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Subject: zum "Geek"

Eine Lebensform der Zukunft? Der Otaku

4/1999


Volker Grassmuk fuer

Dirk Matejovski (Hg.), Neue, schoene Welt? Lebensformen der

Informationsgesellschaft

Heitkamp Edition, Herne 1999, S.157-177


Otaku in Europa

Natuerlich geht es bei den Otaku nicht um ein exotisches Phaenomen, das

nur in dem aussergewoehnlichen Biotop Japans gedeihen wuerde.

Anzeichen eines grassierenden Otakismus zeigen sich ebenso in Europa und

Nordamerika. Im westlichen Kontext wird man an die

Trekkies denken, die Fans der Fernsehserie Star Trek. Das Deutsche kennt

den Computer- oder HiFi-Freak als jemanden, der sich

aussergewoehnlich tief in ein esoterisches Alltagsgebiet versenkt. Im

Amerikanischen spricht man heute mit einer aehnlichen Bedeutung -

und den gleichen Wurzeln in der Freak-Show der Jahrmaerkte - von Nerds

oder Geeks. Bei ersteren liegt der Schwerpunkt darauf, dass

die Betreffenden in ihrer sozialen Kompetenz minderbemittelt sind, bei

letzteren auf einer ausgepraegten Faszination fuer einen meist

technischen Gegenstand. Das Wort Geek erlebte einen rasanten Aufstieg

zusammen mit dem Internet. Es ist assoziiert mit jungen,

hochmotivierten und gutverdienenden Computer-Arbeitern. Otaku enthaelt

Anteile des Nerds gepaart mit den obsessiven Aspekten des

Geeks. Allen gemein ist die - von einer Mehrheitskultur aus betrachtet -

negative Konnotation von bebrillten, sozial unfaehigen Buecher-

und Medienwuermern. "Science-Fiction-Fantum, die Computer-Welt und die

der Video-Spiele sind die reinsten Beispiele. Fuer den Zweck

unserer Untersuchung ist eine Geek-Kultur nichts mehr als eine

Nischenkultur, die ausgelacht wird", schreibt Mike Sugarbaker, im

Editorial der Zeitschrift Gazebo, The Journal of Geek Culture.(13) Sie

lieben Logik und Systeme. Zugleich sind sie "un-cool", da sie sich

fuer bestimmte Dinge begeistern und erregen. Sie sind aktiv, da eine

passive Konsumhaltung - und wird sie noch so exzessiv und

ausschliesslich betrieben - niemanden als Geek oder Otaku qualifiziert.

Ein entwicklungspsychologischer Aspekt sind die sicheren

Mikrowelten, die Kinder und Jugendliche zu beherrschen lernen: Welten

aus Dingen, da Menschen sich immer wieder als

unbeherrschbar erweisen.


Wie andere derogative Bezeichnungen werden Otaku, Freak und Geek auch

selbstreflexiv mit einem gewissen Stolz gebraucht. Beineix'

Film "Otaku" hatte seinen Anteil an der Verbreitung des japanischen

Begriffs im Westen. Liebhaber japanischer Comics und

Zeichentrickfilme uebernahmen ihn fuer sich. Seither kann man Jugendliche

mit T-Shirts sehen, auf denen "Proud to be Otaku"

geschrieben steht. Beineix vermeidet es, in seiner Reportage Bezuege zu

vergleichbaren Phaenomenen im Westen herzustellen und huldigt

einem ungezuegelten Exotismus. Doch einer seiner Interviewpartner legt

selbst die Verbindung. Idol-Otaku Masakazu Uenomura sagt zu

Beineix: "Ich bin wie Jules in Ihrem Film 'Diva'. Jules betet diese

Opernsaengerin an und laeuft ihr nach. Ich bin wie er." Im Nachhinein

begann Beineix mit seinem Thema zu kokettieren. In einem Interview

bekannte er, er fuehle sich selbst als Otaku, da er ein

Bilderfetischist sei.

