Michael Heinrich

Geschichtsphilosophie bei Marx[1]

in: Diethard Behrens (Hrsg.), Geschichtsphilosophie oder Das Begreifen der Historizität, Freiburg: ca ira Verlag, 1999, S.127-139

 

1. Geschichtsphilosophisches Denken

In der Literatur über Marx ist es seit langem umstritten, ob man bei ihm von einer "Geschichtsphilosophie" sprechen kann. Viele Kritiker werfen Marx vor, die materialistische Geschichtsauffassung im allgemeinen und das Kapital im besonderen würden auf geschichtsphilosophischen Prämissen beruhen, seien daher im Kern unwissenschaftliche Spekulationen. Marx selbst wandte sich eindeutig gegen einer geschichtsphilosophische Interpretation des Kapital. In einem Brief an die Redaktion des "Otetschestwennyje Sapiski" schreibt er über einen Kritiker:

"Er muß durchaus meine historische Skizze von der Entstehung des Kapitalismus in Westeuropa in eine geschichtsphilosophische Theorie des allgemeinen Entwicklungsganges verwandeln, der allen Völkern schicksalsmäßig vorgeschrieben ist..." (MEW 19/111).

Entschieden distanziert sich Marx von "dem Universalschlüssel einer allgemeinen geschichtsphilosophischen Theorie, deren größter Vorzug darin besteht, übergeschichtlich zu sein" (MEW 19/112).

In diesem Sinne einer übergeschichtlichen Entwicklungstheorie, die für alle Völker Gültigkeit beansprucht, ist Marx sicher kein Geschichtsphilosoph.[2] Allerdings ist mit dieser von Marx benutzten Bestimmung keineswegs ausgeschöpft, was üblicherweise unter Geschichtsphilosophie verstanden wird. Von geschichtsphilosophischem Denken (oder - da es nicht auf das Wort Geschichtsphilosophie ankommt - von spekulativem Geschichtsdenken) kann man auch dann sprechen, wenn implizit oder explizit versucht wird, nicht nur besondere historische Entwicklungen, sondern Geschichte als eine Totalität, in die immer schon Vergangenheit und Zukunft eingeschlossen ist, zu erfassen. Häufig werden dabei folgende Konstruktionen verwandt:

a) Es wird unterstellt, daß es gewisse in der Geschichte wirkende Kräfte, Momente etc. gibt, die in allen (oder wenigstens fast allen) Epochen wirksam sind und die ein mehr oder minder vollständiges Erklärungsgerüst für den geschichtlichen Ablauf abgeben (und dabei durchaus unterschiedliche Entwicklungswege für unterschiedliche Völker zulassen können, wobei die Erklärungsstruktur jeweils dieselbe ist; sie wird nur auf unterschiedliche Bedingungen angewendet). Von solchen Hypostasierungen ist allerdings eine bloße Heuristik zu unterscheiden: wird die "Dialektik von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen" bereits als Erklärung des geschichtlichen Ablaufs genommen oder als Hinweis, daß sich die historische Forschung eben nicht nur auf die Haupt- und Staatsaktionen beschränken darf, sondern die materiellen Bedingungen, unter denen sie stattfinden, berücksichtigen muß, wobei aber das, was sich dann als Erklärung eines bestimmten Prozesses ergibt, noch längst nicht festgelegt ist.

b) Es wird eine (auch in der Zukunft) nicht mehr überbietbare Gesamterkenntnis der Totalität Geschichte unterstellt. Insbesondere wenn die wirkenden Kräfte identifiziert sind, ist nicht nur der Ablauf der Vergangenheit erklärt, auch die Zukunft ist verstanden: sie ist zwar nicht in ihren Einzelheiten vorauszusagen, der wesentliche Lauf der Dinge scheint aber klar zu sein, grundlegende Überraschungen sind ausgeschlossen. Besonders deutlich wird dies in Konstruktionen, die einen "Kulminationspunkt" annehmen, mit dem die bisherige Geschichte in gewisser Weise endet: ein grundlegend "anderer" Zustand soll nun folgen (eventuell steht auch eine klare Alternative von zweien dieser "ganz anderen" Zustände zur Debatte: "Sozialismus oder Barbarei").

