http://www.marxists.org/deutsch/archiv/trotzki/1939/12/vdm-kboswp.html Leo Trotzki: Kleinbürgerliche Opposition (Verteidigung d. Marxismus)

 

Leo Trotzki

 

Verteidigung des Marxismus

 

Eine kleinbürgerliche Opposition in der Socialist Workers Party


Veröffentlicht 1942 in der Sammlung In Defense of Marxism.
Transkription: Tim Vanhoof.
HTML-Markierung: Tim Vanhoof u. Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Man muß die Dinge bei ihren richtigen Namen nennen. Da nun die Stellungen beider Fraktionen im Kampf mit aller Klarheit bestimmt worden sind, muß man sagen, daß die Minderheit des Nationalkomitees eine typisch kleinbürgerliche Tendenz anführt. Wie jede kleinbürgerliche Gruppe innerhalb der sozialistischen Bewegung wird die gegenwärtige Opposition durch folgende Züge gekennzeichnet: eine verächtliche Haltung gegenüber der Theorie und eine Neigung zum Eklektizismus, Geringschätzung der Tradition ihrer eigenen Organisation, Besorgnis um die persönliche „Unabhängigkeit!“ auf Kosten der Besorgnis um objektive Wahrheit, Nervosität anstelle von Festigkeit, Bereitschaft, von einer Position zur anderen zu springen, Mangel an Verständnis für den revolutionären Zentralismus und Feindschaft ihm gegenüber und schließlich die Neigung, die Parteidisziplin durch Cliquenbindungen und persönliche Beziehungen zu ersetzen. Nicht alle Mitglieder der Opposition offenbaren selbstverständlich diese Züge gleich stark. Trotzdem wird, wie immer in bunt zusammengesetzten Blöcken, die Färbung von denen bestimmt, die am weitesten vom Marxismus und der proletarischen Politik entfernt sind. Offensichtlich steht uns ein ausgedehnter und ernster Kampf bevor. Ich versuche nicht, das Problem in diesem Artikel erschöpfend zu behandeln, aber ich werde mich bemühen, seine Grundzüge zu skizzieren.

 

 

Theoretischer Skeptizismus und Eklektizismus

In der Januarausgabe der New International von 1939 wurde ein langer Artikel der Genossen Burnham und Shachtman, Intellektuelle auf dem Rückzug, veröffentlicht. Während der Artikel viele richtige Ideen und angemessene politische Charakterisierungen enthält, wird er durch einen grundlegenden Fehler beeinträchtigt, wenn nicht entstellt. Während er gegen Gegner polemisiert, die sich selbst – ohne ausreichenden Grund – vor allem als Verfechter der „Theorie“ ansehen, hebt der Artikel absichtlich das Problem nicht auf ein theoretisches Niveau. Es war unbedingt notwendig zu erklären, warum die amerikanischen „radikalen“ Intellektuellen den Marxismus ohne die Dialektik (eine Uhr ohne Feder) akzeptierten. Das Geheimnis ist einfach: In keinem anderen Land gab es eine derartige Ablehnung des Klassenkampfes wie im Land der „unbeschränkten Möglichkeiten“. Die Leugnung der sozialen Widersprüche als der treibenden Kraft der Entwicklung führt zur Leugnung der Dialektik als der Logik der Widersprüche auf dem Gebiet des theoretischen Denkens. Genau wie es im Bereich der Politik für möglich gehalten wurde, daß jedermann von der Richtigkeit eines „gerechten“ Programms durch kluge Syllogismen überzeugt werden könnte und daß die Gesellschaft durch „vernünftige“ Maßnahmen wieder aufgebaut werden könnte, so wurde im Bereich der Theorie als erwiesen angenommen, daß die Aristotelische Logik, abgesunken auf das Niveau des „gesunden Menschenverstandes“, für die Lösung aller Fragen ausreicht.

Pragmatismus, eine Mischung aus Rationalismus und Empirismus, wurde die Nationalphilosophie der Vereinigten Staaten. Die theoretische Methodologie Max Eastmans unterscheidet sich nicht grundsätzlich von der Methodologie Henry Fords – beide betrachten die heutige Gesellschaft vom Standpunkt eines „Ingenieurs“ (Eastman – platonisch). Historisch ist die gegenwärtige geringschätzige Haltung gegenüber der Dialektik einfach durch die Tatsache erklärt, daß die Großväter und Urgroßmütter Max Eastmans und anderer die Dialektik nicht brauchten, um Gebiete zu erobern und sich zu bereichern. Aber die Zeiten haben sich geändert, und die Philosophie des Pragmatismus ist in eine Periode des Bankrotts eingetreten, genau wie der amerikanische Kapitalismus.

Die Autoren zeigen nicht diesen inneren Zusammenhang zwischen der Philosophie und der materiellen Entwicklung, – sie konnten sich nicht darum kümmern und kümmerten sich nicht darum, ihn aufzuzeigen – und sie erklärten offen warum.

„Die beiden Autoren des vorliegenden Artikels“, schrieben sie über sich selbst, „beurteilen die allgemeine Theorie des dialektischen Materialismus völlig unterschiedlich, der eine nimmt sie an, der andere weist sie zurück... Es ist nichts Ungewöhnliches an solch einer Situation. Obwohl die Theorie zweifellos immer auf die eine oder andere Weise in Beziehung zur Praxis steht,“ „ist diese Beziehung nicht unbedingt direkt oder unmittelbar; und wie wir bereits Gelegenheit hatten zu bemerken, handeln Menschen oft inkonsequent. Vom Standpunkt von jedem der beiden Autoren aus gibt es beim anderen eine bestimmte Widersprüchlichkeit zwischen der ‚philosophischen Theorie‘ und der politischen Praxis, die bei irgendeiner Gelegenheit zu entscheidenden konkreten politischen Divergenzen führen könnte. Aber sie (die Widersprüchlichkeit) tut es jetzt nicht, noch hat irgendjemand bisher gezeigt, daß Übereinstimmung oder Meinungsverschiedenheiten über die eher abstrakten Lehren des dialektischen Materialismus notwendigerweise die konkreten politischen Streitfragen von heute und morgen berühren – und politische Parteien, Programme und Kämpfe beruhen auf solchen konkreten Streitfragen. Wir alle können hoffen, daß im folgenden, oder wenn es Muße gibt, auch über die abstrakteren Fragen Einstimmigkeit erzielt werden kann. Währenddessen gibt es Faschismus, Krieg und Arbeitslosigkeit.“

Was bedeutet diese sehr erstaunliche Argumentation? Da ja einige Leute durch eine schlechte Methode manchmal zu richtigen Folgerungen kommen und da ja einige Leute durch eine richtige Methode nicht selten zu falschen Folgerungen kommen, deswegen ... hat die Methode keine große Bedeutung. Wir werden über die Methode irgendwann einmal nachdenken, wenn wir mehr Muße haben, aber jetzt müssen wir andere Dinge tun. Stellen Sie sich vor, wie ein Arbeiter reagieren würde, wenn er sich bei seinem Vorarbeiter beschwert, daß seine Werkzeuge schlecht seien, und als Antwort erhält: Mit schlechten Werkzeugen kann man eine gute Arbeit verrichten, und mit guten Werkzeugen verschwenden viele Leute nur Material. Ich fürchte, daß solch ein Arbeiter, insbesondere wenn er im Akkord arbeitet, dem Vorarbeiter mit einem groben Ausdruck antworten würde. Ein Arbeiter steht widerspenstigem Material gegenüber, daß ihm Schwierigkeiten macht und das ihn deswegen zwingt, gute Werkzeuge hochzuschätzen, während ein kleinbürgerlicher Intellektueller – leider! – als seine „Werkzeuge“ flüchtige Beobachtungen und oberflächliche Verallgemeinerungen gebraucht – bis größere Ereignisse ihm auf den Kopf schlagen.

Zu verlangen, daß jedes Parteimitglied sich mit der Philosophie der Dialektik beschäftigt, wäre selbstverständlich leblose Pedanterie. Aber ein Arbeiter, der durch die Schule des Klassenkampfes gegangen ist, gewinnt durch seine eigene Erfahrung eine Neigung zum dialektischen Denken.

