Paradoxien der WeltgeschichteDer historische Materialismus gestern und heute
I. Prolog
Wenn überhaupt etwas in der Geschichte der Menschheit historische
Notwendigkeit hat, wenn überhaupt etwas von der Geschichte der Menschheit
ein menschlicher Akt, ein Akt der Menschlichkeit gewesen sein soll, dann
der Übergang von der Vorgeschichte zur eigentlichen Geschichte, die
eigentliche Revolution. Und mit ihr der Sozialismus, denn er ist der entscheidende
Akt der eigentlichen Revolution. Und der Kommunismus ist ihr letzter Akt
und die eigentliche Geschichte selbst. Als das, als zwei Akte der eigentlichen
Revolution haben beide die Würde der Vorhersehbarkeit. (Was es zu
beweisen gilt.) Also hätte auch der Zusammenbruch des Sozialismus vorhergesehen
werden können. Oder war das gar keiner? Oder ist er gar nicht zusammengebrochen?
Oder haben wir die Fähigkeit des Vorhersehens verloren? Vor lauter
blindem Glauben an die gesetzmäßige Notwendigkeit. Wieviel
Katholizismus haben die Kommunisten in sich aufgenommen? Wieviel Katholizismus
steckt im Stalinismus? An Götzen glauben, Inquisition und Hexenverfolgung.
Ist der Stalinismus nicht weniger "früher Sozialismus" als vielmehr
später Kapitalismus? Ist er nicht eine feudal-faschistische Form
der Verbürgerlichung des Sozialismus? Ist der "reale Sozialismus"
gescheiterter Beginn des wirklichen Sozialismus oder eine paradoxe Verfallsform
des Kapitalismus? Oder beides? Alle diese Fragen und dergleichen mehr sind nicht nur erlaubt, sondern
notwendig. Und sie sind mittels des Marxismus auch beantwortbar. Allerdings
nicht allein mit dem bisherigen, gefordert ist der Marxismus von heute. II. Der historische Materialismus von gestern Der historische Materialismus erforscht mittels erkannter wesentlicher
Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Geschichte weitere wesentliche
Gesetzmäßigkeiten und leitet von ihnen die Erscheinungen ab.
Der historische Materialismus ist, wie der Marxismus im ganzen, Theorie
(Weltbild) und Methode. Die wesentlichste Gesetzmäßigkeit,
die dem bisherigen historischen Materialismus zur Erforschung und Erklärung
diente, war das Verhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen,
wie es von Marx im Vorwort zur "Kritik des politischen Ökonomie"
dargestellt wird: "In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen
bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse
ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe
ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser
Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der
Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer
Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen
entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen,
politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht
das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr
gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. Auf einer
gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte
der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen
oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen,
innerhalb derer sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen
der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben
um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung
der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau
langsamer oder rascher um." Diese Erkenntnis des Verhältnisses von Produkivkräften und
Produktionsverhältnissen sowie von Basis und Überbau war die
wesentliche Handhabe, der Angelpunkt des historischen Materialismus, von
dem aus seine anderen Elemente wie die Revolutionstheorie und die Theorie
des Klassenkampfes entwickelt wurden. Und erst diese Erkenntnis, die Erkenntnis objektiver gesellschaftlicher
Gesetzmäßigkeiten machte es möglich, den Materialismus
von der Natur auf die Gesellschaft auszudehnen. Materialismus auch in
Bezug auf die Gesellschaft und die Erkenntnis objektiver Gesetze der Gesellschaft
sind ein und dasselbe. Aber mit der Erkenntnis der gesellschaftlichen
Gesetze, ihrer Objektivität wurde die menschliche Gesellschaft auch
zu einer gesonderten aparten, weil eigengesetzlichen Erscheinung. War
der Kapitalismus auf seine Weise schon eine zunehmende Absonderung von
der Natur, so wurde diese Absonderung auf seine Weise auch vom historischen
Materialismus vorgenommen. III. Die Fortsetzung des historischen Materialismus Das Gesetz der Anpassung ist das einzige Gesetz, das gleichermaßen
für die Natur wie für die Gesellschaft gilt. Allerdings setzt
das die dialektische Transformation von Darwins Gesetz auf die gesellschaftliche
Entwicklung voraus, wie ich sie mit dem "philosophischen Gesetz der Ökologie"
in der "Rotfeder" vornehme. Die Anpassung erhält, übertragen
auf die Gesellschaft, zwei grundlegende Besonderheiten. Die erste Besonderheit
besteht darin, daß der Mensch sich der Natur anpaßt, indem
er die Natur sich anpaßt. Wenn das Tier im Winter eine Ortsveränderung
in wärmere Zonen vornimmt oder sich einen Winterpelz wachsen läßt,
zieht der Mensch einen Mantel über oder heizt die Wohnung ein. Das
Tier verändert sich, der Mensch verändert seine Umwelt. Die
zweite Besonderheit, ohne die es die erste nicht gäbe, besteht darin,
daß der Mensch sich mittels seiner gesellschaftlichen Organisation
der Natur anpaßt. Von den Produktionsinstrumenten und Produktionsverhältnissen,
den Klassenstrukturen über den Staat, Justiz usw. bis zu den Wissenschaften,
Moral, Kultur ist ihm die gesellschaftliche Organisation Organ der Anpassung
und bestimmt deren Form. Die Anpassung der Natur an den Menschen ist und
bleibt jedoch immer Anpassung des Menschen an die Natur. Wir ziehen den
Mantel im Winter an und nicht im Sommer. Wir tun, was immer wir auch tun,
abhängig vom Klima, von den Jahreszeiten, von den Tageszeiten, von
Tag und Nacht. Wir können nichts ausrichten ohne den Stoff der Natur
(Holz, Kohle, Wasser, Wind, Sonne usw.). Kurz: Wir können, so sehr
wir sie auch verwandeln, nur das Material der Natur verwandeln, und immer
nur nach den Gesetzen der Natur. Während der Leser diese Zeilen liest,
liest er sie auf aus der Natur gewonnenem Papier, er sitzt auf dem Stuhl
oder liegt im Bett, deren Material aus der Natur gewonnen wurde. Und er
wohnt in einem Haus, das in allen seinen Teilen aus der Natur gewonnen
wurde. Und er paßt sich unentwegt den Gesetzen der Natur an, beispielsweise
dem Gesetz der Schwerkraft. Selbst wenn er die Treppe hinabfällt,
folgt er dem Gesetz der Natur. Diese beiden Besonderheiten, die Anpassung des Menschen an die Natur
in Form der Anpassung der Natur an den Menschen und die gesellschaftliche
Organisation als Organ der Anpassung zu erkennen war Voraussetzung, um
die Anpassung als das für Natur und Gesellschaft gleichermaßen
gültige Gesetz zu begreifen. Die Einheit von Mensch und Natur kann
damit endlich per objektivem Gesetz, als ein und für alle mal gültig
und befriedigend begriffen werden. Der Mensch wird wieder zu einem "Kind
der Natur", zu einem Teil der allumfassenden Unendlichkeit. Jetzt aber kann auch die Rangordnung, die Systemstruktur innerhalb des
historischen Materialismus hergestellt werden. Trotz ihrer hohen Eigengesetzlichkeit
sind die spezifischen Gesetze der Gesellschaft (die Naturgesetze der Gesellschaft,
wie Marx sie nannte) Gesetze zweiter Ordnung: sie sind Gesetze der gesellschaftlichen
Organisation des Menschen. Also Gesetze des Organs der Anpassung. Und
als das sind sie Funktionen des Gesetzes erster Ordnung. Mit anderen Worten:
Die Naturgesetze der Gesellschaft werden zu Funktionen eines Gesetzes
der Natur. Das hat tiefgreifende Konsequenzen: Das Gesetz der Übereinstimmung von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen
als Gesetz zweiter Ordnung wird in dem Gesetz der Übereinstimmung
von Mensch und Natur als dem Gesetz erster Ordnung aufgehoben. Das eine
wird zu einer Funktion des anderen, die Verletzung des einen wird zur
Verletzung des anderen. Zugleich verleihen die spezifischen Gesetze, die
Gesetze zweiter Ordnung, wie sie uns im Marxismus gegeben sind, der Anpassung
als Gesetz erster Ordnung ihre historische Form. Aber auch ihre Problematik.