c) Bei der Artikulierung dieser Gesamterkenntnis wird unterstellt, daß sich die Totalität "Geschichte" (und nicht bloß einzelne Ereignisketten) als "Entwicklung" fassen läßt, die in den einzelnen geschichtsphilosophischen Entwürfen ganz unterschiedliche Gestalt annimmt: Fortschritt zu oder Abstieg von einem goldenen Zeitalter, ewiger Zirkel, der immer wieder dieselben Phasen durchläuft oder die bekannte Trias von ursprünglicher Einheit - Verlust dieser Einheit - Rückkehr und Wiederherstellung der Einheit (auf höherer Ebene). Durch den Inhalt der jeweiligen Entwicklung wird dann ein spezifischer "Sinn" der Geschichte konstituiert.

d) Für die Gewinnung dieser Gesamterkenntnis wird meistens unterstellt, daß in der bisherigen geschichtlichen Entwicklung gerade jetzt ein einzigartiger "privilegierter" Ort erreicht wurde, ein Ort, von dem aus eine - auch in Zukunft nicht mehr überbietbare - Erkenntnis der Geschichte als Totalität erst möglich wird: es wird behauptet die geschichtliche Wirklichkeit habe sich soweit entwickelt, daß sie jetzt (endlich) durchschaubar geworden sei. Dieser privilegierte Ort legitimiert den eigenen Anspruch auf Erkenntnis und erklärt zugleich, warum diese Erkenntnis früheren Generationen nicht zugänglich war und warum die künftigen Generationen keinen prinzipiellen historischen Erkenntnisfortschritt mehr erzielen können. Zwar wird auch eine nicht-spekulative Untersuchung geschichtlicher Ereignisse feststellen, daß viele Entwicklungen erst ab einem gewissen Reifegrad deutlich werden, daß also bestimmte Erkenntnisse nicht von allen historischen Positionen aus gleichermaßen zu gewinnen sind. Spekulativ wird die Sache aber dann, wenn behauptet wird, daß ein Punkt erreicht wurde, von dem aus die definitive, nicht mehr überbietbare Erkenntnis möglich wird, ein Punkt der sozusagen die höchstmögliche Aussichtsplattform darstellen soll.

 

Problematisch erscheinen mir die gerade skizzierte Konstruktionen (gleichgültig ob man sie nun als Geschichtsphilosophie bezeichnet oder nicht) vor allem unter zwei Aspekten:

- der Gegenstandskonstitution: "die" Geschichte ist eine ähnliche Hypostasierung wie "der" Mensch oder "die" Natur, also ein Gegenstand, der sich selbst noch einer Mystifikation verdankt,

- die Voraussetzung der Möglichkeit einer nicht mehr überbietbaren, also "absoluten" historischen Erkenntnis.

 

Ob ein in dem skizzierten Sinne geschichtsphilosophischer Ansatz bei Marx vorliegt, kann nicht generell beantwortet werden, sondern nur anhand einzelner Texte. Denn unabhängig davon wie man "Brüche" oder "Kontinuitäten" zwischen "jungem" und "altem" Marx beurteilt, zumindest erhebliche Verschiebungen von Thematik und Argumentationsweise sind wohl kaum zu bestreiten. Legt man die genannten Momente als eine Art Raster an, so ist auch nicht von vornherein zu erwarten, daß sich die Verschiebungen in allen diesen Momenten synchron vollziehen: eher ist mit ungleichzeitigen Entwicklungen und daraus resultierenden Spannungen und Ambivalenzen zu rechnen.

 

2. Ökonomisch-philosophische Manuskripte von 1844

Da es mir vor allem um die Frage geht, ob und inwieweit geschichtsphilosophische Tendenzen in der Kritik der politischen Ökonomie eine Rolle spielen, gehe ich nur kurz auf die vor 1857 entstandenen Texte ein.

Verschiedene der oben angeführten Momente treten in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten deutlich hervor. Als Beispiel sei lediglich das folgende Zitat über den Kommunismus als das "aufgelöste Räthsel der Geschichte" angeführt:

"Der Communismus als positive Aufhebung des Privateigenthums als menschlicher Selbstentfremdung und darum als wirkliche Aneignung des menschlichen Wesens durch und für d[en] Menschen; darum als vollständige, bewußt und innerhalb des ganzen Reichthums der bisherigen Entwicklung gewordene Rückkehr des Menschen für sich als eines gesellschaftlichen, d.h. menschlichen Menschen. Dieser Communismus ist als vollendeter Naturalismus = Humanismus, als vollendeter Humanismus = Naturalismus, er ist die wahrhafte Auflösung des Widerstreits des Menschen mit der Natur und mit d[em] Menschen, die wahre Auflösung zwischen Existenz und Wesen, zwischen Vergegenständlichung und Selbstbestätigung, zwischen Freiheit und Nothwendigkeit, zwischen Individuum und Gattung. Er ist das aufgelöste Räthsel der Geschichte und weiß sich als diese Lösung.

