Horst Müller
Ernst Bloch und die Frage nach einer konkreten Utopie der politischen Ökonomie
Zur Präzisierung der Problemstellung
Die Frage nach einer Utopie der Arbeit bedarf zunächst selbst der philosophischen Präzisierung. Geht es doch hier im Grunde um das organisierte und in bestimmter Weise funktionierende System gesellschaftlicher Arbeit, das nicht nur einzelnen Arbeitsvollzügen in seinem Zusammenhang den Stempel aufdrückt, sondern bestimmenden Einfluß auf die Formbildungen des ganzen gesellschaftlichen Lebens ausübt. Der reale Ausgangspunkt liegt in der bestehenden kapitalwirtschaftlichen Gestalt dieser Ökonomik sowie in deren theoriegeschichtlich inzwischen breit entfalteter Kritik als ein System der entfremdeten Arbeit.
Auf dem umrissenen Gebiet hat Bloch zufolge die "sentimentale wie die abstrakte Weltverbesserung ausgespielt" (Bd. 5, S. 723). Er orientiert auf einen in konkreten Tendenzen epochal andrängenden Formbruch und Formwechsel der gesellschaftlichen Arbeit. In diesem Prozesszusammenhang soll der von uns aktiv zu befördernde Wandel auf ein befreites Terrain jenseits der entfremdeten kapitalwirtschaftlichen Ökonomik führen: Hier ist nichts Geringeres als ein historischer Akt der Befreiung der Arbeit und zugleich neuen Begründung der Gesellschaft anvisiert.
Man könnte dieses von Marx stammende, von Bloch nie aufgegebene philosophisch-ökonomische Rahmenkonzept heute in Frage stellen: Ist doch an der erreichten Epochenschwelle, nach dem Zusammenbruch aller realsozialistischen Wirtschaftsexperimente und der globalen Durchsetzung der Kapitalwirtschaft, anscheinend keine konkrete Alternative mehr sichtbar. Ist aber das Bewußtsein dieses Mangels vielleicht nur ein Mangel des Bewußtseins? Noch kaum wurde bemerkt, daß es eine äußerste philosophisch-theoretische Spannung zwischen dem traditionellen Konzept der Kritik der politischen Ökonomie auf der einen und der Philosophie der konkreten Utopie auf der anderen Seite gibt. Eine Spannung, die zur Lösung des bisher noch undurchschaubar verknoteten Problems einer zukünftigen neuen Wirtschaftsweise drängt.
Das Korrespondenz- und Ergänzungsverhältnis zwischen Marx und Bloch
Um den Widerspruch zwischen kritischer Ökonomie und utopischer Philosophie sichtbarer zu machen, möchte ich zunächst ein Stück weit der Frage nachgehen, wie Ernst Bloch selbst sich auf Marxsche Vorüberlegungen bezogen, wie er die ökonomische Problematik aufgegriffen und wie weit er sie durchdacht hat. Dabei ist zunächst das Hauptwerk in Betracht zu ziehen, aber auch auf den in den 60er-Jahren einsetzenden Sinneswandel hinzuweisen, die mit Blochs Lernprozess in Bezug auf den Realsozialismus zu tun haben.
Zunächst fällt auf, daß Bloch im Prinzip Hoffnung der ökonomischen Utopie kein eigenes Kapitel widmet wie beispielsweise den technischen, geographischen oder sonstigen Utopien. Die Thematik wird vielmehr innerhalb des Kapitels über "Gesellschaftssysteme" mit abgehandelt: Ist doch jede gesellschaftliche Ordnung notwendig mit einer bestimmten ökonomischen Praxis verschwistert. Im "Abriß der Sozialutopien" (Bd. 5, S. 547-729) wird das jeweils Zeit- und Standortbedingte oder Überfliegende von vormaligen sozialen und ökonomischen Zukunftsideen herausgearbeitet, beispielsweise bei Morus, Campanella, bei Fichte, dessen "geschlossener Handelsstaat das erste, aus Urrechten deduzierte und utopisch ausgemalte System organisierter Arbeit" darstellt (Bd. 5, S. 647), weiterhin bei Owen, Fourier und Saint-Simon usw.