Sie sind die Entwicklungsgesetze des Organs der Anpassung. Und indem die
Anpassung die gesellschaftliche Organisation zu ihrem Organ macht, macht
sie die Gesellschaftsordnungen zu ihrer Funktion. Im Besonderen gibt sie
dem Übergang von der Vorgeschichte zur eigentlichen Geschichte, der
eigentlichen Revolution, den tieferen Sinn. Kapitalismus und Sozialismus
müssen in ihrer historischen Position jetzt an einem allgemeineren,
höheren Gesetz gemessen werden. Das hat auch eine andere Wesensbestimmung
des Sozialismus zur Folge. Vom niederen Zweck wird er zum höheren
Mittel. Rigoros gesagt ist der Marxismus eine zweifache Mißgeburt. Auf
der einen Seite fehlt der Mensch, auf der anderen die Natur: Im Sinne
der Verbindung und Vermittlung beider. Der Marxismus ist ein Schmalspurgebilde.
Wogegen die Mitte, der ökonomische Leib, ungeheuer übergewichtig
ist. An dem Vorhaben, nach Marxens Tod diesen Korpus verwertbar zu machen,
ist selbst Engels in die Knie gegangen. Und dabei fehlt noch ein wesentliches
Element, nämlich die Universalgeschichte der Ökonomie, die uns
nötiger als alle andere Politische Ökonomie ist. Wer nun aber
glaubt, diese doppelte Mißgeburt aufs Kreuz legen zu können,
wird sich nur eine blutige Nase holen. Denn in dieser Mißgeburt
(auf andere Art ist noch nie eine Wissenschaft in die Welt gekommen) stecken
alle Kriterien, Ansätze und Voraussetzungen, alle methodischen Hilfsmittel
der Korrektur, Ergänzung und Erweiterung. Vor allem aber der Fortsetzung.
Der Marxismus kann nicht widerlegt, er kann nur fortgesetzt werden. Mein Beitrag zur Fortsetzung des Marxismus besteht nach der menschlichen
Seite hin hauptsächlich in dem "Prinzip Gleichheit". Hier erhält
der marxistische Humanismus sein absolutes Kriterium. Die Fortsetzung
des Marxismus nach der Seite der Natur nehme ich vor allem mit dem "philosophischen
Gesetz der Ökologie" vor. Der hohe Stellenwert, den das Verhältnis
von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen durch Marx
erhalten hatte, versperrte die Erkenntnis dieses Verhältnisses in
seiner Funktion als Mittel zum Zwecke der übergeordneten Anpassung.
Und es verführte Lenin zu seinem Irrtum, die Überlegenheit des
Sozialismus über den Kapitalismus in der höheren Arbeitsproduktivität
zu sehen. Wie Freund und Feind sehen müssen, ist der Sozialismus mächtig
schiefgelaufen. Wer hat sich da geirrt? Die Geschichte? Oder wir, und
mit uns die Theorie? Oder beide? Das gilt es zu klären, aufzuklären.
Eines aber sei schon hier vermerkt. Die Theorie trägt die wenigste
Schuld. Schließlich hatte sie am wenigsten zu sagen. Das war eine
Hauptschuld. Der Politik. Aber für den Fall, daß die Theorie
einmal mehr zu sagen hat: Der historische Materialismus kann nur als fortgesetzter,
als vom gestrigen zum heutigen fortgeschriebener seinen Sinn erfüllen.
Das heißt, wir müssen das Verhältnis von Produktivkräften
und Produktionsverhältnissen als Funktion der Anpassung begreifen
und auf die Weise den historischen Materialismus auf eine höhere
Stufe heben. Damit befreien wir den Sozialismus von der Verdammnis, eine
überlegene Arbeitsproduktivität realisieren zu müssen und
heben ihn auf die Stufe der menschlichen Überlegenheit, indem er
die Einheit von Mensch und Natur verwirklicht. IV. Unsere Geschichte ist nicht stubenrein Die zweite Stufe der Negation der Negation, die Stufe der Negation, ist
gewöhnlich die unreinlichste. Das trifft voll und ganz auch auf die
zweite Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung, auf die Klassengesellschaft
zu. Solange die Gesetze ZWEITER Ordnung sich nicht mit dem Gesetz erster
Ordnung anlegen, haben sie Narrenfreiheit, auch gegen sich selber. Mit
der Klassengesellschaft durchläuft die Menschheit ihre Flegeljahre.