Auch wenn er diesen Begriff nicht kennt, nimmt er bereitwillig die Methode selbst und ihre Schlußfolgerungen an. Mit einem Kleinbürger ist es schlechter. Es gibt selbstverständlich kleinbürgerliche Elemente, die organisch mit den Arbeitern verbunden sind, die ohne innere Revolution zum proletarischen Standpunkt übergehen. Aber diese bilden eine unbedeutende Minderheit. Die Sache ist ziemlich schwierig mit der akademisch gebildeten Kleinbourgeoisie. Ihre theoretischen Vorurteile sind ihnen bereits in vollendeter Form auf der Schulbank vermittelt worden. Weil es ihnen gelang, sehr viel Wissen, sowohl nützliches als auch nutzloses, ohne Hilfe der Dialektik zu erlangen, glauben sie, daß sie ihr Leben lang ausgezeichnet ohne sie auskommen können. In Wirklichkeit verzichten sie auf die Dialektik nur in dem Maße, in dem sie ihre Gedankenwerkzeuge nicht theoretisch prüfen, verfeinern und schärfen, und in dem Maße, in dem sie sich nicht aus dem engen Kreis ihrer täglichen Beziehungen befreien. Wenn große Ereignisse auf sie einstürzen, sind sie leicht verloren und fallen wieder in die kleinbürgerlichen Denkweisen zurück.

Sich auf die „Inkonsequenz“ als Rechtfertigung für einen prinzipienlosen theoretischen Block zu berufen, bedeutet, sich selbst schlechte Zeugnisse als Marxist auszustellen. Inkonsequenz ist nicht zufällig und erscheint in der Politik nicht nur als individuelles Symptom. Die Inkonsequenz dient in der Regel einem sozialen Zweck. Es gibt soziale Gruppierungen, die nicht konsequent sein können. Kleinbürgerliche Elemente, die sich nicht von den ehrwürdigen kleinbürgerlichen Richtungen befreit haben, werden innerhalb einer Arbeiterpartei systematisch gezwungen, theoretische Kompromisse mit ihrem eigenen Gewissen zu machen.

Genosse Shachtmans Haltung gegenüber der dialektischen Methode, wie sie sich in den oben zitierten Argumenten deutlich zeigt, kann man nur eklektische Skeptik nennen. Es ist klar, daß Shachtman diese Haltung nicht in der Schule von Marx angenommen hat, sondern bei den kleinbürgerlichen Intellektuellen, denen alle Arten des Skeptizismus eigen sind.

 

 

Warnung und Bestätigung

Der Artikel erstaunte mich so sehr, daß ich sofort an Genossen Shachtman schrieb: „ Ich habe gerade den Artikel gelesen, den Sie und Burnham über die Intellektuellen geschrieben haben. Viele Teile sind ausgezeichnet. Jedoch ist der Abschnitt über die Dialektik der größte Schlag, den Sie persönlich als Herausgeber der New International der marxistischen Theorie versetzen konnten. Genosse Burnham sagt: „Ich erkenne die Dialektik an, aber das macht nichts. Es hat nicht die geringste Bedeutung.“ Lesen Sie noch einmal, was Sie geschrieben haben. Dieser Abschnitt ist außerordentlich irreführend für die Leser der New International und das beste aller Geschenke an alle Eastmans. Gut! Wir werden öffentlich darüber sprechen.“

Ich schrieb diesen Brief am 20. Januar, einige Monate vor der gegenwärtigen Diskussion. Shachtman antwortete nicht bis zum 5. März, dann antwortete er im wesentlichen, er könnte nicht verstehen, warum ich ein solches Aufsehen um diese Sache mache. Ich antwortete am 9. März mit folgenden Worten: „Ich weise nicht im geringsten die Möglichkeit zurück, mit Antidialektikern zusammenzuarbeiten, aber jedoch die Zweckmäßigkeit, einen Artikel zusammen mit ihnen zu schreiben, in dem die Frage der Dialektik eine sehr wichtige Rolle spielt oder spielen sollte. Die Polemik entwickelte sich auf zwei Ebenen: auf der politischen und auf der theoretischen. Ihre politische Kritik ist in Ordnung. Ihre theoretische Kritik ist unzureichend; sie hört an dem Punkt auf, an dem sie gerade angreifen sollte. Die Aufgabe besteht nämlich darin zu zeigen, daß Ihre Fehler (soweit sie theoretische Fehler sind) Ergebnisse Ihrer Unfähigkeit oder Abgeneigtheit sind, die Dinge dialektisch zu durchdenken. Diese Aufgabe könnte mit einem sehr wichtigen erzieherischen Erfolg ausgeführt werden. Stattdessen erklären Sie, daß die Dialektik Privatsache sei und daß man ein sehr netter Kerl sein könne, ohne dialektisch zu denken. „ Indem Shachtman sich in dieser Frage mit dem Antidialektiker Burnham verbündete, beraubte er sich selbst der Möglichkeit zu zeigen, warum Eastman, Hook und viele andere mit einem philosophischen Kampf gegen die Dialektik begannen, aber mit einem politischen Kampf gegen die sozialistische Revolution aufhörten. Das jedoch ist das Wesen der Frage.

Die gegenwärtige politische Diskussion in der Partei hat meine Vermutungen und Warnungen in einer unvergleichlich schärferen Form bestätigt, als ich erwartet, oder richtiger, befürchtet hatte. Shachtmans methodologischer Skeptizismus trug in der Frage des Charakters des Sowjetstaates seine kläglichen Früchte. Burnham begann vor einiger Zeit, rein empirisch, aufgrund seiner unmittelbaren Eindrücke, einen nicht-proletarischen und nicht-bürgerlichen Staat zu ersinnen, wobei er so nebenbei die marxistische Theorie des Staates als Organ der Klassenherrschaft liquidierte. Shachtman nahm unerwartet eine ausweichende Haltung ein. „Die Frage ist wohlgemerkt Gegenstand für weitere Überlegungen.“ Überdies besitzt die soziologische Definition der UdSSR keine direkte und unmittelbare Bedeutung für unsere „politischen Aufgaben“, in denen Shachtman völlig mit Burnham übereinstimmt. Wir wollen den Leser wiederum darauf verweisen, diese Genossen über die Dialektik schreiben. Burnham lehnt die Dialektik ab, Shachtman scheint sie anzunehmen, aber ... die göttliche Gabe der „Inkonsequenz“ erlaubt ihnen, sich über allgemeine politische Folgerungen zu einigen. Die Haltung eines jeden von ihnen zum Charakter des Sowjetstaates gibt Punkt für Punkt ihre Haltung zur Dialektik wieder.

In beiden Fällen spielt Burnham eine Führungsrolle. Das ist nicht überraschend: Er besitzt eine Methode – den Pragmatismus. Shachtman hat keine Methode. Er paßt sich Burnham an. Ohne volle Verantwortung für die antimarxistischen Vorstellungen Burnhams zu übernehmen, verteidigt er seinen Block mit Burnham zum Angriff auf die marxistische Vorstellung im Bereich der Philosophie genauso wie im Bereich der Soziologie. In beiden Fällen erscheint Burnham als Pragmatiker und Shachtman als Eklektiker. Dieses Beispiel hat den unschätzbaren Vorteil, daß die völlige Entsprechung zwischen Burnhams und Shachtmans Standpunkten auf zwei verschiedenen Denkebenen und zu zwei Fragen von höchster Bedeutung selbst jenen Genossen ins Auge springen wird, die in rein theoretischem Denken keine Erfahrung haben. Die Denkmethode kann dialektisch oder vulgär sein, bewußt oder unbewußt, aber sie existiert und macht sich selbst bekannt.

Im vergangenen Januar hörten wir von unseren Autoren: „Aber sie (die Widersprüchlichkeit) tut es jetzt nicht, noch hat irgendjemand bis jetzt gezeigt, daß Übereinstimmung oder Meinungsverschiedenheiten über die eher abstrakten Lehren des dialektischen Materialismus notwendigerweise die konkreten politischen Streitfragen von heute oder morgen berühren ...“ Noch hat irgendjemand bis jetzt gezeigt! Nicht mehr als ein paar Monate sind vergangen, und schon haben Burnham und Shachtman selbst bewiesen, daß ihre Haltung zu einer solchen „Abstraktion“ wie dem dialektischen Materialismus in ihrer Haltung zum Sowjetstaat genau zum Ausdruck kam.

