Paradoxien der Weltgeschichte

Der historische Materialismus gestern und heute

I. Prolog

Wenn überhaupt etwas in der Geschichte der Menschheit historische Notwendigkeit hat, wenn überhaupt etwas von der Geschichte der Menschheit ein menschlicher Akt, ein Akt der Menschlichkeit gewesen sein soll, dann der Übergang von der Vorgeschichte zur eigentlichen Geschichte, die eigentliche Revolution. Und mit ihr der Sozialismus, denn er ist der entscheidende Akt der eigentlichen Revolution. Und der Kommunismus ist ihr letzter Akt und die eigentliche Geschichte selbst. Als das, als zwei Akte der eigentlichen Revolution haben beide die Würde der Vorhersehbarkeit. (Was es zu beweisen gilt.)

Also hätte auch der Zusammenbruch des Sozialismus vorhergesehen werden können. Oder war das gar keiner? Oder ist er gar nicht zusammengebrochen? Oder haben wir die Fähigkeit des Vorhersehens verloren? Vor lauter blindem Glauben an die gesetzmäßige Notwendigkeit. Wieviel Katholizismus haben die Kommunisten in sich aufgenommen? Wieviel Katholizismus steckt im Stalinismus? An Götzen glauben, Inquisition und Hexenverfolgung. Ist der Stalinismus nicht weniger "früher Sozialismus" als vielmehr später Kapitalismus? Ist er nicht eine feudal-faschistische Form der Verbürgerlichung des Sozialismus? Ist der "reale Sozialismus" gescheiterter Beginn des wirklichen Sozialismus oder eine paradoxe Verfallsform des Kapitalismus? Oder beides?

Alle diese Fragen und dergleichen mehr sind nicht nur erlaubt, sondern notwendig. Und sie sind mittels des Marxismus auch beantwortbar. Allerdings nicht allein mit dem bisherigen, gefordert ist der Marxismus von heute.

II. Der historische Materialismus von gestern

Der historische Materialismus erforscht mittels erkannter wesentlicher Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Geschichte weitere wesentliche Gesetzmäßigkeiten und leitet von ihnen die Erscheinungen ab. Der historische Materialismus ist, wie der Marxismus im ganzen, Theorie (Weltbild) und Methode. Die wesentlichste Gesetzmäßigkeit, die dem bisherigen historischen Materialismus zur Erforschung und Erklärung diente, war das Verhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, wie es von Marx im Vorwort zur "Kritik des politischen Ökonomie" dargestellt wird:

"In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb derer sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um."

Diese Erkenntnis des Verhältnisses von Produkivkräften und Produktionsverhältnissen sowie von Basis und Überbau war die wesentliche Handhabe, der Angelpunkt des historischen Materialismus, von dem aus seine anderen Elemente wie die Revolutionstheorie und die Theorie des Klassenkampfes entwickelt wurden.

Und erst diese Erkenntnis, die Erkenntnis objektiver gesellschaftlicher Gesetzmäßigkeiten machte es möglich, den Materialismus von der Natur auf die Gesellschaft auszudehnen. Materialismus auch in Bezug auf die Gesellschaft und die Erkenntnis objektiver Gesetze der Gesellschaft sind ein und dasselbe. Aber mit der Erkenntnis der gesellschaftlichen Gesetze, ihrer Objektivität wurde die menschliche Gesellschaft auch zu einer gesonderten aparten, weil eigengesetzlichen Erscheinung. War der Kapitalismus auf seine Weise schon eine zunehmende Absonderung von der Natur, so wurde diese Absonderung auf seine Weise auch vom historischen Materialismus vorgenommen.

III. Die Fortsetzung des historischen Materialismus

Das Gesetz der Anpassung ist das einzige Gesetz, das gleichermaßen für die Natur wie für die Gesellschaft gilt. Allerdings setzt das die dialektische Transformation von Darwins Gesetz auf die gesellschaftliche Entwicklung voraus, wie ich sie mit dem "philosophischen Gesetz der Ökologie" in der "Rotfeder" vornehme. Die Anpassung erhält, übertragen auf die Gesellschaft, zwei grundlegende Besonderheiten. Die erste Besonderheit besteht darin, daß der Mensch sich der Natur anpaßt, indem er die Natur sich anpaßt. Wenn das Tier im Winter eine Ortsveränderung in wärmere Zonen vornimmt oder sich einen Winterpelz wachsen läßt, zieht der Mensch einen Mantel über oder heizt die Wohnung ein. Das Tier verändert sich, der Mensch verändert seine Umwelt. Die zweite Besonderheit, ohne die es die erste nicht gäbe, besteht darin, daß der Mensch sich mittels seiner gesellschaftlichen Organisation der Natur anpaßt. Von den Produktionsinstrumenten und Produktionsverhältnissen, den Klassenstrukturen über den Staat, Justiz usw. bis zu den Wissenschaften, Moral, Kultur ist ihm die gesellschaftliche Organisation Organ der Anpassung und bestimmt deren Form. Die Anpassung der Natur an den Menschen ist und bleibt jedoch immer Anpassung des Menschen an die Natur. Wir ziehen den Mantel im Winter an und nicht im Sommer. Wir tun, was immer wir auch tun, abhängig vom Klima, von den Jahreszeiten, von den Tageszeiten, von Tag und Nacht. Wir können nichts ausrichten ohne den Stoff der Natur (Holz, Kohle, Wasser, Wind, Sonne usw.). Kurz: Wir können, so sehr wir sie auch verwandeln, nur das Material der Natur verwandeln, und immer nur nach den Gesetzen der Natur. Während der Leser diese Zeilen liest, liest er sie auf aus der Natur gewonnenem Papier, er sitzt auf dem Stuhl oder liegt im Bett, deren Material aus der Natur gewonnen wurde. Und er wohnt in einem Haus, das in allen seinen Teilen aus der Natur gewonnen wurde. Und er paßt sich unentwegt den Gesetzen der Natur an, beispielsweise dem Gesetz der Schwerkraft. Selbst wenn er die Treppe hinabfällt, folgt er dem Gesetz der Natur.