In solchen Sozialutopien vor Marx wirkt Bloch zufolge zwar der Wille zum Umbau der gesamten Gesellschaft. Aber erst Marx begründet und berichtigt den vorfindlichen mehr oder weniger abstrakten Utopismus durch Ökonomie, durch den Bezug auf die immanenten Umwälzungen der Produktionsweise und das gleichzeitige Festhalten und Offenhalten des Zielinhalts einer neuen Gesellschaft. Durch solche konkrete Antizipation habe die Marxsche "Wirtschaftskritik" eine völlig neue Qualität erreicht.
Das Kapitel "Marxismus und konkrete Antizipation" (Bd. 5, S. 723) ist dementsprechend auch das resümierende Schlußkapitel zum Abriß der Sozialutopien. Es fällt nun allerdings auf, daß Bloch hier eine Argumentationsfigur vorlegt, in der das bezeichnete Spannungsverhältnis zwischen utopischer Philosophie und kritischer Ökonomie auflebt. Es deuten sich Inkonsequenzen im Blochschen Vortrag an: Der Utopiker Bloch lobt den Kritiker Marx dafür, daß er seine Theorie zu "neun Zehnteln" nur der "kritischen Analyse des Jetzt" gewidmet, nur eine "immanente" Wirtschaftskritik geleistet habe. Das heißt doch wohl, daß in der Hauptsache eben keine "konkrete Antizipation" vorliegt. Einen "verhältnismäßig geringen Platz", habe Marx "Bezeichnungen der Zukunft" eingeräumt. Im philosophischen Präzisionssinn ist damit ausgedrückt, daß Marx die Zukunft nur in ahnungsvollen Kontrast- und Horizontbegriffen, in Generalformeln wie der einer klassenlosen Gesellschaft umschrieben hat, aber über keinen wirklich konkreten Begriff von einer neuen Ökonomik und neuen Gesellschaftlichkeit verfügt: Diese "Aussparung des künftigen Felds" sei eine "erwünschte Aussparung, bei Marx wesenhaft Offenhaltung", so Bloch. "Und wie vom erlangten Realismus her kein Recht mehr zu den romanhaften Zielbildern der alten Utopien bestand, so bestand damals noch kein Anlaß, den sozialistischen Aufbau bereits konkret-prozeßhaft zu detaillieren". So werden "die humanen Verhältnisse hinter der Vergesellschaftung der Produktionsmittel .. noch kaum erst angedeutet" (Bd. 5, S. 725).
Alles läuft darauf hinaus, daß Bloch den Grundansatz der Marxschen Kritik der Kapitalwirtschaft und dessen Krisentheorie unbeirrt übernimmt und verteidigt: "Das Gerede von der Überwindung der Krisenökonomie samt Klassenkampf durch konzertierte Aktion, Krisenmanagement und so weiter stimmt nicht" (Bd. 16, S. 270). Er wartete förmlich darauf, daß das "neumodische Eiapopeia Sozialpartnerschaft wieder auffliegt" (Bd. 11, S. 451 f.). Seine Zeitdiagnose lautete noch in seinen späten Tagen: "Es ist ganz klar, daß die gute Zeit des Kapitalismus zweifellos zu Ende gegangen ist und mit den bisherigen Mitteln kaum oder überhaupt nicht wiederhergestellt werden kann" (Bd. 11, S. 488)!
Eine wesentliche Modifikation der Blochschen politisch-ökonomischen Einschätzungen ist meines Erachtens lediglich in Bezug auf die Entwicklung in der Sowjetunion und den damaligen Ostblockstaaten zu verzeichnen. Dort schien wenigstens der Uferbereich einer sozialistischen Gesellschaft erreicht. Bloch diagnostiziert diesbezüglich zunächst die Tendenz zu einem übergangsweisen proletarisch-diktatorischen Staatssozialismus und meint fast beschwörend und beschwichtigend: "Die Sowjetunion ist noch im Akt des Aufbaus begriffen, folglich noch ein Staat, und sogar ein harter, doch eben einer ohne Kapitalwirtschaft. So kann dort, zwecks Abschaffung alles Privateigentums an Produktionsmitteln, schlimmstenfalls, sozusagen, Staatssozialismus sein..." (Bd. 5, S. 1061).
Es muß ein schwieriger und schmerzlichen Prozeß des Lernens und Umdenkens gewesen sein, bis schließlich doch eine gründlich berichtigte, neue politökonomische Einschätzung bezüglich der Sowjetunion zum Tragen kam. So Bloch in einem Interview 1964: "..der Sozialismus hat heute noch nicht einmal angefangen... Wir haben einen sozialistisch sich gebenden Staatskapitalismus in der Sowjetunion" (Bd. 16, S. 348).
