http://www.oekonomiekritik.de/103Klassen.htm
Michael
Heinrich
Zusätzliches
Unterkapitel in der 2. Auflage von „Kritik der politischen Ökonomie. Eine
Einführung“, Stuttgart, Schmetterling Verlag, November 2004, S.193-201.
10.3 Klassen,
Klassenkampf und Geschichtsdeterminismus
Viele Strömungen des traditionellen Marxismus
verstanden die Marxsche Kapitalanalyse in erster Linie als Klassenanalyse, als
Untersuchung des Kampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat. Den meisten der
heutigen Konservativen und Liberalen gelten die Begriffe „Klassen“ und
insbesondere „Klassenkampf“ als „ideologisch“, was so viel heißen soll wie
„unwissenschaftlich“. In der Regel sind es meistens Linke, die diese Begriffe
benutzen. Allerdings ist die Rede von Klassen keineswegs spezifisch für Marx.
Schon vor Marx sprachen bürgerliche Historiker von Klassen und Klassenkampf und
David Ricardo, der wichtigste Vertreter der klassischen politischen Ökonomie,
stellte die fundamental gegensätzlichen Interessen der drei großen Klassen der
kapitalistischen Gesellschaften (Kapitalisten, Grundeigentümer, Arbeiter)
heraus.
Klassen und Klassenkampf bildeten für Marx vor allem
im „Kommunistischen Manifest“ (1848) den zentralen Bezugspunkt seiner
Argumentation. Dort findet sich gleich zu Beginn der berühmte Satz „Die
Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen“
(MEW 4, S. 462). Worin Marx seinen eigenen Beitrag zur Klassentheorie sah,
fasste er 1852 in einem Brief an seinen Freund Weydemeyer zusammen. Marx
betont, er habe keineswegs die Existenz der Klassen oder deren Kampf entdeckt.
Aber er habe nachgewiesen, dass 1. „die Existenz
der Klassen bloß an bestimmte
historische Entwicklungsphasen der Produktion gebunden ist; 2. dass der Klassenkampf
notwendig zur Diktatur des Proletariats führt;
3. dass diese Diktatur selbst nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft bildet“ (MEW 28, S. 508; das Wort
„Diktatur“ meint hier nicht eine autoritäre Herrschaftsform, sondern einfach
nur Klassenherrschaft, unabhängig von ihrer politischen Form). Die Punkte 2.
und 3. klingen sehr deterministisch,
die Geschichte scheint - vom Klassenkampf vorangetrieben - auf ein bestimmtes
Ziel hinzusteuern, eine Auffassung, die man auch im „Kommunistischen Manifest“
findet.
Im „Kapital“ spricht Marx zwar immer wieder von
Klassen, es findet sich aber kein Versuch einer systematischen Behandlung oder
auch nur einer Definition. Erst ganz am Ende des dritten Bandes begann Marx mit
einem Abschnitt über die Klassen und genau hier bricht das Manuskript nach
wenigen Sätzen ab. Aus dieser Anordnung kann man entnehmen, dass eine
systematische Behandlung von Klassen nicht die Voraussetzung seiner Darstellung
bildet, sondern als Resultat an ihrem Ende stehen sollte.
Im folgenden soll nicht darüber spekuliert werden,
was Marx in den ungeschriebenen Abschnitt über die Klassen vielleicht alles
aufnehmen wollte. Vielmehr soll auf Grundlage der Diskussion der Kritik der
politischen Ökonomie, wie sie in den voran gegangenen Kapiteln erfolgte,
zusammengefasst werden, was sich über Klassen und Klassenkampf aussagen lässt.
Der folgende Abschnitt ist also sehr stark von der hier skizzierten Auffassung
der Kritik der politischen Ökonomie abhängig (vgl. einführend zur Marxschen Klassentheorie
Kößler/Wienold 2001, S. 199ff; zu unterschiedlichen klassentheoretischen
Auffassungen vgl. z.B. die Beiträge in Fantômas Nr. 4, 2003 sowie meine
Kontroverse mit Karl Reitter 2004, Heinrich 2004a).