Da sind Bocksprünge, Rösselsprünge, Purzelbäume und
Bruchlandungen die beliebtesten Arten der Fortbewegung. Oder anders gesagt:
Die Geschichte irrt sich dauernd. Oder mit Marx gesagt: Die Gesetze setzen
sich durch, indem sie sich nicht durchsetzen. (Marx meinte im speziellen
das Wertgesetz, das sich in der Summe durchsetzt, indem der konkrete Preis
der Ware drumherum tanzt.) Oder noch anders gesagt: Die Notwendigkeit
nimmt die Form des Zufalls an. Und noch einmal mit Marx gesagt: Wenn Gesetz
und Erscheinung identisch wären, bräuchte es keine Wissenschaft.
Nun sind aber Wesen und Erscheinung nie identisch, mithin erscheint die
Geschichte nur als Irrtum. Wobei "irren" nicht buchstäblich zu verstehen
ist, wie, wenn ich sage: die Sonne meint es wieder mal gut, ich "meinen"
ja auch nicht buchstäblich meine. (Der dialektische Gegensatz zwischen Erscheinung und Gesetz macht aber
auch einen Unterschied in der moralischen Bewertung aus. Stalin auf die
Geschichte als Erscheinung bezogen ist ein Massenmörder, auf die
Geschichte als Gesetz bezogen ist er ein Irrtum.) Die menschliche Geschichte besteht haufenweise aus Irrtümern, auch
Fehlversuche nennbar, wie auch die Natur aus unzähligen Fehlversuchen
besteht. Und wenn nicht alles täuscht, ist die Frage noch offen,
ob nicht die Menschheit als ganze ein Fehlversuch ist. Ein Irrtum der
Natur. Ihre natürlichen Existenzbedingungen jedenfalls sind mehr
gefährdet als gesichert. Was kommt es da schon auf einen Fehlversuch
im Detail an? War ein Detail wie die Oktoberrevolution, wenn sie ein Irrtum
war, ein Irrtum in der Zeit oder im Ort oder in der Art und Weise? Jedenfalls
ist es unerlaubt, ja töricht, der Geschichte einen Sinn und Verlauf
abzuverlangen, der unseren liebgewordenen, aber simplen Wunschvorstellungen
entspricht. Umgekehrt sollte öfter einmal gefragt werden, ob ihr
Verlauf nicht eine Häufung von Irrtümern sei. Das eine Ereignis
kommt zu früh, das andere zu spät, manches kommt ganz überflüssigerweise
und manches überhaupt nicht. Die Geschichte irrt sich dauernd. Selbst
als Weltgeschichte kann sie über einen Kieselstein stolpern und vom
Wege abkommen, die Notwendigkeit über einen Zufall, ob der nun Napoleon
heißt oder Stalin oder Müller, und es kann Jahrzehnte dauern
und länger, bis sie auf ihren Weg zurückfindet. Das Wirken positiver
wie negativer Persönlichkeiten, aber auch das Fehlen der richtigen
Persönlichkeit kann von historischem Belang sein. Ohne Lenin wäre
die Oktoberrevolution mit Sicherheit gekippt und ein ungeheuer wichtiger
historischer Erfahrungsschatz wäre nicht gewonnen worden. Die Geschichte
ist nicht nur nach vorne offen, sondern auch nach der Seite und (in Maßen)
auch nach hinten. Der Irrtum ist der Umweg der Geschichte. Und die Geschichte
liebt die Umwege. Aber ebenso gilt: Der Irrtum ist der Pionier der Wahrheit. Im Neuen Deutschland vom 3.11.1997 berichtet, wie bestellt, Martin Koch,
daß die Philosophin Anneliese Griese in ihren jüngsten Marxstudien
zu folgendem aufschlußreichen Ergebnis kommt: "Es fällt auf)
daß Marx zwischen 1870 und 1883 besonders jene naturwissenschaftlichen
Theorien studierte, die den Keim der Zerstörung in das klassische
Weltbild hineintrugen: die Darwinsche Evolutionslehre und die mechanische
Wärmetheorie. "Mit ihrem Gesetzesbegriff", kommentiert Koch, "der
viel Platz für Zufälle und Unbestimmtheiten ließ, revidierten
diese Theorien den klassischen Determinismus. Heute weiß man, nicht
zuletzt nach den jüngsten historischen Erfahrungen, daß Geschichte
kein streng determinierter Prozeß ist, sondern chaotische Phasen
durchläuft, die zuweilen unvorhersehbare Resultate zeitigen. Ahnte
Marx die sich damals bereits abzeichnende umwälzende Revolution in
den Wissenschaften? Und wollte er sein Konzept von sozialer Entwicklung
aufgrund der neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse überdenken? Wenn
es solche Pläne gab, resümiert Griese, müsse man davon
ausgehen, daß Marx ein unvollendetes Werk hinterließ, das
offen für weitere Entwicklungen sei." Da nun geht Frau Griese fehl,
denn Marxens Werk ist auch ohne dergleichen Pläne für weitere
Entwicklungen offen. Die Geschichte irrt nicht nur dauernd, die Irrtümer der Geschichte
sind auch objektive Wirklichkeit. Die griechisch-römische Sklavenhaltergesellschaft
war vermutlich ihr größter Irrtum, sie war zu früh gekommener
Kapitalismus. Eben daran ist sie zugrunde gegangen. Die Geschichte hatte
sich an ihr übernommen. Zu früh gekommener Kapitalismus konnte
natürlich kein ganz richtiger Kapitalismus sein. Aber für die
gegebenen Voraussetzungen war er doch zuviel Kapitalismus. Wie aber kann
ein verfrühter Kapitalismus, ein Irrtum der Geschichte, das mächtigste
Weltreich werden? (Und für einige Historiker war er sogar besser
als der wirkliche und könnte diesem in manchem Vorbild sein. Und
tatsächlich hat der bürgerliche Code Napoleon aus dem römischen
Recht mehr aufgenommen als aus dem feudalen Recht.) Für den Übergang der Urgesellschaft in die Klassengesellschaft
ist weltweit der Feudalismus typisch, so typisch, wie weltweit die Halmfrucht
(Reis, Mais, Weizen etc.) typisch ist und nicht die Kartoffel. Ein Feudalismus
allerdings häufig mit einer beträchtlichen Beigabe von Sklaverei,
wie ja auch der Kapitalismus häufig diese Beigabe hat. Und wenn die Sklavenhaltergesellschaft oder die Oktoberrevolution ein
Irrtum waren, so waren sie doch auch kostbare Perlen der Geschichte, ohne
die es keine Geschichte gibt. Und wer kann schon sagen, ob die Geschichte