Die ganze Bewegung der Geschichte ist daher, wie sein wirklicher Zeugungsakt - der Geburtsakt seines empirischen Daseins - so auch für sein denkendes Bewußtsein die begriffene und gewußte Bewegung seines Werdens..." (MEGA I.2/263; MEW 40/536)

Nicht nur, daß hier eine Geschichtsphilosophie vorliegt, ist festzuhalten, sondern auch daß es sich um eine - trotz aller Betonung der Gesellschaftlichkeit des Menschen - insofern idealistische Geschichtsphilosophie handelt, als ein "menschliches Wesen" mit der Wirklichkeit konfrontiert wird und deren Entwicklung als ursprüngliche Einheit, Verlust (Entfremdung) und Rückkehr zu dieser Einheit von Wesen und Existenz (Kommunismus) gefaßt wird.[3]

 

3. Deutsche Ideologie

In den Feuerbachthesen und der Deutschen Ideologie formuliert Marx eine Kritik der 1844 von ihm selbst vertretenen Wesensphilosophie. Während er damals noch schrieb, daß "die ganze sogenannte Weltgeschichte nichts anders ist als die Erzeugung des Menschen durch die menschliche Arbeit" (MEGA I.2/274; MEW 40/546), heißt es jetzt:

"Wenn man diese Entwicklung der Individuen in den gemeinsamen Existenzbedingungen der geschichtlich aufeinanderfolgenden Stände und Klassen und den ihnen damit aufgedrängten allgemeinen Vorstellungen philosophisch betrachtet, so kann man sich allerdings leicht einbilden, in diesen Individuen habe sich die Gattung oder der Mensch, oder sie haben den Menschen entwickelt" (MEW 3/75).

Es wird jetzt immer wieder betont, daß von den "wirklichen Voraussetzungen" auszugehen sei und ein radikal empiristisches Forschungsprogramm formuliert:

"Die Tatsache ist also die: bestimmte Individuen, die auf bestimmte Weise produktiv tätig sind, gehen diese bestimmten gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse ein. Die empirische Beobachtung muß in jedem einzelnen Fall den Zusammenhang der gesellschaftlichen und politischen Gliederung mit der Produktion empirisch und ohne alle Mystifikation und Spekulation aufweisen." (MEW 3/25)

Unter diesen Bedingungen sollen "Abstraktionen" nur noch einen heuristischen Wert haben:

"Die selbständige Philosophie verliert mit der Darstellung der Wirklichkeit ihr Existenzmedium. An ihre Stelle kann höchstens eine Zusammenfassung der allgemeinsten Resultate treten, die sich aus der Betrachtung der historischen Entwicklung der Menschen abstrahieren lassen. Diese Abstraktionen haben für sich, getrennt von der wirklichen Geschichte, durchaus keinen Wert. Sie können nur dazu dienen, die Ordnung des geschichtlichen Materials zu erleichtern. (...) Wir nehmen hier einige dieser Abstraktionen heraus, die wir gegenüber der Ideologie gebrauchen, und werden sie an historischen Beispielen erläutern." (MEW 3/27)

Allerdings werden diese Abstraktionen nicht ausschließlich heuristisch oder kritisch verwendet, sondern auch als eine Ontologie geschichtlichen Seins, geschichtsphilosophisch:

"Diese verschiedenen Bedingungen, die zuerst als Bedingungen der Selbstbetätigung später als Fesseln derselben erschienen, bilden in der ganzen geschichtlichen Entwicklung eine zusammenhängende Reihe von Verkehrsformen, deren Zusammenhang darin besteht, daß an die Stelle der früheren, zur Fessel gewordenen Verkehrsform eine neue, den entwickelteren Produktivkräften und damit der fortgeschrittenen Art der Selbstbetätigung der Individuen gesetzt wird, die à son tour wieder zur Fessel und dann durch eine andre ersetzt wird." (MEW 3/72)

An solchen Stellen wird das Ergebnis der geforderten "empirischen" Untersuchung vorweggenommen und statt einer "idealistischen" eine "materialistische" Geschichtsphilosophie entfaltet.