Insgesamt zeigt sich: Bloch nimmt den Kernbestand der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie als weiter gültiges Orientierungswissen an. Er hat gewissermaßen sein "Ökonomikum", seinen Grundkurs in politischer Ökonomie absolviert. Er sieht sich aber keineswegs als Experte in Fragen der Wirtschaftstheorie: Während beispielsweise der persönlich nahestehende und geschätzte Lowe im Rahmen ihres Briefwechsels in den 60er-Jahren auf sein kommendes Buch (Adolph Lowe: On Economic Knowledge 1965, Politische Ökonomik 1969 und 1984) hinweist und sogar meint, daß die von ihm entwickelte "instrumentale Ökonomie" als Versuch zu werten sei, den "utopischen Sozialismus zu erneuern" (Brief v. 28.3.68), erklärte Bloch eher zurückhaltend, er sehe "einer ökonomisch-philosophischen Aufklärung" durch das Buch "dankbar lernend entgegen", sehe sich aber nur als "fachlich unzureichender Besucher" in dieser ökonomischen Höhenregion (Brief v. 24.3.68).
Wie sieht der Nicht-Fachökonom Bloch das Verhältnis seiner Philosophie zum Marxschen Denken, insbesondere zur marxistischen Wirtschaftslehre? Lassen wir ihn selbst sprechen: "Und dieses Ökonomische steckt im Kältestrom. Aber dazu das andere, als zweites. Und dazu wird in meinem Philosophieren nun sehr oft der Anspruch erhoben, moralischen Hintergrund zu haben und in die Phantasie zu greifen, während dieser Akt das andere, den Kältestrom, nicht aufhebt, sondern vervollständigt" (Bd. 16, S. 224). "Mehr als neun Zehntel" des Marxschen Schrifttums (Bd. 5, S. 724) repräsentieren demzufolge vor allen den 'Kältestrom' des antizipierenden Bewußtseins unserer Zeit, während Blochs Denken schwerpunktmäßig den "Wärmestrom" aktivieren will. Es wendet den Blick zur Totalität, kulminiert in der "Durchdenkung von humaner Teleologie" (Bd. 16, S. 203).
Im Rahmen dieser humanen Teleologie hat Bloch die alternative, postkapitalistische Ökonomie und damit die Utopie der Arbeit zweifellos eher anhand grundlegender, sich abstrakt abzeichnender Wesenszüge gedacht: Die "Essenz der richtigen Wirtschaft" konnte er wohl in den entsprechenden Passagen des 3. Bandes des Kapitals formuliert sehen (MEW 25, S. 828). Marx gibt dort wie auch an anderen Stellen seine Generalformel von einer neuen Ökonomie "assoziierter Produzenten" aus, die ihren "Stoffwechsel mit der Natur" auf neue, menschliche Weise regeln.
Zu dem daraus abgeleiteten Maßnahmenkatalog gehört eine Vergesellschaftung der Produktionsmittel, dem eine Planhaftigkeit des Wirtschaftens unter dem volksdemokratischen Regiment der arbeitenden Klasse folgen soll. Dies macht auch eine Allianztechnik und die Entbindung neuer Möglichkeiten der Natur möglich. Es können sich nichtentfremdete materielle Arbeits- und Lebensverhältnisse herausbilden. Die infolge der Produktivkraftsteigerung zu erwartende allgemeine Reduzierung der Arbeitszeit beziehungsweise Freisetzung von "disposable time", so Marx in den Grundrissen, läßt das gesellschaftliche Problem einer "tätigen Muße auf allen Gebieten" aufkommen (Bd. 5, S. 1080).
Der Widerspruch im Denken von Ernst Bloch und unsere neue Zeit
Die kurze Skizze zu Blochs politisch-ökonomischen Grundansichten sollte hier vor allem auch aufzeigen: Bloch akzeptiert, daß Marx keine Analyse einer möglicherweise vorhandenen positiven Latenz in einem möglicherweise doch nicht so dichten Kontinuum der Kapitalwirtschaft anstrengt. Bloch sucht Gründe dafür, daß Marx zur gesellschaftlichen Utopie nur mehr oder weniger sehr unkonkrete Formeln wie die von der "klassenlosen Gesellschaft", einer "Ökonomie der Zeit", der Aufhebung der "Entfremdung" der Lebensverhältnisse und einem Absterben des alten Staatsgewaltgefüges hinterlassen hat.