mit dem Untergang des Sozialismus nicht einen Irrtum begangen hat? Und
wenn es auch nur der "reale" war. Über allem aber gilt: Die Menschheit entwickelt sich nur nach verbindlichen
Gesetzen, selbst ihre Irrtümer haben gesetzliche Kausalität
und sind nicht beliebig. Das heißt aber nicht, daß die Geschichte
sich unvermeidlich entwickelt. Das heißt nur, daß sie sich
allein nach diesen Gesetzen und nicht willkürlich entwickeln und
irren kann. Sie kann es aber auch bleiben lassen und sich mit der Verfehlung
der Gesetze aus der Welt verabschieden. Das ist ein "natürlicher"
Vorgang und hat in der Naturgeschichte mehr Beispiele, als uns lieb sein
kann. V. Die eigentliche Revolution Zur eigentlichen Revolution gehören erstens der Prozeß der
partiellen, gescheiterten oder zeitweilig gelungenen sozialistischen Revolutionen
und die verschiedenen Formen des gescheiterten Sozialismus, zweitens der
gelungene Sozialismus und drittens die Herstellung des Kommunismus. Danach
beginnt die eigentliche Geschichte. Ohne diesen umfassenden Begriff von
der eigentlichen Revolution würde der Fehler der Oktoberrevolution,
die Geschichte zu unterfordern, wiederholt. Statt der Marxschen "sozialen
Revolution" geht es um die totale Revolution. Der Übergang zur eigentlichen Geschichte, die eigentliche Revolution,
ist ein Vorgang, über dessen Dimensionen wir uns noch keine Vorstellungen
gemacht haben, aber alsbald machen sollten. Dieser Übergang ist nicht
nur die totale Umwälzung aller bisherigen Geschichte. Er ist auch
ein historischer Neubeginn, der als Negation der Negation einen dialektischen
Inhalt und dialektische Vielfalt enthält. Der Zeitraum, in dem der
Affe zum Menschen wurde, die Menschwerdung ist binnen weniger Jahrzehnte
von hunderttausend Jahren auf fünfhunderttausend und schließlich
auf eine Million Jahre, also um das Zehnfache verlängert worden.
Die Datierung des Zeitraums, in dem wir von der Vorgeschichte zur eigentlichen
Geschichte übergehen, hat das gleiche Schicksal. Das römische
Reich brauchte 300 Jahre, um unterzugehen. Der Kapitalismus, die Klassengesellschaft
ist aber mehr als nur ein Reich. Wieviele Jahrhunderte wird der Untergang
dieser Gesellschaft brauchen? Und wieviele Jahrhunderte wird die Errichtung
der eigentlichen Geschichte brauchen, auch wenn das eine und das andere
teilweise in einem ablaufen? Mehr als 300 Jahre? Und die andere Frage
ist, ob uns die Umweltzerstörung die Zeit läßt. Ein Teil
der Fachleute sagt uns einen baldigen Kollaps voraus, der andere Teil
ein langes Siechtum. Bewiesen ist weder das eine noch das andere. Der Weg zum Sozialismus hat (im Unterschied zum Sozialismus selbst) keine
gesetzmäßige Vorhersehbarkeit. Das betrifft zunächst schon
die zeitlichen Dimensionen. Sie werden durch den Inhalt, die Probleme,
die Aufgaben etc. bestimmt. Im philosphischen Gesetz der Ökologie finden wir das Kriterium des
Übergangs von der Vorgeschichte zur eigentlichen Geschichte der Menschheit.
Alle bisherigen Kriterien wie die Aufhebung der Klassen sind jetzt nur
noch Mittel zum Zweck. Die eigentliche Geschichte beginnt und die eigentliche
Revolution ist vollendet, wo das Gesetz der Anpassung ein und für
allemal als Gesetz erster Ordnung verwirklicht wird. Mit anderen Worten:
Der Übergang von der Vorgeschichte zur eigentlichen Geschichte besteht
darin, die Gesellschaft ein und für allemal als Organ der Anpassung
einzurichten. Ohne daß deshalb die Eigengesetzlichkeit und die eigenen
Bedürfnisse der menschlichen Gesellschaft außer Kraft gesetzt
werden. Die Frage der Arbeitsproduktivität steht im Unterschied zu
Marx und Lenin jetzt allerdings an zweiter Stelle, was nicht heißt,
daß sie nicht zufriedenstellend gelöst wird. Im Gegenteil ist
sie jetzt erst lösbar. Die unaufhaltsame Vernichtung unserer natürlichen Umwelt markiert
den Eintritt des Kapitalismus in sein letztes Stadium, wo er mit der Untergrabung
der Existenzgrundlage der Menschheit seine eigene Existenz untergräbt.
Das Gesetz der Anpassung wird zum Scharfrichter des Kapitalismus: Die
Frage steht jetzt nicht mehr, wo es sich besser lebt, sondern wo es sich
überlebt. Die Anpassung ist die Wasserscheide zwischen der Vorgeschichte
der Menschheit und ihrer eigentlichen Geschichte. Sie ist das absolute
Kriterium dafür, ob die Menschheit Opfer ihrer Verhältnisse
wird oder ob sie frei über ihre Verhältnisse verfügt. Im skrupellosen Konkurrenzkampf ist dem Kapitalisten sein Überleben
wichtiger als das Überleben der Menschheit. Eine solche Konstellation
ist grundsätzlich neu ins unserer Geschichte. Dem Kapitalisten ist
das Hemd näher als der Rock, das Heute ist ihm wichtiger als das
Morgen, das eigene ökonomische Überleben wichtiger als das physische
Überleben aller. Die Hoffnung, daß im Kapitalismus ihm eigene
Kräfte der Rettung liegen, ist absolut trügerisch. Um im Geschäft
zu bleiben, um zu überleben muß der Kapitalist konkurrenzfähig
sein. Wer das durch umweltfreundliche Geschäftsführung einbüßt,
ist des Todes. Die Konkurrenz hat der Kapitalismus groß gemacht,
und sie vernichtet ihn. Die Frage ist nicht, ob der Sozialismus kommt, sondern ob er rechtzeitig
und unter welchen Bedingungen er kommt. Da der Kapitalismus unfähig
ist, dem Gesetz der Anpassung zu genügen, kann nur der wirkliche
Sozialismus die Alternative sein. Ein anderer Schluß bleibt nicht
übrig. Eine Menschheit, die überleben will, muß, ob sie
will oder nicht, früher oder später zu diesem Schlusse kommen.