Diese beiden Besonderheiten, die Anpassung des Menschen an die Natur in Form der Anpassung der Natur an den Menschen und die gesellschaftliche Organisation als Organ der Anpassung zu erkennen war Voraussetzung, um die Anpassung als das für Natur und Gesellschaft gleichermaßen gültige Gesetz zu begreifen. Die Einheit von Mensch und Natur kann damit endlich per objektivem Gesetz, als ein und für alle mal gültig und befriedigend begriffen werden. Der Mensch wird wieder zu einem "Kind der Natur", zu einem Teil der allumfassenden Unendlichkeit.

Jetzt aber kann auch die Rangordnung, die Systemstruktur innerhalb des historischen Materialismus hergestellt werden. Trotz ihrer hohen Eigengesetzlichkeit sind die spezifischen Gesetze der Gesellschaft (die Naturgesetze der Gesellschaft, wie Marx sie nannte) Gesetze zweiter Ordnung: sie sind Gesetze der gesellschaftlichen Organisation des Menschen. Also Gesetze des Organs der Anpassung. Und als das sind sie Funktionen des Gesetzes erster Ordnung. Mit anderen Worten: Die Naturgesetze der Gesellschaft werden zu Funktionen eines Gesetzes der Natur. Das hat tiefgreifende Konsequenzen:

Das Gesetz der Übereinstimmung von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen als Gesetz zweiter Ordnung wird in dem Gesetz der Übereinstimmung von Mensch und Natur als dem Gesetz erster Ordnung aufgehoben. Das eine wird zu einer Funktion des anderen, die Verletzung des einen wird zur Verletzung des anderen. Zugleich verleihen die spezifischen Gesetze, die Gesetze zweiter Ordnung, wie sie uns im Marxismus gegeben sind, der Anpassung als Gesetz erster Ordnung ihre historische Form. Aber auch ihre Problematik. Sie sind die Entwicklungsgesetze des Organs der Anpassung. Und indem die Anpassung die gesellschaftliche Organisation zu ihrem Organ macht, macht sie die Gesellschaftsordnungen zu ihrer Funktion. Im Besonderen gibt sie dem Übergang von der Vorgeschichte zur eigentlichen Geschichte, der eigentlichen Revolution, den tieferen Sinn. Kapitalismus und Sozialismus müssen in ihrer historischen Position jetzt an einem allgemeineren, höheren Gesetz gemessen werden. Das hat auch eine andere Wesensbestimmung des Sozialismus zur Folge. Vom niederen Zweck wird er zum höheren Mittel.

Rigoros gesagt ist der Marxismus eine zweifache Mißgeburt. Auf der einen Seite fehlt der Mensch, auf der anderen die Natur: Im Sinne der Verbindung und Vermittlung beider. Der Marxismus ist ein Schmalspurgebilde. Wogegen die Mitte, der ökonomische Leib, ungeheuer übergewichtig ist. An dem Vorhaben, nach Marxens Tod diesen Korpus verwertbar zu machen, ist selbst Engels in die Knie gegangen. Und dabei fehlt noch ein wesentliches Element, nämlich die Universalgeschichte der Ökonomie, die uns nötiger als alle andere Politische Ökonomie ist. Wer nun aber glaubt, diese doppelte Mißgeburt aufs Kreuz legen zu können, wird sich nur eine blutige Nase holen. Denn in dieser Mißgeburt (auf andere Art ist noch nie eine Wissenschaft in die Welt gekommen) stecken alle Kriterien, Ansätze und Voraussetzungen, alle methodischen Hilfsmittel der Korrektur, Ergänzung und Erweiterung. Vor allem aber der Fortsetzung. Der Marxismus kann nicht widerlegt, er kann nur fortgesetzt werden.

Mein Beitrag zur Fortsetzung des Marxismus besteht nach der menschlichen Seite hin hauptsächlich in dem "Prinzip Gleichheit". Hier erhält der marxistische Humanismus sein absolutes Kriterium. Die Fortsetzung des Marxismus nach der Seite der Natur nehme ich vor allem mit dem "philosophischen Gesetz der Ökologie" vor. Der hohe Stellenwert, den das Verhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen durch Marx erhalten hatte, versperrte die Erkenntnis dieses Verhältnisses in seiner Funktion als Mittel zum Zwecke der übergeordneten Anpassung. Und es verführte Lenin zu seinem Irrtum, die Überlegenheit des Sozialismus über den Kapitalismus in der höheren Arbeitsproduktivität zu sehen.

Wie Freund und Feind sehen müssen, ist der Sozialismus mächtig schiefgelaufen. Wer hat sich da geirrt? Die Geschichte? Oder wir, und mit uns die Theorie? Oder beide? Das gilt es zu klären, aufzuklären. Eines aber sei schon hier vermerkt. Die Theorie trägt die wenigste Schuld. Schließlich hatte sie am wenigsten zu sagen. Das war eine Hauptschuld. Der Politik. Aber für den Fall, daß die Theorie einmal mehr zu sagen hat: Der historische Materialismus kann nur als fortgesetzter, als vom gestrigen zum heutigen fortgeschriebener seinen Sinn erfüllen. Das heißt, wir müssen das Verhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen als Funktion der Anpassung begreifen und auf die Weise den historischen Materialismus auf eine höhere Stufe heben. Damit befreien wir den Sozialismus von der Verdammnis, eine überlegene Arbeitsproduktivität realisieren zu müssen und heben ihn auf die Stufe der menschlichen Überlegenheit, indem er die Einheit von Mensch und Natur verwirklicht.

IV. Unsere Geschichte ist nicht stubenrein

Die zweite Stufe der Negation der Negation, die Stufe der Negation, ist gewöhnlich die unreinlichste. Das trifft voll und ganz auch auf die zweite Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung, auf die Klassengesellschaft zu. Solange die Gesetze ZWEITER Ordnung sich nicht mit dem Gesetz erster Ordnung anlegen, haben sie Narrenfreiheit, auch gegen sich selber. Mit der Klassengesellschaft durchläuft die Menschheit ihre Flegeljahre. Da sind Bocksprünge, Rösselsprünge, Purzelbäume und Bruchlandungen die beliebtesten Arten der Fortbewegung. Oder anders gesagt: Die Geschichte irrt sich dauernd. Oder mit Marx gesagt: Die Gesetze setzen sich durch, indem sie sich nicht durchsetzen. (Marx meinte im speziellen das Wertgesetz, das sich in der Summe durchsetzt, indem der konkrete Preis der Ware drumherum tanzt.) Oder noch anders gesagt: Die Notwendigkeit nimmt die Form des Zufalls an. Und noch einmal mit Marx gesagt: Wenn Gesetz und Erscheinung identisch wären, bräuchte es keine Wissenschaft. Nun sind aber Wesen und Erscheinung nie identisch, mithin erscheint die Geschichte nur als Irrtum. Wobei "irren" nicht buchstäblich zu verstehen ist, wie, wenn ich sage: die Sonne meint es wieder mal gut, ich "meinen" ja auch nicht buchstäblich meine.