Von gesellschaftlichen Klassen lässt sich in zwei
verschiedenen Bedeutungen sprechen. In einem strukturellen Sinn bestimmen sich Klassen durch ihre Stellung im
gesellschaftlichen Produktionsprozess. Insofern kann jemand einer Klasse
angehören, auch wenn sich die betreffende Person nicht darüber im Klaren ist.
Davon zu unterscheiden sind Klassen in einem historischen Sinn. Dabei handelt es sich um soziale Gruppen, die
sich in einer bestimmten historischen Situation selbst als Klassen im
Unterschied zu anderen Klassen begreifen, die Mitglieder der Klasse zeichnen
sich durch ein gemeinsames „Klassenbewusstsein“ aus.
Im „Kapital“ verwendet Marx den Klassenbegriff
überwiegend im strukturellen Sinn. So wenn er feststellt, dass dem
Kapitalverhältnis ein bestimmtes Klassenverhältnis zugrunde liegt: die Besitzer
von Geld und Produktionsmitteln einerseits, die im doppelten Sinne „freien“
Arbeiter und Arbeiterinnen andererseits (vgl. oben Kapitel 4.3). Als
Mittelklassen oder auch Kleinbürgertum bezeichnete Marx Gruppen, die weder Bourgeois
noch Proletarier sind, vor allem kleine Selbständige wie Handwerker, kleine
Händler oder kleine Bauern.
Klassen im strukturellen Sinn dürfen nicht mit ihren
jeweiligen historischen Ausprägungen identifiziert werden: zum Kapitalisten
gehört nicht notwendigerweise Zigarre und Chauffeur, genauso wenig wie sich
Proletarier auf Industriearbeiter reduzieren, die in einer Arbeitersiedlung
wohnen. Die Auflösung solcher Stereotypen ist kein Beleg für das Ende der
Klassen, sondern lediglich für eine Veränderung ihrer historischen Gestalt.
Wer im strukturellen Sinn zu welcher Klasse gehört,
lässt sich auch nicht durch formelle Eigenschaften bestimmen, wie etwa die
Existenz eines Lohnarbeitsverhältnisses, sondern nur durch die Stellung
innerhalb des Produktionsprozesses. Genauer gesagt: sie lässt sich nur auf der
Ebene des „Gesamtprozesses des Kapitals“ bestimmen, die Marx im dritten Band
erreicht, wo die Einheit von Produktions- und Zirkulationsprozess bereits
vorausgesetzt wird (vgl. oben den Anfang von Kapitel 7). Auf dieser Ebene wird
klar, dass es keineswegs nur Besitz oder Nicht-Besitz von Produktionsmitteln
ist, der über die Klassenzugehörigkeit entscheidet. Der Vorstandsvorsitzende
einer Aktiengesellschaft mag formell ein Lohnarbeiter sein, tatsächlich ist er
„fungierender Kapitalist“, er verfügt über Kapital (auch wenn es nicht sein
Eigentum ist), organisiert die Ausbeutung und seine „Bezahlung“ richtet sich
nicht am Wert seiner Arbeitskraft aus sondern am Mehrwert. Dagegen sind viele
formell Selbständige (die vielleicht sogar einige kleine Produktionsmittel
besitzen) nach wie vor Proletarier, die de facto vom Verkauf ihrer Arbeitskraft
leben, nur dass dies eventuell unter schlechteren Bedingungen erfolgt, als bei
einem formellen Lohnarbeitsverhältnis.
Zwar unterscheiden sich die Lebensumstände
(Einkommen, Bildung bis hin zur Lebenserwartung) der strukturell bestimmten
Klassen „Bourgeoisie“ und „Proletariat“ auch heute noch erheblich, aber auch
innerhalb des „Proletariats“ gibt es eine große Spannbreite ganz
unterschiedlicher Lebensrealitäten (bei Arbeit, Einkommen und Bildung genauso
wie beim Freizeit- und Konsumverhalten). Dass sich eine gemeinsame Klassenlage
in ein gemeinsames Bewusstsein und Handeln umsetzt, sich die strukturell
bestimmte Klasse in eine historisch-soziale Klasse verwandelt, ist daher alles
andere als sicher: es kann passieren oder auch nicht.