Wenn nicht anders, wird sie dahin geprügelt werden. Die Reduzierung
der natürlichen Lebensbedingungen, verbunden mit der sozialen Krise,
ist ein Prozeß, in dessen Verlauf die Menschheit immer schmerzlichere
und schließlich unerträgliche körperliche und seelische
Schäden erleiden wird. Der Absturz auf das Niveau des Höhlenmenschen
ist da noch die freundlichste Aussicht. Die Prügel, die uns die geschändete
Natur verabfolgen wird, werden schon den nötigen Willen befördern,
die richtige Alternative zu ergreifen, da kann kein Zweifel sein. So unangenehm
die Prügel auch sein werden, so sind sie doch unsere sichere Hoffnung. Die Realisierung des Gesetzes der Anpassung als natürliche Freiheit
setzt die Realisierung der sozialen Freiheit voraus. Mit anderen Worten:
Das Gesetz der Anpassung bestimmt, welche Art von Gesellschaft nötig
ist, um die Anpassung zu verwirklichen. Das ist neu in der menschlichen
Geschichte. Bisher hat die gesellschaftliche Organisation zwar der Anpassung
als Organ gedient und als das deren Form bedingt, jetzt aber bedingt die
Anpassung die gesellschaftliche Organisation als freie Gesellschaft. Wir müssen unsere Vorstellungen vom Übergang der einen Gesellschaft
in die andere grundlegend ändern. Die Gesellschaft muß als
Organ der Anpassung eingerichtet werden, angefangen von der Art des Eigentums,
der Produktionsweise über die Produktionsstrukturen und ökonomischen
Wertsetzungen bis zum Verhältnis von Erster und Dritter Welt. Das
Gesetz der Anpassung verlangt die Gesellschaft als funktionsfähiges
Organ der Anpassung. Und nur eine Gesellschaft, die diese Funktion erfüllt,
kann sozialistisch und schließlich kommunistisch genannt werden.
Der Übergang zur eigentlichen Geschichte verdankt seine ungeheure
historische Größe nicht nur der Umwälzung aller Vorgeschichte,
womit diese in kulminierter Weise aufgerührt wird (im Guten wie im
Schlechten), sondern noch mehr der Notwendigkeit, sich auf die Höhe
der eigentlichen Geschichte zu schwingen, was von Zwergen verlangt, Gulliver
zu sein. Der Übergang von der Vorgeschichte zur eigentlichen Geschichte
ist ein einmaliges Geschehnis in der Menschheitsentwicklung, vor dem alle
bisherigen Revolutionen auf Zwergenmaß schrumpfen. Jedenfalls müssen
wir lernen, in anderen Größenordnungen und in anderen Zeiträumen
zu denken und zu handeln. Die Notwendigkeit der Beseitigung des Kapitalismus und die Möglichkeit
seiner Beseitigung sind zwei völlig verschiedene Dinge. Die Notwendigkeit
besteht schon lange, mindestens seitdem er durch Weltkriege, Völkermord,
Atomwaffenpolitik, jährliche Millionen Hungertode und die Umweltzerstörungen
das Fortleben des Menschen als Gattung in Frage stellt. Das physische
wie das sittliche. Das verurteilt den Kapitalismus mehrfach zum Tode.
Ungewiß ist nur der Zeitpunkt, an dem das Urteil vollstreckt wird:
Und je mehr man die Möglichkeit, den Zeitpunkt bestimmen zu können,
als Problem in den Vordergrund stellt, desto mehr stellt man die Notwendigkeit,
das Urteil zu vollstrecken, in den Hintergrund. Jedenfalls kommt der Sozialismus
früher als das Jüngste Gericht. Ein anderer Irrtum ist es, den Sozialismus auf demokratische Weise erreichen
zu wollen. Als wenn die Bluthunde Noske, Franco, Pinochet u. a. nicht
Wegzeichen genug wären. Die Opfer der Pariser Kommune, der Oktoberrevolution
und der Revolution der Sandinisten, die Napalmverbrannten in Vietnam und
die Tretminenkrüppel in Angola machen deutlich, welche Demokratie
der Kapitalismus den Sozialisten genehmigt. Die Frage, kam der Sozialismus in Rußland zu früh oder wäre
er wo anders glücklicher gewesen ist klar beantwortbar: Der Sozialismus
ist bei den ersten Versuchen nie reif, er kommt immer zu früh. Deshalb
braucht er mehrere Anläufe, und welcher der glückliche ist,
kann vorher keiner sagen. Jedenfalls sollte man dem Land oder den Ländern,
die nach der dummerweise ungeplanten Niederlage als erste wieder den Sozialismus
wagen, Rabatt einräumen. VI. Auch die Vorgeschichte hat einmal ein Ende Wenn die Vorgeschichte schon voller Irrtümer ist, so ist es der
Übergang zur eigentlichen Geschichte noch mehr. Er könnte die
Komödie der Irrungen genannt werden. Oder ebenso sehr die Tragödie
der Irrungen. Ich rede von der Zeit, in der wir leben. 1. Nach wie vor umstritten ist die Frage, ob der Kapitalismus von selber
untergeht (einen ökonomischen Kollaps erleidet), oder nur durch die
sozialistische Revolution aus der Welt geschafft werden kann. Diese Frage
wurde und wird, ob so oder so, klar und glatt beantwortet. Aber beide
Antworten sind verkehrt. Nehmen wir nur die Sowjetunion. Sie war 70 Jahre
Sozialismus, wenn auch mehr schlecht als recht. Und wenn sie auch gescheitert
ist, hat der Kapitalismus 70 Jahre verloren, die er nicht wieder aufholen
kann. Wenn die Welt voll solcher scheiternden Sozialismusse wäre,
gäbe es keinen Kapitalismus mehr. Aber die Sache ist noch vertrakter.
