http://www.left-dis.nl/d/diskuru.htm
Diskussionsveranstaltungen zur Oktoberrevolution
Unabhängige Rätekommunisten
Der bürgerliche Charakter des Bolschewismus
(November 2002)
Aufbau
1. Der kleinbürgerlich-radikale Charakter des Bolschewismus vor der russischen Revolution 1917.
Internationale Sozialdemokratie und Bolschewismus: Gemeinsamkeiten und Unterschiede
2. Die Umwandlung des Bolschewismus in eine staatskapitalistisch-reaktionäre Strömung (1917-1921)
3. Bolschewismus und Stalinismus: Gemeinsamkeiten und Unterschiede
4. Wechselbeziehung zwischen Produktivkraft-entwicklung und proletarischer Selbstorganisation
Der kleinbürgerlich-radikale Charakter des Bolschewismus vor der russischen Revolution 1917. Internationale Sozialdemokratie und Bolschewismus: Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Die Gewerkschaften und Parteien der alten sozialdemokratischen Arbeiterbewegung waren von Anfang an reformistisch: Denn sie stellten sich wirtschaftlich beim Arbeitskampf auf den Standpunkt der Ware –Geld –Beziehung und politisch auf den der parlamentarischen Demokratie, sie standen also von Beginn an auf dem Fun-dament der bürgerlichen Klassengesellschaft. Bevor durch die Gewerkschaften und Parteien der Klassenkampf verrechtlicht und institutionalisiert wurde, kämpften die Arbeiter über die Mitte des 19. Jahrhunderts hinaus selbständig um die Verkaufsbedingungen ihrer Arbeitskraft, allerdings war es proletarische Selbstorganisation in einem Klassenkampf, der auf Grund der sozialen Schwäche des Proletariats den bürgerlichen Rahmen nicht durchbrechen konnte. Dieser Klassenkampf im bürgerlichen Rahmen gab sich durch die bürokratischen Gewerkschafts- und Parteiorganisationen ihren entsprechenden Ausdruck. Die Entwicklung der Gewerkschafts- und Parteibürokratie lebte und lebt von diesem bürgerlichen Rahmen des Kampfes, den sie immer stärker durch Integration zu ersetzen suchte und sucht. Nicht die Bürokratie erzeugte also den Reformismus, sondern der proletarische Klassenkampf im bürgerlichen Rahmen.
Auch der Inhalt der sozialdemokratischen Politik (im Parlament Sozialreformen erkämpfen), verlieh ihr von Anfang an einen bürgerlichen Charakter. Allerdings wurde die ursprüngliche Sozialdemokratie von dem Widerspruch einer bürgerlich-reformistischen Praxis und einer revolutionär-sozialistischen Ideologie geprägt, die der proletarischen Basis geschuldet und anfangs auch Selbsttäuschung der Partei war. Die Partei löste diesen Widerspruch indem sie nach und nach den Selbstbetrug durch eine revolutionäre Ideologie beendete und durch eine reformistische Ideologie ersetzte. Die Sozialdemokratie verbürgerlichte also nicht, sondern fand als eine bürgerliche Kraft zu sich selbst. In diesem Prozess wurden die wirklichen oder nur in ihrer eigenen Einbildung revolutionären Kräfte aus ihr ausgesondert. Der erfolgreiche politische Reformismus verlangte eine erfolgreiche Integration der SPD in die demokratische Klassengesellschaft. Für die durch sie profitierende kleinbürgerliche Parteibürokratie wurde diese im Laufe der Zeit wichtiger als der Sozialreformismus bis schliesslich die SPD zur Kriegstreiberin und konterrevolutionären Bluthündin während der Nachkriegs-Krise wurde.
Die russische Sozialdemokratie wirkte in ganz anderen Verhältnissen: Die Gruppe Internationaler Kommunisten Hollands analysierte die vorrevolutionäre Situation in Russland in ihren Thesen über den Bolschewismus so: „Die russische Wirtschaft stellte eine Kombination asiatisch rückständiger Agrarproduktion mit europäischer Industriewirtschaft dar. Die Leibeigenschaft bestand praktisch für die ungeheure Mehrzahl der russischen Bauern in verschiedenen Formen weiter. Die geringen Ansätze einer kapitalistischen Landwirtschaft konnten darum nicht zum Durchbruch kommen. Sie bewirkten nur eine Zersetzung des russischen Dorfes, das in unbeschreiblichem Ausmass verelendete, ohne die Fesselung des Bauern an den ihn nicht mehr ernährenden Boden aufzuheben. Die russische Agrarwirtschaft, die vier Fünftel der russischen Bevölkerung und mehr als die Hälfte der russischen Gesamtproduktion umfasste, war bis 1917 eine von kapitalistischen Elementen durchsetzte Feudalwirtschaft. Die Industrie Russlands war dem Land durch das Zentrum aufgepfropft worden, das vor allem in der Herstellung des Heeresbedarfs vom Ausland unabhängig sein wollte. Da in Russland aber die Grundlagen einer entwickelten handwerklichen Produktion und die Ansätze der Herausbildung einer Klasse ‚freier Arbeiter‘ fehlten, trat dieser staatliche Kapitalismus zwar sofort als Grossproduktion ins Leben, kannte jedoch keine Lohnarbeiterschaft. Er war Leibeigenschafts-Kapitalismus und hat im Lohnzahlungssystem, in der Kasernierung der Arbeiter, in der Sozialgesetzgebung und anderen Erscheinungen die starken Reste dieser Besonderheit bis 1917 gewahrt. Das russische Proletariat wies demgemäss nicht nur einen empfindlichen Grad mangelnder techni-scher Reife auf, es war weitgehend analphabetisch und zu sehr starken Teilen direkt oder indirekt an das Dorf gebunden. In vielen Industriezweigen waren die Arbeiter bäuerliche Saisonarbeiter ohne ständige Bindung an die Stadt. Die russische Industriewirtschaft war bis zur Revolution von 1917 eine von feudalen Elementen durchsetzte kapitalistische Produktion. Feudale Agrarproduktion und kapitalistische Industrieproduktion hatten sich also in ihren Grundelementen gegenseitig durchsetzt und waren miteinander zu einem Wirtschaftssystem verfilzt, das weder nach feudalen Wirtschaftsprinzipien beherrscht werden konnte noch die Grundlage für eine organische Entwicklung der kapitalistischen Elemente darstellte." Die Industrie befand sich grösstenteils in der Hand ausländischer Kapitalisten.