(Der dialektische Gegensatz zwischen Erscheinung und Gesetz macht aber auch einen Unterschied in der moralischen Bewertung aus. Stalin auf die Geschichte als Erscheinung bezogen ist ein Massenmörder, auf die Geschichte als Gesetz bezogen ist er ein Irrtum.)

Die menschliche Geschichte besteht haufenweise aus Irrtümern, auch Fehlversuche nennbar, wie auch die Natur aus unzähligen Fehlversuchen besteht. Und wenn nicht alles täuscht, ist die Frage noch offen, ob nicht die Menschheit als ganze ein Fehlversuch ist. Ein Irrtum der Natur. Ihre natürlichen Existenzbedingungen jedenfalls sind mehr gefährdet als gesichert. Was kommt es da schon auf einen Fehlversuch im Detail an? War ein Detail wie die Oktoberrevolution, wenn sie ein Irrtum war, ein Irrtum in der Zeit oder im Ort oder in der Art und Weise? Jedenfalls ist es unerlaubt, ja töricht, der Geschichte einen Sinn und Verlauf abzuverlangen, der unseren liebgewordenen, aber simplen Wunschvorstellungen entspricht. Umgekehrt sollte öfter einmal gefragt werden, ob ihr Verlauf nicht eine Häufung von Irrtümern sei. Das eine Ereignis kommt zu früh, das andere zu spät, manches kommt ganz überflüssigerweise und manches überhaupt nicht. Die Geschichte irrt sich dauernd. Selbst als Weltgeschichte kann sie über einen Kieselstein stolpern und vom Wege abkommen, die Notwendigkeit über einen Zufall, ob der nun Napoleon heißt oder Stalin oder Müller, und es kann Jahrzehnte dauern und länger, bis sie auf ihren Weg zurückfindet. Das Wirken positiver wie negativer Persönlichkeiten, aber auch das Fehlen der richtigen Persönlichkeit kann von historischem Belang sein. Ohne Lenin wäre die Oktoberrevolution mit Sicherheit gekippt und ein ungeheuer wichtiger historischer Erfahrungsschatz wäre nicht gewonnen worden. Die Geschichte ist nicht nur nach vorne offen, sondern auch nach der Seite und (in Maßen) auch nach hinten. Der Irrtum ist der Umweg der Geschichte. Und die Geschichte liebt die Umwege. Aber ebenso gilt: Der Irrtum ist der Pionier der Wahrheit.

Im Neuen Deutschland vom 3.11.1997 berichtet, wie bestellt, Martin Koch, daß die Philosophin Anneliese Griese in ihren jüngsten Marxstudien zu folgendem aufschlußreichen Ergebnis kommt: "Es fällt auf) daß Marx zwischen 1870 und 1883 besonders jene naturwissenschaftlichen Theorien studierte, die den Keim der Zerstörung in das klassische Weltbild hineintrugen: die Darwinsche Evolutionslehre und die mechanische Wärmetheorie. "Mit ihrem Gesetzesbegriff", kommentiert Koch, "der viel Platz für Zufälle und Unbestimmtheiten ließ, revidierten diese Theorien den klassischen Determinismus. Heute weiß man, nicht zuletzt nach den jüngsten historischen Erfahrungen, daß Geschichte kein streng determinierter Prozeß ist, sondern chaotische Phasen durchläuft, die zuweilen unvorhersehbare Resultate zeitigen. Ahnte Marx die sich damals bereits abzeichnende umwälzende Revolution in den Wissenschaften? Und wollte er sein Konzept von sozialer Entwicklung aufgrund der neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse überdenken? Wenn es solche Pläne gab, resümiert Griese, müsse man davon ausgehen, daß Marx ein unvollendetes Werk hinterließ, das offen für weitere Entwicklungen sei." Da nun geht Frau Griese fehl, denn Marxens Werk ist auch ohne dergleichen Pläne für weitere Entwicklungen offen.

Die Geschichte irrt nicht nur dauernd, die Irrtümer der Geschichte sind auch objektive Wirklichkeit. Die griechisch-römische Sklavenhaltergesellschaft war vermutlich ihr größter Irrtum, sie war zu früh gekommener Kapitalismus. Eben daran ist sie zugrunde gegangen. Die Geschichte hatte sich an ihr übernommen. Zu früh gekommener Kapitalismus konnte natürlich kein ganz richtiger Kapitalismus sein. Aber für die gegebenen Voraussetzungen war er doch zuviel Kapitalismus. Wie aber kann ein verfrühter Kapitalismus, ein Irrtum der Geschichte, das mächtigste Weltreich werden? (Und für einige Historiker war er sogar besser als der wirkliche und könnte diesem in manchem Vorbild sein. Und tatsächlich hat der bürgerliche Code Napoleon aus dem römischen Recht mehr aufgenommen als aus dem feudalen Recht.)

Für den Übergang der Urgesellschaft in die Klassengesellschaft ist weltweit der Feudalismus typisch, so typisch, wie weltweit die Halmfrucht (Reis, Mais, Weizen etc.) typisch ist und nicht die Kartoffel. Ein Feudalismus allerdings häufig mit einer beträchtlichen Beigabe von Sklaverei, wie ja auch der Kapitalismus häufig diese Beigabe hat.

Und wenn die Sklavenhaltergesellschaft oder die Oktoberrevolution ein Irrtum waren, so waren sie doch auch kostbare Perlen der Geschichte, ohne die es keine Geschichte gibt. Und wer kann schon sagen, ob die Geschichte mit dem Untergang des Sozialismus nicht einen Irrtum begangen hat? Und wenn es auch nur der "reale" war.