Die Menschheit wird, um mit Marx zu sprechen, "die alte Scheiße"
nicht so schnell los, oder um es höflicher zu sagen: Die Geschichte
wird von Menschen gemacht, die von der Geschichte gemacht wurden. Und
obendrein wird nicht nur der Weg zum Sozialismus vom Kapitalismus bestimmt,
sondern mehr oder weniger auch der Sozialismus selber. Der Stalinismus
war unter anderem eine Übernahme des Faschismus, also einer Verfallserscheinung
des Kapitalismus, als Herrschaftsmethode. Dergleichen Verbürgerlichungen
des Sozialismus hatten wir in Günter Mittags auf den kapitalistischen
Tauschwert orientierter Ökonomie. Und diese Verbürgerlichungen
fanden ihren Abschluß in Gorbatschow. In diesen paradoxen Formen
haben wir einen Verfall des Kapitalismus als "realer Sozialismus". Einige
Altkommunisten meinen immer noch, der Zweck heiligt die Mittel. Aber die
bürgerlichen Mittel, primär der Stalinismus, haben den sozialistischen
Zweck verdorben. Der Verfall des Kapitalismus muß in Wechselwirkung
mit dem revolutionären Prozeß gesehen werden, wie auch umgekehrt.
Und manchmal weiß man nicht, was was ist, z. B. die beiden
Weltkriege in ihren unterschiedlichen, gegensätzlichen Folgen. Der Kapitalismus hat aber auch direkte, ihm eigene Verfallserscheinungen.
Auch hier treibt die Dialektik ihr Spiel. Die Demokratie, ihrer "Natur"
nach politische Form der Freiheit, wird zunehmend deren Wolf. Allein die
zunehmende Bürokratisierung der Demokratie paralysiert die Freiheit
oder frißt sie auf. Nehmen wir nur die Wahlen und den bürgerlichen
Parlamentarismus. Gelobt als höchster Ausdruck der Demokratie wird
in beiden die Freiheit zu Grabe getragen. Und der tendenzielle Fall der
Durchschnittsprofitrate, oder anders gesagt, der Rückgang der Verwertungsbedingungen
des Kapitals, nicht nur der objektiven "natürlichen", sondern vor
allem der Rückgang der systemimmanenten Verwertungsbedingungen ist
eine markante Verfallserscheinung des Kapitalismus. Als nur äußerer
Beleg sei hier die katastrophale Vergeudung von Arbeitsvermögen und
die zunehmende Unverwertbarkeit Afrikas genannt. Eine interessante Form des Verfalls ist die Übernahme sozialistischer,
d. h. dem Kapitalismus ungemäßer Aufgaben. Wäre es
nach wirklichem Sozialismus gegangen, hätte der Rat für gegenseitige
Wirtschaftshilfe längst eine internationale sozialistische Währung
eingeführt haben müssen: Mit der Zielstellung sozialistischer
Gebrauchswerte. Nun muß es der Kapitalismus machen: Mit der Zielstellung
des Geldes als höchstem Gebrauchswert. Da sägt er an dem Ast,
auf dem er sitzt. 2. Der Stoff, aus dem der Sozialismus gemacht wird, ist die Welt von
heute, ein Stoff, wie er in seiner Masse von Unvereinbarkeiten, chaotischen
Entwicklungen, historisch bedingten drastischen Unterschieden, aktuell
politisch bedingten Antagonismen nicht unbewältigbarer sein kann.
Denken wir nur an die heillosen Widersprüche in Afrika, die Zuspitzung
der sozialen und ökologischen Krise des späten Kapitalismus
und die Folgen in der Dritten Welt. Unvorhersehbar und unwägbar,
wie uns die gegenwärtigen wissenschaftlich-technischen Entwicklungen
überwältigt haben und noch überwältigen, werden neue
Entwicklungen über uns kommen, deren ökonomische, ökologische,
politische, kulturelle und andere Folgen ungeahnte Dimensionen haben können.
Der Sozialismus kann nur aus dem Stoff gemacht werden, den ihm die Geschichte
liefert, auch aus dem, der uns vom "realen Sozialismus" geliefert wurde
und wird. Da haben wir unschätzbare Erfahrungen, aber auch unübersehbare
Probleme. Denken wir nur an den amputierten und verqueren Sozialismus
in China (ein "realer Sozialismus" hoch 2). Als Beispiel, wie "real" der
Sozialismus dort ist, seien nur genannt die Hunderte von Demonstrationen
entlassener Arbeiter, die unablässige Zunahme der unsozialistischen
sozialen Polarisierung, die für einen sozialistischen Staat abenteuerliche
Wirtschafts- und Außenpolitik. Und wie sollen die verbliebenen vier
sozialistischen Staaten, wenn wir Nordkorea pikanter Weise für einen
sozialistischen Staat nehmen wollen, eine gemeinsame Abteilung der eigentlichen
Revolution werden? Von den Gemeinsamkeiten der sozialistisch/kommunistischen
Parteien ganz zu schweigen, deren einzige Gemeinsamkeit mit wenigen Ausnahmen
darin besteht, das sozialistische Kuba wie eine heiße Kartoffel
anzufassen. Ein Kuriosum haben wir in dem Verhältnis von Produktivkräften
und Produktionsverhältnissen während der eigentlichen Revolution,
indem dieses Verhältnis ausgerechnet an seinem Krisenpunkt verrückt
spielt. Statt die ihm nach- oder vorhergesagte Entfesselung der Produktivkräfte
zu verwirklichen, versagt der Sozialismus im Vergleich mit dem Kapitalismus
gerade darin. Weil er sich auf einen verkehrten Vergleich eingelassen
hat. Und wo er in den Produktivkräften nicht versagt, versagt er
in der Verwirklichung sozialistischer Produktionsverhältnisse. Wie soll dieses gewaltige Durcheinander von Welt in die Reihe gebracht
und als Welt gerettet werden? Und wo sind die rettenden Kräfte? Wie
müssen sie sich entwickeln, um stark genug zu werden, und wie oft
müssen sie auf die Nase fallen, um klug genug zu werden? Eine gescheiterte
Oktoberrevolution reicht da nicht aus. Eine allen verständliche und zugängliche Information über
die Moral der Niederlage des Sozialismus wäre das mindeste. Und wenn
sie nur erklärt und glaubhaft machte, daß ein Scheitern des
ersten Versuchs nicht ein Scheitern des Sozialismus überhaupt ist.