In der Deutschen Ideologie paart sich ein noch ungenügender sachlicher Kenntnisstand (der sich z.B. in der Verwendung der "Teilung der Arbeit" als Allzweckwaffe der Erklärung niederschlägt) mit zuweilen recht krude klingenden Bekenntnissen zu einem Empirismus, in dessen Rahmen "Abstraktionen" rein nominalistisch aufgefaßt werden. Über den erkenntnistheoretischen Stellenwert von begrifflichen Abstraktionen, wie sie in der Einleitung von 1857 formuliert werden[4], ist sich Marx bei der Abfassung der Deutschen Ideologie jedenfalls noch längst nicht im klaren. Damit wird es auch möglich, daß die mit diesen Abstraktionen in der Deutschen Ideologie verbundene erkenntniskritische Absicht der Auflösung von Hypostasierungen zu Ergebnissen führt, die auf der Kippe zur Ontologisierung stehen. In der älteren sozialdemokratischen und der marxistisch-leninistischen Orthodoxie wurde dieses Gemenge dann in Richtung materialistischer Ontologie und Geschichtsphilosophie aufgelöst. Linke Kritiker dieser Ontologisierung stützten sich dagegen häufig auf den Idealismus der Konstruktionen von 1844, bekämpften also die materialistische Geschichtsphilosophie mit der idealistischen.[5]

Geschichtsphilosophische Aussagen lassen sich auch im Kommunistischen Manifest finden (etwa wenn der Untergang der Bourgeoisie zum "unvermeidlichen" Resultat der Entwicklung des Kapitalismus erklärt wird). Allerdings ist zu berücksichtigen, daß es sich um eine populäre Programmschrift handelt, die auf agitatorische Wirkung aus ist und dazu auch entsprechende Zuspitzungen benutzt.[6]

 

4. Kritik der politischen Ökonomie ab 1857

Auf verschiedenen Ebenen finden sich auch in der Zeit nach 1857 geschichtsphilosophische Argumentationen. Einerseits im Zusammenhang mit einzelnen Punkten der Darstellung, zum anderen in den eher "deklamatorischen" Teilen, wie dem Vorwort von 1859 oder dem Abschnitt Geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumulation am Ende des ersten Bandes des Kapitals.

Textstellen, die zum ersten Typus gehören, können nicht über einen Leisten geschlagen werden, sie müssen jeweils einzeln untersucht und in die Entwicklung der Marxschen Argumentation eingeordnet werden. Dies soll hier für eine häufig angesprochene Stelle[7] aus den Grundrissen versucht werden.

In Zusammenhang mit der Darstellung von fixem und zirkulierendem Kapital konstatiert Marx aufgrund des zunehmenden Einsatzes von Wissenschaft und Technologie eine grundlegende Veränderung im kapitalistischen Produktionsprozeß:

"Die Arbeit erscheint nicht mehr so sehr in den Productionsprocess eingeschlossen, als sich der Mensch vielmehr als Wächter und Regulator zum Productionsprocess selbst verhält. (...) Er tritt neben den Productionsprocess, statt sein Hauptagent zu sein." (MEGA II.1.2/581; MEW 42, 601)

Daraus folgert Marx zunächst, daß die Produktion des Reichtums nicht mehr in erster Linie von der im Produktionsprozeß unmittelbar verrichteten Arbeit abhängt, sondern von der Anwendung der "allgemeinen Produktivkraft", der Wissenschaft. Aus diesen Veränderungen innerhalb des kapitalistischen Produktionsprozesses wird nun aber gleich auf den notwendigen "Zusammenbruch" der kapitalistischen Produktionsweise selbst geschlossen:

"Sobald die Arbeit in unmittelbarer Form aufgehört hat, die grosse Quelle des Reichthums zu sein, hört und muß aufhören die Arbeitszeit sein Maaß zu sein und daher der Tauschwerth [das Maaß] des Gebrauchswerths. Die Surplusarbeit der Masse hat aufgehört Bedingung für die Entwicklung des allgemeinen Reichthums zu sein, ebenso wie die Nichtarbeit der Wenigen für die Entwicklung der allgemeinen Mächte des menschlichen Kopfes. Damit bricht die auf dem Tauschwerth beruhende Production zusammen..." (MEGA I.1.2/581f; MEW 42, 601).