Über die russische Gesellschaft erhob sich der russische Staat. Dieser stellte eine Mischform aus asiatischer Despotie und europäischen Absolutismus dar und stützte sich auf die beiden besitzenden Klassen. Wirtschaftlich stützte er sich auf die zahlenmässig schwache und politisch unselbständige Bourgeoisie und politisch auf den gutsbesitzenden Feudaladel. Die russische Bourgeoisie stand zwar zum Zarismus in politischer Opposition, gleichzeitig lebte sie wirtschaftlich von ihm. Auch kam der Klassengegensatz zwischen Kapital und Lohnarbeit schon in der russischen Gesellschaft zum tragen. Die russische Arbeiterklasse hatte schon in der Revolution von 1905 eine grosse Rolle gespielt. In dieser Revolution bil-deten sich auch zum ersten Mal spontan die Sowjets heraus. Die russischen Kapitalisten hatten mehr Furcht vor der jungen russischen Arbeiterklasse als vor dem Zaren. In Russland war kaum eine legale Betätigung der Sozialdemokratie möglich. Sowohl Funktionäre der Menschewiki als auch der Bolschewiki gingen entweder illegaler Betätigung nach, waren in der Verbannung oder im westlichen Exil. Die russische Sozialdemokratie war in der Frage nach dem Charakter der russischen Revolution gespalten. Während die Menschewiki für eine bürgerliche Revolution unter Führung der Bourgeoisie eintraten, setzten sich die Bolschewiki für eine bürgerliche Revolution ein, die allerdings nicht von der Bourgeoisie, sondern von den Arbeitern und Bauern geführt werden sollte. Leo Trotzki vertrat die Position der permanenten Revolution, die ebenfalls wie die bolschewistische Theorie von der Unfähigkeit der Bourgeoisie zur Führung der Revolution ausging. Aber im Gegensatz zu Lenin behauptete Trotzki, dass die Arbeiterklasse nicht bei der bürgerlichen Revolution stehen bleiben könne und zu sozialistischen Aufgaben übergehen müsse. Russland allein auf sich bezogen wäre aber allein zu schwach für den Aufbau des Sozialismus. Doch die russische Revolution würde in der proletarischen Revolution münden. Die Wirklichkeit brachte etwas ganz anderes hervor.
Die Bolschewiki waren sowohl von den russischen Verhältnissen geprägt wie von der westeuropäischen Sozial-demokratie. Sie waren ebenso wie die übrige Sozialdemokratie bürokratisch organisiert. Die Auffassung Lenins vom Parteiaufbau war von Anfang an ultrabürokratisch, und seine Ansichten von Parteidisziplin erzbürgerlich, indem er diese mit der von der Bourgeoisie erzwungenen Fabrikdisziplin auf eine Stufe stellte! Rosa Luxemburg trat Lenin schon 1904 entgegen: „Nicht durch die Anknüpfung an die ihm durch den kapitalistischen Staat eingeprägte Disziplin –mit der blossen Übertragung des Taktstockes aus der Hand der Bourgeoisie in die eines sozialdemo-kratischen Zentralkomitees, sondern durch die Durchbrechung, Entwurzelung dieses sklavischen Disziplingeistes kann der Proletarier erst für die neue Disziplin –die freiwillige Selbstdisziplin gewonnen werden." Lenins Theorie von der Partei neuen Typs stellte in der Praxis die autoritäre Herrschaft von Berufsrevolutionären, die zum grössten Teil kleinbürgerliche Intellektuelle waren, über die proletarische Basis dar. Deshalb bezeichnen wir den Charakter des vorrevolutionären Bolschewismus als kleinbürgerlich-radikal. Auch die Ideologie des Bolschewismus kann nicht als wissenschaftlicher Kommunismus bezeichnet werden. Wie die westeuropäische Sozialdemokratie stellte Lenin Sozialismus der Staatswirtschaft gleich.