Aber auch wenn sich das (strukturell bestimmte)
Proletariat oder Teile davon in eine historische Klasse verwandelt und
Klassenbewusstsein entwickelt, heißt das nicht automatisch, dass zu diesem
Klassenbewusstsein auch die Vorstellung einer emanzipatorischen Überwindung des
Kapitalverhältnisses gehört. Auch das klassenbewusste Proletariat ist nicht
automatisch „revolutionär“.
Im kapitalistischen Produktionsprozess stehen sich
Bourgeoisie und Proletariat direkt gegenüber, die Ausbeutung des Proletariats
ermöglicht erst die Existenz des Kapitals als sich verwertender Wert. Die
konkreten Bedingungen, unter denen sich die Kapitalverwertung vollzieht, sind
stets umkämpft: der Wert der Arbeitskraft muss für die normale Reproduktion
reichen, was aber als normal gilt, hängt auch davon ab, welche Ansprüche die
Arbeiterklasse durchsetzen kann (vgl. Kapitel 4.4). Ebenso umkämpft sind die
Länge des Arbeitszeit (vgl. Kapitel 5.1) und die jeweiligen Bedingungen, unter
denen sich der Produktionsprozess abspielt (vgl. Kapitel 5.4). Insofern
existiert mit dem Kapitalverhältnis immer auch der Klassenkampf, ob er nun so
genannt wird oder nicht. Und insbesondere in Klassenkämpfen kann sich bei den
Kämpfenden Klassenbewusstsein herausbilden, das aber je nach den historischen
Umständen ganz unterschiedlich aussehen kann.
Klassenkämpfe nehmen nicht nur die Form einer unmittelbaren
Konfrontation von Bourgeoisie und Proletariat an, sie können sich auch auf den
Staat beziehen, indem dieser durch staatliche Gesetze bestimmte Positionen
festschreiben oder beseitigen soll (Arbeitszeitbegrenzungen, Kündigungsschutz,
soziale Absicherung etc.). Klassenkonflikte sind allerdings nicht die einzigen
maßgeblichen Konfliktlinien in kapitalistischen Gesellschaften. Für die
gesellschaftliche Entwicklung sind Konflikte um Geschlechterpositionen, rassistischer
Unterdrückung oder den Umgang mit Migrationsbewegungen ebenfalls von
erheblicher Bedeutung.
Der traditionelle Marxismus betrachtete
Klassenkonflikte oft als die einzig wirklich wichtigen gesellschaftlichen
Auseinandersetzungen. Der italienische „Operaismus“, eine in den 60er Jahren entstandene
linksradikale Strömung, sah in Klassenkämpfen sogar den entscheidenden Faktor
für die kapitalistischen Krisen. Dass die erfolgreiche Durchsetzung von
Ansprüchen der Arbeiterklasse Krisen verstärken oder auslösen kann, ist nicht
zu bestreiten. Gerade bürgerliche Ökonomen, wie die modernen Neoklassiker,
stellen im Grunde diesen Zusammenhang heraus, wenn sie zu hohe Löhne, zu starke
Gewerkschaften und zu (arbeitnehmerfreundliche) Regulierungen des
Arbeitsmarktes als Ursachen von Krise und Arbeitslosigkeit anführen. Für die
Analyse der Entwicklung des Kapitalismus in einem bestimmten Land während einer
bestimmten historischen Periode sind Ausmaß und Formen des Klassenkampfs ohne
Zweifel wichtige Größen. Wenn jedoch auf der Ebene der Darstellung der kapitalistischen
Produktionsweise „in ihrem idealen Durchschnitt“ (d.h. auf der
Darstellungsebene des Marxschen „Kapital“ vgl. oben Kapitel 2.1) Krisen auf
Klassenkämpfe reduziert werden, wird der entscheidende Punkt der Marxschen
Krisentheorie verfehlt. Denn Marx wollte gerade zeigen, dass es dem Kapital
immanente Krisentendenzen gibt, die ganz unabhängig vom Stand der Klassenkämpfe
zu Krisen führen. Das heißt, auch wenn der Klassenkampf weitgehend still gestellt
wäre, käme es immer noch zu Krisen.