So bleibt es bei der klassischen Denkfigur einer ökonomischen Krisenentwicklung der eher eindimensional gedachten Kapitalwirtschaft, einem erst nach dem erwarteten historischen Umbruch möglichen gesellschaftlichen und ökonomischen Neubeginn auf der Basis eines Aktes der "Vergesellschaftung der Produktionsmittel". Dieses Schema hypostasiert also eine scharfe Bruchlinie im Gesamtprozeß, jenseits derer humane Gesellschaftsverhältnisse und eine neue Ökonomie überhaupt erst aufzublühen beginnen.
Aber widerspricht diese zum unumstößlichen Dogma des traditionellen Marxismus geronnene Prozeßfigur nicht fundamental der grundsätzlichen Idee einer Prozeßwirklichkeit voller immanenter Transzendenz, mit Latenzen, Vorschein, keimender konkreter Utopie? Es ist die der utopischen Philosophie eigentlich inadäquate Denkfigur einer rein negativen Totalität, einer eindimensionalen kapitalistischen Wirklichkeit, die sich hier dem Denken aufdrängen will. Wo diese Sichtweise sich verhärtet, wird nach ins Positive treibenden Widersprüchen, nach transzendierenden Formbildungsprozessen, nach einer möglicherweise bereits immanent beginnenden historischen Transformation nicht mehr ausreichend gefragt.
Führt dies nicht dazu, daß die Akteure des hypostasierten revolutionären Umbruchs am Tag danach ratlos vor dem Problem der Installation eines neuen ökonomischen Betriebsystems stehen? Wie könnte je eine formelle Vergesellschaftung der Produktionsmittel das in objektiven ökonomischen Bedingungen und Verfahrensweisen einer industriellen Warenwirtschaft verankerte alte ökonomische Kalkül aufheben? Wie sieht denn das noch niemals konkret gemachte alternative ökonomische Kalkül eigentlich aus, das jenseits des bestehenden Krebs- und Raubkalküls der Kapitalwirtschaft durch neue Arrangements der ökonomische Praxis in Kraft gesetzt werden soll? Kann man ohne solche Vorklärungen über das Verhältnis von Plan und Markt, von Wirtschaft und Demokratie, von Kapitalwirtschaft und alternativer Ökonomie überhaupt sinnvoll diskutieren? Hat es demnach eine politische Ökonomie des Sozialismus, die diesen Namen verdient, überhaupt schon gegeben?
Ich komme durch solche unabweisbaren Fragen wieder zurück auf die bisher kaum wahrgenommene oder schlecht legitimierte, bis heute nicht produktiv aufgelöste Hochspannung zwischen der Wahrnehmung der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie als negative Kritik auf der einen und der eigentlichen Blochschen Orientierung und kategorialen Gedankenrüstung auf positiv zielgerichtete konkrete Utopie: Die Blochsche utopisch-kritische Wirklichkeits- und Wissenschaftskonzeption steht, richtig verstanden, in einem äußersten Spannungsverhältnis zu dem Noch-Nicht einer konkret-utopischen politischen Ökonomie im Raum des Marxismusdenkens.
In der heute vielleicht möglichen Auflösung der bezeichneten Spannung, in der noch nicht gelungenen Herausarbeitung einer tragfähigen, konkret-utopischen Konzeption für eine alternative Ökonomie, sehe ich das Frontproblem der modernen politischen Philosophie und Emanzipationsbewegung überhaupt: Die Erstarrung der vor hundert Jahren noch fortgeschrittensten Wirtschafts- und Gesellschaftstheorie in einer immer noch zu neun Zehnteln negativen Entfremdungs- und Krisentheorie widerspricht dem im Gesamtwerk unübersehbaren utopischen Sinn des Marxschen Forschens. Sie verfehlt die reale, umwälzende Prozeßwirklichkeit des hinter uns liegenden Jahrhunderts und hat sich als ein verheerender Nullfaktor in der Geschichte der sozialen Emanzipationsbewegungen ausgewirkt. Sie hat insbesondere kräftig mitgewirkt in dem Mangel an Tragfähigkeit realsozialistischer Wirtschaftstheorie und in dem Scheitern realsozialistischer Wirtschaftsexperimente. Sie steht auch in einem eklatanten Widerspruch zu den Grundannahmen der der konkret-utopischen Philosophie, zu deren Realitätskonzeption und zu deren Begriffsvermögen. Dieser Erstarrung der Theorie kann man nur durch philosophische und theoretische Verrenkungen eine höhere Weihe und Scheinlegitimität zu geben versuchen.