Er verstand unter „Sozialismus nichts anderes als den nächsten Schritt vorwärts über das staatskapitalistische Monopol hinaus, oder mit anderen Worten: das staatskapitalistische Monopol zum besten des gesamten Volkes angewendet" (Lenin, Die drohende Katastrophe und wie soll man sie bekämpfen, Werke 21, S. 233 f). In staatsmonopolistischen Institutionen des Westens sah der oberste Bolschewik einen Keim des Sozialismus, wollte „die ganze Volkswirtschaft nach dem Vorbilde der Post organisieren" (Lenin, Staat und Revolution, Werke 21, S. 510). Bei solchen autoritären Organisationsvorstellungen, die die geistige Gefangenschaft Lenins in der Klassengesellschaft demonstrieren, war es kein Wunder, dass er besonders an der deutschen Schule von „Zucht und Ordnung" hing: „Es ist unsere Aufgabe, vom Staatskapitalismus der Deutschen zu lernen, ihn mit aller Anstrengung zu übernehmen." (Lenin, Über die Naturalsteuer, Werke 32, S. 347.)
Lenin übernahm von Kautsky die völlig unmaterialistische Ansicht, dass die Arbeiterklasse von sich aus unfähig wäre ein revolutionäres Bewusstsein zu entwickeln, und deshalb die Intellektuellen das revolutionäre Klassenbewusstsein in die Arbeiterklasse hineintragen müssten. Diese Ansicht Kautskys und Lenins hatte nichts mehr mit dem historischen Materialismus zu tun sondern war ein Hinabgleiten in den Idealismus. Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Die revolutionären Gedanken von Marx entsprangen dem revolutionären Klassenkampf des Prole-tariats und nicht andersherum, wie Kautsky und Lenin es darstellten. Der alte Marx wurde sehr durch die Pariser Kommune geprägt, die revolutionär war und aus dem spontanen Klassenkampf hervorging. Wer die Fähigkeit der Arbeiterklasse leugnet, von selbst zu einem revolutionärem Sein und Bewusstsein zu gelangen, lehnt den materialistischen Grundsatz, dass die Befreiung der Arbeiterklasse nur ihr eigenes Werk sein kann, ab. Und wer das tut, hört objektiv auf, ein proletarischer Revolutionär zu sein, egal ob er sich nun subjektiv dafür hält oder nicht.
In der Tat war Lenin selbst in sei-nen besten Zeiten kaum mehr als ein kleinbürgerlicher Radikaler, der angesichts der proletarischen Revolution, verkörpert im Kronstädter Aufstand, zum grossbürokratischen Konterrevolutionär wurde. Sein Eintreten für den revolutionären Internationalismus während des ersten Weltkrieges war beispielhaft und besitzt auch heute noch eine grosse moralische Kraft, aber auch dies machte aus ihm keinen proletarischen Revolutionär. Wenn wir Lenin einen „kleinbürgerlichen Radikalen" nennen, dann ist das eine materialisti-sche Einschätzung und keine Beschimpfung.
2. Die Umwandlung des Bolschewismus in eine staatskapitalistisch-reaktionäre Strömung (1917-1921)
1914 marschierte das zaristische Russland an der Seite Grossbritanniens und Frankreichs in den imperialistischen Weltkrieg. Die russische Bourgeoisie unterstützte diesen blutigen Alptraum aus ganzem Herzen, schliess-lich brachte er auch ansehnlichen Profit ein. Bezahlen mussten diesen Krieg die russischen Arbeiter und Bauern. Die Arbeiterklasse wurde in der Kriegsproduktion gnadenlos ausgebeutet, während die russischen Bauern in die Armee gepresst wurden, und für Zar, Grundbesitzer und Bourgeoisie töten und sterben mussten. Den Anforderungen der „modernen" Barbarei war das technisch und politisch rückständige Russland nicht gewachsen. Der Zarismus zerbrach am 1. Weltkrieg. Die Februarre-volution brachte der kranken Monarchie den tödlichen Stoss.
Die russische Revolution durchbrach nicht die Schranke der bürgerlichen Klassengesellschaft, trotz ihrer gewaltigen sozialen Dynamik. Die Februarrevolution 1917 fegte die alte Zarenherrschaft hinweg. Sie schuf eine Doppelherrschaft. Auf der einen Seite die provisorische bürgerliche Regierung und auf der anderen die Arbeiter/innenräte und Fabrikkomitees, die instinktiv nach der kollektiven und selbstorganisierten Übernahme der Fabriken durch die Arbeiter, also zum Kommunismus strebten. Auf dem Land erhob sich die Bauernbewegung. Sie war kleinbürgerlich, d.h., sie strebte die Aufteilung des Grossgrundbesitzes zugunsten vieler kleiner Privateigentümer an. Die Arbeiter- und Bauernbewegung stiess mit der liberalen Bourgeoisie und den Grossgrundbesitzern zusammen. Die Zusammenstösse konnten anfangs durch die „Arbeiterpartei" der Menschewiki und die sozialrevolutionäre „Bauernpartei" abgemildert werden. Beide Parteien sassen in der provisorischen Regierung und in den Sowjets. Die Bourgeoisie, Menschewiki und Sozialrevolutionäre führten den imperialistischen Krieg weiter, bekämpften eine Agrarreform, und gerieten in den Klassenkampf mit der Arbeiterbasis der Sowjets und mit den Fabrikkomitees.