Über allem aber gilt: Die Menschheit entwickelt sich nur nach verbindlichen Gesetzen, selbst ihre Irrtümer haben gesetzliche Kausalität und sind nicht beliebig. Das heißt aber nicht, daß die Geschichte sich unvermeidlich entwickelt. Das heißt nur, daß sie sich allein nach diesen Gesetzen und nicht willkürlich entwickeln und irren kann. Sie kann es aber auch bleiben lassen und sich mit der Verfehlung der Gesetze aus der Welt verabschieden. Das ist ein "natürlicher" Vorgang und hat in der Naturgeschichte mehr Beispiele, als uns lieb sein kann.

V. Die eigentliche Revolution

Zur eigentlichen Revolution gehören erstens der Prozeß der partiellen, gescheiterten oder zeitweilig gelungenen sozialistischen Revolutionen und die verschiedenen Formen des gescheiterten Sozialismus, zweitens der gelungene Sozialismus und drittens die Herstellung des Kommunismus. Danach beginnt die eigentliche Geschichte. Ohne diesen umfassenden Begriff von der eigentlichen Revolution würde der Fehler der Oktoberrevolution, die Geschichte zu unterfordern, wiederholt. Statt der Marxschen "sozialen Revolution" geht es um die totale Revolution.

Der Übergang zur eigentlichen Geschichte, die eigentliche Revolution, ist ein Vorgang, über dessen Dimensionen wir uns noch keine Vorstellungen gemacht haben, aber alsbald machen sollten. Dieser Übergang ist nicht nur die totale Umwälzung aller bisherigen Geschichte. Er ist auch ein historischer Neubeginn, der als Negation der Negation einen dialektischen Inhalt und dialektische Vielfalt enthält. Der Zeitraum, in dem der Affe zum Menschen wurde, die Menschwerdung ist binnen weniger Jahrzehnte von hunderttausend Jahren auf fünfhunderttausend und schließlich auf eine Million Jahre, also um das Zehnfache verlängert worden. Die Datierung des Zeitraums, in dem wir von der Vorgeschichte zur eigentlichen Geschichte übergehen, hat das gleiche Schicksal. Das römische Reich brauchte 300 Jahre, um unterzugehen. Der Kapitalismus, die Klassengesellschaft ist aber mehr als nur ein Reich. Wieviele Jahrhunderte wird der Untergang dieser Gesellschaft brauchen? Und wieviele Jahrhunderte wird die Errichtung der eigentlichen Geschichte brauchen, auch wenn das eine und das andere teilweise in einem ablaufen? Mehr als 300 Jahre? Und die andere Frage ist, ob uns die Umweltzerstörung die Zeit läßt. Ein Teil der Fachleute sagt uns einen baldigen Kollaps voraus, der andere Teil ein langes Siechtum. Bewiesen ist weder das eine noch das andere.

Der Weg zum Sozialismus hat (im Unterschied zum Sozialismus selbst) keine gesetzmäßige Vorhersehbarkeit. Das betrifft zunächst schon die zeitlichen Dimensionen. Sie werden durch den Inhalt, die Probleme, die Aufgaben etc. bestimmt.

Im philosphischen Gesetz der Ökologie finden wir das Kriterium des Übergangs von der Vorgeschichte zur eigentlichen Geschichte der Menschheit. Alle bisherigen Kriterien wie die Aufhebung der Klassen sind jetzt nur noch Mittel zum Zweck. Die eigentliche Geschichte beginnt und die eigentliche Revolution ist vollendet, wo das Gesetz der Anpassung ein und für allemal als Gesetz erster Ordnung verwirklicht wird. Mit anderen Worten: Der Übergang von der Vorgeschichte zur eigentlichen Geschichte besteht darin, die Gesellschaft ein und für allemal als Organ der Anpassung einzurichten. Ohne daß deshalb die Eigengesetzlichkeit und die eigenen Bedürfnisse der menschlichen Gesellschaft außer Kraft gesetzt werden. Die Frage der Arbeitsproduktivität steht im Unterschied zu Marx und Lenin jetzt allerdings an zweiter Stelle, was nicht heißt, daß sie nicht zufriedenstellend gelöst wird. Im Gegenteil ist sie jetzt erst lösbar.

Die unaufhaltsame Vernichtung unserer natürlichen Umwelt markiert den Eintritt des Kapitalismus in sein letztes Stadium, wo er mit der Untergrabung der Existenzgrundlage der Menschheit seine eigene Existenz untergräbt. Das Gesetz der Anpassung wird zum Scharfrichter des Kapitalismus: Die Frage steht jetzt nicht mehr, wo es sich besser lebt, sondern wo es sich überlebt. Die Anpassung ist die Wasserscheide zwischen der Vorgeschichte der Menschheit und ihrer eigentlichen Geschichte. Sie ist das absolute Kriterium dafür, ob die Menschheit Opfer ihrer Verhältnisse wird oder ob sie frei über ihre Verhältnisse verfügt.

Im skrupellosen Konkurrenzkampf ist dem Kapitalisten sein Überleben wichtiger als das Überleben der Menschheit. Eine solche Konstellation ist grundsätzlich neu ins unserer Geschichte. Dem Kapitalisten ist das Hemd näher als der Rock, das Heute ist ihm wichtiger als das Morgen, das eigene ökonomische Überleben wichtiger als das physische Überleben aller. Die Hoffnung, daß im Kapitalismus ihm eigene Kräfte der Rettung liegen, ist absolut trügerisch. Um im Geschäft zu bleiben, um zu überleben muß der Kapitalist konkurrenzfähig sein. Wer das durch umweltfreundliche Geschäftsführung einbüßt, ist des Todes. Die Konkurrenz hat der Kapitalismus groß gemacht, und sie vernichtet ihn.

Die Frage ist nicht, ob der Sozialismus kommt, sondern ob er rechtzeitig und unter welchen Bedingungen er kommt. Da der Kapitalismus unfähig ist, dem Gesetz der Anpassung zu genügen, kann nur der wirkliche Sozialismus die Alternative sein. Ein anderer Schluß bleibt nicht übrig. Eine Menschheit, die überleben will, muß, ob sie will oder nicht, früher oder später zu diesem Schlusse kommen. Wenn nicht anders, wird sie dahin geprügelt werden. Die Reduzierung der natürlichen Lebensbedingungen, verbunden mit der sozialen Krise, ist ein Prozeß, in dessen Verlauf die Menschheit immer schmerzlichere und schließlich unerträgliche körperliche und seelische Schäden erleiden wird. Der Absturz auf das Niveau des Höhlenmenschen ist da noch die freundlichste Aussicht. Die Prügel, die uns die geschändete Natur verabfolgen wird, werden schon den nötigen Willen befördern, die richtige Alternative zu ergreifen, da kann kein Zweifel sein. So unangenehm die Prügel auch sein werden, so sind sie doch unsere sichere Hoffnung.