Von Bloch hören wir: "Ohne Ökonomie geht's nicht, sonst ist es abstrakter Utopismus." (Bd. 16, S. 224)! So liegt in der Frage nach einer Utopie der Arbeit, mit Rückbezug auf Vorleistungen im Marxschen Forschungsansatz und mit Hilfe der bei Bloch erlernbaren konkret-utopischen Orientierungen, die Möglichkeit des überfälligen Aufbruchs beschlossen. Das Marx bereits bewußte Problem einer alternativen Reproduktionsordnung und eines neuen ökonomischen Kalküls, das er in seiner Zeit und mit seinen theoretischen Mitteln nicht hat lösen können, sollte doch fast 150 Jahre nach der "Kritik der politischen Ökonomie" und dem I. Band des "Kapitals" erhellt werden können. Die aktuellen Diskussionsbeiträge auf dem Problemfeld, das man Kapitalismus ohne Alternative? überschreiben könnte, zeigen die Dringlichkeit einer Lösung.
Exkurs zu aktuellen Diskussionsbeiträgen
So treffend und so populär auch die Anklagen gegen den "Terror" einer zynischen, menschenverachtenden Ökonomie heute immer wieder vorgetragen werden (Viviane Forrester: Der Terror der Ökonomie): Die Wurzel des Übels, das Krebskalkül der Kapitalwirtschaft, wird hier nicht dingfest gemacht, eine tragfähige Zukunftsvision bleibt aus. Unzureichend, ja irreführend bleiben Versuche, ohne die Auslotung der arbeitsökonomischen und werttheoretischen Aspekte der modernen Ökonomik ein "Ende der Arbeitsgesellschaft" zu hypostasieren (Andre Gorz: Kritik der ökonomischen Vernunft). Es geht nicht einfach um einen "Übergang .. zu einer Gesellschaft der befreiten Zeit, in der Kultur und Gesellschaftlichkeit das Ökonomische überwiegen: Es geht zunächst um die Neuordnung des Ökonomischen selbst, um eine geschichtlich höhere Form desselben.
Auf der anderen Seite stellt die immer neue Prolongierung von Wechseln auf die Krisentheorie auch keinen eigentlichen theoretischen Fortschritt dar: Die Erkenntnis, daß das kapitalistische Modernisierungsprojekt scheitert (Robert Kurz: Kollaps der Modernisierung) läßt die davon Betroffenen am Ende wieder ziemlich ratlos in die Zukunft blicken. Ein ähnlich frustrierendes Resultat bleibt, wenn anerkannte Kapitalismusforscher nach Hunderten Seiten Analytik der kapitalwirtschaftlichen "Globalisierung" (Elmar Altvater, Birgit Mahnkopf: Grenzen der Globalisierung) das Denken auf den letzten 15 Seiten in "alternative Entwicklungsbahnen" einschwenken lassen und dort zu dem tiefschürfenden Schluß kommen, daß "nur die Perspektive der gesellschaftlichen Regulation der globalen Prozesse in Politik und Wirtschaft" bleibt, die "rückgängig zu machen" angeblich "kein zukunftsorientiertes Projekt" wäre: Was, wenn die kapitalwirtschaftliche Globalisierung sich selbst unterminiert und transzendierende Formen des Ökonomischen heraustreibt, zu deren Erkenntnis hier die Methode und die Begriffe fehlen? Welch eine Verschwendung von Forschungskapazität an das krude Faktum, welche Phantasielosigkeit!
Ein kleines Bändchen von Pierre Bourdieu, seine "Wortmeldungen im Dienste des Widerstandes gegen die neoliberale Invasion" (Pierre Bourdieu: Gegenfeuer) vermag hier weit mehr anzuregen: "Es ist höchste Zeit, die Voraussetzungen für den kollektiven Entwurf einer sozialen Utopie zu schaffen". Aber Bourdieu ist Soziologe, kein Ökonomiker, und so bleibt auch seine Idee zu einer "Ökonomie des Glücks" noch im Vorraum einer konkreten Utopie der politischen Ökonomie.