Klassenkämpfe sind zunächst einmal Kämpfe innerhalb des Kapitalismus: das
Proletariat kämpft um seine Existenzbedingungen als Proletariat, es geht um höhere Löhne oder bessere
Arbeitsbedingungen. Insofern sind Klassenkämpfe kein Anzeichen einer besonderen
Schwäche des Kapitals oder gar einer bevorstehenden Revolution, sondern die
normale Bewegungsform der Auseinandersetzung von Bourgeoisie und Proletariat.
Auch die Begründungen der aufgestellten Forderungen bleiben meistens innerhalb
des von der trinitarischen Formel abgesteckten Rahmens: wird ein „gerechter“
Lohn gefordert, dann wird einer solchen Forderung genau die Irrationalität der
Lohnform (nämlich Lohn als Bezahlung des Werts der Arbeit und nicht als
Bezahlung des Werts der Arbeitskraft, vgl. oben Kapitel 4.5) zugrunde gelegt,
von der schon Marx festgestellt hatte, das sie die Grundlage aller
Rechtsvorstellungen des Arbeiters wie des Kapitalisten bilde (MEW 23, S. 562).
Das heißt, wenn sich in der bürgerlichen Gesellschaft die Menschen, seien es
nun Arbeiter und Arbeiterinnen oder Kapitalisten, über ihre Interessen klar zu
werden versuchen, dann tun sie dies zunächst einmal in den fetischisierten
Denk- und Wahrnehmungsformen, die das spontane Alltagsbewusstsein beherrschen.
Allerdings besitzen Klassenkämpfe auch eine
Eigendynamik. Sie können zu Lern- und Radikalisierungsprozessen führen, bei
denen auch das kapitalistische System als Ganzes in Frage gestellt wird. Der
Fetischismus ist eben nicht undurchdringlich. Vor allem in der
Durchsetzungsphase des modernen Industriekapitalismus wurde auf vom Proletariat
geführte Kämpfe oft mit brutaler staatlicher Unterdrückung reagiert (z.B. Verbot
von Gewerkschaften und Streiks, Verfolgung von Aktivisten), wodurch
Radikalisierungsprozesse häufig noch verstärkt wurden. Im Vergleich zum 19. und
frühen 20. Jahrhundert ist diese unmittelbare Repression in vielen Ländern
zurückgegangen (in einer Reihe von Ländern spielt sie allerdings noch eine
bedeutende Rolle). Heute gibt es in den führenden kapitalistischen Ländern eine
mehr oder wenige starke gesetzliche Regulation der Formen, in denen sich die
direkte Auseinandersetzung zwischen Bourgeoisie und Proletariat abspielt: der
Klassenkampf soll zwar stattfinden können, aber ohne systemgefährdend zu werden
(so ist z.B. in Deutschland das Streik- und Koalitionsrecht gesetzlich
garantiert, aber auch das Recht der Unternehmer auf Aussperrung; garantiert ist
ebenfalls die Tarifautonomie, verboten ist aber der politische Streik). D.h.
bestimmte Kampfformen sind von direkter staatlicher Repression weitgehend frei,
andere werden dafür um so stärker verfolgt.
