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Franz
Naetar Der fünfte Band des Kapitals
- Gibt es eine allgemeine materialistische Theorie des Staates? In seinen
Skizzen und Entwürfen zum Kapital plante Marx drei Bände, die niemals
geschrieben wurden. Der erste über den Lohn, der zweite über den Staat und der
dritte über den Weltmarkt. Das heißt neben den drei Bänden des Kapitals fehlt
neben den anderen zwei ein Band über den Staat. Neben dem
Bedauern über diese nicht geschriebenen Werke und den Versuchen mehrerer
marxistischer Autoren, diesen fünften Band selber zu schreiben, steht eine
Bemerkung im Empire von Negri und Hardt, die aussagt, dass Marx diesen fünften
Band gar nicht schreiben konnte: „Marx'
Kommentare zum Staatsbegriff zielen weniger auf eine allgemeine theoretische
Diskussion als auf spezifische Analysen zur nationalen Politik: zum englischen
Parlamentarismus, zum französischen Bonapartismus, zur russischen Autokratie
etc. Die nationalen Beschränkungen dieser Konstellationen waren es, die eine
allgemeine Theorie unmöglich machten. Die konstitutionellen Besonderheiten
eines jeden Nationalstaates waren in Marx’ Augen durch unterschiedliche
Profitraten in den unterschiedlichen Nationalökonomien und zugleich durch
Unterschiede in den Ausbeutungsregimes bedingt....Der Nationalstaat setzte auf
eigentümliche Art Schranken. Unter diesen Bedingungen konnte eine allgemeine
Staatstheorie nur aleatorisch (=zufällig) sein
und sich abstrakter Begriffe bedienen.“ (Negri 2002; 247) Was ist
von dieser Bemerkung zu halten? Gibt es in der kommunistischen und
Arbeiterbewegung nicht seit langem eine Debatte über den Staat? Der Text von
Engels „Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates“ wurde
in hunderten Arbeitskreisen rezipiert und ist auch heute noch absolut
lesenswert. „Staat und Revolution“ von Lenin war ein Standardwerk
kommunistischer Lektüre. In den 60er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts
entwickelte sich in Anschluss an Überlegungen von Althusser und Foucault eine
breite Diskussion über den modernen kapitalistischen Staat. Diese Debatten
wurden auch in Deutschland aufgenommen und erweitert. Einer der interessantesten
Autoren ist Joachim Hirsch, der sich seit mehreren Jahrzehnten unter anderem mit
der Frage des Staates beschäftigt und zahlreiche Bücher über dieses Thema
publiziert hat. Der
vorliegende Artikel versucht die Behauptung von Negri/Hardt in den Zusammenhang
der oben erwähnten Schriften zu stellen und beschäftigt sich mit der Frage, ob
zwar nicht Marx, aber die anderen erwähnten Autoren die Aufgabe, eine
materialistische Theorie des Staates zu entwickeln, realisieren konnten. Wir
konzentrieren uns dabei stellvertretend für zwei Strömungen in den Debatten
auf zwei Werke: Den oben erwähnten Text von Engels und das im Jahr 2002
erschienene Buch von Joachim Hirsch „Herrschaft, Hegemonie und politische
Alternative“. Engels: Der Staat ein
notwendiges Element der Klassengesellschaft
Versuchen
wir die Argumentationen von Engels in „Der Ursprung der Familie, des
Privateigentums und des Staates“ zusammenzufassen. Die
Argumentation setzt bei Engels an den „urkommunistischen“ Gesellschaften -
in der Regel eine Gesellschaft von SammlerInnen und JägerInnen - an, in der es
keine von der Gesellschaft getrennte öffentliche Gewalt gab. Tatsächlich
ist es auch ein im Lichte der gegenwärtigen Erkenntnisse der Natur- und
Geschichtswissenschaften nicht uninteressantes Gedankenexperiment sich 5 –7000
Jahre zurück zu versetzen, in die Zeit bevor die Landwirtschaft in
verschiedenen Teilen der Welt „entdeckt“ wurde. Wenn man/frau die zu dieser
Zeit schon alle Erdteile besiedelnden Menschen betrachtet (es ist das nicht mehr
als 3- 400 Generation her) so lebten diese unter weitgehend egalitären
materiellen Verhältnissen in Gentilorganisationen (Stammesorganisationen) und
darauf aufbauenden Gruppierungen. Wenn es
Unterschiede in den Lebensformen zwischen den Stämmen in Nordamerika, dem Nahen
Osten oder Australien gab, so waren diese weitgehend bestimmt durch die sie
umgebende Natur. Nicht unterschieden sich aber alle diese Gesellschaften in der
Tatsache, dass die Produktivität der einzelnen Arbeitskraft in der Gruppe im
Schnitt kaum mehr als seine eigenen Bedürfnisse befriedigen konnte. Dieses
einfache Fakt machte es trotz ständiger Kämpfe mit Nachbarstämmen unmöglich,
andere Gruppen dauerhaft zu versklaven. Sie konnten vernichtet, aber nicht
ausgebeutet werden. Es „zahlte sich nicht aus“. Wie
Engels schreibt: „Nach innen gibt es noch keinen Unterschied zwischen
Rechten und Pflichten; die Frage, ob Teilnahme an öffentlichen Angelegenheiten,
Blutrache oder deren Sühnung, ein Recht oder eine Pflicht sei, besteht für den
Indianer nicht; sie würde ihm ebenso absurd vorkommen wie die: ob Essen,