Die Bolschewiki bündelten die Unzufriedenheit der Soldaten, Bauern und Arbeiter mit ihren Hauptforderungen nach Frieden, einer Bodenreform und „Alle Macht den Sowjets". Allerdings besassen die klein-bürgerlich-intellektuellen Bürokraten des Bolschewismus nur ein taktisches Verhältnis sowohl zu den Forderungen bäuerlicher als auch proletarischer Bevölkerungs-schichten. Wichtig war für die Bolschewiki nur der Masseneinfluss und die wachsende Bedeutung ihrer Partei. Diese wurden tatsächlich von einer verfolgten Minderheit zu einer immer stärkeren Fraktion in den Sowjets. Dagegen half auch die Repression gegen die Bolschewiki –diese wurden faktisch im Juli 1917 in die Illegalität getrieben –durch die provisorische Kerenski-Regierung nichts. Ende August versuchte der General Kornilow und die hinter ihm stehende bürgerlich-feudale Reaktion einen erfolglosen Putsch gegen die provisorische Regierung und vor allem gegen die Sowjets. Sozialrevolutionäre und Menschewiki legalisierten vorsichtig und halbherzig die Bolschewiki um Kornilow erfolgreich zu bekämpfen. Die Bolschewiki nutzten dies zur Verstärkung ihres eigenen Einflusses auf die bäuerlichen und proletarischen Massen, zu Ungunsten ihrer gross- und kleinbürgerlichen Gegner.
Die Eroberung der politischen Macht durch die Bolschewiki im Oktober 1917 stellte keine proletarische Revolution durch die Sowjets dar, sondern einen bürgerlich-bürokratischen Putsch mit nachträglicher Billigung durch die Sowjets und anfänglicher proletarischer und kleinbäuerlicher Massensympathie. Einen Tag später erklärten bolschewistische Sprecher auf dem Zweiten Allrussischen Sowjetkongress: „Die Revolution hat gesiegt. Die gesamte Macht ist an unsere Sowjets übergegangen. In diesen Tagen werden neue Gesetze zur Lage der Arbeiterklasse erlassen werden. Eins der wichtigsten wird die Arbeiterkontrolle der Produktion und die Wiedereinführung normaler Zustände in der Industrie regeln." (zitiert nach Maurice Brinton) Was die Bolschewiki unter „Arbeiterkontrolle" verstanden, sollte sich später als Abwürgen der proletarischen Selbstorganisation erweisen. „Normale Zustände" der Ausbeutung schufen die Leninisten aber in der Tat schon bald. Kein Wunder, dass sie selbständige Aktionen der Arbeiter ablehnten. Weiterhin erklärten die Bolschewiki: „Streiks und Massenaktionen schaden in Petersburg. Wir bitten euch, alle Streiks für ökonomische und politische Forderungen abzubre-chen, die Arbeit wieder aufzunehmen und in disziplinierter Weise auszuführen (...) Jeder an seinem Platz. Die beste Art, die Sowjetregierung im Augenblick zu unterstützen, besteht darin, die Arbeit fortzusetzen." Merkwürdige proletarische Revolution! Oder besser formuliert: Typisch bürgerliche Machtübernahme.
Die leninistische Parteibürokratie führte eine kleinbür-gerliche Bodenreform durch, die faktisch nur eine Legalisierung der von der spontanen Bauernbewegung vorgenommenen Massnahmen war. In der Industrie versuchten die Bolschewiki eine utopische „Arbeiterkontrolle" bei Erhaltung des Privateigentums an Produktionsmitteln durchzuführen. Doch Ausbeuter lassen sich nun mal nicht kontrollieren. So wurden die Bolschewiki zur Entmachtung der Bourgeoisie gezwungen. Hier konnten sich die Bolschewiki auf die proletarischen Massen stützen. Doch die Bolschewiki wollten keine proletarische Selbstorganisation in den Betrieben. Sie verstaatlichten die Industrie. Verstaatlichung bedeutete für die Arbeiterklasse staatskapitalistische Ausbeutung. Der Staat trat an die Stelle der privaten Kapitalisten, an den die Arbeiter weiterhin ihre Arbeitskraft verkaufen mussten (also Lohnarbeiter blieben) und somit von der tatsächlichen Verfügung über die Produktionsmittel, Produkte und ihr eigenes soziales Leben ausgeschlossen blieben. Die bolschewistische Parteidiktatur zerschlug alle Ansätze der Selbstor-ganisation der Arbeiterklasse. Bereits im November 1917 wurden die ersten Sowjets per Dekret von Bolschewiki aufgelöst (so z.B. am 9. November die Sowjets im Volkskomissariat im Post- und Telegrafendienst). In diesem Prozess wurde der Bolschewismus von einer kleinbürgerlich-radikalen Kraft zu einer staatskapitalistisch-reaktionären Kraft. Die reaktionären Tendenzen waren aber von Beginn seines Bestehens kräftig ausgeprägt gewesen. Die linkskommunistische Opposition (Zeitung Kommunist, Demokratische Zentralisten, Arbeiteropposition, Arbeitergruppe, Arbeiterwahrheit) innerhalb der Partei wurde durch bürokratische Repression zum Schweigen gebracht.