Wenn ein Kind bei seinen ersten Schritten ins Leben hinfällt, kann
man sagen, es ist gefallen, aber die tiefere Wahrheit ist, daß es
das Laufen lernt. Statt zu sagen, daß der Sozialismus gescheitert
ist, sollten wir also besser sagen, daß die eigentliche Revolution
das Laufen lernt. Die Arbeiterklasse ist östlicherseits fetischisiert und westlicherseits
korrumpiert. Sie hat trotz siebzig Jahren Sozialismus kein Eigentumsverhältnis
zu den Produktionsmitteln erworben. Bitteres Zeugnis war die Selbstverständlichkeit,
mit der sie sich ihr Eigentum, die Fabriken hat wegnehmen lassen. Da sind
die Alteigentümer, obwohl sie doch einen geringerwertigen Anspruch
haben, in ihrem Besitzerbewußtsein geradezu vorbildlich. Ein anderes
Zeugnis der Entmannung der Arbeiterklasse respektive ihrer noch nicht
gewonnenen Reife ist es, daß sie in der Sowjetunion eine Partei
geduldet hat, die den vergötzten Massenmörder Stalin geduldet
hat, daß sie ebenda eine Partei geduldet hat, die den bei lebendigem
Leibe Leichengestank verbreitenden Breschnew geduldet hat, daß sie
eine Partei geduldet hat, die den sich selbst unterbietenden Räumungsverkäufer
Gorbatschow geduldet hat. Die Arbeiterklasse hat keine Vorstellung vom Wesen und den Formen sozialistischer
Demokratie gewonnen. Sie weiß nichts über ihre quantitative
Stärke weltweit und über ihre Kampffähigkeit in den verschiedenen
Regionen unserer Welt. Sie ist in der ungeheuerlichsten Weise unwissend
und ungebildet. Und eine orientierende und organisierende internationale
Institution ist nicht in Sicht. Wie kann da was werden? Sind das sozialistische
Parteien, die das sehen und nichts dagegen tun? 3. Wir werden niemals vor der Wiederholung alter und der Produktion neuer
Fehler gefeit sein. Dafür sorgt schon der eklatante Mangel an der
sogenannten sozialen Vererbung. Alle bisherige Politik, egal welcher Couleur,
ist von einer schrecklichen Einseitigkeit und Kurzsichtigkeit, als lebten
wir in ungeheurer Zeitnot und könnten es uns nicht leisten, nach
rechts und links zu gucken und schon gar nicht nach unserem Herkommen.
Für den Kapitalismus ist das charakteristisch, für den Sozialismus
ist es tödlich. Der vieldimensionale Erfahrungsschatz der Geschichte
wird, statt ihn sinnvoll zu verwerten, je nach politischem Kalkül
entweder verschwiegen, verfälscht oder nach momentanem Bedarf aus
seinem Zusammenhang gerissen und manipuliert. (Auch wenn der Sozialismus
entschieden weniger manipuliert als der Kapitalismus, manipulieren tun
sie beide.) Damit ist aber auch die hochwichtige Ergänzung der sozialen
Vererbung, die vergleichende Völkerkunde, faktisch amputiert und
akademisch sinnentleert. Der Mangel an sozialer Vererbung und vergleichender Völkerkunde
ist mitverantwortlich dafür, daß der "reale Sozialismus" in
selbstmörderischem Umfange Falsches übernommen und Richtiges
nicht übernommen hat. Das Gesetz der Negation der Negation hatte
für ihn keine Gültigkeit. Welcher Sozialist weiß schon,
daß bei den Wenden, die Jahrhunderte lang große Teile Deutschlands
bewohnten, verweigertes Gastrecht mit dem Tode bestraft wurde? Eine Folge ahistorischer Kurzsichtigkeit ist die sklavische Übernahme
der bürgerlichen Wahlen in den Sozialismus. Und wenn das Ärger
macht, werden sie zum durchsichtigen Affentheater degradiert, was noch
ärgerlicher ist. Statt ein eigenes Verfahren der qualifizierten Auswahl
für die verschiedenen Aufgaben zu entwickeln, macht man sich lieber
mit einer bürgerlichen Larve lächerlich. Und im Kapitalismus
nehmen die Sozialisten oder richtiger die Reformisten die Wahlen noch
wichtiger. Die Frage, ob beim nächsten Versuch die sozialistische Revolution
(immer verstanden als Etappe der eigentlichen Revolution) statt von der
Peripherie des Kapitalismus nicht besser von seinem Zentrum ausgehen sollte,
ist aus zwei Gründen dumm. Erstens richtet sich die Wirklichkeit
nicht nach unserer Erkenntnis über den besseren Ausgangspunkt, und
zweitens muß der Prozeß ohnehin das Zentrum einschließen,
ob zu Beginn oder am Schluß. Der Weg zum Sozialismus und dieser selbst sind erste Etappen zur eigentlichen
Geschichte und Verfall der Vorgeschichte in einem. Die Sklavenhaltergesellschaft
in Europa hat als zu früh gekommener Kapitalismus die Geschichte
überfordert. Daran ist sie gescheitert. Die Oktoberrevolution (samt
"sozialistischem Weltsystem") ist umgekehrt daran gescheitert, daß
sie die Geschichte unterfordert hat. Sie wurde betrachtet und gemacht
als eine Art Palastrevolution. Hat man erst einmal die Macht erobert,
wird sie zum Endziel, zum Zweck statt zum Mittel. Zum Mittel der eigentlichen
Revolution. Einstmals wußte der normale Europäer in seinem Kopf noch das
von ihm selber Gedachte von dem von anderen Gedachten zu unterscheiden.
Das ist nicht erst durch die Massenmedien durcheinandergekommen. Schon
Bismarck wußte, daß der (durch die sozialen Sicherungen) bestochene
Bürger leichter zu lenken ist als der unbestochene. Die Korruption
ist in den hochentwickelten kapitalistischen Ländern eine Hauptform
der Machtsicherung. Die Korruption reicht von den gröbsten Formen
bis zu den feinsten und geht durch alle Klassen Und Parteien. Die Arbeiterklasse
ist ihr genauso unterworfen wie die Arbeiterparteien. Und jeder mißtraut
allem und fällt doch auf alles herein. Die Anatomie des Kommunismus ist der Maßstab aller Fragen unserer
Zeit. Wie aber kann er das sein, wenn die Vorstellungen von ihm hinterwäldlerisch
sind? Die Niederlage des "realen Sozialismus" hat manche unserer Theoretiker
irritiert. So meint der eine, daß der Kommunismus nur mit Geld funktionieren
könne, während der andere dem absolut entgegengesetzt behauptet,
daß der Sozialismus daran gescheitert sei, daß er das Geld
nicht abgeschafft habe. Nun ist zwar die eine Behauptung so schwachsinnig
wie die andere, denn beide lassen alle Logik und allen historischen Verstand
vermissen, aber da beide Theoretiker anerkannte Koryphäen sind, und
Koryphäen glaubt man nun einmal mehr als der Logik, werden die Irrtümer
eine Weile ihr Unwesen treiben. Der Glaube an Koryphäen, überhaupt
an Leute, die eine Marke haben, ist eine Krankheit unserer Zeit. Dieser
Glaube erspart das eigene Denken, und es wird lange brauchen, bis wir
von der Krankheit geheilt sind. Aber vorher gibt es keinen Sozialismus. Die gegenwärtig anzutreffende Mischung von in die Jahre gekommenem
Marxismus, Gesinnungskommunismus, Revisionismus, Reformismus, Anarchismus,
Stalinismus usw., usf. braucht zwar seine Zeit, um zur Klärung und
zu dem Ergebnis zu kommen, daß die eigentliche Revolution auch eine
eigentliche Partei braucht, die einerseits ein modernes, fortgesetztes
marxistisches Bild von der wirklichen Zukunft und andererseits ein tiefes
Verständnis für die Schönheit und die Unvermeidlichkeit
der Spontaneität der ganzen Geschichte hat. Die Arbeiterklasse ist nur unter revolutionären Bedingungen revolutionär.