Schlafen, Jagen ein Recht oder eine Pflicht sei. Ebenso wenig kann eine Spaltung
des Stammes und Gens in verschiedene Klassen stattfinden.“ ( MEW 21; 4) Der
Staat wird in den Ausführungen von Engels in den Zusammenhang der
„Entdeckung“ der Landwirtschaft gebracht. Durch die Steigerung der
Produktivität, welche die landwirtschaftliche Nahrungsproduktion im Vergleich
zur vorher vorherrschenden Nahrungssuche mittels Jagd und Sammeln mit sich
brachte, wurde es möglich ca. 10 Mal mehr Menschen auf der gleichen Fläche zu
ernähren. Die steigende Produktivität machte es aber auch möglich und
„sinnvoll“ andere Menschen auszubeuten bzw. zu versklaven und Reichtümer
anzuhäufen. Damit im Zusammenhang stand, wie Engels anhand der Entwicklung der
griechischen Städte zeigt, die Entstehung von Geld: „Der aufgekommene
Privatbesitz an Herden und Luxusgerät führte zum Austausch zwischen einzelnen,
zur Verwandlung der Produkte in Waren....Mit der Warenproduktion kam die
Bebauung des Bodens durch einzelne für eigene Rechnung, damit bald das
Grundeigentum einzelner. Es kam ferner das Geld, die allgemeine Ware, gegen die
alle anderen austauschbar waren.“ ( MEW 21; 10) Wie
Engels zeigt, entwickelten sich basierend auf eine zunehmende Teilung der Arbeit
einerseits Schichten, die nicht mehr der traditionellen Gentilorganisation angehörten,
andererseits aber auch Organe zur Wahrnehmung der Interessen der verschiedenen
Schichten: „Ämter aller Art waren eingerichtet worden.“ Diese Ämter
waren notwendig geworden, weil die aufkeimende Geldwirtschaft mit der
Gentilverfassung völlig unverträglich war. Der
Staat wird nun in diesen Zusammenhang der Spaltung der Gesellschaft in Klassen
gestellt.[i]
Es wurden eine Verfassung und Gesetze geschaffen, die dem üppigen Landwucher
einen Riegel vorschoben und auch die Konzentration von Grundbesitz verringerten,
gleichzeitig aber auch die Sklaverei regelten. „Statt in der anfänglichen
brutalen Weise die eigenen Mitbürger auszubeuten, beutete man vorwiegend die
Sklaven und die außerathenische Kundschaft aus.“ (MEW 21; 114) Eine
weitere Ursache für die Entwicklung des Staates, sowohl bei den Griechen, wie
bei den Römern, vor allem aber bei den deutschen Stämmen, sieht Engels in den
durch die stark angestiegene Dichte der Bevölkerung mögliche „militärische
Demokratie“ mit seinen „beamteten Heeresführern“. Krieg und
Organisation der Krieges zur Plünderung der Nachbarn sind rechtmäßige
Funktionen des „Volkslebens“ geworden und erfordern ebenfalls einen eigenen
selbständigen Apparat. Es „entspringt der Staat direkt aus der Eroberung
großer fremder Gebiete, die zu beherrschen die Gentilverfassung keine Mitteln
bietet.“ (MEW 21; 164) Aus
seiner Darstellung der Staatsentstehung bei Griechen, Römern und den deutschen
Stämmen benennt Engels nun als Hauptkennzeichen des Staates bzw. der
Staatsverfassung (MEW 21; 166):
Zusammenfassend
zieht Engels nun seinen bekannten Schluss: „Da
der Staat entstanden ist aus dem Bedürfnis, Klassengegensätze im Zaum zu
halten, da er aber gleichzeitig mitten im Konflikt dieser Klassen entstanden
ist, so ist er in der Regel Staat der mächtigsten, ökonomisch herrschenden
Klasse, die vermittels seiner auch politisch herrschende Klasse wird und Mitteln
erwirbt zur Ausbeutung der unterdrückten Klasse.“ (MEW
21; 167) Diese
Regel hat auch Ausnahmen: „Ausnahmsweise indes kommen Perioden vor, wo
Klassen einander so nahe das Gleichgewicht halten, dass die Staatsgewalt als
scheinbare Vermittlerin momentan eine gewisse Selbständigkeit gegenüber
beiden erhält.“ (ebenda) Was ist
das Erkenntnisinteresse, das Engels wie viele andere nach ihm bei dieser
Darstellung der Geschichte der Staatsentstehung hat? Einerseits
will diese Darstellung zeigen, dass der Staat nichts Naturnotwendiges ist. Dass
es Zeiten gab, zu denen die Gesellschaft keine über ihr thronende Macht benötigte. Letztlich
wird damit zu begründen versucht, warum die revolutionäre Überwindung der
Klassengesellschaft einen Staat überflüssig machen wird: „Die
Gesellschaft, die die Produktion auf Grundlage freier und gleicher Assoziation
der Produzenten neu organisiert, versetzt die ganze Staatsmaschine dahin, wohin
sie dann gehören wird: ins Museum der Altertümer, neben das Spinnrad und
bronzene Axt.“( MEW 21; 168) Die
zusammenfassende Darstellung des Texts von Engels zeigt auch seine Schwächen:
Im Detail betrachtet findet die Staatsbildung im Engelschen Sinn jedes Mal in
anderer Form und mit anderen Schwerpunkten statt. Zwischen dem griechischen
Staat zur Eindämmung der Widersprüche innerhalb der Freien und zur
gleichzeitigen Unterdrückung der Sklaven und einem beamteten Apparat zur Durchführung
von Raubzügen und der Notwendigkeit der Beherrschung eroberter Gebiete bei den
deutschen Stämmen, gibt es nicht sehr viele Gemeinsamkeiten. Letztlich
bleiben bei Engels deshalb die allgemeinen Bestimmungen des Staates abstrakt.