Der Bolschewismus führte also eine bürgerliche Revolution gegen die Bourgeoisie und eine bürokratische Konterrevolution gegen die proletarische Selbst-organisation durch. . Die leninistische Parteibürokratie verdankte ihre Machteroberung im Oktober 1917 auch der revolutionären Fabrikkomiteebewegung. Diese Bewegung verkörperte von allen Arbeiterorganisationen die proletarische Selbstorganisation am unmittelbarsten. Deshalb war sie auch das erste Opfer der Parteidiktatur. Die Fabrikkomitees wurden von den Leninisten –von vorn gaben sie sich als Genossen aus –schleichend von hinten erdrosselt. Sie begannen damit, dass sie die Bewegung den Gewerk-schaften unterordneten. Am 5. Dezember 1917 veröffentlichte die Regierung den Erlass zur Bildung eines Obersten Volkswirtschaftsrates (Wesenka). Dieser sollte einen Plan für die Wirtschaft und die Regierungsfinanzen ausarbeiten. Dieser Wesenka wurde der Regierung angeschlossen, und war so zusammengesetzt: einige Mitglieder des gesamtrussischen Arbeiterkontrollrates, starke Vertretung der Regierungsbürokraten und von oben eingesetzte Experten. Maurice Brinton: „Anfangs hatten die linken Bolschewiki die Führung innerhalb des Wesenka. Der erste Vorsitzende war Osinski und im leitenden Büro sassen Bucharin, Larin, Sokolnikow, Miljutin, Lomow und Schmidt. Trotz seiner linken Führung schluckte die neue Institution den Gesamtrussischen Arbeiterkontrollrat, bevor er überhaupt zusammentreten konnte. Dieser Schritt wurde von den Bolschewiki öffentlich als Stabilisierung der wirtschaftlichen Macht begründet. Dies schwächte wiederum die Fabrikkomitees. Wie Lenin später sagte: „Wir gingen von der Arbeiterkontrolle zur Bildung eines Obersten Volkswirtschaftsrates über. Dieser Rat sollte eindeutig die Arbeiterkontrolle ersetzen und aufheben.
Hier setzt ein Prozess ein, der im folgenden dargestellt werden soll. Ein Prozess, der innerhalb der kurzen Zeitspanne von vier Jahren von der ungeheuren Bewegung der Fabrikkomitees (eine Bewegung, die die Produktionsverhältnisse grundlegend ändern wollte), zur unantastbaren Dominanz einer bürokratischen und monolithschen Instanz (der Partei) über sämtliche wirtschaftlichen Aspekte führte. Da diese Instanz nicht in der Produktionssphäre verwurzelt war, konnte ihre Herrschaft die Begrenztheit der Autorität der Arbeiter innerhalb der Produktion nur fortsetzen. Verlängerung hierarchischer Strukturen innerhalb der Produktion war die notwendige Folge und somit die Verlängerung des Klassenstaates. Im ersten Stadium dieses Prozesses wurden die Fabrikkomitees einem Gesamtrussischen Arbeiterkontrollrat unterstellt, in dem die Gewerkschaften, die selbst unter starken bolschewistischen Einfluss standen, stark vertreten waren. Das zweite Stadium –dass dem ersten beinahe auf den Füssen folgte –war die Eingliederung des Gesamtrussischen Arbeiterkontrollrates in den Wesenka, der noch auffälliger zugunsten der Gewerkschaften zusammengesetzt war, aber auch direkte Vertreter des Staates (d. h. der Partei) enthielt. Dem Wesenka wurde eine linke kommunistische Führung übergangsweise erlaubt. Etwas später wurden diese ‚Linken‘ zurückgepfiffen. Eine lang anhaltende Kampagne wurde eingesetzt, um die Macht der Gewerkschaften einzuschränken, die, wie indirekt auch immer, doch noch von der Arbeiterklasse beeinflussbar waren. Es war besonders wichtig, den Draht der Gewerkschaften zur Produktion abzuschneiden –und ihn in die Hände von Parteivertretern übergehen zu lassen. Diese Manager und Verwalter, die fast ausschliesslich von oben eingesetzt waren, wurden zur Basis einer neuen Bürokratie. Jedem dieser Schritte wurde Widerstand entgegengesetzt, aber ohne Erfolg. Immer erschien der Gegner im Gewand der neuen proletarischen Macht. Und nach jeder Niederlage wurde es für die Arbeiter noch schwieriger, die Produktion direkt zu bestimmen, d. h. die Produktionsverhältnisse zu ändern. Bis diese Produktionsverhältnisse geändert waren, konnte die Revolution nicht behaupten, ihre sozialistischen Ziele erreicht zu haben, ungeachtet der Propaganda ihrer Führer. Dies ist die wirkliche Lektion der Russischen Revolution." (Maurice Brinton, Die Bolschewiki und die Arbeiterkontrolle, S. 52/53.)
Die Streiks in Petrograd und der Kronstädter Aufstand im Jahre 1921 –die eindeutig für die proletarische Selbstorganisation und gegen die bürgerliche Konterrevolution standen –waren das letzte Aufbäumen der Arbeiterklasse in der russischen Revolution und der Versuch deren bürgerlichen Rahmen durch eine dritte Revolution zu durchbrechen. Dass der Kronstädter Aufstand auch einige wirtschaftliche Forderungen des Kleinbürgertums erhob –bei klarer Ablehnung der Lohnarbeit! –war Ausdruck der wirtschaftlichen Rückständigkeit Russlands. Lenin und Trotzki liessen als Ebert und Noske der russischen Revolution diesen verzweifelten Kampf des russischen Proletariats in Blut ersticken. Wer von der bolschewistischen Konterrevolution nicht reden will, sollte über den Stalinismus schweigen!
