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Klartext oder mit
Sandsäcken gegen den Kapitalismus
6. 1. 2003
Nach allgemeinem Verständnis ist Klartext
die unverschlüsselte Rede, die unverblümte
Wahrheit. Das setzt immerhin voraus, dass
man die Wahrheit sagen will. Und das man
sie sagen kann.
Ich nehme an, dass die Leser dieses Essays
die Wahrheit sagen wollen, behaupte aber,
dass sie sie nicht sagen können. Weil
sie sie nicht wissen. Im Folgenden der Beweis.
Wahrheit ist die Erkenntnis, die aus dem
Vergleich entspringt. Erkennen ist Vergleichen.
Wenn ein Weißer nach Schwarzafrika
kommt, erfährt er, dass der Gott der
Schwarzen schwarz ist. Und bei den Itelmenen
auf Kamtschatka erfährt er, dass deren
Gott ein Clown ist, da die Itelmenen ein
Volk von Clowns sind. Also geht ihm die
Wahrheit auf, dass nicht Gott die Menschen
nach seinem Bilde schuf, sondern umgekehrt
die Menschen Gott nach ihrem Bilde. Allein
der Vergleich ermöglicht die Erkenntnis
und das Einordnen.
Vergleichen ist aber eine Kunst. Die Frage,
was mächtiger ist, der Amazonas oder
der Mount Everest, wird als unbeantwortbar
zu recht abgelehnt. Wenn ich aber frage,
was mächtiger ist, der Amazonas oder
die Müggelberge, wird jeder ohne Zögern
den Amazonas als mächtiger bezeichnen.
Ich muß also die richtigen Objekte
und das richtige Kriterium wählen.
Was wähle ich für die Fragen,
die uns in der Gegenwart bewegen?
Das, lieber Leser, wird Dich verblüffen.
Die Gastlichkeit der Eskimo. Die Gastfreundschaft
in unseren Breitengraden wird unterschiedlich
gelobt, am höchsten die in den ehemals
südlichen Sowjetrepubliken. Statt sie
zu loben, müsste man sie als Protzerei
und Nötigung bezeichnen. Bei den von
der modernen Zivilisation noch unberührten
Eskimo war folgendes Sitte:
Kommt ein Besucher ins Dorf, stellt sich
das Familienoberhaupt vor das Zelt oder
die Schneehütte, um dem Gast zu zeigen,
dass er besuchsbereite Menschen antrifft.
Der vor der Tür stehende Eskimo darf
den Gast jedoch nicht einladen, nicht einmal
mit einem Zwinkern der Augen, denn das gilt
als unerlaubte Nötigung. Tritt der
Gast ein, darf ihm nichts angeboten werden,
da ja alles auch sein Eigentum ist. Und
jemandes Eigentum anzubieten wäre ja
irre. (Ich bitte, die Bedeutung des Eigentums
zu beachten.) Will der Gast gehen, darf
er nicht zu längerem Bleiben aufgefordert
werden, denn auch das wäre eine Nötigung.
Und will er etwas, was ihm gefällt,
mitnehmen, muß er nicht um Erlaubnis
fragen, denn es ist ja alles Eigentum des
Gastes. Das ist ein wunderbares Verhältnis
von Eigentum und schöner Freiheit.
Und ein beschämender Maßstab
unserer Gastfreundschaft, wo das Eigentum
zur Protzerei und Nötigung oder zur
Knauserei führt.
Ein gleichwertiges Beispiel ist die Gerichtsbarkeit
der Naturvölker. Bei Fridtjof Nansen
kann man nachlesen, dass sie weit vernünftiger
als die unsere ist. Während wir uns
in der Frage verheddern, ob die Strafe Sühne
oder Erziehung sein soll (beides Anmaßungen)
ist sie bei den Naturvölkern keines
von beiden. Polarforscher waren irritiert,
da sie nicht erfuhren, ob sie bei einem
Mörder zu Gast waren. Denn ein Mörder
wurde nicht als solcher geächtet und
fühlte sich daher auch selber nicht
als solcher, so dass er keinen Grund sah,
einen Gast nicht bei sich aufzunehmen. Dostojewski
stellt im „Todenhaus“ noch fest,
dass die Dorfbewohner die Insassen des Todenhauses
nicht als Verbrecher bezeichneten, sondern
als Unglückliche. Da sie schon von
der Natur und dann noch von den Gerichten
gestraft waren, durfte man sie nicht auch
noch ein drittes Mal durch Verachtung strafen.