In der Geschichte des Marxismus kam es in
Zusammenhang mit Klassen und Klassenkampf häufig zu zwei Fehlschlüssen. Zum
einen wurde von der Klassenlage auf ein Klassenbewusstsein geschlossen, das
sich notwendigerweise über kurz oder lang entwickeln würde; und zum anderen
wurde angenommen, dass dieses Klassenbewusstsein einen mehr oder weniger
„revolutionären“ Inhalt haben müsse. Deshalb wurde nicht selten jeder
auftretende Klassenkampf als Vorbote eines bald einsetzenden revolutionären
Endkampfes gedeutet. Es wurde unterstellt, dass sich das Proletariat im Lauf
der Entwicklung des Kapitalismus notwendigerweise zur klassenbewussten,
revolutionären Klasse entwickeln würde. In der Geschichte gab es zwar einzelne
Situationen, in denen Teile des Proletariats revolutionär agierten, doch waren
solche Situationen nicht Ergebnis einer allgemeinen Tendenz der Entwicklung des
Proletariats zur revolutionären Klasse sondern Ausdruck der konkreten historischen
Umstände (z.B. in Deutschland 1918 des verlorenen Krieges und des
Legitimationsverlustes der bis dahin bestimmenden
aristokratisch-militaristischen Kreise). Dass Teile des Proletariats
revolutionär orientiert waren, blieb deshalb auch stets eine nur vorübergehende
Erscheinung.
Viele marxistische „Klassenanalysen“, die sich um die
Frage drehten, „wer gehört zum Proletariat?“, gingen aber von der Vorstellung
einer notwendigen Entwicklung des Proletariats zur revolutionären Klasse aus.
Mit dem analytisch bestimmten Proletariat glaubte man, das „revolutionäre
Subjekt“ gefunden zu haben. Sofern die realen Proletarier sich über ihre Rolle
nicht im Klaren waren, sollte ihnen auf die Sprünge geholfen werden - meistens
durch die „Partei der Arbeiterklasse“, ein Titel, um den sich üblicherweise
mehrere Kandidaten erbitterte Gefechte lieferten.
Auch bei Marx kann man die beiden genannten
Fehlschlüsse und eine darauf aufbauende deterministische Auffassung der
Geschichte finden, vor allem im „Kommunistischen Manifest“ - also gerade in dem
Text, der im traditionellen Marxismus und in den verschiedenen Arbeiterparteien
stets eine wichtige Rolle spielte.
Im „Kapital“ ist Marx erheblich vorsichtiger.
Allerdings gibt es auch dort einen Nachhall des früheren Geschichtsdeterminismus.
Am Ende des ersten Bandes skizziert Marx ganz knapp auf drei Druckseiten die
„Geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumulation“ (so der Titel dieses
Abschnitts). Zunächst fasst er die Entstehung der kapitalistischen
Produktionsweise als Enteignung der einzelnen kleinen Produzenten (der kleinen
Bauern und Handwerker) zusammen. Im Zuge der sog. „ursprünglichen Akkumulation“
verlieren sie ihr Eigentum an den Produktionsmitteln, so dass sie gezwungen
sind, ihre Arbeitskraft an die Kapitalisten zu verkaufen. Auf kapitalistischer
Grundlage setzt dann eine fundamentale Umwandlung des Produktionsprozesses ein:
aus Kleinbetrieben werden Großbetriebe, es findet Konzentration und
Zentralisation des Kapitals statt, Wissenschaft und Technik werden systematisch
eingesetzt, die Produktionsmittel werden ökonomisiert und die nationalen
Ökonomien werden in den Weltmarkt integriert. Marx fährt dann fort:
„Mit der beständig abnehmenden Zahl der
Kapitalmagnaten, welche alle Vorteile dieses Umwandlungsprozesses usurpieren
[vereinnahmen, M.H.] und monopolisieren, wächst die Masse des Elends, des
Drucks, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung, aber auch die Empörung
der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen
Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten
Arbeiterklasse. Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die
mit und unter ihm aufgeblüht ist. Die Zentralisation der Produktionsmittel und
die Vergesellschaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich
werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des
kapitalistischen Privateigentums schlägt. Die Expropriateurs [wörtlich: die
Enteigner, M.H.] werden expropriiert [enteignet, M.H.).“ (MEW 23, S. 790f)
In dieser Skizze erscheint die Entwicklung des
Proletariats zur revolutionären Klasse und der Sturz der Herrschaft des
Kapitals als ein unausweichlicher Prozess. Und hier zitiert Marx in einer
Fußnote auch das „Kommunistisches Manifest“, wo es über die Bourgeoisie heißt:
„Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich“ (MEW
23, S. 791, Fn. 252).