3. Bolschewismus und Stalinismus: Gemeinsamkeiten und Unterschiede
Durch die Auslöschung der Rätebewegung und die Bekämpfung der linkskommunistischen Opposition in der Partei, wurde, ein der russischen Bevölkerung und den revolutionären Menschen des Westens weitgehend Unbekannter, Stalin, begünstigt. Er wurde bereits 1922 Generalsekretär des Politbüros der KPdSU. Stalin nutzte alle Trümpfe, die er in die Hand bekam, geschickt aus. Der neue Generalsekretär verkörperte einen anderen sozialen Typus als Lenin, Trotzki, Sinowjew oder Bucharin. Er war auch nicht durch jahrelanges Exil an die internatio-nale Sozialdemokratie gebunden, wie die bisherigen Führer des Bolschewismus –doch genau diese nationale Beschränktheit liess ihn zum späteren Führer des sowjetischen Staatskapitalismus werden.
Das bürokratische Regime wurde so unerträglich, dass sogar sein Geburtshelfer Lenin sich halbherzig dagegen wendete. Doch nach der Ausschaltung der Rätebewegung konnte es keinen erfolgreichen Kampf gegen den Bürokratismus geben. Deshalb mussten Lenins Versuche, den Bürokratismus einzuschränken, erfolglos bleiben. Auch entzog die Wirtschaftspolitik –Staatskapitalismus verbunden mit zeitweiliger Förderung des Privateigentums ab 1921 durch die NEP –einer antibürokratischen Politik den Boden unter den Füssen. Denn eine solche Wirtschaftspolitik konnte nur die Klassengesellschaft zementieren. Jede Klassen-gesellschaft ist zwangsläufig bürokratisch organisiert. Der sowjetische Staatskapitalismus war es ganz besonders. Lenins Vorschläge gegen den Bürokratismus waren deshalb von nahezu kindlicher Naivität.
So wurde erst eine „Arbeiter- und Bauerninspektion" (ABI) geschaffen, praktisch eine Behörde, die die anderen Be-hörden überwachen sollte. Das war ein Kampf gegen den Bürokratismus mit bürokratischen Mitteln. Das konnte schon im Ansatz nicht gut gehen. Ausserdem war der Vorsitzende der ABI: Stalin! Hier wurde der Bock zum Gärtner gemacht. Das musste auch Lenin einsehen. Doch seine neuen Ansichten zum Kampf gegen den Bürokratismus waren auch nicht besser. Er schrieb im Dezember 1922: „Ich stelle mir die Sache so vor, dass einige Dutzend Arbeiter, die Mitglieder des ZK werden, sich besser als irgend jemand sonst damit befassen können, unseren Apparat zu überprüfen, zu verbessern und neuzugestalten. Die Arbeiter- und Bauerninspektion, die diese Funktion zunächst innehatte, erwies sich als ausserstande, ihr gerecht zu werden, und kann lediglich als ‚Anhängsel‘ oder unter bestimmten Voraussetzungen als Helferin dieser Mitglieder des ZK Verwendung finden. Die Arbeiter, die ins ZK aufzunehmen sind, dürfen meiner Meinung nach vorwiegend nicht unter jenen Arbeitern ausgewählt werden, die einen langen Sowjetdienst durchgemacht haben (in diesem Teil meines Briefes zähle ich zu den Arbeitern überall auch die Bauern), weil sich bei diesen Arbeitern schon bestimmte Traditionen und bestimmte Vorurteile herausgebildet haben, die wir gerade bekämpfen wollen.
Arbeitermitglieder des ZK sollen vorwiegend Arbeiter sein, die unter jener Schicht stehen, welche bei uns in den fünf Jah-ren in die Reihen der Sowjetangestellten aufgerückt ist, und mehr zu den einfachen Arbeitern und zu den Bauern gehö-ren, die jedoch nicht direkt oder indirekt unter der Kategorie der Ausbeuter fallen. Ich glaube, dass solche Arbeiter, die in allen Sitzungen des ZK, in allen Sitzungen des Politbüros anwesend sind und alle Dokumente des ZK lesen, einen Stamm ergebener Anhänger der Sowjetordnung bilden können, die erstens fähig sind, dem ZK selbst Stabilität zu verleihen, und die zweitens imstande sind, wirklich an der Erneuerung und Verbesserung des Apparats zu arbeiten." (Lenin, Über das Zentralkomitee)
Was für ein unglaublicher Realitätsverlust! Da bildete sich ein neuer Klassengegensatz zwischen Partei/ Staats-bürokratie einerseits und dem sowjetischen Proletariat andererseits, ein Klassengegensatz, der in Kronstadt bewaffnet ausgetragen wurde –und Lenin versuchte diesen Gegensatz dadurch zu beheben, dass einige Arbeiter in das höchste Machtzentrum der Parteidiktatur aufrücken sollten. Doch Lenins bürokratischer Kampf gegen den Bürokratismus war subjektiv ehrlich gemeint. Das half zwar der sowjetischen Arbeiter/innenklasse nicht viel, entfremdete aber Lenin vom Parteiapparat, als deren Führer sich immer mehr Stalin entwickelte. Deshalb kam es bald zu persönlichen Konflikten zwischen Lenin und Stalin. Lenin war besonders wütend über Stalins ultrazen-tralistisches und bürokratisches Verhalten in Georgien, für deren Ursache beide verantwortlich sind. Denn auch Lenin war 1922 für den Einmarsch der Roten Armee in das menschewistisch regierte Georgien, den ersten Akt des sowjetischen Imperialismus im Interesse der herrschenden Parteibürokratie.