Die Zuspitzung der letzten Krise des Kapitalismus schafft diese Bedingungen.
Die Arbeiter und die ihnen Gleichgestellten werden unausweichlich zu den
extrem Leidtragenden, zu den sozial und ökologisch, zu den unmittelbar
körperlich Geschädigten und Geschändeten. Und wenn wir
gegenwärtig nicht eine wirklich marxistische Partei ausfindig machen
können, so werden die revolutionären Bedingungen nicht nur die
Arbeiterklasse, sondern auch ihre Parteien auf die Beine bringen. VII. Der feste Punkt Außer der Unterteilung in klassenlose Urgesellschaft, Klassengesellschaft
und klassenlosen Kommunismus unterteilt der Marxismus die menschliche
Entwicklung in Vorgeschichte (Urgesellschaft und Klassengesellschaft)
und eigentliche Geschichte (Sozialismus und Kommunismus), wobei, genauer
genommen, der Sozialismus und die Errichtung des Kommunismus noch zum
Übergang gehören. Der Übergang von der Vorgeschichte zur
eigentlichen Geschichte, die eigentliche Revolution reicht folglich vom
Verfall und der Überwindung des Kapitalismus über den wirklichen
Sozialismus bis zur Vollendung des Kommunismus. Die eklatante Verletzung eines Gesetzes der Natur, des Gesetzes der Anpassung,
der Einheit von Mensch und Natur als Folge der Verletzung des gesellschaftliche
Gesetzes der Harmonie von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen
findet nur einmal statt. Es ist die Probe darauf, ob der Mensch eine Fehlleistung
der Natur ist oder nicht. Hier finden wir die entscheidende Bedingung des unvermeidlichen Untergangs
des Kapitalismus wie auch die entscheidende Bedingung der Notwendigkeit
des Sozialismus/Kommunismus. Um dieses Angebot der Geschichte wahrnehmen
zu können, müssen wir den historischen Materialismus auf eine
höhere Stufe heben. Der historische Materialismus muß aus dem
Parterre in die Beletage gehoben werden: Als Methode und als Geschichtsbild.
Wir müssen uns von der bisherigen Geschichte und von der kommenden
und von dem Übergang der einen zu der anderen ein neues Bild machen. Die römische Sklavenhaltergesellschaft, der Kapitalismus als Irrtum,
brauchte 300 Jahre, um zu vergehen. Wieviel Jahre braucht der Kapitalismus
als "Wahrheit", um unterzugehen? Spartakus unterlag, aber nach 300 Jahren
gab es keine Sklaven mehr in Rom. Müntzer unterlag, aber nach 300
Jahren gab es keine Leibeigenen mehr in Deutschland. Lenin unterlag. Reichen
diesmal 300 Jahre? Und wie wird die Welt dann aussehen? Das Verhältnis der Gesellschaft zur Stadt bzw. zum Land ist kein
zufälliges: Die Urgesellschaft war dem Lande verbunden, die Sklavenhaltergesellschaft
der Stadt, der Feudalismus wiederum dem Lande und der Kapitalismus wiederum
der Stadt. Das Problem wurde immer ungelöster. Wie wird die eigentliche
Geschichte das Problem lösen? Und wann? Der "reale Sozialismus" hat
uns, wie auf so vieles, keine Antwort darauf gegeben. Die antike Sklaverei verfiel in Europa als verfrühter Kapitalismus,
hat der Kapitalismus als überalterter einen umgekehrten Verfallsprozeß? Der "reale Sozialismus" hat uns mit seinem Untergang nicht nur ein abschreckendes
Beispiel, einen negativen moralischen Effekt hinterlassen, sondern auch
eine Vielzahl von Fetischisierungen wie die Fetischisierung der Arbeiterklasse,
der objektiven gesellschaftlichen Gesetze, der sozialistischen Führer
und zugleich das Gegenteil der Fetischisierungen, die Diskriminierungen.
Wir müssen Abschied nehmen vom "realen Sozialismus" um uns ein ungetrübtes
Bild vom wirklichen Sozialismus machen zu können und zugleich den
"realen Sozialismus" und seine positive und negative Hinterlassenschaft
dialektisch aufheben. Wenn wir das bisherige Bild von unserer Geschichte um- und umschütteln
und unsere kurzsichtigen Vorstellungen von der sozialistischen Weltrevolution
verwerfen, kann uns das in die tiefste Verwirrung stürzen. In Wahrheit
verwerfen wir nur schematische Geschichtsbilder und unhaltbare Illusionen.
Dafür gewinnen wir wirkliche historische Sicherheit. Wenn auch in
anderen, eben historischen Dimensionen. Wir können uns endlich und
endgültig unseres Ortes in der Geschichte gewiß sein. Der hochberühmte Archimedes soll gesagt haben: Gebt mir einen festen
Punkt, und ich hebe euch die Welt aus den Angeln. Es muß aber umgekehrt
heißen: Ich gebe euch einen festen Punkt, damit ihr die Welt in
die Angeln heben könnt. Und dieser feste Punkt ist für uns die
eigentliche Revolution in ihrer Aufgabe, die menschliche Gesellschaft
natürlich einzurichten. Und der aufgestockte historische Materialismus,
der historische Materialismus der Beletage befähigt uns, diesen Punkt
zu erfassen. Gelingt uns das nicht, fallen wir durch - in ein bodenloses
Nichts. Dann hat die Welt ein Loch. |