Ein Missionar, der kürzlich in Namibia
gewirkt hatte, berichtete nach seiner Rückkehr
empört über das Verhalten einer
Schwarzen, die er zum Beichten beordert
hatte, die aber auf dem Dorfplatz auf ihn
wartete und nicht in die Kirche wollte.
Sie verstand nicht, dass sie ihre Sünden
heimlich erzählen sollte. Sie wollte
ihre Sünden öffentlich bekennen,
da sie kein Schuldgefühl hatte. Eine
wunderbare Moral. Doch der ignorante Missionar
konnte sich noch Monate später über
diesen „Starrsinn“ nicht beruhigen.
Das sind nur einige wenige Beispiele wesentlichen
menschlichen Verhaltens, die uns als beschämender
Maßstab gelten müssen. Und es
sind Elemente, die der sozialen Vererbung
angehören. Der Mensch ist ja nicht
nur Produkt der biologischen Vererbung,
er ist nicht nur ein Einzelwesen, sondern
auch ein Gattungswesen. D.h. er ist auch
Produkt der gesellschaftlichen Übermittlung
von Erfahrungen, Meinungen, Geschehnissen
aus der Vergangenheit und Gegenwart. Das
Ergebnis dieser Übermittlung heißt
soziale Vererbung. Durch sie unterscheidet
sich der Mensch vom Tier. Im Guten, aber
auch im Schlechten. Friedrich Engels stellte
fest, dass gegen Ende der Sklaverei in der
Politik die Heuchelei Einzug hält.
Zum ersten Mal in der menschlichen Geschichte
werden die gesellschaftlichen Verhältnisse
nicht mehr als narturgegeben verstanden.
Und das schlechte Gewissen der Herrschenden
gebiert die Heuchelei.
Diese Heuchelei ist die dominierende Moral
der ganzen Klassengesellschaft. Eine kurze
Unterbrechung erfährt sie nur durch
Leute wie Münzer, Lenin und Luxemburg.
Obwohl auch sie sich dem Gesetz nicht entziehen
können, dass die Geschichte von Menschen
gemacht wird, die von der Geschichte gemacht
wurden.
Wir kennen die allgemeine Meinung, dass
die sittlich-moralische Entwicklung des
Menschen der industriell-wissenschaftlichen
Entwicklung hinterherhinkt. Doch das ist
ein Irrtum, in Wirklichkeit fällt sie
hinter sich selber zurück. Der alte
Cato, ein angesehener Politiker vor Cäsar,
beendete jede seiner Reden mit dem Ausruf:
Im Übrigen bin ich dafür, dass
Karthago vernichtet wird. (Karthago war
damals der gewichtigste Konkurrent Roms
im Mittelmeerraum.)
Das war brutale Klassenmoral, aber keine
Heuchelei. Hätte Cato seine Kriegsaufforderung
mit den verlogenen Argumenten von Scharping
beim Jugoslavienkrieg oder Fischer vor dem
Irakkrieg paniert, hätten ihn die Kinder
ausgelacht. Und was haben die römischen
Kriege hinterlassen? U.a. Aquadukte und
den Weinanbau, also Menschheitskultur. Und
was hinterlassen die kapitalistischen Kriege?
Verbrannte Erde.
Der moralisch-sittliche Verfall in der Klassengesellschaft
ist eklatant.
Der Verfall hat aber noch andere Formen.
Charakteristisch ist die Spaltung in Belehrer
und Belehrte. Ob die Kirche oder die Medien,
ob der Philosoph oder der Oberlehrer, immer
sind die einen die Belehrer und die anderen
die Belehrten. Der Sieger belehrt den Besiegten,
der Reiche den Armen, der Politiker den
Wähler, die Eltern die Kinder. Selbst
im Bett geht die Spaltung weiter. Die Belehrung
und das Belehrtwerden ist eine Krankheit
der Klassengesellschaft, aber ihre Folgen
werden von keiner Wissenschaft analysiert
oder behandelt. Und um die Schande des Belehrtwerdens
nicht einzugestehen, kompensieren die Bekehrten
die Peinlichkeit, indem sie die fremde Meinung
als die eigene behaupten und die Lügen
weiterverbreiten. Auf diese Weise wird die
Meinung der Herrschenden zur herrschenden
Meinung, wie schon Marx konstatierte. Wie
sonst ist die Wahl des Kriegsverbrechers
Bush zum Präsidenten der USA zu erklären?