Die Realisierung des Gesetzes der Anpassung als natürliche Freiheit setzt die Realisierung der sozialen Freiheit voraus. Mit anderen Worten: Das Gesetz der Anpassung bestimmt, welche Art von Gesellschaft nötig ist, um die Anpassung zu verwirklichen. Das ist neu in der menschlichen Geschichte. Bisher hat die gesellschaftliche Organisation zwar der Anpassung als Organ gedient und als das deren Form bedingt, jetzt aber bedingt die Anpassung die gesellschaftliche Organisation als freie Gesellschaft.

Wir müssen unsere Vorstellungen vom Übergang der einen Gesellschaft in die andere grundlegend ändern. Die Gesellschaft muß als Organ der Anpassung eingerichtet werden, angefangen von der Art des Eigentums, der Produktionsweise über die Produktionsstrukturen und ökonomischen Wertsetzungen bis zum Verhältnis von Erster und Dritter Welt. Das Gesetz der Anpassung verlangt die Gesellschaft als funktionsfähiges Organ der Anpassung. Und nur eine Gesellschaft, die diese Funktion erfüllt, kann sozialistisch und schließlich kommunistisch genannt werden. Der Übergang zur eigentlichen Geschichte verdankt seine ungeheure historische Größe nicht nur der Umwälzung aller Vorgeschichte, womit diese in kulminierter Weise aufgerührt wird (im Guten wie im Schlechten), sondern noch mehr der Notwendigkeit, sich auf die Höhe der eigentlichen Geschichte zu schwingen, was von Zwergen verlangt, Gulliver zu sein. Der Übergang von der Vorgeschichte zur eigentlichen Geschichte ist ein einmaliges Geschehnis in der Menschheitsentwicklung, vor dem alle bisherigen Revolutionen auf Zwergenmaß schrumpfen. Jedenfalls müssen wir lernen, in anderen Größenordnungen und in anderen Zeiträumen zu denken und zu handeln.

Die Notwendigkeit der Beseitigung des Kapitalismus und die Möglichkeit seiner Beseitigung sind zwei völlig verschiedene Dinge. Die Notwendigkeit besteht schon lange, mindestens seitdem er durch Weltkriege, Völkermord, Atomwaffenpolitik, jährliche Millionen Hungertode und die Umweltzerstörungen das Fortleben des Menschen als Gattung in Frage stellt. Das physische wie das sittliche. Das verurteilt den Kapitalismus mehrfach zum Tode. Ungewiß ist nur der Zeitpunkt, an dem das Urteil vollstreckt wird: Und je mehr man die Möglichkeit, den Zeitpunkt bestimmen zu können, als Problem in den Vordergrund stellt, desto mehr stellt man die Notwendigkeit, das Urteil zu vollstrecken, in den Hintergrund. Jedenfalls kommt der Sozialismus früher als das Jüngste Gericht.

Ein anderer Irrtum ist es, den Sozialismus auf demokratische Weise erreichen zu wollen. Als wenn die Bluthunde Noske, Franco, Pinochet u. a. nicht Wegzeichen genug wären. Die Opfer der Pariser Kommune, der Oktoberrevolution und der Revolution der Sandinisten, die Napalmverbrannten in Vietnam und die Tretminenkrüppel in Angola machen deutlich, welche Demokratie der Kapitalismus den Sozialisten genehmigt.

Die Frage, kam der Sozialismus in Rußland zu früh oder wäre er wo anders glücklicher gewesen ist klar beantwortbar: Der Sozialismus ist bei den ersten Versuchen nie reif, er kommt immer zu früh. Deshalb braucht er mehrere Anläufe, und welcher der glückliche ist, kann vorher keiner sagen. Jedenfalls sollte man dem Land oder den Ländern, die nach der dummerweise ungeplanten Niederlage als erste wieder den Sozialismus wagen, Rabatt einräumen.

VI. Auch die Vorgeschichte hat einmal ein Ende

Wenn die Vorgeschichte schon voller Irrtümer ist, so ist es der Übergang zur eigentlichen Geschichte noch mehr. Er könnte die Komödie der Irrungen genannt werden. Oder ebenso sehr die Tragödie der Irrungen. Ich rede von der Zeit, in der wir leben.

1. Nach wie vor umstritten ist die Frage, ob der Kapitalismus von selber untergeht (einen ökonomischen Kollaps erleidet), oder nur durch die sozialistische Revolution aus der Welt geschafft werden kann. Diese Frage wurde und wird, ob so oder so, klar und glatt beantwortet. Aber beide Antworten sind verkehrt. Nehmen wir nur die Sowjetunion. Sie war 70 Jahre Sozialismus, wenn auch mehr schlecht als recht. Und wenn sie auch gescheitert ist, hat der Kapitalismus 70 Jahre verloren, die er nicht wieder aufholen kann. Wenn die Welt voll solcher scheiternden Sozialismusse wäre, gäbe es keinen Kapitalismus mehr. Aber die Sache ist noch vertrakter. Die Menschheit wird, um mit Marx zu sprechen, "die alte Scheiße" nicht so schnell los, oder um es höflicher zu sagen: Die Geschichte wird von Menschen gemacht, die von der Geschichte gemacht wurden. Und obendrein wird nicht nur der Weg zum Sozialismus vom Kapitalismus bestimmt, sondern mehr oder weniger auch der Sozialismus selber. Der Stalinismus war unter anderem eine Übernahme des Faschismus, also einer Verfallserscheinung des Kapitalismus, als Herrschaftsmethode. Dergleichen Verbürgerlichungen des Sozialismus hatten wir in Günter Mittags auf den kapitalistischen Tauschwert orientierter Ökonomie. Und diese Verbürgerlichungen fanden ihren Abschluß in Gorbatschow. In diesen paradoxen Formen haben wir einen Verfall des Kapitalismus als "realer Sozialismus". Einige Altkommunisten meinen immer noch, der Zweck heiligt die Mittel. Aber die bürgerlichen Mittel, primär der Stalinismus, haben den sozialistischen Zweck verdorben. Der Verfall des Kapitalismus muß in Wechselwirkung mit dem revolutionären Prozeß gesehen werden, wie auch umgekehrt. Und manchmal weiß man nicht, was was ist, z. B. die beiden Weltkriege in ihren unterschiedlichen, gegensätzlichen Folgen.