Zwar sind die Verallgemeinerungen, die Engels macht, sinnvoll, aber ohne
Kenntnis der detaillierten Darstellung im historischen Teil, kann man nur ahnen,
was die zusammenfassenden Bestimmungen meinen. Das Werk ist dort am stärksten,
wo es sich detailliert mit den Gründen für die Staatsentstehung
auseinandersetzt. Es stärkt die Überzeugung, dass der Staat eines Tages überflüssig
geworden sein wird und gibt gute Gründe an, warum der Staat nicht einfach
abgeschafft werden kann. Der Staat aus Ausdruck des
Widerspruchs zwischen bourgeois und citoyen.
Versuche
die Theorie über den Staat aus einer marxistischen Sicht zu vertiefen, gab es
zwar schon in den 20er Jahren, aber nach den Erfahrungen mit dem faschistischen
und stalinistischen Staat bedurfte es der langen, relativ friedlichen Phase der
fordistischen Expansion in den 50er bis 70er Jahren, die ja mit einer
ununterbrochenen Ausdehnung der staatlichen Aktivitäten auch im Westen vor sich
gingen, um nun den Staat aus einer anderen Sicht zu betrachten. Stellvertretend
für eine Reihe dieser theoretischen Analysen des Staates, die in sich wiederum
beträchtliche Unterschiede haben, sollen hier die theoretischen Konzepte über
den Staat, wie sie von Joachim Hirsch in seinem Buch „Herrschaft, Hegemonie
und politische Alternative“ dargestellt werden, als Beispiel genommen
werden. Einen
ganz wesentlichen Unterschied kennzeichnen diese Überlegungen im Verhältnis zu
denen von Engels: Bei ihnen wird davon ausgegangen, dass der Staat zusammen mit
und durch den Kapitalismus entstanden ist. Wesentlich für den Staat als
Herrschaftsform sei nicht nur ein eigenständiger, zentralisierter Gewaltapparat
– diese Festlegung deckt sich noch weitgehend mit der oben im Text von Engels
getroffenen Definition. Im Gegensatz zu feudalen Herrschaftsverhältnissen, in
denen politische und ökonomische Herrschaft weitgehend zusammenfalle, seien die
Herrschaftsformen im Kapitalismus durch die Trennung und Entgegensetzung von
Politik und Ökonomie gekennzeichnet. Erst diese Trennung der Politik von der Ökonomie,
des Staates von der Gesellschaft machen diese Herrschaftsform zu einer
staatlichen. (Siehe dazu auch den Artikel „Entgegensetzung und
Verdoppelung“ von Karl Reitter in dieser Nummer, der an Überlegungen von
Marx im Artikel „Zur Judenfrage“ anschließt.) Durch
diese spezifische, auf kapitalistische Verhältnisse zugeschnittene Bestimmung
des Staates kommen wichtige Fragestellungen in den Blickpunkt, denen bei den
allgemeinen Festlegungen von Engels wenig Bedeutung gegeben wurden. Ein guter
Ausgangspunkt ist dabei die schon in den 20er Jahren vom sowjetische
Staatsrechtler Paschukanis gestellte Frage: „Warum bleibt Klassenherrschaft
nicht das, was sie ist, d.h. die faktische Unterwerfung eines Teils der Bevölkerung
unter den anderen? Warum nimmt sie die Form einer offiziellen staatlichen
Herrschaft an oder - was dasselbe ist - wird der Apparat des staatlichen Zwanges
nicht als privater Apparat der herrschenden Klasse geschaffen, sondern spaltet
sich von letzterer ab und nimmt die Form eines unpersönlichen, von der
Gesellschaft losgelösten Apparats der öffentlichen Macht an?“ (Paschukanis
nach Hirsch 2002; 21) Hirsch
versucht diese Lostrennung des Staates von der Gesellschaft, diese Verdoppelung
jedes einzelnen Menschen der (bürgerlichen) Gesellschaft in den citoyen
und den bourgeois in den grundlegenden gesellschaftlichen Verhältnissen
des Kapitalismus zu verorten. Auf Basis
der Privatproduktion, der Lohnarbeit mit ihrer privaten Aneignung des
produzierten Mehrwertes, auf Basis des Zwangs zur Profitmaximierung der
einzelnen Kapitale sei eine politische Gemeinschaftlichkeit nicht direkt,
bewusst und durch unmittelbare Übereinkunft herstellbar. Diese Gesellschaft sei
nämlich „naturwüchsig“ arbeitsteilig, durch Konkurrenz und
Klassenauseinandersetzung geprägt. Ihre politische Gemeinschaftlichkeit müsse
daher eine verdinglichte und objektivierte Gestalt annehmen. Generell