Eines Mannes, der nicht nur für den
dauernden Massenmord an unschuldigen Menschen
verantwortlich ist. Indem er die Vermeidung
des Klimatodes sabotiert, beschwört
er die größte Gefahr für
die gesamte Menschheit herauf. Die zunehmenden
Überschwemmungskatastrophen sind eindeutig
durch den Kapitalismus verursacht. Aber
statt den Verursacher haftbar zu machen,
werden die Sandsackträger gefeiert.
Mit Sandsäcken gegen den Kapitalismus.
Das charakterisiert den Geisteszustand der
Menschheit von heute.
Es ist ein schwerer Mangel des Marxismus,
dass er die soziale Vererbung nicht auf
ein wissenschaftliches Niveau hebt, ihre
Läuterung, Kultivierung vornimmt. Im
Besonderen ist die Ignoranz der sittlich-moralischen
Eigenschaften der Naturvölker ein schlimmes
Versäumnis. Der „Ursprung der
Familie...“ von Engels behebt dieses
Versäumnis nicht, er zementiert es
im Gegenteil.
Das dialektische Gegenstück der sozialen
Vererbung ist die historische Vorahmung.
Marx, Engels und auch Lenin haben nicht
viel über den Sozialismus bzw. Kommunismus
gesagt. Man lobt das als bescheidene Zurückhaltung.
In Wirklichkeit ist es ein schlimmer Mangel,
der ebenso schwer wiegt wie die Ignoranz
des Wesens der Naturvölker. Wenn wir
nicht wissen, woher wir kommen, wissen wir
nicht, wohin wir gehen. Ebenso gilt: Wenn
wir nicht wissen, wohin wir gehen, wissen
wir nicht, woher wir kommen.
Ohne die historische Vorahmung ist die Kultivierung
der sozialen Vererbung nicht möglich.
Das Gesetz der Negation der Negation erfasst
die Naturvölker (die Urgesellschaft)
als Position (als Ausgangsstufe), die Klassengesellschaft
als Negation und die klassenlose Zukunft
als Negation der Negation. Wenn die ersten
beiden Stufen erfasst sind, kann mit zwingender
Logik auf die dritte Stufe geschlossen werden.
Sind aber die erste und dritte Stufe nicht
erfasst, kann die zweite Stufe nur als Torso
begriffen werden. Das „Kommunistische
Manifest“ ist daher unvermeidlich
ein Torso, allerdings ein geniales.
Die beste und höchste Voraussetzung,
über unsere Gegenwart, ihre Probleme
und Fragen in Klartext zu urteilen, ist
die Verknüpfung von sozialer Vererbung
und historischer Vorahmung.
Da ich in der „Neuen Weltofferte“
(GNN Verlag Schkeuditz) eine ziemlich vollständige
Darstellung der historischen Vorahmung gegeben
habe, kann ich hier darauf verzichten. An
dieser Stelle sie nur auf eine der schönsten
Seiten der Negation der Negation hingewiesen.
Eva Lips, eine großartige Ethnologin,
konstatiert, dass die Heiterkeit die allgemeine
Grundstimmung der Naturvölker ist.
Dem Gesetz der Negation der Negation folgend
verkehrt sie sich in der Klassengesellschaft
in die Grundsehnsucht, um in höherer
Stufe wiederzukehren. Wir leben folglich
im Schnittpunkt zwischen der Heiterkeit
als Grundsehnsucht, oder anders gesagt zwischen
der Verernstung in ihrer schlimmsten Entwicklung
und der höchsten Stufe der Heiterkeit.
Diese Heiterkeit ist aber Voraussetzung,
weil Wesen der klassenlosen Gesellschaft.
Die Verernstung hat ihren höchsten
Punkt erreicht, die Brutalisierung mit der
ständigen Tendenz zum militärischen
Massenmord. Wie soll aus dieser Verernstung
die höchste Heiterkeit entstehen?
Ein einmaliges, ungeheures Dilemma der Weltgeschichte,
ein historisches Dilemma von extremen Dimensionen.
Eben das ist der Punkt, an dem wir stehen.
Begreifen wir dieses Dilemma, ist die Welt
durchschaubar, können wir Klartext
reden.
Die Klassiker des Marxismus haben nicht
nur die soziale Vererbung der Naturvölker
betreffend, nicht wahrgenommen. Ein ebenso
schwerer Mangel ist die fehlende Wahrnehmung
der historischen Vorahmung. Und daher die
fehlende Wahrnehmung des historischen Dilemmas.
