18.1.1997



Zurück zur startseite
mailto trend
Zwischenbilanz
trend hat Geburtstag
Texte zur Diskussion







Leviathan und Internet: Findet Hobbes' Machtmaschine im Cyberspace ihr Gegenstück?

von Horst Bredekamp

aus: DIE ZEIT Nr. 02 vom 3. Januar 1997

Thomas Hobbes' "Leviathan" von 1651, dieses Bild eines menschgeschaffenen Staatsmonstrums, beherrscht das politische Denken bis heute. Denn der Behemoth, gegen den er errichtet wurde, konnte niemals ganz besiegt werden. Im Naturzustand herrscht, Hobbes zufolge, allein die Lust des einzelnen, der sich bedenkenlos entfalten kann. Da er jedoch durch die Macht des jeweiligen Gegenübers gebremst wird, besteht das Leben aus dem Wechselspiel von Vorteilsnahme und Gegenwehr: also einem unablässigen Bürgerkrieg. Das Fehlen allgemeiner Regeln bringt mit der Freiheit daher auch den frühen Tod. Aus der Überlegung, daß man älter als zwanzig werden muß, um ein Mindestmaß an Glück zu verwirklichen, erfindet Hobbes den Staat als ein schreckenerregendes Monster, den Leviathan, dem die Machtwünsche aller Individuen übertragen werden. Der Lohn für diesen Verzicht ist ein langes Leben und, im Schatten des Souveräns, die Entfaltung der bürgerlichen Individualität.

Daß Hobbes seinen Leviathan als Uhrwerk begreift, ist immer wieder gesehen und erörtert worden, aber daß er ihm im kryptisch formulierten Beginn des Werkes die Züge eines biomechanischen Automaten verleiht, dessen Gliedmaßen und Organe durch Menschen gebildet werden, die wie ein Schuppenpanzer die Haut ersetzen und sich offenbar auch in die Tiefe erstrecken, und der, in schroffem Gegensatz zu Desçartes' Automatentheorie, mit höherer Vernunft und Seele versehen ist, hat immer wieder Verwunderung und auch Befremden hervorgerufen.

Es ist aber gerade diese Leibmetaphorik, die in den letzten Jahren gezielt aufgegriffen wurde: als Zeichen des global capitalism und seines kommunikationstechnischen Pendants, des Cyberspace mit dem Internet. Allein eine Anfrage an eine der bekannteren Suchmaschinen wie den Netguide wirft 1402 Programme, Texte und Bilder aus, die den Leviathan im Titel führen, um sich mit dessen Macht und Ausdehnung zu vergleichen. Offenbar sind der Hobbessche Leviathan und das Internet nicht nur darin zu vergleichen, daß sie beide als menschgeschaffene Gebilde neue Gemeinschaften erzeugen, sondern daß sie ähnliche Probleme aufwerfen: Wie und aus welchen Gründen entsteht Gemeinschaft, welcher Preis ist für diese Civitas zu zahlen, und welchen Nutzen bringt sie?

Offensichtlich erfüllt das Internet darin die Grundstimmung des Staatsautomaten, daß es sich um ein künstliches Wesen handelt, das mit dem Menschen scheinbar wie mit einem Gegenüber zu kommunizieren vermag. Seiner Größe und seinem Wachstum nach ist es derart exponentiell und jedwedem Erfahrungshorizont des Menschen so enthoben, daß es gleichfalls divinale Züge gewinnt; wenn der Leviathan ein "sterblicher Gott" ist, dann ist das Netz die bildlose Form des Alter deus. Die Macht, mit der es in weniger als drei Jahren in die Büros, Labors und Haushalte von sechzig Millionen Nutzern gedrungen ist, ist in der Rhetorik der Propagandisten daher immer wieder mit überirdischen Zügen versehen worden.

Metatechnisch angefeuerte Autoren beschreiben das Internet, dem Hobbesschen "artificiall animal" gemäß, als ein künstliches Wesen, "eine bioelektronische Umwelt", die "eher ein Ökosystem denn eine Maschine" genannt werden kann. Der Begriff environment verdeutlicht, warum sich der Leviathan nicht etwa des Bildes riesiger Antennen und damit einer vertikalen Metaphorik bedient, wie es Hobbes' "Leviathan" tat. Getreu der unhierarchischen Mentalität unserer Tage überragt es den Menschen nicht wie ein Riese, sondern begibt sich in weltumspannender Horizontale auf dessen Ebene. Es ist bildlos, aber ein extraterrestrischer Blick könnte vom Leuchten der nächtlichen Knotenpunkte des Lichtes vermutlich deckungsgleich auf die Verknüpfungen des Internet schließen. Es umschmeichelt den Menschen, umhüllt ihn aber mächtiger, als es jede Autorität vermochte, gegenüber der er sich definieren und gegebenenfalls auch wehren konnte.