Sicherlich muß man erwähnen, daß der Unterschied zwischen den beiden Beispielen ziemlich wichtig ist, aber er hat einen politischen und keinen theoretischen Charakter. In beiden Fällen bildeten Burnham und Shachtman einen Block auf der Grundlage der Ablehnung und Halb-Ablehnung der Dialektik. Aber im ersten Fall richtete sich dieser Block gegen die Gegner der proletarischen Partei. Im zweiten Fall wurde der Block gegen den marxistischen Flügel ihrer eigenen Partei geschlossen. Die Front der militärischen Operationen hat sich sozusagen verändert, aber die Waffe bleibt die gleiche.

Es ist nur zu wahr, Menschen sind oft inkonsequent. Trotzdem strebt das menschliche Bewußtsein zu einer bestimmten Gleichartigkeit. Philosophie und Logik sind gezwungen, sich auf diese Gleichartigkeit des menschlichen Bewußtseins zu verlassen und nicht auf das, was diese Gleichartigkeit nicht hat, das ist Inkonsequenz. Burnham erkennt die Dialektik nicht an, aber die Dialektik erkennt Burnham an, das bedeutet, dehnt ihre Herrschaft über ihn aus. Shachtman glaubt, die Dialektik sei bei politischen Folgerungen unwichtig, aber in den politischen Folgerungen Shachtmans selbst sehen wir die kläglichen Früchte seiner geringschätzigen Haltung der Dialektik gegenüber. Wir sollten dieses Beispiel in die Lehrbücher über den dialektischen Materialismus einbeziehen.

Letztes Jahr besuchte mich ein junger britischer Professor der politischen Ökonomie, ein Sympathisant der Vierten Internationale. Während unseres Gespräches über die Wege und Mittel, den Sozialismus zu verwirklichen, drückte er plötzlich die Tendenzen des britischen Utilitarismus im Geist Keynes und anderer aus: „Man muß ein klares ökonomisches Endziel abstecken und die vernünftigsten Mittel zu seiner Verwirklichung wählen“ usw. Ich bemerkte: „Wie ich sehe, sind Sie ein Gegner der Dialektik.“ Er antwortete einigermaßen erstaunt: „Ja, ich sehe darin keinen Nutzen.“

„Jedoch“, antwortete ich ihm, „ich konnte mit Hilfe der Dialektik aufgrund einiger Ihrer Äußerungen über wirtschaftliche Problem feststellen, welcher Kategorie des philosophischen Denkens Sie angehören – dies allein zeigt, daß die Dialektik einen beträchtlichen Wert hat.“ Obwohl ich aber meinen Besucher seit damals kein Wort erfuhr, zweifele ich nicht daran, daß dieser anti-dialektische Professor die Ansicht unterstützt, daß die UdSSR kein Arbeiterstaat sei, daß die bedingungslose Verteidigung der UdSSR eine „altmodische“ Ansicht sei, daß unsere organisatorischen Methoden schlecht seien usw. Wenn es möglich ist, die allgemeine Denkweise einer bestimmten Person aufgrund ihrer Beziehung zu konkreten praktischen Problemen einzuordnen, ist es auch möglich, ungefähr vorherzusagen, wie ein bestimmtes Individuum an die eine oder andere praktische Frage herangehen wird, wenn man seine allgemeine Denkweise kennt. Das ist der unvergleichliche erzieherische Wert der dialektischen Denkmethode.

 

 

Das ABC der materialistischen Dialektik

Heruntergekommene Skeptiker wie Souvarine glauben, daß „niemand weiß“, was Dialektik ist. Und es gibt „Marxisten“, die sich ehrfürchtig vor Souvarine verneigen und etwas von ihm zu lernen hoffen. Und diese Marxisten verstecken sich nicht nur in der Modern Monthly. Leider gibt es eine Strömung des Souvarinismus in der gegenwärtigen Opposition der SWP. Und hier muß man die jungen Genossen warnen: Hütet euch vor dieser bösartigen Krankheit!

Die Dialektik ist weder eine Erfindung noch Mystizismus, sondern eine Wissenschaft unserer Denkformen, insofern als sie sich nicht auf die Probleme des täglichen Lebens beschränkt, sondern versucht, die komplizierteren und umfangreicheren Prozesse zu verstehen. Die Dialektik und die formale Logik stehen in einem ähnlichen Verhältnis zueinander wie die höhere und die elementare Mathematik.

Ich werde hier das Wesen des Problems in sehr knapper Form zu umreißen versuchen. Die Aristotelische Logik des einfachen Syllogismus geht von der Behauptung A=A aus. Diese Grundvoraussetzung wird als Axiom für eine Menge praktischer menschlicher Handlungen und einfacher Verallgemeinerungen akzeptiert. Aber in Wirklichkeit ist „A“ nicht gleich „A“. Das läßt sich leicht beweisen, wenn wir diese beiden Buchstaben unter einer Lupe betrachten, sie unterscheiden sich ziemlich. Aber, kann man einwenden, es handelt sich nicht um die Größe und Form der Buchstaben, da sie ja nur Symbole für gleiche Quantitäten sind, zum Beispiel für ein Pfund Zucker. Dieser Einwand ist abwegig. In Wirklichkeit ist ein Pfund Zucker niemals gleich einem Pfund Zucker – eine feinere Waage deckt immer einen Unterschied auf. Man kann wieder einwenden: Aber ein Pfund Zucker ist sich selbst gleich. Auch das stimmt nicht – alle Körper ändern sich unablässig in ihrer Größe, ihrem Gewicht, ihrer Farbe usw. Sie sind niemals sich selbst gleich. Ein Sophist wird antworten, daß ein Pfund Zucker sich selbst „in einem bestimmten Augenblick“ gleich ist. Abgesehen von dem äußerst zweifelhaften praktischen Wert dieses „Axioms“ hält es auch theoretischer Kritik nicht stand. Wie sollen wir praktisch das Wort „Augenblick“ begreifen? Wenn es ein unendlich kleiner Zeitabschnitt ist, dann ist ein Pfund Zucker während des Verlaufes dieses „Augenblickes“ unvermeidlichen Veränderungen ausgesetzt. Oder ist dieser „Augenblick“ eine rein mathematische Abstraktion, d.h. ein Nichts an Zeit? Aber alles existiert in der Zeit, und die Existenz selbst ist ein ununterbrochener Prozeß der Verwandlung. Folglich ist die Zeit ein grundlegender Bestandteil der Existenz. Daher bedeutet das Axiom A=A, daß ein Ding sich selbst gleich ist, wenn es sich nicht verändert, d.h., wenn es nicht existiert.

Auf den ersten Blick könnte es scheinen, daß diese „Spitzfindigkeiten“ nutzlos seien. In der Wirklichkeit sind sie von entscheidender Bedeutung. Das Axiom A=A scheint einerseits der Ausgangspunkt für all unser Wissen, andererseits der Ausgangspunkt für alle Fehler in unserem Wissen zu sein. Man kann das Axiom A=A nur innerhalb gewisser Grenzen ungestraft gebrauchen. Wenn quantitative Veränderungen in „A“ ohne Bedeutung für die bevorstehende Aufgabe sind, können wir annehmen, daß A=A. Auf diese Weise, zum Beispiel, betrachten Käufer und Verkäufer ein Pfund Zucker. Ebenso betrachten wir die Temperatur der Sonne. Bis vor kurzem betrachteten wir die Kaufkraft des Dollars in gleicher Weise. Aber quantitative Veränderungen über bestimmte Grenzen hinaus verwandeln sich in qualitative. Ein Pfund Zucker, das dem Einfluß von Wasser oder Kerosin ausgesetzt ist, hört auf, ein Pfund Zucker zu sein. Ein Dollar in der Hand eines Präsidenten hört auf, ein Dollar zu sein. Im richtigen Augenblick den kritischen Punkt zu bestimmen, wo Quantität in Qualität umschlägt, ist eine der wichtigsten und schwierigsten Aufgaben in allen Bereichen des Wissens, die Soziologie eingeschlossen.