Das erklärt, dass die Durchschaubarkeit
der Welt mit dem bisherigen Marxismus allein
nicht möglich ist.
Um die Aufgabe in noch gesteigerter Schwierigkeit
zu verdeutlichen, einige Konkretisierungen.
Der Zerfall des „realen Sozialismus“
hat ein trauriges Erbe hinterlassen. Da
sind einerseits die im wesentlichen dem
gescheiterten Sozialismus Verhafteten, von
mir „Altgläubige“ genannt,
und andrerseits die Opportunisten, die ich
Reformisten nenne, die vor allem mitregierungssüchtig
sind, weshalb sie alle wirkliche Opposition
tunlichst vermeiden, um nicht regierungsunfähig
zuu erscheinen.
Die Sprache der Opportunisten, der Hierarchie
der PDS, ist eine spezielle Heuchelei. Anpassung
heißt Opposition, Revisionismus heißt
Erneuerung, weniger Sozialismus heißt
mehr Sozialismus, durchlöcherte Friedenspolitik
heißt Friedenskampf usf.
Übrigens ist die Hauptkrankheit der
Linken nicht ihre Zerstrittenheit, sondern
ihre Selbstgenügsamkeit. Jeder weiß
alles besser, wozu streiten?
Klartext heißt den Punkt zu treffen,
wo es weh tut, und so weit zu gehen, dass
es weh tut. Beide Effekte sind Kriterien
des Klartextes. Und das in der Sache und
in der Person. Die Wechselwirkung zwischen
Person und Sache verlangt das.
Der Philosoph Ludwig Feuerbach sagt, wer
die Fackel der Wahrheit durch die Menge
trägt, wird manchen Bart versengen.
Richtiger ist, dass er Spießruten
läuft und von allen Seiten Haue kriegt.
Das geht mir seit 40 Jahren so, erst kürzlich
wieder in der PDS.
In einem Zeitungsartikel habe ich das Abgleiten
der PDS in die Verbürgerlichung kritisiert
und die dafür verantwortlichen Genossen
satirisch charakterisiert; so Gregor Gysi
als Eitelbeule und Lothar Bisky als Mehrwegflasche.
Das tat weh. Und prompt flog ich aus der
Partei. Nicht bessere Einsicht sondern die
Welle der Empörung, die der Rausschmiss
auslöste, bewog die höhere Schiedsinstanz,
den Rausschmiss aufzuheben. Dabei waren
Eigelbeule und Mehrwegflache noch Nettigkeiten,
gemessen an dem Schaden, den die beiden
angerichtet hatten.
Klartext verlangt manchmal auch Stehvermögen,
Mut und Voraussicht.
Die Geschichte, sagte ich, wird von Menschen
gemacht, die von der Geschichte gemacht
wurden. Da gibt es keine Ausnahme, aber
Unterschiede, beispielsweise zwischen Lenin
und Stalin. Auch Dimitroff macht keine Ausnahme,
wenn er während des Reichstagsbrandprozesses
die Alternative „Hammer oder Amboß“
sein stellt. Auch wenn er sich da auf Goethe
bezieht, mach das die Falschheit dieser
Alternative nicht besser. Die Klassenmoral,
die die Menschen in Schläger und Geschlagene
unterteilt, macht selbst hochkultivierte
Sozialisten befangen.
Da war doch die italienische Volkskomödie,
die Commendia dell’arte unbefangener.
Ihre Hymne lautete: Wir wollen sein nicht
Herr noch Knecht. Ein anderes Beispiel für
die Klassenmoral ist die Bescheidenheit.
Diesen Widersinn haben die unterdrückten
Klassen nicht erfunden. Aber ausgerechnet
sie allein sollen ihn befolgen. 3 mal 3
ist 7, sagte der Bescheidene. Und dafür
wird er auch noch gelobt. Klartext ist vielmehr,
wenn jeder das sagt, was er von sich hält,
nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Klartext setzt voraus, dass ich unbedenklich
sein kann, dass ich nicht bedenken muß,
was der andere mir aus meiner ehrlichen
Rede für eine Schlinge dreht. Leben
wir in einer Welt, wo wir unbedenklich sein
können?
Und doch ist mir unbedenklich das schönste
Wort.
Klartext ist eine hohe Kunst. Wir können
sie in dieser Welt nur mühsam erlernen.
Aber wir sollten uns immerhin bemühen.
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