Bei aller Ähnlichkeit verkörpern Leviathan und Internet daher die denkbar weitest entfernten Extreme. Während der Leviathan in der Konkretisierung im Bild und in der Handlung seine Bestimmung findet, erfüllt sich das Internet - zumindest in der Rhetorik seiner Apologeten - in der Überwindung alles Körperlichen. Indem es, wie in einem Gegenbild zum Leviathan, angeblich die Fesseln der Materialität abstreift, tilgt es auch die Regeln und Gesetze, insofern diese nur so weit existieren, als sie sich in Körpern verwirklichen.

Seit seiner Öffnung wurde das Internet denn auch mit einem emphatischen Freiheitsbegriff begleitet, der sich dem hypostasierten Urzustand der Regellosigkeit nähert: "Wir treten in ein neues Territorium ein, in dem es bislang ebensowenig Regeln gibt, wie es im Jahr 1620 auf dem amerikanischen Kontinent oder auch im Jahre 1787 im Nordwestlichen Territorium Regeln gab." Die Rolle des bewaffneten settler, der sein eigenes Gesetz ist, hat nun der Hacker übernommen, der zum umschwärmten Heros einer neuen Regelfreiheit aufgestiegen ist; die "Free Speech Campaign", die im Anklang an die "Speaker's Corner" des Hyde Park die freie Rede propagiert, in Wahrheit aber die Freiheit des Sehens vertritt, also eher "Free View Campaign" genannt werden sollte, bekämpft eifersüchtig jeden Versuch, Zensoren in das Internet einzuschleusen. Der Kampf gegen das Copyright führt zum Beispiel zu eben jenem Vorgang, daß man sich den "Leviathan" von Hobbes selbst ausdrucken und ihn zudem noch in der Textverarbeitung verändern kann.

Die Benutzer verharren in der Vereinzelung. Sie sind durch die Netzstruktur verbunden, wie die Personen auf und im Leib des Leviathan, aber sie richten sich nicht aus. Sie sind frei und regellos und werden, wie die Autoren der "Magna Charta for the Knowledge Age" erhoffen, nach diesem Prinzip in das Reich der Körper zurückkehren und "den Tod des zentralen institutionellen Paradigmas des modernen Lebens, der bürokratischen Organisation, bewirken". In der Zone der biomechanischen Welt der elektronischen Kommunikation basteln Millionen von Menschen an der Restitution des vorstaatlichen Naturzustandes, in dem die Regellosigkeit die Regel war. Das Internet stellt ökonomisch, sozialpsychologisch und politisch eine unerhörte, quasi erhabene Macht dar, aber seine Physis des vorgeblich Immateriellen wird zumindest bislang allein dazu eingesetzt, jenen Naturzustand herbeizuführen, gegenüber dessen natürlichem Vorläufer Hobbes den Leviathan errichtet sehen wollte.