Jeder Arbeiter weiß, daß es unmöglich ist, zwei völlig gleiche Gegenstände herzustellen. Beim Einsetzen von Kugeln in ein Kugellager ist eine bestimmte Abweichung für die Kugeln erlaubt, die jedoch nicht über bestimmte Grenzen hinausgehen sollte (das nennt man Toleranz). Wenn man die Normen der Toleranz befolgt, werden die Kugeln als gleich betrachtet (A=A). Wenn die Toleranz überschritten wird, geht die Quantität in Qualität über, mit anderen Worten, die Kugellager werden minderwertig oder völlig wertlos.

Unser wissenschaftliches Denken ist nur ein Teil unserer allgemeinen praktischen Tätigkeit, die Technik eingeschlossen. Für Vorstellungen gibt es auch eine „Toleranz“, die nicht von der formalen Logik festgesetzt wird, die vom Axiom A=A ausgeht, sondern von der dialektischen Logik, die von dem Axiom ausgeht, daß sich alles immer verändert. „Gesunder Menschenverstand“ wird dadurch gekennzeichnet, daß er planmäßig die dialektische „Toleranz“ überschreitet. Das übliche Denken arbeitet mit solchen Vorstellungen wie Kapitalismus, Moral, Freiheit, Arbeiterstaat usw. als festgelegten Abstraktionen, wobei es voraussetzt, daß Kapitalismus gleich Kapitalismus, Moral gleich Moral ist usw. Das dialektische Denken untersucht alle Dinge und Erscheinungen in ihrer unablässigen Veränderung, wobei es in den materiellen Voraussetzungen dieser Veränderungen jene kritische Grenze bestimmt, jenseits derer „A“ aufhört „A“ zu sein, ein Arbeiterstaat aufhört, ein Arbeiterstaat zu sein.

Der grundlegende Fehler des üblichen Denkens liegt darin, daß es sich mit bewegungslosen Eindrücken der Wirklichkeit zufrieden gibt, die aus ewiger Bewegung besteht. Durch weitere Annäherungen, Berichtigungen, Konkretisierungen gibt das dialektische Denken Vorstellungen einen reicheren Inhalt und größere Anpassungsfähigkeit; ich würde sogar sagen, eine Saftigkeit, die sie gewissermaßen den lebenden Erscheinungen nahe bringt. Nicht Kapitalismus im allgemeinen, sondern ein bestimmter Kapitalismus auf einer bestimmten Entwicklungsstufe. Nicht Arbeiterstaat im allgemeinen, sondern ein bestimmter Arbeiterstaat in einem rückständigen Land, eingekreist von Imperialisten, usw.

Dialektisches Denken steht zum üblichen Denken im gleichen Verhältnis wie der Film zur bewegungslosen Fotografie. Der Film macht nicht die bewegungslose Fotografie wertlos, sondern verbindet eine Reihe von ihnen gemäß den Gesetzen der Bewegung. Dialektik verneint nicht den Syllogismus, sondern lehrt uns, Syllogismen derartig zu verbinden, daß wir unser Verstehen der ewig sich verändernden Wirklichkeit näher bringen. Hegel stellte in seiner Logik eine Reihe von Gesetzen auf: Umschlagen von Quantität in Qualität, Entwicklung durch Widersprüche, Widerstreit von Inhalt und Form, Unterbrechung der Kontinuität, Umschlagen von Möglichkeit in Unvermeidbarkeit usw., die ebenso wichtig für das theoretische Denken sind wie einfache Syllogismen für einfache Aufgaben.

Hegel schrieb vor Darwin und vor Marx. Dank des machtvollen Anstoßes, den die Französische Revolution dem Denken gab, nahm Hegel die allgemeine Entwicklung der Wissenschaft vorweg. Aber weil es nur eine Vorwegnahme war, wenn auch die eines Genies, erhielt sie von Hegel einen idealistischen Charakter. Hegel arbeitete mit ideologischen Schatten als der endgültigen Wirklichkeit. Marx zeigte, daß die Bewegung dieser ideologischen Schatten nichts weiter als die Bewegung der materiellen Körper widerspiegelt.

Wir nennen unsere Dialektik materialistisch, weil ihre Wurzeln weder im Himmel noch in den Tiefen unseres „freien Willens“ liegen, sondern in der objektiven Wirklichkeit, in der Natur. Bewußtsein entsteht aus dem Unbewußten, Psychologie aus der Physiologie, die organische Welt aus der anorganischen, das Sonnensystem aus Nebeln. Auf allen Sprossen dieser Leiter der Entwicklung werden quantitative Veränderungen in qualitative umgewandelt. Unser Denken, einschließlich des dialektischen Denkens, ist nur eine der Ausdrucksformen der sich ändernden Materie. Innerhalb dieses Systems ist weder Platz für Gott, noch für den Teufel, noch für die unsterbliche Seele, noch für ewige Normen der Gesetze und der Moral. Die Dialektik des Denkens, die aus der Dialektik der Natur erwachsen ist, ist folglich durch und durch materialistisch.

Der Darwinismus, der die Entwicklung der Arten durch quantitative Veränderungen, die in qualitative übergehen, erklärt, war der größte Sieg der Dialektik auf dem ganzen Gebiet der organischen Materie. Ein anderer große Sieg war die Entdeckung des Periodischen System der chemischen Elemente und ferner die Umwandlung eines Elements in ein anderes.

Mit diesen Verwandlungen (Arten, Elemente usw.) ist die Frage der Klassifikation eng verbunden, gleichermaßen bedeutend in den Natur- wie in den Gesellschaftswissenschaften. Linnés System (18. Jahrhundert), das als Ausgangspunkt die Unveränderlichkeit der Arten nimmt, war auf die Beschreibung und Klassifizierung der Pflanzen nach ihren äußeren Merkmalen beschränkt. Die Kindheit der Botanik entspricht der Kindheit der Logik, da sich ja die Formen unseres Denkens wie alles Lebende entwickeln. Nur die entschiedene Zurückweisung der Idee der unveränderlichen Arten, nur die Untersuchung der Entwicklungsgeschichte der Pflanzen und ihrer Anatomie bereiteten die Grundlage für eine wirklich wissenschaftliche Klassifizierung.

Marx, der im Gegensatz zu Darwin ein bewußter Dialektiker war, entdeckte die Grundlage für die wissenschaftliche Klassifizierung der menschlichen Gesellschaften in der Entwicklung ihrer Produktivkräfte und der Struktur der Eigentumsverhältnisse, die das Gerippe der Gesellschaft bilden. Der Marxismus ersetzte die übliche beschreibende Klassifizierung der Gesellschaften und Staaten, die sogar bis jetzt noch in den Universitäten blüht, durch eine materialistische dialektische Klassifizierung. Nur durch den Gebrauch der Marxschen Methode kann man beides richtig bestimmen, den Begriff des Arbeiterstaates und den Augenblick seines Unterganges.

All dies enthält, wie wir sehen, nichts „Metaphysisches“ oder „Scholastisches“, wie die eitle Unwissenheit behauptet. Die dialektische Logik drückt die Bewegungsgesetze im zeitgenössischen wissenschaftlichen Denken aus. Der Kampf gegen die materialistische Dialektik drückt dagegen eine entfernte Vergangenheit aus, den Konservatismus des Kleinbürgertums, den Eigendünkel der Universitätsroutiniers und ... einen Funken der Hoffnung auf ein zukünftiges Leben.

 

 

Der Charakter der UdSSR

Die Definition der UdSSR, die Genosse Burnham gibt, „kein Arbeiter- und kein bürgerlicher Staat“, ist rein negativ, aus der Kette der historischen Entwicklung herausgerissen, mitten in der Luft hängengelassen, ohne jede Spur von Soziologie. Sie stellt einfach eine theoretische Kapitulation des Pragmatismus vor einer widersprüchlichen historischen Erscheinung dar.

Wenn Burnham ein dialektischer Materialist wäre, hätte er die folgenden drei Fragen untersucht: (1) Welches ist der historische Ursprung der UdSSR? (2) Welche Veränderungen hat dieser Staat während seiner Existenz durchgemacht? (3) Wurden diese Veränderungen von quantitativen zu qualitativen? d.h., schufen sie eine historisch notwendige Herrschaft einer neuen Ausbeuterklasse? Die Beantwortung dieser Fragen hätte Burnham gezwungen, die einzig mögliche Schlußfolgerung zu ziehen – die UdSSR ist immer noch ein degenerierter Arbeiterstaat.