Auf dem Weg zu einer konkreten Utopie der Arbeit
Ich möchte abschließend noch drei Thesen zusammenfassen, die unser forschendes Denken zu Fragen der Utopie der Arbeit oder alternativen politischen Ökonomie anregen und anleiten könnten. Dabei soll noch einmal pointiert sichtbar werden, was man in den zahlreichen Veröffentlichungen und Kommentaren zum Destruktionscharakter der Kapitalwirtschaft, bei den bändefüllenden Einzelvorschlägen zur Behebung der Übel der Massenarbeitslosigkeit und Umweltzerstörung, in den immer wieder vorgetragenen technischen, sozialen und ökonomischen Zukunftsvisionen vermissen könnte: Bisher ist dabei etwas Tragfähiges ganz und gar nicht herausgekommen, und das hat Gründe.
(1) Die wissenschaftlichen Vorleistungen von Karl Marx
Eine alternative Ökonomik kann nicht ohne den Durchgang und ohne die Überschreitung der Marxschen Vorleistungen auf dem Gebiet der Analyse und Kritik der Kapitalwirtschaft, kann nicht ohne Berücksichtigung seiner Sondierungen zu einer postkapitalistischen Ökonomik entwickelt werden. Marx ist überhaupt noch unentdeckt als Wirtschaftstheoretiker mit letztlich konkret-utopischer Intention:
Im Entwurf des Gesamtwerkes, in allen wichtigen Abschnitten des Kapitals, in der gewaltigen Materialsammlung der Grundrisse ist die Suche nach der konkreten Alternative und deren immer wieder versuchte Einkreisung stets gegenwärtig. So war und ist die Festschreibung der Marxschen Theorie als eine mehr oder weniger eindimensionale Kapital- und Krisentheorie inadäquat und hat praktisch verheerende Folgen gezeitigt. Anstatt in den einkreisenden Gedankengängen und Generalformeln für eine positive politische Ökonomie die allerwichtigste Forschungsaufgabe zu erkennen, bildete die Fortschreibung und Kultivierung einer negativen Kritik den Mainstream innerhalb der Marxismus- und Sozialismusgeschichte.
Bei dieser Forderung nach einer Blickwende geht es nicht um die schon breitgetretene "Darstellung" des "Kapitals", sondern um die Rekonstruktion und Weiterentwicklung eines lebendigen Forschungsprozesses, der eher in den Vorarbeiten der "Theorien über den Mehrwert" oder in den weitergehenden Arbeitspapieren der "Grundrisse" dokumentiert ist. Die Kernfrage ist dabei beileibe kein Akkumulationschema, sondern die Frage nach der Spezifik des kapitalwirtschaftlichen ökonomischen Kalküls und nach der Möglichkeit einer in anderen Wert-Verhältnissen fundierten höheren ökonomischen Rationalität. Bloch hat diesen Kernpunkt treffend angesprochen: Es herrscht ein "nicht nur von den Menschen, sondern auch von den Dingen entfremdeter Kalkül", ein "nicht-organischer", ein "entqualifizierender Sinn" (Bd. 5, S. 778), welcher in seiner heute global entfesselten Wirkmacht die menschliche Zukunft ruiniert. Marx wäre wohl nichts lieber gewesen, als nach der Entdeckung der Bewegungsgesetze des Kapitals auch noch das Grundprinzip oder Grundmodell einer neuen, befreiten Ökonomik zu enthüllen. Wenn er das nicht getan hat und nicht tun konnte, so lautet die uns gestellte Frage: Warum? Nur so ist ein Weiterkommen möglich.
(2) Das methodologische Instrumentarium von Ernst Bloch
Man wird, was Bloch und die ökonomische Problematik angeht, den Philosophen nicht für Schwächen und Fehler auf Seiten marxistischer Ökonomen verantwortlich machen können oder von ihm die Lösung einer Problematik erwarten dürfen, an der sich schon ein enormer Fachverstand versucht hat. Was von Bloch lernbar ist, ist zunächst der Blick für eine entsetzliche "utopische Unterernährung", eine "Impotenz im Antizipatorischen" (Bd. 16, S. 347 f.), mit der die traditionelle marxistische Ökonomie und Krisentheorie bis in die Gegenwart hinein geschlagen sind. Daß in dieser Theorie trotzdem noch mehr Wahrheit über das bestehende Wirtschaftssystem steckt als in der verrotteten Wirtschaftswissenschaft oder in den gängigen neoliberalen Mythen, versteht sich: "Die Ökonomie ist bankrott. Die einzigen, die es noch nicht gemerkt haben, sind offenbar die Ökonomen", so ein ehemaliger Spiegel-Wirtschaftskommentar.