würden sich daher die Gesellschaftlichkeit der Menschen im Kapitalismus in von
ihnen getrennten „sozialen Formen“ zeigen. Bewusst wird hier von
Hirsch eine Parallelität zwischen der Vergesellschaftung der Produktion unter
Beibehaltung der Privatarbeiten, die zum Entstehen der „Wertform im
Warenaustausch“ und zur Bildung des Kapitalkreislaufes führt, mit der „Staatsform“
behauptet. Beide seien von der
Gesellschaftlichkeit der Menschen getrennte „soziale Formen“: „Die
beiden grundlegenden sozialen Formen, in denen sich der gesellschaftliche
Zusammenhang im Kapitalismus vergegenständlicht, sind der Wert, der sich im Geld
ausdrückt, und die politische Form, die sich in der Existenz eines von
der Gesellschaft getrennten Staates äußert.“
(Hirsch 2002; 19) Was haben
wir bisher in der Argumentation gewonnen: In den hier zusammengefassten Passagen
wird zwar auf die Parallelität der beiden sozialen Formen Geld und Staat
hingewiesen; in der Begründung der „politischen Form“ scheint aber
nicht viel mehr als die Formulierung von Engels übrigzubleiben, nämlich dass
eine durch Klassengegensätze zerrissene Gesellschaft eine von ihr getrennte öffentliche
Gewalt erfordere. Die
eigentliche Besonderheit des kapitalistischen Staates wird im weiteren Fortgang
der Argumentation begründet. Wesentlich für kapitalistische Verhältnisse sei
nämlich, dass sich diese erst voll herausbilden können, wenn die ökonomisch
herrschende Klasse auf die individuelle Anwendung direkter Gewaltmittel im
unmittelbaren ökonomischen Verkehr verzichte. Die kapitalistische
Vergesellschaftung zeichne sich durch die Einheit von Klassen- und
Marktvergesellschaftung aus. Die Ausbeutung der Arbeitskraft in der Produktion
sei – im Gegensatz zu feudalen Verhältnissen – an die Konkurrenz der
Kapitale untereinander und an die Existenz der LohnarbeiterInnen als „freie
Marktsubjekte und Staatsbürgerinnen“ gebunden. Freiheit und Gleichheit
seien daher nicht nur ideologischer Schein sondern hätten eine materielle Basis
in der kapitalistischen Vergesellschaftung. Daraus
folgt aber nun für Hirsch, dass physische Zwangsgewalt von keinen der
gesellschaftlichen Klassen, auch nicht der ökonomisch herrschenden, ausgeübt
werden könne. Eine von der Gesellschaft getrennte Institutionalisierung der
Gewalt in der Gestalt des Staates sei notwendig. „Diese
Konzentration der Zwangsgewalt in eine von allen gesellschaftlichen Individuen
und Klassen getrennten Form begründet die für den Kapitalismus kennzeichnende
Trennung von ‚Ökonomie’ und ‚Politik’, von ‚Staat’ und
‚Gesellschaft’.“ (Hirsch 2002; 22) Diese
Feststellung – so Hirsch weiter – sei aber nicht ausreichend; die politische
Form des Staates beinhalte mehr als die Verselbständigung der physischen
Zwangsgewalt. Der Staat sei nicht nur Zwangsapparat, sondern in ihm drücke sich
– wenn auch in einer entfremdeten und verobjektivierten Weise – die
politische Gemeinschaftlichkeit der Gesellschaft aus. Er sei die gleichermaßen
illusorische und reale Gestalt des Gemeinwesens unter den herrschenden
gesellschaftlichen Bedingungen. „Als
schlichte ‚Marktwirtschaft’ ist der Kapitalismus nicht existenzfähig.“
(Hirsch 2002; 23)[ii] Konsequenter
Weise lehnt Hirsch deshalb auch ein Basis – Überbau Verhältnis zwischen Ökonomie
und Politik ab. Der Staat ist für ihn nicht ein Überbau über die ökonomischen
Produktionsverhältnisse. „Die Ökonomie ist der Politik weder theoretisch
noch historisch vorausgesetzt.“ Wichtig sei
- so Hirsch - die eigentümliche Trennung und Verbindung von Ökonomie
und Politik. Zusammenfassend wird argumentiert: „Ökonomische und
politische Form kennzeichnen die
Art und Weise, wie die kapitalistische Gesellschaft trotz ihrer antagonistischen
Widersprüche und durch diese hindurch zusammengehalten, bestands- und
entwicklungsfähig wird.“ Das eben
gesagte stellt die Substanz von dem dar, was Hirsch allgemein über den
kapitalistischen Staat aussagt. Wie Hirsch schreibt, sei diese
Argumentationsfigur der Kern der „materialistischen Staatsableitung“.