Die Dialektik ist kein Zauberstab für alle Fragen. Sie ersetzt nicht die konkrete wissenschaftliche Analyse. Aber sie weist dieser Analyse den richtigen Weg und schützt sie vor fruchtlosem Umherirren in der Einöde des Subjektivismus und der Scholastik.

Bruno R. ordnet sowohl das sowjetische als auch das faschistische Regime in die Kategorie des „bürokratischen Kollektivismus“ ein, weil die UdSSR, Italien und Deutschland von Bürokratien regiert werden; hier wie dort gibt es die Grundsätze der Planung; im einen Fall ist das Privateigentum liquidiert, im anderen eingeschränkt usw. Auf diese Weise wird auf der Grundlage bedingter Ähnlichkeit bestimmter äußerer Merkmale verschiedenen Ursprungs, verschiedenen spezifischen Gewichts, verschiedener Klassenbedeutung eine grundsätzliche Gleichheit der sozialen Regimes konstruiert, völlig im Geist bürgerlicher Professoren, die Kategorien der „kontrollierten Wirtschaft“, des „zentralisierten Staates“ konstruieren, ohne in die Überlegungen überhaupt die Klassennatur des einen oder anderen in Betracht zu ziehen. Bruno R. und seine Anhänger, oder seine Halb-Anhänger wie Burnham, bleiben im besten Falle im Bereich der sozialen Klassifizierung auf dem Stand Linnés, zu dessen Rechtfertigung jedoch bemerkt werden sollte, daß er vor Hegel, Darwin und Marx gelebt hat.

Sogar noch schlimmer und gefährlicher sind vielleicht jene Eklektiker, die die Ansicht ausdrücken, daß der Klassencharakter des Sowjetstaates „nicht von Bedeutung sei“ und daß die Richtung unserer Politik durch „den Charakter des Krieges“ bestimmt werde. Als ob der Krieg eine unabhängige, übergesellschaftliche Angelegenheit wäre; als ob der Charakter des Krieges nicht durch den Charakter der herrschenden Klasse bestimmt würde, d.h. durch den gleichen gesellschaftlichen Faktor, der auch den Charakter des Staates bestimmt. Erstaunlich, wie leicht einige Genossen das ABC des Marxismus unter dem Ansturm der Ereignisse vergessen!

Es ist nicht verwunderlich, daß die Theoretiker der Opposition, die die Dialektik ablehnen, jämmerlich vor der widersprüchlichen Natur der UdSSR kapitulieren. Jedoch ist der Widerspruch zwischen der sozialen Basis, die durch die Revolution geschaffen wurde, und dem Charakter der Kaste, die aus der Degenerierung der Revolution entstand, nicht nur eine unwiderlegbare historische Tatsache, sondern auch eine treibende Kraft. In unserem Kampf für den Sturz der Bürokratie stützen wir uns auf diesen Widerspruch. Unterdessen sind einige Ultra-Linke bereits zur letzten Absurdität gelangt, indem sie behaupten, daß man die gesellschaftliche Struktur der UdSSR opfern muß, um die bonapartistische Oligarchie zu stürzen! Sie kommen nicht auf den Gedanken, daß die UdSSR minus der gesellschaftlichen Struktur, die sich auf die Oktoberrevolution gründet, ein faschistisches Regime wäre.

 

 

Evolution und Dialektik

Genosse Burnham wird wahrscheinlich beteuern, daß er als Anhänger der Entwicklungslehre an der Entwicklung der Gesellschaft und der Staatsformen nicht weniger interessiert ist als wir Dialektiker. Wir wollen das nicht bestreiten. Jeder gebildete Mensch seit Darwin hat sich selbst als „Anhänger der Entwicklungslehre“ bezeichnet. Aber ein wirklicher Anhänger der Entwicklungslehre muß die Vorstellung der Entwicklung auf die eigenen Denkformen anwenden. Elementare Logik, die in einer Zeit begründet wurde, als es die Vorstellung der Entwicklung selbst noch nicht gab, ist offensichtlich für eine Analyse der Entwicklungsprozesse unzulänglich. Hegels Logik ist die Logik der Entwicklung. Nur darf man nicht vergessen, daß der Begriff der „Evolution“ selbst von Universitätsprofessoren und liberalen Schreibern völlig verfälscht und kastriert wurde, bis er friedlicher „Fortschritt“ bedeutete. Jeder, der zu verstehen gelernt hat, daß die Entwicklung durch den Kampf antagonistischer Kräfte fortschreitet, daß eine langsame Anhäufung von Veränderungen in einem bestimmten Augenblick die alte Schale sprengt und eine Katastrophe, eine Revolution herbeiführt; jeder schließlich, der gelernt hat, die allgemeinen Entwicklungsgesetze auf das Denken selbst anzuwenden, ist ein Dialektiker, im Unterschied zu einem gewöhnlichen Anhänger der Entwicklungslehre. Dialektisches Training des Geistes, so notwendig für einen revolutionären Kämpfer wie Fingerübungen für einen Pianisten, verlangt, daß man an alle Probleme als an Prozesse herangeht und nicht als an bewegungslose Kategorien. Wohingegen sich gewöhnliche Anhänger der Entwicklungslehre, die sich selbst im allgemeinen darauf beschränken, die Entwicklung nur in bestimmten Bereichen zu erkennen, in allen anderen Fragen mit den Banalitäten des „gesunden Menschenverstandes“ begnügen.

Der amerikanische Liberale, der sich mit der Existenz der UdSSR abgefunden hat, oder genauer mit der Moskauer Bürokratie, glaubt, oder glaubte wenigstens bis zum deutsch-sowjetischen Pakt, daß das Sowjetregime alles in allem eine „fortschrittliche Sache“ sei, daß die abstoßenden Züge der Bürokratie („nun, die gibt es natürlich!“) allmählich verschwinden würden und daß ein friedlicher und schmerzloser „Fortschritt“ daher gesichert sei.

Ein gewöhnlicher kleinbürgerlicher Radikaler ähnelt einem liberalen „Progressiven“ darin, daß er die UdSSR als Ganzes nimmt und ihre inneren Widersprüche und Dynamik dabei nicht versteht. Als Stalin einen Pakt mit Hitler schloß und in Polen und jetzt in Finnland einfiel, jubelten die gewöhnlichen Radikalen, die Gleichheit der Methoden des Stalinismus und des Faschismus wäre bewiesen! Sie sahen sich jedoch in Schwierigkeiten, als die neue Obrigkeit die Bevölkerung aufforderte, die Landbesitzer und Kapitalisten zu enteignen – sie hatten diese Möglichkeit überhaupt nicht vorhergesehen! Unterdessen störten die revolutionären sozialen Maßnahmen, die mit Hilfe bürokratischer militärischer Mittel durchgeführt wurden, nicht nur unsere dialektische Definition der UdSSR als degeneriertem Arbeiterstaat nicht, sondern bekräftigten sie unumstößlich. Anstatt diesen Sieg der marxistischen Analyse zur beharrlichen Agitation auszunützen, begannen die kleinbürgerlichen Oppositionellen mit sträflichem Leichtsinn, laut zu äußern, daß die Ereignisse unsere Vorhersage widerlegt hätten, daß unsere alten Formeln nicht länger anwendbar seien und daß neue Worte notwendig seien. Was für Worte? Sie haben sich noch nicht entschieden.

 

 

Verteidigung der UdSSR

Wir begannen mit der Philosophie und gingen darin zur Soziologie über. Es wurde in beiden Bereichen klar, daß der eine der beiden führenden Persönlichkeiten der Opposition eine anti-marxistische, der andere eine eklektische Haltung eingenommen hat. Wenn wir jetzt die Politik betrachten, insbesondere die Frage der Verteidigung der UdSSR, werden wir sehen, daß uns dort genauso große Überraschungen erwarten.