Die technische und organisatorische Entwicklung des Produktionsprozesses selbst, soll also die Grundlage des Kapitals, Arbeit als Maß des Werts, untergraben, was dann zum Zusammenbruch der ganzen Produktionsweise führen würde. Dieser Gedanke wird gleich anschließend noch einmal mit etwas anderer Akzentuierung wiederholt:

"Das Capital ist selbst der processirende Widerspruch [dadurch], daß es die Arbeitszeit auf ein Minimum zu reduciren strebt, während es andrerseits die Arbeitszeit als einziges Maaß und Quelle des Reichthums sezt." (MEGA II.1.2/582; MEW 42, 601)

Und an diesem Widerspruch - so kann man in Anlehnung an die erste Stelle formulieren - wird das Kapital zugrunde gehen.

Die Phänomene, die Marx hier noch in Zusammenhang mit dem Fixkapital analysiert, tauchen im ersten Band des Kapital an verschiedenen Stellen wieder auf - als Bestandteil der Untersuchung der Produktion des relativen Mehrwerts, einer Kategorie, die sich in den Grundrissen allenfalls rudimentär andeutet.

Die angesprochenen Veränderungen des Produktionsprozesses werden nicht nur im Kapitel über Maschinerie abgehandelt (MEGA II.5, 348; MEW 23/446), sondern auch in den Kapiteln über Kooperation (MEGA II.5, 270; MEW 23/353) und Teilung der Arbeit (MEGA II.5, 294; MEW 23/382). Was an der angeführten Stelle in den Grundrissen zu einem Kulminationspunkt der Entwicklung wurde, ist jetzt als eine jeder kapitalistischen Produktion inhärente Tendenz aufgezeigt - die "Scheidung der geistigen Potenzen des Produktionsprozesses von der Handarbeit" (MEGA II.5, 348; MEW 23/446). Und diese Tendenz, fern davon das Kapitalverhältnis aufzusprengen, ist gerade "Verwandlung derselben [der geistigen Potenzen, M.H.] in Mächte des Kapitals über die Arbeit" (ebd.), also ein Moment der Steigerung der Macht des Kapitals und keineswegs eine Unterminierung dieser Macht.

Die Wertseite des in den Grundrissen angesprochenen Prozesses wird jetzt als immanente Tendenz des Kapitals zur Steigerung des relativen Mehrwerts begriffen. Der "processierende Widerspruch" (Reduktion der Arbeitszeit auf ein Minimum, obwohl Arbeitszeit Maß des Wertes ist), von dem Marx in den Grundrissen so frappiert war, daß er gleich die ganze auf dem Tauschwert beruhende Produktion zusammenbrechen sah, ist jetzt auf ein in der Theoriegeschichte aufgetretenes "Räthsel" geschrumpft, mit dem bereits Quesnay seine Gegner gequält habe (MEGA II.5, 258; MEW 23/338f), das allerdings leicht zu begreifen ist, wenn man berücksichtigt, daß es den Kapitalisten nicht um die Wertgröße der Ware, sondern um den in ihr steckenden Mehrwert geht. Die Verringerung der in der einzelnen Ware steckenden Arbeitszeit kann durchaus mit einer Vergrößerung des in ihr enthaltenen Mehrwerts einhergehen (und wie der Abschnitt über die Produktion des relativen Mehrwerts zeigen soll, ist dies keine Ausnahme, sondern unter den spezifisch kapitalistischen Produktionsbedingungen die Regel).

Die geschichtsphilosophische Spekulation über den Zusammenbruch der auf dem Tauschwert beruhenden Produktion beruhte an dieser Stelle also auf noch unzureichenden Vorstellungen von dieser Produktionsweise und verschwindet mit der Klärung dieser Vorstellungen. Eine mit der angeführten Stelle in den Grundrissen vergleichbare Überlegung über den Zusammenbruch des Kapitalismus aufgrund der mit der Entwicklung der Produktivkräfte einhergehenden Verbilligung der Waren, findet sich weder im Manuskript 1861-63 noch in den verschiedenen nach 1863 entstandenen Manuskripten zum Kapital (obwohl die Bedeutung der Entwicklung der Produktivkräfte für die kapitalistische Akkumulation ein zentrales Thema bleibt), was die Folgerung nahelegt, daß Marx an diesem frühen Gedankenblitz (im Unterschied zu manchen seiner Interpreten) nicht mehr länger festhielt.