(Hirsch 2002; 22) Nach
diesen Darlegungen des Kerns der „materialistischen Staatsableitung“
beschäftigt sich Hirsch auf weiteren 50 Seiten mit dem „Staat,
Staatensystem und der Demokratie“ ohne
explizit auf konkrete historische Entwicklungen einzugehen. Danach erst
wird der Fordismus und Postfordismus behandelt.
Bevor wir uns diesen weiteren Darlegungen widmen, möchte ich mich
vorerst mit der Frage beschäftigen, was wir durch die Darstellung der Staatsableitung
gewonnen haben und wo ich die Schwachpunkte dieser Darstellung sehe. Zweifellos
liefert die Erkenntnis, dass die eigentümliche Trennung von Politik und Ökonomie
einen engen und notwendigen Zusammenhang mit den kapitalistischen
Produktionsverhältnissen hat und dass eine direkte Herrschaft der Bourgeoisie
diesen Verhältnissen nicht angemessen ist, wichtige Orientierungshilfen bei der
Einschätzung sozialer und politischer Bewegungen. Die überwältigende
theoretische Leistung, die Marx im Kapital gelingt, besteht ja nicht nur darin ,
dass er die aus dem Produktaustausch von privaten ProduzentInnen bei vorhandener
gesellschaftlicher Arbeitsteilung notwendig entstehenden Materialisierungen
gesellschaftlicher Verhältnisse wie Geld und Kapital schlussfolgert, sondern
dass er die daraus entstehenden Formen von Profit, Zins und Grundrente
entwickelt, wie sie notwendiger Weise im Leben und in den Köpfen der
TeilnehmerInnen an der kapitalistischen Produktion entstehen. Das Kapital zeugt
Profit, das Geldkapital Zins und der Boden Grundrente. Die Bourgeoisie spricht
von „Produktionsfaktoren“ und handelt notwendiger Weise danach. Es nützt
nun rein gar nichts, diese Theorie der „Produktionsfaktoren“ als einen
Schwindel und Ideologie zu entlarven. Der Bourgeois betrachtet das Kapital als
„sinnlich übersinnliches“ Ding und behält so eine gewisse Distanz zu
seinen eigenen Ideologien. Als Bürger der Aufklärung kann er an die Erzeugung
aus dem Nichts nicht so recht glauben und hat seine Probleme mit der „übersinnlichen
Fähigkeit“ des Geldkapitals, mehr Geldkapital zu zeugen. Daß ein Ding - als
was er das Kapital ja betrachtet - zum einem Profit gebärenden Subjekt werden
kann, scheint ja bei den Dingen, mit denen er sonst zu tun hat, eher nicht zum
Üblichen zu gehören. Dennoch: der Bourgeois handelt und spricht notwendiger
Weise so, als ob das Kapital lebt und die Menschen Ressourcen sind. Geld und
Kapital sind moderne Fetische. Die Frage
ist nun, ist es möglich eine ähnliche Entwicklung der „politischen Form“
zu geben, wie sie Marx im Kapital mit der Entwicklung der Wertform gelungen ist.
[iii]
Wie beschrieben wachsen die Wertform wie die politischen Formen aus den
Produktionsverhältnissen und sind deshalb mit einer gewissen Autonomie
versehen. Werden
nun aber ähnlich wie im Kapital fetischartige Formen des Denkens und Handelns
der Menschen entwickelt? Gibt es neben dem Wert- auch einen Staatsfetisch?
Gelingt es vielleicht sogar, andere Staatsformen als den demokratischen
Nationalstaat „abzuleiten“? Historisch waren in der Geschichte des
Kapitalismus auch andere „staatliche“ Formen als die nationalen entstanden:
z.B. die des transnationalen politisch kommerziellen Netzes rund um die Städte
(Hanse, Generalstaaten des 17 Jhdt). Wie ist das mit Formen direkter Herrschaft
des Kapitals in Indien wie z.b der ostindischen Handelsgesellschaft oder noch
viel wichtiger: in welchem Zusammenhang steht der faschistische Staat, der
bekanntlich während mehr als 30 Jahren als „neue Erfindung“ zur Kontrolle
der Gesellschaft Furore machte und letztlich wie ist das mit dem stalinistischen
und dem „realsozialistischen“ Staat. Beides
ist, wie ich meine, nicht möglich: Weder kann das Denken und Handeln der
Menschen im Verhältnis zum Staat allgemein aus den Produktionsverhältnissen
abgeleitet werden, noch kann diese Abstraktion (die sie ja noch immer wäre) auf
den konkreten Staat „angewendet“ werden. Kurz
gesagt; Außer
einigen wenigen Bestimmungen, die aus dem Gegensatz Gleichheit am Markt und
Ausbeutung in der Produktion beruhen, gibt es keine allgemeine Theorie des
kapitalistischen Staates. Von
seinem Anspruch scheint mir deshalb der Text von Engels ehrlicher. Er versucht
ein historisches Phänomen, nämlich die Entstehung von Klassen mit einem
anderen Phänomen der Entstehung des Staates – so wie er ihn fasst – in
Zusammenhang zu stellen. Er beschreibt historische Formen der Staatsentwicklung
ganz konkret und verallgemeinert sie. Daraus entstehen keine elaborierte
Ableitungen wie im Kapital, aber es ist gut zu verstehen, wozu der Staat gedient
hatte und dass Kommunismus und Staat nicht zusammengehören, sondern es im
Kommunismus keinen Staat mehr geben wird.[iv] Wie funktioniert der
Herrschaft der Bourgeoisie?