Die Opposition enthüllte, daß unsere Formel der „bedingungslosen Verteidigung der UdSSR“, die Formel unseres Programms, „verschwommen, abstrakt und altmodisch (!?)“ sei. Leider erklären sie nicht, unter welchen künftigen „Bedingungen“ sie bereit sind, die Errungenschaften der Revolution zu verteidigen. Um ihrer neuen Formel wenigstens ein Körnchen Sinn zu geben, versucht die Opposition, die Sache so darzustellen, als ob wir bis jetzt die internationale Politik der Kreml-Regierung mit ihrer Roten Armee und GPU „bedingungslos“ verteidigt hätten. Alles wird auf den Kopf gestellt! In Wirklichkeit haben wir die internationale Politik des Kremls seit langer Zeit nicht verteidigt, nicht einmal bedingt, besonders seit der Zeit, als wir offen erklärten, daß man die Kreml-Oligarchie durch einen Aufstand niederwerfen muß! Eine falsche Politik verstümmelt nicht nur die gegenwärtigen Aufgaben, sondern zwingt einen auch, seine eigene Vergangenheit in falschem Licht darzustellen.

In dem oben zitierten Artikel in der New International bezeichnen Burnham und Shachtman die Gruppe der desillusionierten Intellektuellen geschickt als „den Bund der aufgegebenen Hoffnungen“ und fragen beharrlich, welche Position dieser klägliche Bund im Falle einer militärischen Auseinandersetzung zwischen einem kapitalistischen Land und der Sowjetunion einnehmen würde. „Wir ergreifen diese Gelegenheit,“ schrieben sie, „von Hook, Eastman und Lyons unzweideutige Erklärungen über die Frage der Verteidigung der Sowjetunion gegen einen Angriff von Hitler oder Japan – oder natürlich von England – zu verlangen ...“ Burnham und Shachtman stellen keine „Bedingungen“, sie geben keine „konkreten“ Umstände an und verlangen gleichzeitig eine „unzweideutige“ Antwort. „... Würde es der Bund (der aufgegebenen Hoffnungen) auch unterlassen, eine Haltung einzunehmen oder würde er sich selbst als neutral erklären?“, fuhren sie fort. „Mit einem Wort, er ist für die Verteidigung der Sowjetunion gegen einen imperialistischen Angriff, ohne Rücksicht auf das stalinistische Regime und trotz des stalinistischen Regimes?“ (Hervorhebungen von mir.) Ein Zitat zum Staunen! Und genau das erklärt unser Programm. Burnham und Shachtman waren im Januar 1939 für eine bedingungslose Verteidigung der Sowjetunion und bestimmten die Bedeutung der bedingungslosen Verteidigung durchaus richtig als „ohne Rücksicht auf das stalinistische Regime und trotz des stalinistischen Regimes“. Und zudem wurde dieser Artikel geschrieben, als die Erfahrung der spanischen Revolution bereits abgeschlossen war. Genosse Cannon hat völlig Recht, wenn er sagt, daß die Rolle des Stalinismus in Spanien unvergleichlich verbrecherischer war als in Polen oder Finnland. Im ersten Fall erwürgte die Bürokratie durch Henkermethoden eine sozialistische Revolution. Im zweiten Fall gibt sie mit bürokratischen Methoden einen Anstoß zur sozialistischen Revolution. Warum stellten sich Burnham und Shachtman so unerwartet auf die Position des „Bundes der aufgegebenen Hoffnungen“? Warum? Wir können Shachtmans überaus abstrakte Hinweise auf die „Konkretheit der Ereignisse“ nicht als Erklärung betrachten. Dennoch ist es nicht schwer, eine Erklärung zu finden. Die Beteiligung des Kremls am republikanischen Lager in Spanien wurde von bürgerlichen Demokraten in aller Welt unterstützt. Stalins Arbeit in Polen und Finnland stößt auf wütende Verurteilung von seiten der gleichen Demokraten. Trotz all ihrer auffallenden Formeln ist die Opposition zufällig die Widerspiegelung der Stimmungen der „linken“ Kleinbourgeoisie innerhalb der Socialist Workers Party. Diese Tatsache ist leider nicht zu bestreiten.

„Unsere Leute“, schrieben Shachtman und Burnham über den Bund der aufgegebenen Hoffnungen, „sind sehr stolz darauf zu glauben, sie hätten etwas „Neues“ beigetragen, sie würden „im Licht der neuen Erfahrungen neu bewerten“, sie wären „keine Dogmatiker“ [„Konservative“? – L.T.], „ die es ablehnten, ihre „Grundannahmen“ neu abzuschätzen, usw. Was für ein armseliger Selbstbetrug! Keiner von ihnen hat irgendwelche neuen Tatsachen ans Licht gebracht, irgendein Verständnis der Gegenwart oder der Zukunft gegeben.“ Erstaunliches Zitat! Sollten wir nicht ihrem Artikel Intellektuelle auf dem Rückzug ein neues Kapitel anfügen? Ich biete Genossen Shachtman meine Mitarbeit an ...

Wie können hervorragende Persönlichkeiten wie Burnham und Shachtman, die der proletarischen Sache bedingungslos ergeben sind, so erschreckt werden durch die nicht so erschreckenden Herren des Bundes der aufgegebenen Hoffnungen! Auf rein theoretischer Ebene liegt die Erklärung, was Burnham betrifft, in seiner fehlerhaften Methode, was Shachtman betrifft, in seiner Geringschätzung für die Methode. Die richtige Methode erleichtert es nicht nur, zu richtigen Schlußfolgerungen zu kommen, sondern sie pflanzt auch die Schlußfolgerungen in das Gedächtnis ein, indem sie jede neue Schlußfolgerung mit den vorhergehenden in einer zusammenhängenden Kette verbindet. Wenn man politische Schlußfolgerungen empirisch zieht, wenn man Inkonsequenz als eine Art Vorurteil hinstellt, dann ersetzt man das Marxsche System der Politik endgültig durch Impressionismus, was in vieler Hinsicht charakteristisch für kleinbürgerliche Intellektuelle ist. Jede neue Wendung der Ereignisse überrascht die Empiristen-Impressionisten, zwingt sie zu vergessen, was sie gestern geschrieben haben, und erzeugt einen brennenden Wunsch nach neuen Formeln, bevor neue Ansichten in ihren Köpfen aufgetaucht sind.

 

 

Der Sowjetisch-Finnische Krieg

Die Resolution der Opposition zur Frage des sowjetisch-finnischen Krieges ist ein Dokument, das, vielleicht mit unbedeutenden Änderungen, von den Bordigisten, Vereecken, Sneevliet, Fenner Brockway, Marceau Pivert und dergleichen unterzeichnet sein könnte, aber auf keinen Fall von Bolschewiki-Leninisten. Die Resolution, die sich ausschließlich auf Merkmale der Sowjetbürokratie und die bloße Tatsache der „Invasion“ gründet, hat nicht den geringsten sozialen Inhalt. Sie stellt Finnland und die UdSSR auf die gleiche Stufe und „verurteilt“ eindeutig „beide Regierungen und ihre Armeen, verwirft sie und steht ihnen feindlich gegenüber“. Nachdem man jedoch bemerkt hat, daß etwas nicht in Ordnung ist, fügt die Resolution unerwartet und ohne jede Verbindung mit dem Text hinzu: „Bei der Anwendung“ [!] „dieser Perspektive wird die Vierte Internationale selbstverständlich“ [wie erstaunlich ist dieses „selbstverständlich“] „die verschiedenen ökonomischen Verhältnisse in Finnland und Rußland in Betracht“ [!] „ziehen“. Jedes Wort ist eine Perle. Mit „konkreten“ Umständen meinen unsere Liebhaber des „Konkreten“ die militärische Situation, die Stimmungen der Massen und drittens die entgegengesetzten ökonomischen Regimes. Wie diese drei „Konkreten“ Umstände „in Betracht gezogen“ werden, dazu gibt die Resolution nicht den leisesten Wink. Wenn die Opposition „beiden Regierungen und ihren Armeen“ in bezug auf diesen Krieg gleich feindlich gegenübersteht, wie will sie dann die Unterschiede in der militärischen Situation und die sozialen Regimes „in Betracht ziehen“? Überhaupt nichts davon ist verständlich.

Um die Stalinisten für ihre unbestreitbaren Verbrechen zu bestrafen, erwähnt die Resolution nicht einmal mit einem Wort – darin folgt sie den kleinbürgerlichen Demokraten aller Schattierungen –, daß die Rote Armee in Finnland Großgrundbesitzer enteignet und die Arbeiterkontrolle einführt, während sie die Enteignung der Kapitalisten vorbereitet.