Die Blochsche Wirklichkeitskonzeption ist nicht nur ein Brecheisen gegen jede Stupidität, sondern insbesondere ein Gegenmittel gegen einen linken Kult der Negativität. Sie widerspricht fundamental allen scheinphilosophischen Konstruktionsversuchen eines geschlossenen Entfremdungszusammenhangs, aller eindimensionalen Krisentheorie. Seine Kategorien- und Perspektivenlehre bietet ein notwendiges und nützliches Instrumentarium, um die Situation unserer Zeit als historischen Übergang zu begreifen und den Zusammenhang von Tendenz, Latenz und konkreter Utopie auch auf dem Gebiet der politischen Ökonomie zu erforschen: "Die Antizipation ist unsere Kraft und unser Schicksal" (Bd. 16, S. 384)!
Die so notwendige Neukonstitution der Kritik der politischen Ökonomie im Geist konkreter Utopie setzt nach meinem Dafürhalten die weitere Ausarbeitung der praxisphilosophischen Prozeßwirklichkeits-Konzeption voraus. Damit einhergehen kann die Präzisierung der von Bloch intendierten neuen Wissenschaftlichkeit als paradigmatische Position einer begreifend-eingreifenden "Wissenschaft gesellschaftlicher Praxis", welche vor allem die immer noch bestehenden geistphilosophisch-erkenntnistheoretischen Lücken der kritischen Philosophie schließt. Diese Rekonstruktionsarbeit an der kritischen Philosophie gesellschaftlicher Praxis wird aus deren gesamter Traditionslinie, nicht nur aus Blochs Denken schöpfen müssen, wenn sie gelingen soll. Sie schließt vor allem eine für deutsche Verhältnisse unabdingbare, für deutsche Intellektuelle äußerst unangenehme Abrechnung mit der Deklinationslinie des kritischen Denkens in der Frankfurter Denkschule bis hin zu Habermas ein: Eine "Zukunftswissenschaft der Wirklichkeit plus der objektiv-realen Möglichkeit in ihr" (Bd. 5, S. 331) ist eben doch etwas völlig anderes als eine "Theorie des kommunikativen Handelns". Wann spricht sich das in der deutschen Soziologie herum?
(3) Ein Lösungsansatz: Die Theorie der Sozialwirtschaft
Die hier vorgetragene These lautet, daß aus der synergetischen Kraft von konkret-utopischer Wissenschaftlichkeit und politisch-ökonomischer Wirtschaftstheorie die Lösung des Problems einer höheren ökonomischen Rationalität, einer neuen Reproduktionsordnung erwachsen kann. In der Bezugnahme auf die Marxschen Vorleistungen kann man entweder einen entscheidenden Fehler der Marxschen Analytik aufdecken und muß sich dann einen anderen wirtschaftstheoretischen Ansatzpunkt suchen. Wo wäre der aber in Sicht? Oder man akzeptiert die Marxschen Vorgaben der Kritik der politischen Ökonomie und versucht, unmittelbar in der Verlängerung der Akkumulations- und Krisentheorie weiterzukommen: Nach meiner Ansicht ein Weg ins Abseits. Eine bisher nie in Betracht gezogene Möglichkeit besteht darin, eine entscheidende Auslassung im Marxschen Konzept zu identifizieren und die traditionelle marxistische Ökonomie mit diesem neuen Faktor, dem missing link einer utopisch-kritischen Politökonomie, zu überschreiten. Ich möchte diesen Weg vorschlagen:
Die entscheidende Auslassung bei Marx besteht darin, daß er das System der industriellen Warenproduktion als Totalität konstruierte. Tatsächlich umfaßt das System der gesellschaftlichen Gesamtarbeit aber bereits zu seiner Zeit nicht gering zu schätzende andere notwendige Tätigkeiten, die in seinen Untersuchungen mehr oder weniger nur als kapitalwirtschaftlich unproduktive Randtätigkeiten, sozusagen als Anhang der kapitalwirtschaftlichen Reproduktionskreise rangieren. Die historische Realität kam dieser Theoriekonstruktion in bestimmter Hinsicht entgegen, und so sind die Marxschen Schlußfolgerungen zu seiner Zeit durchaus noch treffend und konsequent.