Lenins gesundheitliche Schwäche ergänzte nur sei-ne gesellschaftliche Schwäche in diesem Machtkampf. Lenin erging es wie dem Zauberlehrling, der die Kräfte, die er rief, nun nicht wieder los wurde. Stalins gesellschaftliche Stärke war die gesellschaftliche Macht der Bürokratie im Staatskapitalismus, war also materiell stark verwurzelt. Selbst wenn es Lenin gelungen wäre Stalin zu entfernen, hätte er den Kampf gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Stalin emporhoben, niemals gewinnen können. Der Kampf Lenins gegen Stalin, wird vom Trotzkismus genutzt, um einen totalen Gegensatz zwischen Leninismus und Stalinismus zu konstruieren. Dabei vergessen die Trotzkisten zwei „Kleinigkeiten": Erstens dass bereits der Leninismus die Ideologie und die Praxis der Parteidiktatur war. Zweitens dass diese Parteidiktatur nur der notwendige staatliche Überbau der besonderen staatskapitalistischen Produktionsweise war, die Oktoberrevolution geschaffen hatte.
Auch wenn wir einen totalen Gegensatz zwischen Leninismus und Stalinismus bestreiten, so sehen wir dennoch gewisse Gegensätze. Lenins Theorie versuchte die bürgerliche Revolution mit dem Marxismus zu versöhnen und dann den bürgerlichen Charakter der Oktoberrevolution durch marxistische Phrasen zu verschleiern. Der Stalinismus war die Ideologie des Staatskapitalismus, seine Verschleierung durch „sozialistische„ Phrasen. Der Leninismus diente der Parteibüro-kratie die Macht zu ergreifen und diese sowohl gegen die feudal-bürgerliche Konterrevolution als auch gegen die soziale Revolution der Arbeiterklasse zu verteidigen. Doch als sich die Parteibürokratie als ökonomisch herrschende Klasse im Staatskapitalismus herauszubilden begann, wurde ihr das klein-bürgerlich-radikale Bewusstsein des ursprünglichen Leninismus ein Hindernis. Lenin selbst beteiligte sich anfangs an dieser Revision seiner ursprünglichen Ideen, stellte sich aber dann dieser entgegen und wurde schliesslich von der bürokratischen Revision überrollt.
Marx und Engels schrieben: „Die Menschen haben sich bisher stets falsche Vorstellungen über sich selbst gemacht, von dem, was sie sind oder sein sollen." Dieser Satz traf auch auf Lenin zu. Er sah sich als Führer der proletarischen Revolution, war aber Geburtshelfer des Staatskapitalismus, einer Klassengesellschaft. Lenin war aber mit seiner eigenen Illusion zu sehr verbunden, dass er die Ideologie einer Ausbeuterklasse bis zum Ende schaffen konnte. Stalin war dazu in der Lage.
Wir lehnen den linksbolschewistischen Begriff „stalinistische Konterrevolution" ab, weil er davon ablenkt, dass die Bolschewiki unter Lenin und Trotzki die bürokratische Konterrevolution gegenüber der proletarischen Selbstorganisation durch die Niederschlagung des Kronstädter Aufstandes 1921 erfolgreich beendeten. Das bedeutet aber nicht, dass für uns der klassische Bolschewismus mit dem Stalinismus identisch wäre. Der Stalinimus ist die inner-bürokratische Reaktion gegenüber dem ursprünglichen Bolschewismus. Denn viele Bolschewiken hatten noch revolutionäre und internationalistische Selbsttäuschungen im Kopf, mit denen sich nicht erfolgreich der reaktionäre und nationalistische Staatskapitalismus aufbauen liess. Diese Kräfte fielen schliesslich nach und nach durch das Sieb der bürokratischen Machtausübung. Der Prominenteste unter ihnen: Leo Trotzki, der blutbefleckte Henker von Kronstadt! Die Konterrevolution frisst mitunter eben ihre eigenen Väter.
3. Wechselverhältnis zwischen Produktivkraftentwicklung und proletarischer Selbstorganisation
Der Menschewismus unterstützte in Russland den Privatkapitalismus, mit dem Argument die Produktivkräfte seien noch nicht reif für den Sozialismus. Natür-lich lassen sich mit Computer besser eine klassenlose Gesell-schaft aufbauen als mit Hammer und Sichel. Aber wer be-stimmt „objektiv" ab welchem Stand die Produktions-mittel „reif" für den Kommunismus sein sollen? Die Massen fragen nicht vor dem Kampf nach dem Stand der Produktivkräfte, sondern kämpfen für ihre materiellen Interessen. Doch die Bedingungen ihres Kampfes hängen auch vom Stand der Produktivkräfte ab. Jedoch kämpfende Arbeiter durch marxi-stisch klingende Phrasen wie der von zu „niedrigem Stand der Produktivkräfte" zu behindern, ist antirevolutionär. Die Bolschewiki betrieben Propaganda für den Kommunismus, steuerten aber praktisch auf den Staatskapitalismus zu –die einzige Form der bürgerlichen Produktionsweise, die damals in der UdSSR möglich war. Ein paradoxes Bild: Während die Menschewiki eine rein bürgerliche Revolution forderten, waren sie unfähig sie durchzuführen, während die Bolschewiki eine bürgerliche Revolution unter kommunistischen Losungen durchführten! Aber dennoch entstanden im unterentwickelten Russland die materiellen Voraussetzungen des Rätekommunismus zum ersten Mal : Die Arbeiterräte als Organe der proletarischen Selbstorganisation, und zwar schon in der Revolution von 1905. Und die Rätebewegung leistete 1921 in Form des Kronstädter Aufstandes Widerstand gegen den bürokratischen Bol-schewismus! Die gering entwickelten bürgerlich-industriellen Produktivkräfte und die Arbeiter als deren menschliche Bestandteile verhinderten nicht den Ansatz einer proletarischen Revolution gegen die staatskapitali-stische Entwicklung. Aber die zahlen-mässige Schwäche der russischen Arbeiter als Folge der rückschrittlichen Entwicklung der Produktivkräfte begünstigte ihre Niederlage und den Sieg der Bolschewiki. Die Produktions-verhältnisse und Produktivkräfte bestimmen eben eine revolutionäre Situation dynamisch und nicht schematisch!