Morgen werden die Stalinisten die finnischen Arbeiter erwürgen. Aber jetzt geben sie – dazu sind sie gezwungen – einen ungeheuren Anstoß für den Klassenkampf in seiner schärfsten Form. Die Oppositionsführer bauen ihre Politik nicht auf der „konkreten“ Entwicklung auf, die in Finnland vor sich geht, sondern auf demokratischen Abstraktionen und großmütigen Gefühlen.

Der sowjetisch-finnische Krieg beginnt offensichtlich von einem Bürgerkrieg ergänzt zu werden, in dem die Rote Armee sich auf der gegebenen Stufe im gleichen Lager findet wie die finnischen Kleinbauern und Arbeiter, während die finnische Armee durch die besitzende Klasse, die konservative Arbeiterbürokratie und die angelsächsischen Imperialisten unterstützt wird. Die Hoffnungen, die die Rote Armee bei den finnischen Armen weckt, werden sich als Illusion erweisen, es sei denn, die internationale Revolution tritt ein. Die Zusammenarbeit der Roten Armee mit den Armen wird nur vorübergehend sein. Der Kreml wird bald seine Waffen gegen die finnischen Arbeiter und Bauern wenden. Das alles wissen wir heute und sprechen es offen als Warnung aus. Welche „konkrete“ Haltung müssen die „konkreten“ Anhänger der Vierten Internationale in diesem „konkreten“ Bürgerkrieg in Finnland einnehmen? Wenn sie in Spanien im republikanischen Lager kämpften, obwohl die Stalinisten die sozialistische Revolution erwürgten, müssen sie sich in Finnland um so mehr in das Lager stellen, in dem die Stalinisten gezwungen sind, die Enteignung der Kapitalisten zu unterstützen.

Unsere Neuerer verdecken die Lücken in ihrer Haltung mit lauten Phrasen. Sie bezeichnen die Politik der UdSSR als „imperialistisch“. Welch ungeheure Bereicherung der Wissenschaften! Von jetzt an wird sowohl die Außenpolitik des Finanzkapitals und die Politik der Ausrottung des Finanzkapitals Imperialismus genannt. Das wird enorm bei der Aufklärung und der Klassenerziehung der Arbeiter helfen! Aber gleichzeitig – wird der, ich möchte sagen, sehr voreilige Stanley rufen – unterstützt der Kreml die Politik des Finanzkapitals in Deutschland! Dieser Einwand ist auf der Ersetzung des einen Problems durch ein anderes aufgebaut, auf der Auflösung des Konkreten im Abstrakten (der übliche Fehler vulgären Denkens).

Wenn Hitler morgen gezwungen wäre, den aufständischen Indern Waffen zu schicken, müßten die revolutionären deutschen Arbeiter diese konkrete Handlung durch Streiks und Sabotage bekämpfen? Im Gegenteil, sie müßten sicherstellen, daß die Aufständischen die Waffen so bald wie möglich erhalten. Wir hoffen, dies ist verständlich für Stanley. Aber dieses Beispiel ist nur eine Hypothese. Wir benutzten es, um zu zeigen, daß sogar eine faschistische Regierung des Finanzkapitals unter bestimmten Bedingungen gezwungen sein kann, eine national-revolutionäre Bewegung zu unterstützen (um am nächsten Tag zu versuchen, sie zu erwürgen). Hitler würde niemals, gleich unter welchen Umständen, eine proletarische Revolution zum Beispiel in Frankreich unterstützen. Was den Kreml betrifft, so ist er gegenwärtig gezwungen – und das ist keine angenommene, sondern eine wirkliche Lage –, eine sozialrevolutionäre Bewegung in Finnland hervorzurufen (um zu versuchen, sie morgen politisch zu erdrosseln). Eine bestimmte sozialrevolutionäre Bewegung mit dem Begriff des Imperialismus zu bezeichnen, nur weil sie durch den Kreml hervorgerufen, verstümmelt und gleichzeitig erwürgt wurde, zeugt nur von theoretischer und politischer Armut.

Man muß hinzufügen, daß die Ausdehnung des Begriffs des „Imperialismus“ nicht einmal den Reiz des Neuen trägt. Gegenwärtig beschreiben nicht nur die „Demokraten“, sondern auch die Bourgeoisie der demokratischen Länder die sowjetische Politik als imperialistisch. Das Ziel der Bourgeoisie ist offenkundig, die sozialen Widersprüche zwischen der kapitalistischen und der sowjetischen Expansion auszuradieren, die Eigentumsfrage zu verstecken und auf diese Weise dem eigentlichen Imperialismus zu helfen. Was ist das Ziel Shachtmans und der anderen? Sie wissen es selbst nicht. Ihre terminologischen Neuheiten führen sie objektiv von der marxistischen Terminologie der Vierten Internationale fort und bringen sie nahe an die Terminologie der „Demokraten“. Ach ja, dieser Umstand beweist wieder die äußerste Empfindlichkeit der Opposition gegenüber dem Druck der kleinbürgerlichen öffentlichen Meinung.

 

 

„Die organisatorischen Fragen“

Man hört aus den Reihen der Opposition immer häufiger: Die russische Frage hat an und für sich keine entscheidende Bedeutung. Die wichtigste Aufgabe ist, das Parteiregime zu verändern. Man muß verstehen, eine Veränderung im Regime bedeutet eine Veränderung in der Leitung, oder genauer, die Entfernung Cannons und seiner engen Mitarbeiter aus den Führungsstellungen. Diese lärmenden Stimmen beweisen, daß die Richtung des Kampfes gegen „Cannons Fraktion“ den Vorrang hat vor jener „Konkretheit der Ereignisse“, auf die Shachtman und andere Bezug nehmen, um ihren Positionswechsel zu erklären. Gleichzeitig erinnern uns diese Stimmen an eine ganze Reihe von oppositionellen Gruppen in der Vergangenheit, die den Kampf bei verschiedenen Gelegenheiten aufnahmen und die, als ihre prinzipielle Grundlage unter ihren Füßen zu zerbröckeln begann, sich auf sogenannte „organisatorische Fragen“ verlegten – der Fall war derselbe mit Molinier, Sneevliet, Vereecken und vielen anderen. Wie unangenehm diese Präzedenzfälle auch erscheinen mögen, kann man an ihnen nicht vorbeigehen.

Es wäre jedoch falsch zu glauben, daß die Verlagerung des Kampfes auf „organisatorische Fragen“ ein einfaches „Manöver“ im Fraktionskampf darstellt. Nein, die inneren Gefühle der Opposition sagen ihr ganz richtig, aber verworren, daß die Streitfrage nicht nur das „russische Problem“ betrifft, sondern eher das ganze Herangehen an politische Probleme im allgemeinen, eingeschlossen auch die Methode des Parteiaufbaus. Und dies ist in gewissem Sinne richtig.

Wir haben oben auch zu beweisen versucht, daß die Streitfrage nicht nur das russische Problem betrifft, sondern noch mehr die Denkmethode der Opposition, die ihre sozialen Wurzeln hat. Die Opposition steht unter dem Einfluß kleinbürgerlicher Gefühle und Tendenzen. Das ist das Wesen der ganzen Sache.

Wir sahen ziemlich deutlich den ideologischen Einfluß einer anderen Klasse in den Fällen Burnhams (Pragmatismus) und Shachtmans (Eklektizismus). Wir bezogen andere Führer wie Genossen Abern nicht in unsere Überlegungen mit ein, weil er im allgemeinen nicht an der grundsätzlichen Diskussion mit teilgenommen hat, da er sich auf die Ebene der „organisatorischen Fragen“ beschränkte. Das bedeutet jedoch nicht, daß Abern keine Bedeutung hat. Im Gegenteil, man kann sagen, daß Burnham und Shachtman die Amateure der Opposition sind, während Abern der unbestreitbare Profi ist. Abern, und nur er, hat seine eigene traditionelle Gruppe, die aus der alten kommunistischen Partei herangewachsen ist und während der ersten Phase der unabhängigen Existenz der „Linken Opposition“ zusammenwuchs. Alle anderen, die verschiedene Gründe für Kritik und Unzufriedenheit haben, klammerten sich an diese Gruppe.