Zum Fehler wurde die Auslassung aber bei den Marxismusdenkern, die in ihren Forschungen und Debatten weiter von dem klassischen industriewirtschaftlichen Konzept ausgingen, während sich in der Wirklichkeit durch die Entwicklung der Sozialsysteme, die Urbanisierung und die wachsenden Staatsfunktionen das Feld jener kapitalwirtschaftlich unproduktiven Arbeit tendenziell zu einem Fonds "sozialwirtschaftlicher Dienste" (Horst Müller: Sozialwirtschaft als Alternative zur Kapitalwirtschaft) auswuchs, der heute als eine eigene Abteilung der gesamtgesellschaftlichen Reproduktion betrachtet werden muß, wie vormals beispielsweise die Produktionsmittel-/Konsumgüterabteilung in den Marxschen Reproduktionsschemata. So steht noch hinter den aktuellen Diskussionen über einen vermeintlichen Wandel von der "Industriegesellschaft" in eine "Dienstleistungsgesellschaft" das empirisch und theoretisch weitgehend unausgelotete Problem des Wandels von einer Kapitalwirtschaft zu einer "Sozialwirtschaft".
Die Lösung des Problems einer zukünftigen neuen Wirtschaftsweise liegt demnach in einer szenischen Praxisformanalyse, wie sie von Quesnay erfunden und von Marx äußerst erfolgreich weiterentwickelt wurde - aber jetzt erweitert als Transformationsanalyse und angewendet auf ein Reproduktionsszenario mit den zwei neu gepolten Hauptabteilungen der industriellen Warenproduktion und der sozialwirtschaftlichen Dienste, sowie unter Einbeziehung einer wirtschaftsgesellschaftlichen, wenn man so will staatlichen Vermittlungsinstanz. Diese existiert ja heute und spielt eine entsprechend bedeutende Rolle im Wirtschaftsgeschehen.
Die utopisch-kritische Analyse dieses Reproduktionsszenarios führt zu dem Ergebnis, daß es innerhalb der kapitalistischen Formation bereits die gewaltige Latenz einer sozialwirtschaftlichen Ökonomik gibt, welche die kapitalwirtschaftlichen Reproduktionskreise stört und transzendiert. Hier muß der Hinweis genügen, daß meiner Ansicht nach durch die weitere Emanzipation der sozialwirtschaftlichen Dienste, im strikten Gegenzug gegen die sozialkanzerogene neoliberale Tendenz, langfristig eine Umstimmung und ein Umbau der Wirtschaft in die neue Gesamtform einer Sozialwirtschaft in Angriff genommen werden kann, die sowohl im Teilbereich der industriellen Warenproduktion wie im komplementären Teilbereich sozialwirtschaftlicher Dienste von einem neuen Wertgesetz oder ökonomischen Kalkül beseelt wird. Damit wird ein praktikables Gegenmodell zur weiteren globalen Metastasierung der Verwertungsökonomie im Ansatz sichtbar. Diese wird durch eine "Implosion der Produktivkräfte" unterminiert, die zugleich die wesentliche materielle Bedingung für die überfällige Emanzipation der sozialwirtschaftlichen Dienste liefert und eine neue Politik der wirtschaftsgesellschaftlichen Konsolidierung ermöglicht: Die Formulierung einer zeitgemäßen Politik der ökonomischen und gesellschaftlichen Transformation gerät damit in Reichweite!
September 1998
Dr. Horst Müller, Ernst-Bloch-Assoziation, Nürnberg
Eine ausführlichere Darstellung der Position einer "Konkreten Praxisphilosophie" und der "Theorie der ökonomischen Transformation" findet sich u.a. in der Zeitschrift VorSchein der Ernst-Bloch-Assoziation, Nr. 15/1996, erhältlich über Syndicat Buchgesellschaft, Frankfurt, Tel. (06135) 3058.
In der Homepage der Ernst-Bloch-Assoziation, Bereich Mitteilungen, ist der Artikel "Sozialwirtschaft als Alternative zur Kapitalwirtschaft" dokumentiert und kann auch heruntergeladen werden. Adresse: http://www.fen.baynet.de/eba. Dekomprimierung mit WinZip!