An diesem Anti-Leviathan, dem Behemoth des Internet, hätte Hobbes seine analytische Freude gehabt, denn in seiner künstlichen Naturfreiheit läßt er bereits die Anzeichen eines virtuellen Kampfes aller gegen alle erkennen. Wer sich in seine Fangnetze begibt, dem ist der Informationsfluß nur der Vorwand, in eine Arena einzutreten, in welcher sich der Kampf aller gegen alle als eine Gegenwelt zur müden Tagtäglichkeit, aber auch als Zone der Bedrohung ereignet. Das Leben im Internet hat dieselben Eigenschaften, die Hobbes den personae im wölfischen Naturzustand zuschrieb: Es ist "solitary, poor, nasty, brutish, and short", also: "einsam, arm, gemein, brutal und kurz". Hierzu gehört nicht nur, daß jedes Anklicken von der Furcht begleitet wird, daß der Zugang zu den Venen des Datenflusses durch drängelnde Mitbewerber verstopft sein könnte, was kostbare Zeit, also Lebenszeit, kostet oder auch den Absturz mit sich bringt, mit der Folge demütigenden und geduldigen Neustartens und des Sichauslieferns an die Bereitschaft der Netze, die eigenen Signale zu empfangen und weiterzuleiten; hierzu gehört auch die Erkenntnis, daß viele angeklickte Nester leer sind, so daß man sich fragt, ob die Vögel abgeschossen wurden oder ob sie freiwillig in sonnigere Gefilde geschwärmt sind. Fragen, die, da sie nicht zu beantworten sind, auch an ausgebombte Häuser und an Fassaden denken lassen, hinter denen die Räume abgerutscht sind. Das Internet ist in weiten Arealen eine Ruinenlandschaft. Hierzu gehört auf einem weiteren Plateau die Angst, das genutzte Programm könne eines Tages aus dem Verkehr gezogen und durch bessere Alternativen ersetzt werden: Jeder weiß, daß seine eigene Lebenserwartung im Netz nur äußerst gering ist und daß er sich im Laufe weniger Jahre häuten muß, um überleben zu können; jeder ahnt, daß hinter den Programmgestaltern mit den Telekommunikationskonzernen die momentan wohl agilsten und mächtigsten Instanzen stecken, auf deren Spielwiesen sich der User in vermeintlicher Freiheit zu tummeln vermag.

Diese Urängste entladen sich immer wieder in Verschwörungstheorien, denen zufolge die Netze nicht etwa die Hängematten der Freiheit, sondern die Knoten der Gängelung sind. Sie äußern sich in jener Vorstellung, daß die Geburt des Internet aus dem Militärischen durch die Geheimdienste weitergeführt worden sei, die jedweden Computer unerkannterweise betrachten und kontrollieren können. "Plätzchen" (cookies) der entlegensten Server werden schon heute den lern- und sehwilligen Computern zum "Verzehr" angeboten, um diese in ihren Bewegungen und ihrer Abfragefrequenz zu erfassen. Falls vergiftete cookies differenzierte Abfrageprogramme (malicious agents) verbergen, werden sie, sensiblen Heftpflastern gleich, zu Seismographen des Innenlebens. Es wird nicht lange dauern, bis sich Psychiater derartiger Sonden zu bedienen versuchen, um über die Bewegungen der Tasten und Mäuse das Unbewußte der Benutzer analysieren zu können. Alte Vorstellungen, daß hinter jeder Spitze der Sehpyramide das Auge Gottes lauert, das auf dem Sehstrahl des Menschen in dessen eigenes Auge hineinzugleiten vermag, mögen hier ebenso Urständ feiern wie Nietzsches Bild vom Malstrom, der um so stärker den Betrachter anzublicken beginnt, je intensiver dieser in ihn hineinsieht.

In dieser Urangst wird der eigentliche thrill der Benutzer unzähliger Pornographieprogramme liegen, die natürlich ahnen, daß sie ihrerseits beim Tun von etwas Anrüchigem beobachtet werden. Hier ist tatsächlich einmal der Begriff des Voyeurs angebracht, der den besonderen Kick dadurch erfährt, daß er nicht weiß, inwieweit er selbst beobachtet wird. Hinter dem Kampf gegen den Begriff und Gehalt der "Datenautobahn" steckt so gesehen auch der Trieb, den Sumpf nicht trockenzulegen und damit einen Teil jener primärnatürlichen Anlage des Menschen, in der sich eine ungeahnte Weite der Freiheit mit tiefen Verlustängsten paart, bewahren zu können.