Jeder ernsthafte Fraktionskampf in einer Partei ist letzten Endes immer die Widerspiegelung des Klassenkampfes. Die Mehrheitsfraktion bewies von Anfang an die ideologische Abhängigkeit der Opposition von der kleinbürgerlichen Demokratie. Die Opposition dagegen versuchte gerade wegen ihres kleinbürgerlichen Charakters nicht, nach den sozialen Wurzeln des feindlichen Lagers zu suchen.

Die Opposition eröffnete einen heftigen Fraktionskampf, der jetzt die Partei in einem sehr kritischen Augenblick lahmlegt. Um solch einen Kampf rechtfertigen zu können, und nicht erbarmungslos zu verurteilen, wären bedeutende und tiefe Ursachen nötig. Für einen Marxisten können solche Ursachen nur Klassencharakter haben. Vor Beginn ihres heftigen Kampfes waren die Oppositionsführer verpflichtet, sich selbst die Frage zu stellen: Welcher Einfluß, der von einer nicht-proletarischen Klasse herkommt, wird in der Mehrheit des Nationalkomitees widergespiegelt? Jedoch, die Opposition hat nicht den leisesten Versuch zu einer derartigen klassenmäßigen Abschätzung der Meinungsverschiedenheiten unternommen. Sie sieht nur „Konservatismus“, „Irrtümer“, „schlechte Methoden“ und ähnliche psychologische, intellektuelle und technische Unzulänglichkeiten. Die Opposition interessiert sich für den Klassencharakter der oppositionellen Fraktion genausowenig wie für den Klassencharakter der UdSSR. Diese Tatsache allein reicht aus, um den kleinbürgerlichen Charakter der Opposition aufzuzeigen, mit ihrem Beigeschmack von akademischer Pedanterie und journalistischem Impressionismus.

Um zu verstehen, welche Klassen oder Schichten im Fraktionskampf widergespiegelt werden, muß man den Kampf beider Fraktionen historisch untersuchen. Jene Mitglieder der Opposition, die behaupten, daß der gegenwärtige Kampf mit den alten Fraktionskämpfen „nichts zu tun“ habe, zeigen wieder einmal ihre oberflächliche Haltung gegenüber dem Leben ihrer eigenen Partei. Der wesentliche Kern der Opposition ist der gleiche, der sich vor drei Jahren um Muste und Spector gruppierte. Der wesentliche Kern der Mehrheit ist der gleiche, der sich um Cannon gruppierte. Von den führenden Gestalten sind nur Shachtman und Burnham von einem in das andere Lager übergegangen. Aber diese persönlichen Verschiebungen, so wichtig sie auch sein mögen, haben den allgemeinen Charakter der beiden Gruppen nicht verändert. Ich will nicht auf die historische Abfolge des Fraktionskampfes eingehen und verweise den Leser auf den in jeder Hinsicht ausgezeichneten Artikeln von Joseph Hansen „Organisationsmethoden und politische Grundsätze“.

Wenn wir alles Zufällige, Persönliche und Episodische abziehen, wenn wir die gegenwärtigen Gruppierungen im Kampf auf ihre wesentlichen politischen Grundformen zurückführen, dann ist der Kampf des Genossen Abern gegen den Genossen Cannon zweifellos der konsequenteste. In diesem Kampf stellt Abern eine Propagandagruppe dar, die ihrer sozialen Zusammensetzung nach kleinbürgerlich, durch alte persönliche Bindungen vereint und dem Charakter nach fast eine Familie ist. Cannon stellt die proletarische Partei im Prozeß ihrer Bildung dar. Historisch liegt das Recht in diesem Kampf – unabhängig davon, welche Irrtümer und Fehler begangen worden sind – voll und ganz auf der Seite Cannons.

Als die Vertreter der Opposition das Zetergeschrei erhoben, die „Führung sei bankrott“, „die Vorhersagen stellten sich als falsch heraus“, „die Ereignisse überraschten uns“, „wir müssen unsere Losungen ändern“ – dies ohne die geringste Bemühung, die Fragen ernsthaft zu durchdenken – erschienen sie im Grunde als Parteidefätisten. Diese bedauerliche Haltung erklärt sich durch die Erbitterung und den Schrecken des alten Propaganda-Zirkels vor den neuen Aufgaben und den neuen Verhältnissen in der Partei. Die Gefühlsduselei persönlicher Bindungen will nicht der Auffassung von Pflicht und Disziplin weichen. Die Partei steht vor der Aufgabe, die alten Cliquenbindungen zu zerbrechen, um die besten Elemente der propagandistischen Vergangenheit einzugliedern. Man muß solch einen Geist des Parteipatriotismus entwickeln, daß niemand zu sagen wagt: Das Wesen der Sache ist nicht die russische Frage, sondern daß wir uns behaglicher und angenehmer unter Aberns Leitung fühlen als unter Cannons.

Ich persönlich bin nicht erst gestern zu dieser Schlußfolgerung gekommen. Ich habe sie Dutzende und Hunderte von Malen in Gesprächen mit Mitgliedern aus Aberns Gruppe geäußert. Ich hob ständig die kleinbürgerliche Zusammensetzung dieser Gruppe hervor. Ich habe eindringlich und wiederholt vorgeschlagen, solche kleinbürgerlichen Mitläufer, die sich als unfähig erwiesen haben, Arbeiter für die Partei zu gewinnen, von Mitgliedern zu Parteianwärtern zu degradieren. Privatbriefe, Unterhaltungen und Ermahnungen haben, wie die späteren Ereignisse zeigten, zu nichts geführt – Leute lernen selten aus den Erfahrungen anderer. Der Gegensatz zwischen den beiden Schichten der Partei und den beiden Entwicklungsphasen kam an die Oberfläche und nahm den Charakter eines heftigen Fraktionskampfes an. Man kann nur noch klar und bestimmt der amerikanischen Sektion und der ganzen Internationale seine Meinung sagen. Freundschaft ist Freundschaft, aber Pflicht ist Pflicht – sagt ein russisches Sprichwort.

Man kann folgende Frage stellen: Wenn die Opposition eine kleinbürgerliche Richtung ist, bedeutet das, daß es keine Einheit mehr geben kann? Denn wie soll man die kleinbürgerliche mit der proletarischen versöhnen? Die Frage so zu stellen, heißt, einseitig, undialektisch und daher falsch urteilen. In der gegenwärtigen Diskussion hat die Opposition klar ihre kleinbürgerlichen Züge offenbart. Aber das bedeutet nicht, daß die Opposition keine anderen Züge hat. Die Mehrheit der Oppositionsmitglieder ist der Sache des Proletariats tief ergeben und kann lernen. Heute an die kleinbürgerliche Umgebung gefesselt, kann sie sich morgen selbst an das Proletariat binden. Die Unbeständigen können unter dem Einfluß der Erfahrung beständiger werden. Wenn die Partei Tausende von Arbeitern umfaßt, kann sie sich sogar die Fraktionsfachleute im Geist der proletarischen Disziplin neu erziehen. Dazu muß man ihnen Zeit lassen. Deswegen war der Vorschlag des Genossen Cannon, die Diskussion von jeglichen Drohungen mit Spaltung, Ausschlüssen usw. freizuhalten, völlig richtig und angebracht.

Dennoch bleibt es ziemlich sicher, daß die Partei vollständig zerstört würde, wenn sie als Ganzes den Weg der Opposition einschlagen würde. Die gegenwärtige Opposition ist unfähig, der Partei eine marxistische Führung zu geben. Die Mehrheit des jetzigen Nationalkomitees drückt beständiger, ernsthafter und stärker die proletarischen Aufgaben der Partei als die Minderheit aus. Gerade deswegen kann die Mehrheit nicht daran interessiert sein, den Kampf auf eine Spaltung zu richten – die richtigen Ideen werden siegen. Auch können die gesunden Elemente der Opposition keine Spaltung wünschen – die Erfahrung der Vergangenheit zeigt sehr deutlich, daß sich jederlei improvisierte Gruppen, die sich von der Vierten Internationale abgespalten haben, selbst zu Unfruchtbarkeit und Zersetzung verurteilt haben. Deswegen kann man ohne Furcht an den nächsten Parteitag denken. Er wird die antimarxistischen Neuheiten der Opposition zurückweisen und die Einheit der Partei sichern.

15. Dezember 1939

 


Zuletzt aktualisiert am 15.10.2003