kommunistische
Verteilungsprinzip setzt das kommunistische Gemeineigentum, d. h. die
Aufhebung des juristischen Eigentums an den Produktionsmitteln voraus.
Wir sehen die
Gleichheit an eine eherne Kette gebunden. Ist das gut, oder ist das schlecht?
Vor Gott sind
alle gleich. Und vor dem Eigentum? Es ist mächtiger als Gott. Aber es ist
abschaffbar. Und dann sind auch auf Erden alle gleich. Ohne das Gemeineigentum
an den Produktionsmitteln ist die Gleichheit eine Phrase - und ohne Gleichheit
ist alles andere Phrase. Das Prinzip Gleichheit ist das edelste Prinzip, aber
auch das anspruchsvollste. Es ist das voraussetzungsreichste und das
folgenreichste Prinzip. Und es ist das inhaltsreichste Prinzip: es enthält alle
Dimensionen des Humanismus, des Pazifismus, der Kultur, der Sittlichkeit bis zu
den ökonomischen Bedingungen der Menschlichkeit. An seiner Mißachtung geht die
Welt zugrunde, denn die Folgen seiner Mißachtung nehmen immer gefährlichere
Ausmaße an. Und allein seine Verwirklichung kann die Welt retten. Es schließt
in seinen Voraussetzungen und in seinen Folgen das ein, was Kommunismus heißt.
Meine
Lieblingsfarbe ist nicht rot, wie man meinen sollte, meine Lieblingsfarbe ist
bunt. Und bunt ist auch die Farbe des Kommunismus. Er ist die Gleichheit der
Ungleichen. Und er ist die Ungleichheit der Gleichen. Das aber ist die Lösung
aller Probleme unserer Welt. Wie sollten wir da den Kommunismus schließlich
nicht wollen - und machen?
Aber selbst wenn
er nicht das Gesetz der Wirklichkeit sein, wenn er eine bloße Utopie bleiben
sollte, eines ist er über allem: Der Kommunismus ist das Gesetz der Vernunft.