Allerdings findet die Überwindung geschichtsphilosophischer Spekulation nicht an allen Stellen statt. Abgesehen von Einzelstellen, insbesondere in Zusammenhang mit dem Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate, die gesondert diskutiert werden müßten, sind hier vor allem das Vorwort von 1859 und der Abschnitt Geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumulation aus dem ersten Band des Kapital zu nennen. Diese beiden Texte habe ich oben als "deklamatorisch" bezeichnet, weil in ihnen nicht argumentiert, sondern lediglich etwas, das Marx als Resultat vorausgegangener Forschung ansah, vorgetragen wird.[8]

Geschichtsphilosophisch wird das Vorwort von 1859 wenn man solche apodiktischen Aussagen wie "Eine Gesellschaftsform geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist..." und "Daher stellt sich die Menschheit immer nur Aufgaben, die sie lösen kann..." (MEGA I.2/101; MEW 13/9) wörtlich nimmt. Gegen einen einfachen Entwicklungsdeterminismus spricht zwar, daß Marx verschiedene Produktionsweisen bloß auflistet, und damit "Geschichte" in einem emphatischen, auf die innere Dynamik abhebenden Sinn, als wiederholt einsetzenden Prozeß denken kann.[9] In Gestalt der kapitalistischen Produktionsweise soll diese Geschichte aber auf jeden Fall abschließen, womit die nicht mehr zu überbietende Gesamterkenntnis von Vergangenheit und Zukunft erreicht ist:

"Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprocesses... Mit dieser Gesellschaftsformation schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab." (Ebd.)

Im zweiten Text (Geschichtliche Tendenz...) findet man nicht weniger apodiktische Urteile. So heißt es über die auf dem Privateigentum des Arbeiters an seinen Produktionsmitteln beruhende Produktionsweise:

"Auf einem gewissen Höhegrad bringt sie die materiellen Mittel ihrer eignen Vernichtung zur Welt. Von diesem Augenblick regen sich Kräfte und Leidenschaften im Gesellschaftsschoose, welche sich von ihr gefesselt fühlen. Sie muß vernichtet werden, sie wird vernichtet." (MEGA II.5, 608; MEW 23/789)

Für unterschiedliche historische Milieus (MEW 19/112), von denen man selbst in Westeuropa sprechen kann, auf das Marx in der französischen Ausgabe und in den Sassulitsch-Briefen seine Darstellung der ursprünglichen Akkumulation einschränkte (in der Erstauflage des Kapital wird eine solche Einschränkung nicht gemacht), für irgendwelche Kontingenzen etc. ist aber in der zitierten Äußerung kein Platz. Geschichte läuft hier mit der Unerbittlichkeit eines Uhrwerkes ab. Und diese Unerbittlichkeit wird nicht nur für die Vergangenheit, sondern auch für die Zukunft geltend gemacht:

"Das Kapitalmonopol wird zur Fessel einer Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Koncentration der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Privateigenthums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriirt." (MEGA II.5, 609; MEW 23/791)

Versteht man diese Sätze so wie sie niedergeschrieben worden sind, dann ist die zukünftige Entwicklung zumindest in einem Punkt eindeutig determiniert: der Kapitalismus wird untergehen.

In den Jahren nach 1867 wurden solche Botschaften in der aufstrebenden Arbeiterbewegung freudig aufgenommen: sie konnte den Unterdrückten, den Ausgeschlossenen, den in einer Gesellschaft voller Standesdünkel permanent Gedemütigten Selbstbewußtsein, Kraft und Durchhaltevermögen verleihen - ihnen gehörte die Zukunft und nicht ihren Herren.

Heute erscheint (zumindest in der wissenschaftlichen Diskussion) die Behauptung eines historischen Determinismus als eine eher peinliche Angelegenheit. Undogmatische Marxisten möchten ihn daher gerne einer verengten Rezeption der II. und III. Internationale anlasten und Marx in der einen oder anderen Weise von diesem Makel befreien.