Der Kapitalismus hat aber auch direkte, ihm eigene Verfallserscheinungen. Auch hier treibt die Dialektik ihr Spiel. Die Demokratie, ihrer "Natur" nach politische Form der Freiheit, wird zunehmend deren Wolf. Allein die zunehmende Bürokratisierung der Demokratie paralysiert die Freiheit oder frißt sie auf. Nehmen wir nur die Wahlen und den bürgerlichen Parlamentarismus. Gelobt als höchster Ausdruck der Demokratie wird in beiden die Freiheit zu Grabe getragen. Und der tendenzielle Fall der Durchschnittsprofitrate, oder anders gesagt, der Rückgang der Verwertungsbedingungen des Kapitals, nicht nur der objektiven "natürlichen", sondern vor allem der Rückgang der systemimmanenten Verwertungsbedingungen ist eine markante Verfallserscheinung des Kapitalismus. Als nur äußerer Beleg sei hier die katastrophale Vergeudung von Arbeitsvermögen und die zunehmende Unverwertbarkeit Afrikas genannt.

Eine interessante Form des Verfalls ist die Übernahme sozialistischer, d. h. dem Kapitalismus ungemäßer Aufgaben. Wäre es nach wirklichem Sozialismus gegangen, hätte der Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe längst eine internationale sozialistische Währung eingeführt haben müssen: Mit der Zielstellung sozialistischer Gebrauchswerte. Nun muß es der Kapitalismus machen: Mit der Zielstellung des Geldes als höchstem Gebrauchswert. Da sägt er an dem Ast, auf dem er sitzt.

2. Der Stoff, aus dem der Sozialismus gemacht wird, ist die Welt von heute, ein Stoff, wie er in seiner Masse von Unvereinbarkeiten, chaotischen Entwicklungen, historisch bedingten drastischen Unterschieden, aktuell politisch bedingten Antagonismen nicht unbewältigbarer sein kann. Denken wir nur an die heillosen Widersprüche in Afrika, die Zuspitzung der sozialen und ökologischen Krise des späten Kapitalismus und die Folgen in der Dritten Welt. Unvorhersehbar und unwägbar, wie uns die gegenwärtigen wissenschaftlich-technischen Entwicklungen überwältigt haben und noch überwältigen, werden neue Entwicklungen über uns kommen, deren ökonomische, ökologische, politische, kulturelle und andere Folgen ungeahnte Dimensionen haben können. Der Sozialismus kann nur aus dem Stoff gemacht werden, den ihm die Geschichte liefert, auch aus dem, der uns vom "realen Sozialismus" geliefert wurde und wird. Da haben wir unschätzbare Erfahrungen, aber auch unübersehbare Probleme. Denken wir nur an den amputierten und verqueren Sozialismus in China (ein "realer Sozialismus" hoch 2). Als Beispiel, wie "real" der Sozialismus dort ist, seien nur genannt die Hunderte von Demonstrationen entlassener Arbeiter, die unablässige Zunahme der unsozialistischen sozialen Polarisierung, die für einen sozialistischen Staat abenteuerliche Wirtschafts- und Außenpolitik. Und wie sollen die verbliebenen vier sozialistischen Staaten, wenn wir Nordkorea pikanter Weise für einen sozialistischen Staat nehmen wollen, eine gemeinsame Abteilung der eigentlichen Revolution werden? Von den Gemeinsamkeiten der sozialistisch/kommunistischen Parteien ganz zu schweigen, deren einzige Gemeinsamkeit mit wenigen Ausnahmen darin besteht, das sozialistische Kuba wie eine heiße Kartoffel anzufassen.

Ein Kuriosum haben wir in dem Verhältnis von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen während der eigentlichen Revolution, indem dieses Verhältnis ausgerechnet an seinem Krisenpunkt verrückt spielt. Statt die ihm nach- oder vorhergesagte Entfesselung der Produktivkräfte zu verwirklichen, versagt der Sozialismus im Vergleich mit dem Kapitalismus gerade darin. Weil er sich auf einen verkehrten Vergleich eingelassen hat. Und wo er in den Produktivkräften nicht versagt, versagt er in der Verwirklichung sozialistischer Produktionsverhältnisse.

Wie soll dieses gewaltige Durcheinander von Welt in die Reihe gebracht und als Welt gerettet werden? Und wo sind die rettenden Kräfte? Wie müssen sie sich entwickeln, um stark genug zu werden, und wie oft müssen sie auf die Nase fallen, um klug genug zu werden? Eine gescheiterte Oktoberrevolution reicht da nicht aus.

Eine allen verständliche und zugängliche Information über die Moral der Niederlage des Sozialismus wäre das mindeste. Und wenn sie nur erklärt und glaubhaft machte, daß ein Scheitern des ersten Versuchs nicht ein Scheitern des Sozialismus überhaupt ist. Wenn ein Kind bei seinen ersten Schritten ins Leben hinfällt, kann man sagen, es ist gefallen, aber die tiefere Wahrheit ist, daß es das Laufen lernt. Statt zu sagen, daß der Sozialismus gescheitert ist, sollten wir also besser sagen, daß die eigentliche Revolution das Laufen lernt.