Neben der Spannung von Freiheit und Angst gehört zum künstlichen Naturzustand des Internet aber auch seine innere Selbstzerstörung. Auf nachhaltige Weise ist es die visuelle Erotik selbst, die als ein erster Schritt auf dem Weg zum Cyber-Civil-War zu einem Verdrängungsprozeß führt. Der visuell abstrahierte Geschlechtstrieb beginnt schon jetzt, die anderen Bewohner des Netzes nachhaltig zu stören. Denn sein Objekt, die unzensierten Bilder aller Arten von Obsessionen, kosten, wie alle Hochglanzbilder, derart gigantische Masse an Bytereservoir und Übertragungszeit, daß sich alle anderen Vorgänge bereits heute von der Licht- in die Schneckengeschwindigkeit verlangsamen. Entgegen allen Verlautbarungen ist die Kapazität längst am Ende, das Reich der Freiheit bereits ein Konzentrationsfeld. Neue Mitglieder werden auf Wartelisten geschoben, bis im Jahre 2000 die durch neunstellige Nummern bezeichneten Aufenthaltsgenehmigungen neu vergeben werden. Die Freiheit kostet jeden Tag Massen an potentiellen virtuellen Existenzen - und hierin erfüllt sich Hobbes' Erfahrung des Naturzustandes im Internet auf seine drastischste Weise. Das nicht gerade Aus-Leben, aber doch Aus-Sehen der visuellen Lustbefriedigung verdrängt die Nachkommen: Die Augenlust treibt zunehmend neue Netzbewohner ab. Der Endsieg wird erreicht sein, wenn, was das Satiremagazin Fade 2 Black visioniert hat, das Programm Netnymph zur Verfügung steht, das alle lästigen Zusätze aus dem Internet tilgt, die nicht pornographisch sind: "filters out all that boring information". Im Zustand der vorzivilisatorischen Freiheit ist das Internet auch ein Spielort des permanenten Bürgerkrieges. Wer die Suchworte "Internet" und "War" eingibt, dem schütten sich Berge von Metaphern des Bürgerkriegs entgegen. Der Kampf zwischen Kapital und Politik, Anarchie und Ordnung, Prärie und Autobahn wird so lange toben, bis sich beide umgebracht haben und die Netze aus unkontrollierbarem Wachstum und nicht steuerbaren Verdrängungskämpfen zusammenbrechen. Dann werden sich die Betreiber weltweit zu einem Vertrag zusammenschließen, der selbst noch die Illusion vertreiben wird, die User hätten sich einstmals im Stand der Anarchie befunden. Fangnetze werden Kontrollen ausüben und alles Wölfische und Subversive einfangen.

Schon jetzt schickt der Leviathan seine Kampftruppen als Vorhut jener Inspektoren der kommenden Multimedia-Gesetze, wie sie gerade von einigen Staaten vorbereitet werden, in die Sümpfe der Subversion und des vorgeblich Perversen: durch zahllose Suchhunde, die vor allem Sexprogramme auffinden und, wenn nicht tilgen, so doch sperren. Nicht besonders phantasievoll, aber doch als Symbol besonders schlagend ist das auf einer Hokusai'schen Welle reitende Riesenschloß als metallische Version des in der unteren Zeile angegebenen watchdog, der alles, was nach Pornographie aussieht, verbellt. Die SS-Runen des Schlosses versprechen im Anklang zum "Safer Sex" den "Safe Surf": einen Wellenritt über die Netzwogen, ohne daß die Gefahr bestünde, daß man sich naß macht. Das Sexuelle gehört zu den mächtigsten Bereichen des Internet, ist zugleich aber sein subversivster innerer Feind. Denn wie Venus, die als einzige Person der Götterwelt in der Lage ist, Mars zu besiegen, macht die visuelle Sexualität auf Grund ihrer exorbitanten Bandbreite die Netze schwach, und die moralischen Ängste erzeugen Wachhunde und Schlösser, die als Vorhut einer Neuen Ordnung zu sehen sind.

Insofern sich im künstlichen Naturzustand des Internet mit der Freiheit auch die Härte des Wolfslebens abzeichnet, wird sich nach dem Gegenentwurf zu Hobbes' "Leviathan" das Gesetz dieses Staatsautomaten wiederholen. Mächtige politische Kräfte, an deren Spitze der amerikanische Vizepräsident steht, werden neue Zugangsund Verteilungs- sowie Kontrollmechanismen schaffen und damit die Geschwindigkeit, aber auch die cleanness der information highways garantieren. Hobbes' Leviathan wird auf der ganzen Linie den Behemoth besiegen.

Damit aber wird derselbe Prozeß, den Hobbes, gegen den Bürgerkrieg andenkend, nicht übersehen konnte, von neuem beginnen: Die nun entstandene Ordnung wird einen ohnmächtigen Zorn und permanente Wühlarbeit hervorrufen, die die Verträge der Neuen Ordnung und deren Wachinstanzen unterlaufen werden. Und damit wird das Wechselspiel von Ordnung und Anarchie weitertreiben, das Wolfgang Sofsky seinem großen Essay "Über die Gewalt" mit Blick auf den Leviathan vorangestellt hat: "Stets ist die Gewalt das Prius. Die Ordnung ist nichts anderes als dessen Systematisierung."

zum seitenanfang