Diesen nicht-deterministischen Interpretationsversuchen stehen allerdings nicht nur die gerade zitierten Aussagen entgegen, sondern auch noch weitere, mit denen Marx seine Position verstärkt: "Die Negation der kapitalistischen Produktion wird durch sie selbst, mit der Nothwendigkeit eines Naturprozesses, producirt." (Ebd.) Berücksichtigt man die Konnotationen, die "Nothwendigkeit eines Naturprozesses" im 19. Jahrhundert wahrscheinlich hatte (die klassische Mechanik als Inbegriff exakter Wissenschaft, der Laplacesche "Geist", für den Vergangenheit und Zukunft des Universums bekannt sind, wenn er nur Position und Impuls kennt, die die Körper gegenwärtig einnehmen etc.), dann ist dieser Ausdruck geradezu ein Synonym für Determinismus.

Und noch ein weiteres Mal bekräftigt Marx seine Position, indem er eine längere Passage aus dem Kommunistischen Manifest zitiert, in der es unter anderem heißt: "Ihr [der Bourgoisie, M.H.] Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich" (ebd.).

Was Marx hinsichtlich der künftigen historischen Entwicklung tatsächlich begründen kann, ist etwas anderes, als das, was er in dem Abschnitt Geschichtliche Tendenz als Ergebnis seiner vorangegangenen Darstellung glaubt festhalten zu können. Verallgemeinern läßt sich wohl das Resultat seiner Analyse der Fabrikgesetzgebung:

"Mit den materiellen Bedingungen und der gesellschaftlichen Kombination des Produktionsprozesses reift sie [die Fabrikgesetzgebung, M.H.] die Widersprüche und Antagonismen seiner kapitalistischen Form, daher gleichzeitig die Bildungselemente einer neuen und die Umwälzungsmomente der alten Gesellschaft." (MEGA II.5, 408; MEW 23/526)

Marx kann die materiellen (und nicht bloß erdachten) Möglichkeiten einer neuen Gesellschaftsformation deutlich machen, er kann zugleich die Widersprüche und Auflösungstendenzen, die in der kapitalistischen Produktionsweise angelegten "Minen" aufzeigen. Welche tatsächliche Sprengkraft diese Minen aber besitzen, ist damit noch längst nicht ausgemacht und erst recht nicht, ob sie überhaupt je zur Sprengung ausreichen werden. Diese Vorsicht ist um so mehr angebracht, da die Marxsche Analyse ja nicht nur die "Umwälzungsmomente" liefert, sondern auch diejenigen Momente, die der kapitalistischen Produktionsweise Flexibilität und Stabilität verleihen: sei es auf ökonomischer Ebene die Akkumulations- und Krisendynamik, die nicht nur Widersprüche schafft, sondern auch die Mittel zur (kapitalistischen) Überwindung dieser Widersprüche, oder sei es auf der Ebene von Bewußtsein und Handlung, wo es gerade die fetischisierten Formen des Bewußtseins sind, die es ermöglichen, daß die von Marx emphatisch erwartete "Empörung ... der vereinten und organisirten Arbeiterklasse" (MEGA II.5, 609; MEW 23/790f) in systemkonforme Bahnen gelenkt werden kann.[10] Aus der Marxschen Analyse können also Momente entnommen werden, die relevant für die künftige Entwicklung sind, allerdings ist das Ausmaß dieser Relevanz, der Umfang ihrer Wirksamkeit (der sich historisch ja auch noch ändert) und damit die Richtung der historischen Entwicklung aufgrund dieser Analyse nicht zu bestimmen.

 

Als Fazit lassen sich zwei Punkte festhalten:

1. Auch noch in der Kritik der politischen Ökonomie nach 1857 finden sich geschichtsphilosophische und geschichtsdeterministische Aussagen auf unterschiedlichen Ebenen. Einen wissenschaftlichen Gehalt, der von der Kritik der politischen Ökonomie gedeckt wäre, können solche Passagen aber nicht beanspruchen.

2. Diese geschichtsphilosophischen Passagen sind jedoch nicht konstitutiv für die wissenschaftliche Analyse (wie zum Teil von Kritikern behauptet wird), sie stellen keine Voraussetzung für wesentliche Argumentationen der Kritik der politischen Ökonomie dar. Es handelt sich entweder um Einzelstellen oder bei den allgemeineren Passagen um "Beigaben" in den deklamatorischen und wohl auch auf Publikumswirksamkeit hin angelegten Teilen. Verzichtet man auf diese problematischen Passagen, so ändert dies nichts für den wissenschaftlichen Korpus des Marxschen Werkes.