Die Arbeiterklasse ist östlicherseits fetischisiert und westlicherseits korrumpiert. Sie hat trotz siebzig Jahren Sozialismus kein Eigentumsverhältnis zu den Produktionsmitteln erworben. Bitteres Zeugnis war die Selbstverständlichkeit, mit der sie sich ihr Eigentum, die Fabriken hat wegnehmen lassen. Da sind die Alteigentümer, obwohl sie doch einen geringerwertigen Anspruch haben, in ihrem Besitzerbewußtsein geradezu vorbildlich. Ein anderes Zeugnis der Entmannung der Arbeiterklasse respektive ihrer noch nicht gewonnenen Reife ist es, daß sie in der Sowjetunion eine Partei geduldet hat, die den vergötzten Massenmörder Stalin geduldet hat, daß sie ebenda eine Partei geduldet hat, die den bei lebendigem Leibe Leichengestank verbreitenden Breschnew geduldet hat, daß sie eine Partei geduldet hat, die den sich selbst unterbietenden Räumungsverkäufer Gorbatschow geduldet hat.

Die Arbeiterklasse hat keine Vorstellung vom Wesen und den Formen sozialistischer Demokratie gewonnen. Sie weiß nichts über ihre quantitative Stärke weltweit und über ihre Kampffähigkeit in den verschiedenen Regionen unserer Welt. Sie ist in der ungeheuerlichsten Weise unwissend und ungebildet. Und eine orientierende und organisierende internationale Institution ist nicht in Sicht. Wie kann da was werden? Sind das sozialistische Parteien, die das sehen und nichts dagegen tun?

3. Wir werden niemals vor der Wiederholung alter und der Produktion neuer Fehler gefeit sein. Dafür sorgt schon der eklatante Mangel an der sogenannten sozialen Vererbung. Alle bisherige Politik, egal welcher Couleur, ist von einer schrecklichen Einseitigkeit und Kurzsichtigkeit, als lebten wir in ungeheurer Zeitnot und könnten es uns nicht leisten, nach rechts und links zu gucken und schon gar nicht nach unserem Herkommen. Für den Kapitalismus ist das charakteristisch, für den Sozialismus ist es tödlich. Der vieldimensionale Erfahrungsschatz der Geschichte wird, statt ihn sinnvoll zu verwerten, je nach politischem Kalkül entweder verschwiegen, verfälscht oder nach momentanem Bedarf aus seinem Zusammenhang gerissen und manipuliert. (Auch wenn der Sozialismus entschieden weniger manipuliert als der Kapitalismus, manipulieren tun sie beide.) Damit ist aber auch die hochwichtige Ergänzung der sozialen Vererbung, die vergleichende Völkerkunde, faktisch amputiert und akademisch sinnentleert.

Der Mangel an sozialer Vererbung und vergleichender Völkerkunde ist mitverantwortlich dafür, daß der "reale Sozialismus" in selbstmörderischem Umfange Falsches übernommen und Richtiges nicht übernommen hat. Das Gesetz der Negation der Negation hatte für ihn keine Gültigkeit. Welcher Sozialist weiß schon, daß bei den Wenden, die Jahrhunderte lang große Teile Deutschlands bewohnten, verweigertes Gastrecht mit dem Tode bestraft wurde?

Eine Folge ahistorischer Kurzsichtigkeit ist die sklavische Übernahme der bürgerlichen Wahlen in den Sozialismus. Und wenn das Ärger macht, werden sie zum durchsichtigen Affentheater degradiert, was noch ärgerlicher ist. Statt ein eigenes Verfahren der qualifizierten Auswahl für die verschiedenen Aufgaben zu entwickeln, macht man sich lieber mit einer bürgerlichen Larve lächerlich. Und im Kapitalismus nehmen die Sozialisten oder richtiger die Reformisten die Wahlen noch wichtiger.

Die Frage, ob beim nächsten Versuch die sozialistische Revolution (immer verstanden als Etappe der eigentlichen Revolution) statt von der Peripherie des Kapitalismus nicht besser von seinem Zentrum ausgehen sollte, ist aus zwei Gründen dumm. Erstens richtet sich die Wirklichkeit nicht nach unserer Erkenntnis über den besseren Ausgangspunkt, und zweitens muß der Prozeß ohnehin das Zentrum einschließen, ob zu Beginn oder am Schluß.

Der Weg zum Sozialismus und dieser selbst sind erste Etappen zur eigentlichen Geschichte und Verfall der Vorgeschichte in einem. Die Sklavenhaltergesellschaft in Europa hat als zu früh gekommener Kapitalismus die Geschichte überfordert. Daran ist sie gescheitert. Die Oktoberrevolution (samt "sozialistischem Weltsystem") ist umgekehrt daran gescheitert, daß sie die Geschichte unterfordert hat. Sie wurde betrachtet und gemacht als eine Art Palastrevolution. Hat man erst einmal die Macht erobert, wird sie zum Endziel, zum Zweck statt zum Mittel. Zum Mittel der eigentlichen Revolution.

Einstmals wußte der normale Europäer in seinem Kopf noch das von ihm selber Gedachte von dem von anderen Gedachten zu unterscheiden. Das ist nicht erst durch die Massenmedien durcheinandergekommen. Schon Bismarck wußte, daß der (durch die sozialen Sicherungen) bestochene Bürger leichter zu lenken ist als der unbestochene. Die Korruption ist in den hochentwickelten kapitalistischen Ländern eine Hauptform der Machtsicherung. Die Korruption reicht von den gröbsten Formen bis zu den feinsten und geht durch alle Klassen Und Parteien. Die Arbeiterklasse ist ihr genauso unterworfen wie die Arbeiterparteien. Und jeder mißtraut allem und fällt doch auf alles herein.

Die Anatomie des Kommunismus ist der Maßstab aller Fragen unserer Zeit. Wie aber kann er das sein, wenn die Vorstellungen von ihm hinterwäldlerisch sind? Die Niederlage des "realen Sozialismus" hat manche unserer Theoretiker irritiert. So meint der eine, daß der Kommunismus nur mit Geld funktionieren könne, während der andere dem absolut entgegengesetzt behauptet, daß der Sozialismus daran gescheitert sei, daß er das Geld nicht abgeschafft habe. Nun ist zwar die eine Behauptung so schwachsinnig wie die andere, denn beide lassen alle Logik und allen historischen Verstand vermissen, aber da beide Theoretiker anerkannte Koryphäen sind, und Koryphäen glaubt man nun einmal mehr als der Logik, werden die Irrtümer eine Weile ihr Unwesen treiben. Der Glaube an Koryphäen, überhaupt an Leute, die eine Marke haben, ist eine Krankheit unserer Zeit. Dieser Glaube erspart das eigene Denken, und es wird lange brauchen, bis wir von der Krankheit geheilt sind. Aber vorher gibt es keinen Sozialismus.