Wie ist
das nun mit den weiteren Darstellungen bei Hirsch, soweit sie den Anspruch
haben, den Staat allgemein zu beschreiben?
Diese Darstellungen haben einen anderen Charakter als die Ausführungen
zur „Staatableitung“. Gestützt auf Diskussionen im Umfeld von Althusser (Poulantzas,
aber auch Balibar / Wallerstein) und der Regulationstheorie (Jessop, Lipietz),
gestützt auch auf Überlegungen von Foucault und, wird ein Bild des „erweiterten
Staates“ beschrieben. Es werden die nationalen staatlichen Strukturen
zusammen mit ihren in die Gesellschaft hineinreichenden Staatsapparaten,
es werden die Staatensysteme, Nationalismus und Rassismus mit ihren die
Herrschaft stabilisierenden Formen, sowie als generelles Kennzeichen einer
Epoche die Regulationsregime wie z.B. der Fordismus beschrieben. Abseits
des Anspruches einer theoretischen Analyse a la Kapital Bd. 5 sind diese
Darlegungen wichtig und aufklärend. Nach der Lektüre des ersten Teils der
Darlegungen von Hirsch könnte man/frau nämlich folgendes fragen: Wir verstehen
nun, warum die ökonomisch herrschende Bourgeoisie nicht einen privaten Unterdrückungsapparat
verwenden kann, wenn sich politische Formen entwickeln, die der kapitalistischen
Produktionsweise angemessen sind. Offen bleibt aber: wenn die vollständige
politische Demokratie - wie sie z.B. Marx in Zur Judenfrage“ der
amerikanischen Demokratie und der französischen Revolution zuschreibt -
die dem Kapitalismus angemessene politische Form ist, wie gelingt es der
Bourgeoisie, ihre Klassenherrschaft aufrechtzuerhalten. Diese
Frage wird im Buch von Hirsch und den Werken, auf die er sich stützt, nicht
gestellt, aber diese Fragestellung ist das Erkenntnisinteresse, das meiner
Meinung nach diese Beschreibungen treibt. In einer historisch-soziologischen
Analyse über die Mechanismen des Machterhalts werden eine Reihe von Strukturen
beschrieben, die diesem Zweck dienen:
Ausgangs-
und Endpunkt ist dabei der „demokratische Nationalstaat“, betrachtet aus der
Perspektive der weitgehend gelungenen Integration der Arbeiterklasse im
Fordismus. Haben wir
in diesen Darstellungen endlich eine allgemeine Theorie des Staates vor uns?
Folgt daraus, dass ein Staat, der auf kapitalistische Produktionsverhältnisse
aufsetzt, notwendig diesen Beschreibungen entspricht oder daraus ableitbar ist?
Meiner Meinung nach keinesfalls. Das 20. Jahrhundert war voll von Entwicklungen
des Staates, die mit den eben beschriebenen wenig gemeinsam hatten. In den
Abschnitten des Buches von Hirsch über die Entwicklung des Fordismus zum
Postfordismus, über die Internationalisierung des Staates und über die
politischen Perspektiven werden konkrete und detailreiche Analysen der
Entwicklungen der letzten 20 – 30 Jahre vor dem Bild der Beschreibung der
Mechanismen des Fordismus gemacht. Gerade diese sehr überzeugenden
Darstellungen des Buches lassen die Frage aufkommen, wieweit die allgemeinen
Darlegungen über den Staat zu Beginn des Buches ihren Ansprüchen gerecht
werden. Wenn
allerdings dieser erste Teil nicht als die „allgemeine Staatstheorie“
gelesen wird, sondern als Zusammenfassung der Erfahrungen mit dem fordistischen
Regulationsregime und Staat, bekommt dieser Teil plötzlich Farbe: Der Leser,
die Leserin vergleicht ihn im Geiste mit seinen eigenen Erfahrungen
fordistischer Vergesellschaftung und weiß, was gemeint ist. Dieser
bescheidenere Ansatz könnte dann auch mehr Platz lassen für Phänomene, die es
in einer allgemeinen Darstellung nicht geben kann, wie: Zufälligkeiten von
staatlicher Politik (der Wahlerfolg von Bush) und direkte Einflussnahme der
herrschenden Klassen durch Propaganda, Bestechung, Korruption und – ich traue
es mich fast nicht zu sagen – Verschwörung. Ein
anderes Beispiel dafür, dass die Versuche, allgemeine Staatstheorien zu
entwickeln, auch neuen und interessanten Überlegungen im Weg stehen, lassen
sich bei Poulantzas finden. Poulantzas
versucht einen Zusammenhang zwischen der Trennung von Hand- und Kopfarbeit und
der Struktur des Staates herzustellen: die geistige Arbeit – verstanden als
Wissen um die Organisation und Lenkung des Staates – reproduziere sich in den
Apparaten und Agenten des Staates, wohingegen sich die manuelle Arbeit (als
Ausschließung/Distanzierung von diesem Wissen) sich in den beherrschten Massen
konzentriere. Die für die repräsentative Demokratie grundlegenden
Institutionen wie Parteien, Parlament usw. würden auf diesem Ausschlussprinzip
basieren. Die Trennung von Hand und Kopfarbeit verortet er wiederum in der
Produktion, im Taylorismus. Poulantzas orientiert sich dabei an einer Anmerkung
von Marx aus dem Kapital: „Die spezifische ökonomische Form, in der
unbezahlte Mehrarbeit aus den unmittelbaren Produzenten ausgepumpt wird,
bestimmt das Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnis, wie es unmittelbar aus
der Produktion selbst hervorwächst und seinerseits bestimmend auf sie zurückwirkt.