In der frühen Arbeiterbewegung wurden solche
Botschaften gerne aufgenommen, machte man doch tagtäglich die Erfahrung, dass
man von eben jener bürgerlichen Gesellschaft, um deren unausweichliches Ende es
hier ging, ausgeschlossen und gedemütigt wurde. In der sozialdemokratischen
Presse vor dem 1. Weltkrieg und später in der kommunistischen wurde dieser
dreiseitige Abschnitt aus dem ersten Band des „Kapital“ abgedruckt und häufig
zitiert, so dass er die Vorstellung, worum es in Marxschen Analyse gehen würde,
wesentlich prägte.
Allerdings sind diese Prognosen durch Marx’ eigene
Untersuchung überhaupt nicht gedeckt. Inwiefern das Kapitalmonopol „zur Fessel
der Produktionsweise, die mit und unter ihm aufgeblüht ist“ geworden sei, ist
nicht klar. Dass die Früchte und sozialen Kosten der kapitalistischen
Entwicklung so extrem ungleich verteilt werden, ist kein Hindernis der
kapitalistischen Entwicklung, sondern - wie gerade die Marxsche Analyse
deutlich machte - deren ureigene Bewegungsform. Und dass das Proletariat mit
der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise zahlenmäßig zunimmt und
durch die große Industrie in gewisser Weise „vereint“ und „geschult“ wird (etwa
insofern als sich das Proletariat gewerkschaftlich und politisch in irgendeiner
Weise organisieren musste, um als Proletariat überhaupt existieren zu können),
ist zwar richtig, doch dass dies auf die unausweichliche Bildung einer „revolutionären“
Klasse hinausläuft, folgt keineswegs aus der Marxschen Analyse. Ganz im
Gegenteil, liefert das „Kapital“ doch die Elemente, um zu verstehen, warum
revolutionäre Entwicklungen so selten sind, warum die „Empörung“, von der im
Zitat die Rede ist, nicht gleich zum Kampf gegen den Kapitalismus führt: Mit
der Analyse des Fetischismus, der Irrationalität der Lohnform und der
trinitarischen Formel hatte Marx gezeigt, wie die kapitalistische
Produktionsweise ein Bild von sich selbst hervorbringt, in welchem die
gesellschaftlichen Beziehungen verdinglicht sind, wo kapitalistische
Produktionsverhältnisse anscheinend aus den Bedingungen jeder Produktion
entspringen, so dass es dann auch nur um Veränderungen innerhalb der
kapitalistischen Verhältnisse gehen kann. Eine revolutionäre Entwicklung kann
sich ergeben, sie ist nicht ausgeschlossen, aber sie ist alles andere als ein
zwangsläufiges Resultat.
Marx zog in dem erwähnten Abschnitt Folgerungen, die
auf einen Geschichtsdeterminismus hinauslaufen, der durch seine kategoriale
Darstellung nicht begründet ist. Insofern ist dieser Abschnitt eher Ausdruck seiner
Hoffnungen als seiner Analyse; der revolutionäre Enthusiasmus siegte hier über
den kühlen Wissenschaftler. Die Darstellung der kapitalistischen Produktionsweise
selbst ist jedoch an keiner Stelle von diesen fragwürdigen Folgerungen
abhängig. Zum Verständnis der kapitalistischen Produktionsweise liefert das
„Kapital“ nach wie vor den besten Beitrag. Ob und wie diese Produktionsweise an
ihr Ende kommt, lässt sich vorab jedoch nicht bestimmen. Hier gibt es keine
Gewissheiten, sondern nur einen Kampf mit offenem Ausgang.
Fantômas.
magazin für linke debatte und praxis Nr.
4 (2003): Soziale Klassen, soziale Kämpfe.
Heinrich, Michael (2004a): Welche Klassen und welche
Kämpfe?, in: grundrisse 11, S. 35-42.
Reitter, Karl (2004): Kapitalismus ohne Klassenkampf.
Zu Michael Heinrich: „Kritik der politischen Ökonomie“, in: grundrisse 11, S. 26-34.