Die gegenwärtig anzutreffende Mischung von in die Jahre gekommenem Marxismus, Gesinnungskommunismus, Revisionismus, Reformismus, Anarchismus, Stalinismus usw., usf. braucht zwar seine Zeit, um zur Klärung und zu dem Ergebnis zu kommen, daß die eigentliche Revolution auch eine eigentliche Partei braucht, die einerseits ein modernes, fortgesetztes marxistisches Bild von der wirklichen Zukunft und andererseits ein tiefes Verständnis für die Schönheit und die Unvermeidlichkeit der Spontaneität der ganzen Geschichte hat.

Die Arbeiterklasse ist nur unter revolutionären Bedingungen revolutionär. Die Zuspitzung der letzten Krise des Kapitalismus schafft diese Bedingungen. Die Arbeiter und die ihnen Gleichgestellten werden unausweichlich zu den extrem Leidtragenden, zu den sozial und ökologisch, zu den unmittelbar körperlich Geschädigten und Geschändeten. Und wenn wir gegenwärtig nicht eine wirklich marxistische Partei ausfindig machen können, so werden die revolutionären Bedingungen nicht nur die Arbeiterklasse, sondern auch ihre Parteien auf die Beine bringen.

VII. Der feste Punkt

Außer der Unterteilung in klassenlose Urgesellschaft, Klassengesellschaft und klassenlosen Kommunismus unterteilt der Marxismus die menschliche Entwicklung in Vorgeschichte (Urgesellschaft und Klassengesellschaft) und eigentliche Geschichte (Sozialismus und Kommunismus), wobei, genauer genommen, der Sozialismus und die Errichtung des Kommunismus noch zum Übergang gehören. Der Übergang von der Vorgeschichte zur eigentlichen Geschichte, die eigentliche Revolution reicht folglich vom Verfall und der Überwindung des Kapitalismus über den wirklichen Sozialismus bis zur Vollendung des Kommunismus.

Die eklatante Verletzung eines Gesetzes der Natur, des Gesetzes der Anpassung, der Einheit von Mensch und Natur als Folge der Verletzung des gesellschaftliche Gesetzes der Harmonie von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen findet nur einmal statt. Es ist die Probe darauf, ob der Mensch eine Fehlleistung der Natur ist oder nicht.

Hier finden wir die entscheidende Bedingung des unvermeidlichen Untergangs des Kapitalismus wie auch die entscheidende Bedingung der Notwendigkeit des Sozialismus/Kommunismus. Um dieses Angebot der Geschichte wahrnehmen zu können, müssen wir den historischen Materialismus auf eine höhere Stufe heben. Der historische Materialismus muß aus dem Parterre in die Beletage gehoben werden: Als Methode und als Geschichtsbild. Wir müssen uns von der bisherigen Geschichte und von der kommenden und von dem Übergang der einen zu der anderen ein neues Bild machen.

Die römische Sklavenhaltergesellschaft, der Kapitalismus als Irrtum, brauchte 300 Jahre, um zu vergehen. Wieviel Jahre braucht der Kapitalismus als "Wahrheit", um unterzugehen? Spartakus unterlag, aber nach 300 Jahren gab es keine Sklaven mehr in Rom. Müntzer unterlag, aber nach 300 Jahren gab es keine Leibeigenen mehr in Deutschland. Lenin unterlag. Reichen diesmal 300 Jahre? Und wie wird die Welt dann aussehen?

Das Verhältnis der Gesellschaft zur Stadt bzw. zum Land ist kein zufälliges: Die Urgesellschaft war dem Lande verbunden, die Sklavenhaltergesellschaft der Stadt, der Feudalismus wiederum dem Lande und der Kapitalismus wiederum der Stadt. Das Problem wurde immer ungelöster. Wie wird die eigentliche Geschichte das Problem lösen? Und wann? Der "reale Sozialismus" hat uns, wie auf so vieles, keine Antwort darauf gegeben.

Die antike Sklaverei verfiel in Europa als verfrühter Kapitalismus, hat der Kapitalismus als überalterter einen umgekehrten Verfallsprozeß?

Der "reale Sozialismus" hat uns mit seinem Untergang nicht nur ein abschreckendes Beispiel, einen negativen moralischen Effekt hinterlassen, sondern auch eine Vielzahl von Fetischisierungen wie die Fetischisierung der Arbeiterklasse, der objektiven gesellschaftlichen Gesetze, der sozialistischen Führer und zugleich das Gegenteil der Fetischisierungen, die Diskriminierungen. Wir müssen Abschied nehmen vom "realen Sozialismus" um uns ein ungetrübtes Bild vom wirklichen Sozialismus machen zu können und zugleich den "realen Sozialismus" und seine positive und negative Hinterlassenschaft dialektisch aufheben.

Wenn wir das bisherige Bild von unserer Geschichte um- und umschütteln und unsere kurzsichtigen Vorstellungen von der sozialistischen Weltrevolution verwerfen, kann uns das in die tiefste Verwirrung stürzen. In Wahrheit verwerfen wir nur schematische Geschichtsbilder und unhaltbare Illusionen. Dafür gewinnen wir wirkliche historische Sicherheit. Wenn auch in anderen, eben historischen Dimensionen. Wir können uns endlich und endgültig unseres Ortes in der Geschichte gewiß sein.

Der hochberühmte Archimedes soll gesagt haben: Gebt mir einen festen Punkt, und ich hebe euch die Welt aus den Angeln. Es muß aber umgekehrt heißen: Ich gebe euch einen festen Punkt, damit ihr die Welt in die Angeln heben könnt. Und dieser feste Punkt ist für uns die eigentliche Revolution in ihrer Aufgabe, die menschliche Gesellschaft natürlich einzurichten. Und der aufgestockte historische Materialismus, der historische Materialismus der Beletage befähigt uns, diesen Punkt zu erfassen. Gelingt uns das nicht, fallen wir durch - in ein bodenloses Nichts.

Dann hat die Welt ein Loch.

Autor: Gerhard Branstner
Erstveröffentlichung: Kalaschnikow - Das Politmagazin
Ausgabe 11, Heft 2/98
Quelle: Philosophischer Salon e.V., Berlin