Hierauf aber gründet sich die ganze Gestaltung des ökonomischen, aus den
Produktionsverhältnissen selbst hervorwachsenden Gemeinwesens und damit seine
spezifische politische Gestalt.“ (MEW 25; 799)[vi] Durch den
Versuch, eine allgemeine Theorie des kapitalistischen Staates zu schreiben,
bekommen dann die Ausführungen von Poulantzas eine Starrheit, die einem
politischen Phänomen meiner Meinung nach nicht angemessen ist oder anders
ausgedrückt, mehr als Marx kann man/frau „allgemein“ nicht sagen, ohne den
staatlichen Strukturen eine unangemessene Rigidität zu geben. Eingebettet in
konkrete Untersuchungen der fordistischen und tayloristischen Regulationsweise
mit ihren Kämpfen und Auseinandersetzungen, schauen die Überlegungen zu den
Auswirkungen der Trennung von Hand und Kopfarbeit wesentlich interessanter und
überzeugender aus. Vor allem wäre es interessant, das postfordistische
Regulationsregime unter dem Blickpunkt des Endes oder zumindest des
Bedeutungsverlustes der tayloristischen Arbeitsteilung zu betrachten. Was
bedeutet die von Negri/Hardt behauptete Dominanz der immateriellen Arbeit für
den Staat? Wenn nach
diesem Streifzug durch Versuche allgemeine Staatstheorien zu entwickeln,
wiederum Marx betrachtet wird, dann werden dessen Darstellung staatlicher Formen
gar nicht mehr so eingeschränkt empfunden. Sie haben den Vorteil, konkret zu
sein: In den historischen Untersuchungen zum Bürgerkrieg in Frankreich wird als
Resümee geschrieben: „Die
zentralisierte Staatsmacht, mit ihren allgegenwärtigen Organen - stehende
Armee, Polizei, Bürokratie, Geistlichkeit, Richterstand, Organe, geschaffen
nach dem Plan einer systematischen und hierarchischen Teilung der Arbeit -
stammt her aus den Zeiten der absoluten Monarchie.... Während der nachfolgenden
Herrschaftsformen wurde die Regierung unter parlamentarische Kontrolle gestellt,
d.h. unter die direkte Kontrolle der besitzenden Klassen. Einerseits entwickelte
sie sich jetzt zu einem Treibhaus für kolossale Staatsschulden und erdrückende
Steuern und wurde vermöge der unwiderstehlichen Anziehungskraft ihrer
Amtsgewalt, ihrer Einkünfte und ihrer Stellenvergebung der Zankapfel für die
konkurrierenden Fraktionen und Abenteurer der herrschenden Klassen -
andererseits änderte sich ihr politischer Charakter gleichzeitig mit den ökonomischen
Veränderungen der Gesellschaft. In dem Maß, wie der Fortschritt der modernen
Industrie den Klassengegensatz zwischen Kapital und Arbeit entwickelte,
erweiterte, vertiefte, in demselben Maß erhielt die Staatsmacht mehr und mehr
den Charakter einer öffentlichen Gewalt zur Unterdrückung der Arbeiterklasse,
einer Maschine der Klassenherrschaft." (MEW
17; 336) Wenn wir
nun zur Behauptung von Negri und Hardt zurückkehren, dass es nicht möglich
war, den 5. Band des Kapitals zu schreiben, so können wir ihnen - so meine ich
- zustimmen. Allerdings behaupten Negri/Hardt im Empire noch etwas
anderes: „Heute
ist es vielleicht endlich möglich (nachdem der
kapitalistische Verwertungsprozess und die politischen Herrschaftsprozesse nach
Meinung von Negri/Hardt zusammenlaufen) ... Marx’ beide fehlenden Bände zu
skizzieren. Wenn man dem Geist der Marxschen Methode folgend seine Einsichten
zum Staat und zum Weltmarkt zusammenbringt, wäre der Versuch zu machen, eine
revolutionäre Kritik des Empire zu schreiben.“ (Negri 2002; 248) Ob Negri/Hardt
meinen, dass ihr Buch schon dieser Versuch ist? Nun darüber muss ein anderer
Artikel geschrieben werden. E-Mail:
francois.naetar@gmx.at
Engels:
Marx Engels Werke, Bd. 21, „Der Ursprung der Familie des
Privateigentums und des Staates“ S25 – S173 Hirsch:
J. Hirsch, „Herrschaft, Hegemonie und politische Alternativen“, VSA
Verlag 2002 Negri:
Michael Hardt / Antonio Negri, „Empire“, Campus Verlag 2002 [i] Einen Zusammenhang, den Engels detailliert ausführt, lassen wir hier aus: Den Zusammenhang zwischen Entstehung der Klassengesellschaft, dem Ende des Matriarchats und der Unterdrückung der Frau. Engels schreibt: „Der erste Klassengegensatz, der in der Geschichte auftritt, fällt zusammen mit der Entwicklung des Antagonismus von Mann und Weib in der Einzelehe, und die erste Klassenunterdrückung mit der des weiblichen Geschlechts durch das männliche.“ ( MEW 21; 68) [ii] Diese Einschätzungen drängen dem Leser die Frage auf, ob die Darstellung des reinen Kapitalismus im Kapital diese Nichtexistenzfähigkeit unterschlagen hat oder ob mit nicht existenzfähig gemeint ist, dass der Kapitalismus tendenziell seine eigenen Grundlagen, nämlich den Menschen und die Erde zerstört und daher die Gesellschaft der auch realen Gemeinschaftlichkeit des Staates bedürfe, um diese Zerstörungen im Zaum zu halten. Vielleicht ist es aber in erster Instanz doch das Proletariat oder die Multitude, die hier Schranken setzt. [iii] Interessant ist in diesen Zusammenhang, eine andere Form der Verbindung der Ausführungen im Kapital mit Einschätzungen von Politik und Staat zu betrachten. Diese Versuche waren gekennzeichnet durch das Bestreben, die von Marx geplanten, aber nichtgeschriebenen Bände 5 und 6 des Kapitals über Staat und Weltmarkt nachzuliefern. Vor allem im Berlin der 60 und 70 Jahre gab es solche Versuche. Siehe z.B. die Arbeiten im Anschluss an das „Projekt Klassenanalyse“ von J. Bischoff und C. Neusüß. Die Idee dieser Strömung war in einer dem Kapital ähnlichen Vorgehensweise, die Realabstraktionen nicht nur der kapitalistischen Produktionsweise und die Klassenstruktur der deutschen Gesellschaft sondern darauf aufgesetzt auch die des Staates und Weltmarktes zu formulieren. Aus abstrakten Formen des Staates und Weltmarktes (?) sollten in ähnlichen Schritten wie im dritten Band aus dem Wert und Mehrwert Profit, Zins und Grundrente abgeleitet wird, konkrete Staats- und Weltmarktformen abgeleitet werden. Hier wurde also eine Überbautheorie beibehalten. Diese Versuche brachten interessante Einschätzungen des Sozialstaates und andere Entwicklungen. In ihren Versuchen das Kapital zu ergänzen sind sie – meiner Meinung nach notwendig – gescheitert. [iv] Poulantzas – einer der Autoren, auf die sich J. Hirsch stützt – zieht die richtige Schlussfolgerung, dass gleiche historische Produktionsverhältnisse vorzufinden, nicht automatisch bedeute, dass gleiche politische Formen der (bürgerlichen) Herrschaft aufzufinden seien. Das ist für ihn auch die Begründung, warum es keine generelle marxistische Theorie des Staates geben kann und der theoretische Ansatz auf die kapitalistische Gesellschaftsformation begrenzt werden muss. Gilt aber nicht genauso, dass es keine generelle Theorie des kapitalistischen Staates geben kann? [v] Der Artikel über die Staatstheorie bei Poulantzas in dieser Nummer stellt diese wichtigen Einschätzungen ausführlich dar. [vi] In einer eindrucksvollen Weise macht Poulantzas das am Beispiel des Gesetzes klar: „Diese Juristenschaft im weitesten Sinne repräsentiert als von der Gesellschaft „abgetrenntes“ Netz wahrscheinlich am besten die im Staat verkörperte intellektuelle Arbeit. Jeder Vertreter des Staates im weitesten Sinne[...] ist in dem Maße ein Intellektueller, wie er ein Mann des Gesetzes ist, der Gesetze macht, Gesetz und Vorschrift kennt, sie konkretisiert und anwendet. „Jeder kennt das Gesetz“ ist die grundlegende Maxime eines modernen juristischen Systems, in dem außer den Repräsentanten des Staates keiner es kennen kann. Diese von jedem Staatsbürger verlangte Kenntnis ist nicht einmal Gegenstand eines besonderen Schulfachs. [....] Diese Maxime drückt so die Abhängigkeit und Unterordnung der Volksmassen in Bezug auf die Staatsbeamten [...] aus; die Unkenntnis (das Geheimnis) des Gesetzes bei den Volksmassen ist ein Merkmal dieses Gesetzes und der juristischen Sprache selbst.“ (Poulantzas 1978; 82) |
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