Am letzten Wochenende im Maerz 1999 trafen sich in Koenigs Wusterhausen

bei Berlin rund Hundert Anime-Fans aus ganz

Deutschland. Anime no Tomodachi, die Freunde des japanischen

Animationsfilms, hatten dazu eingeladen. An den Staenden und auf der

Auktion waren die Paraphernalia des Fantums zu erstehen: Anime auf

Videocassetten, LaserDisc und DVD, Manga und Artbooks,

Figuren und Bausaetze, Poster und Tradingcards. Auf dem Programm standen

auch Karaoke und Cosplay, ein Kostuemspiel, bei dem sich

die Fans als ihre Lieblingsfiguren verkleiden. Doch vor allem ging es

natuerlich darum, von morgens bis spaet in die Nacht in drei

parallelen Vorfuehrraeumen Anime anzuschauen. Ron Carow, einem der

Veranstalter, ist sehr daran gelegen, das einseitige Image des

Anime in der Presse zu korrigieren. "Wir in Deutschland machen den

Fehler zu sagen, Zeichentrick ist Kinderkram, oder: Anime ist

Teufelswerk, Porno, Gemetzel, Blut und Splatter." Entsprechend liegt der

Schwerpunkt der Filmauswahl hier auf Abenteuer und

Komoedie, Thriller und Science-Fiction. Eine auffallende Zahl der

gezeigten Anime hat weibliche Helden.


"Im Westen bezeichnen sich die Fans von Anime und Manga selber als

'Otaku'", sagt Carow. "Ein 'Hardcore-Otaku' ist ganz besonders

verrueckt, jemand, der sich mit Haut und Haar diesem Bereich verschrieben

hat und auch Japanisch lernt. Verrueckt ist man sowieso nur

aus der Sicht von anderen, die sich selbst fuer normal halten."

Naheliegenderweise sind es oft Japanologiestudenten, die sich fuer die

japanische Populaerkultur begeistern. Aber auch der umgekehrte Fall

findet sich nicht selten: dass junge Leute ueber das Beduerfnis, die

Original-Manga lesen zu koennen, beginnen die schwierige Sprache zu

erlernen. Ein weiterer auffaellig grosser Teil der deutschen Otaku

sind angehende Informatiker. Dies ist ein Beleg fuer die These, dass die

Mikrowelten von Zeichentrickserien, Rollenspielen und eben des

Computers die gleiche Disposition ansprechen. Auch die vorherrschende

Altersgruppe zwischen 15 und 30 deutet auf den Otakismus als

Strategie in der identitaetsbildenden Lebensphase.


Nach Carows Einschaetzung ist die deutsche Otaku-Welt nicht besonders

gross. Bestseller unter den Anime-Videos verkaufen sich 20.000

mal, in der Regel liegen die Zahlen jedoch bei 3-4.000. "Sobald etwas

aus der Nische heraustritt, ist der Reiz des echten Fans weg. Als

Anfang der Neunziger 'Sailor Moon' rauskam, war es das Thema ueberhaupt.

Seit es im Fernsehen lief, interessiert sich der Grossteil der

Anime-Fans nicht mehr dafuer. Die Seltenheit und die Schwierigkeit der

Beschaffung macht ja auch - genau wie fuer den

Briefmarkensammler - einen Reiz des Hobbys aus."


Die Exklusivitaet ist fraglos ein wichtiges Kriterium, um sich durch das

Vorzeigen der eigenen Sammlung beweisen zu koennen. Fuer

unsere Zwecke muessen wir jedoch die enge Bedeutung des Begriffs Otaku,

die hier nur fuer die Fans von japanischen Comics und

Zeichentrickfilmen verwendet wird, erweitern. Eine Sammel- und

Fan-Leidenschaften von einer otakistischen Ausschliesslichkeit und

Intensitaet finden sich auch in bezug auf Bierdeckel und

Dampflokomotiven. Einen Otaku-Lebensstil pflegen ebenso

Hyper-Hobbyisten,

die in ihren Modellbausaetzen oder ferngesteuerten Booten so sehr

aufgehen, dass ihre Familie darunter leidet. In diesem Sinne kann man

auch von einem Motorrad-Otaku sprechen.


Auch die Einschraenkung auf japanische Gegenstaende greift zu kurz. Der

populaerkulturelle Markt ist globalisiert. Die Lebensbedingungen,

unter denen Kinder und Jugendliche in den ueberentwickelten Laendern

aufwachsen, unterscheiden sich kaum. Um ein Fan von Kraftwerk

oder Amon Dueuel, Tenchi Muyo oder Evangelion, Star Trek oder Disney zu

werden, spielt es keine Rolle, ob man in Osaka, Muenchen

oder Dallas wohnt. Die Informations- und Distributionskanaele erreichen

jeden Punkt auf der Erde. Es mag also interkulturelle

Unterschiede zwischen den Konzepten Otaku, Geek, Nerd und Freak geben,

doch die Grundstrukturen der, wenn man so will,

'subkulturellen' Formen von Fans, Sammlern, Spielern und Hackern finden

sich ueberall.