Angesichts dessen, erscheinen mir die zuweilen vertretenen "freundlichen" Interpretationsstrategien, die darauf hinauslaufen, den Punkt 2 zum Rettungsanker für das von Punkt 1 aufgeworfene Problem zu machen (nach dem Motto: "Wenn der wesentliche Korpus nicht geschichtsphilosophisch ist, dann können die umstrittenen Passagen doch wohl nicht so gemeint sein, wie sie von Marx formuliert worden sind"), als Rettungsversuche, die ebenso unnötig wie untauglich sind.

 



[1]   Überarbeitete Fassung eines Beitrages zum Colloquium der Marx-Gesellschaft am 24.-26.3.1995 in Oer-Erkenschwick, eine erste Fassung des Textes erschien bereits in "Geschichte und materialistische Geschichtstheorie bei Marx. Beiträge zur Marx-Engels Forschung Neue Folge 1996", Hamburg, Argument-Verlag 1996, S.62-72.

[2]   Obwohl in der Geschichte des Marxismus die materialistische Geschichtsauffassung häufig als ein solcher Universalschlüssel aufgefaßt wurde.

[3]   An anderer Stelle habe ich mich ausführlicher mit der Wesensphilosophie des jungen Marx auseinandergesetzt, vgl. Michael Heinrich, Die Wissenschaft vom Wert. Die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie zwischen wissenschaftlicher Revolution und klassischer Tradition, Hamburg 1991 (insbesondere Kapitel 3).

[4]   Nur zwei Momente sollen hier erwähnt werden: zum einen macht Marx geltend, daß sich der "denkende Kopf" die Wirklichkeit gar nicht anders aneignen kann denn als eine "Gedankentotalität", also begrifflich-abstrakt (MEGA II/1.1, 37; MEW 42, 36), andererseits tragen, wie er am Begriff der Arbeit deutlich macht, selbst die scheinbar elmentarsten Abstraktionen noch einen historischen Stempel, den es zunächst einmal zu dechiffrieren gilt (MEGA II/1.1, 38-40; MEW 42, 36-39).

[5]   An dieser Stelle ist auch eine Selbstkritik angebracht. In der Wissenschaft vom Wert  hatte ich, statt diese Gemengelage überhaupt zu konstatieren, die nicht-ontologische, erkenntniskritische Lesart als sozusagen authentischen Text aufgefaßt (vergl. insbes. S.137-140).

[6]   Problematisch wird dies erst dann, wenn im Kommunistischen Manifest nicht eine auf politische Wirkung zielende Agitationsschrift gesehen wird, die auf einer (gemessen am Kapital) noch recht unentwickelten Analyse der kapitalistischen Ökonomie beruht, sondern bereits ein wissenschaftlicher Text, was in der Geschichte des Marxismus aber nur allzu häufig passierte.

[7]   Immer dann, wenn Zusammenbruchstheorien des Kapitalismus in Teilen der Linken Konjunktur haben, erinnert man sich gerne dieser Stelle, um Marx zu einem Kronzeugen für eine solche Auffassung zu machen.

[8]   Im Vorwort von 1859 spricht Marx von dem "allgemeinen Resultat, das sich mir ergab" (MEGA II.2/100; MEW 13/8) und über den Abschnitt Geschichtliche Tendenz... schreibt er in dem bereits zu Anfang zitierten Brief an die Redaktion des "Otetschestwennyje Sapiski", daß es sich dabei um "die summarische Zusammenfassung langer Entwicklungen, die vorher in den Kapiteln über die kapitalistische Produktion gegeben worden sind" (MEW 19/119) handelt.

[9]   Wie von Helmut Reichelt in einem Papier für ein früheres Colloquium der Marx-Gesellschaft hervorgehoben wurde.

[10]  Nicht nur Waren- und Geldfetischismus wären hier zu nennen, sondern vor allem die Lohnform, in der der Wert der Arbeitskraft als Wert der Arbeit erscheint, und über die Marx urteilt, auf ihr "beruhn alle Rechtsvorstellungen des Arbeiters wie des Kapitalisten, alle Mystifikationen der kapitalistischen Produktionsweise, alle ihre Freiheitsillusionen, alle apologetischen Flausen der Vulgärökonomie." (MEGA II.5, 437; MEW 23, 562). Berücksichtigt man dies aber, dann ist viel eher zu erwarten, daß die "Empörung" zur Forderung nach einem "gerechten" Lohn führt als zu der nach der Abschaffung der Lohnarbeit.