Die Entwicklung der Produktivkräfte wird von einigen Rätekommunisten etwas zu absolut gesehen, die Tatsa-che, dass die proletarische Selbstorganisation –eine genauso wichtige Voraussetzung des Kommunismus –auch in industriell eher schwach entwickelten Ländern wie in Russland ein hohes Ausmass annahm wird ausgeblendet. Aber wir stimmen unseren Genossen aus Russland darin zu, dass der Kommunismus die Produktivkräfte enorm weiterentwickeln wird.
Auch dem Rätekommunisten Cajo Brendel unterliefen in seinem Buch über Anton Pannekoek bei der Analyse der russischen Revolution einige schematische Fehler. Er verabsolutierte die Unterentwicklung Russlands. So schrieb er: „In Russland sind die Arbeiterräte zum ersten Mal in der Geschichte aufgetreten. Auf ihre Bedeutung weist Lenin –verbal –als einer der ersten hin. Aber trotz dieses Lippenbekenntnisses nehmen die Bolschewiki die faktisch gar nicht in das leninistische System hineinpassenden Arbeiterräte gar nicht ernst. Pannekoek nimmt sie ernst. Diese vollkommen gegensätzliche Einstellung entspringt Pannekoeks Stellung als Westeuropäer. Sie ist eine Folge dessen, dass die Arbeiterräte in Russland zu einem Zeitpunkt entstanden, zu dem dieses Land am Anfang seiner kapitalistischen Entwicklung stand und man folglich mit Arbeiterräten nichts anzufangen wusste." (Cajo Brendel, Anton Pannekoek, S. 164.) Der erste Fehler ist, dass Genosse Cajo aus einem klassenmässigen Unterschied einen geographischen macht. Lenin konnte als kleinbürgerlicher Radikaler die Bedeutung der Räte genauso wenig erkennen wie die kleinbürgerlichen Reformisten der westeuropäischen Sozialdemokratie –im Unterschied zu den osteuropäischen Matrosen von Kronstadt, die sehr viel mit Räten „anzufangen wussten"! Nicht, weil Pannekoek Westeuropäer war, sondern weil er Theoretiker der proletarischen Revolution war, erkannte er die Bedeutung der Arbeiterräte im Gegensatz zum kleinbürgerlich-bürokratischen Bolschewismus.
Der zweite Fehler ist, dass er die ökonomische Rückständigkeit Russlands nicht nur als Grund für die soziale Schwäche der russischen Arbeiterklasse und das schliessliche Unterliegen der russischen Rätebewegung im Kampf mit dem Bolschewismus erklärt –worin wir mit ihm einig sind –sondern es schimmert auch in solchen Sätzen die Ansicht durch, die Bolschewiki wären in erster Linie deshalb konterrevolutionär aktiv geworden, weil sich in ihnen die osteuropäische Rückständigkeit widerspiegele. Cajos dritter Fehler ist, dass er die Bedeutung der russischen Rätebewegung für die Geschichte des internationalen proletarischen Befreiungskampfes unerschätzt und die Bedeutung der ökonomischen Rückständigkeit Russlands für diesen zu schematisch sieht. Trotz-ki schrieb: „Dass die Sowjets –wir wollen es hier gleich sagen –nicht einfach eine Ausgeburt der historischen Verspätung Russlands, sondern vielmehr ein Produkt der kombinierten Entwicklung darstellen, beweist allein schon die Tatsache, dass das Proletariat des industriellsten Landes, Deutschlands, während des revolutionären Aufstieges von 1918/19 keine andere Organisationsform gefunden hat, als die der Räte." (Leo Trotzki, Geschichte der russischen Revolution, S. 22.) Trotzki hatte hier völlig recht. Aber die russische ArbeiterInnenklasse war nur eine zahlenmässig schwache Klasse, die nur wenige Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachten. Deshalb konnte sie ihre Revolution nicht siegreich zu Ende führen, und konnten von den Bolschewiki –unter anderem auch von Trotzki –besiegt werden.
Die Lehren der russischen Revolution fasst die 67. These über den Bolschewismus wie folgt zusammen: „Der Bolschewismus ist darum als Orientierung der revolutionären Politik des internationalen Proletariats nicht nur untauglich, sondern er ist eines ihrer schwersten und gefährlichsten Hemnisse. Der Kampf gegen die bolschewistische Ideologie, gegen die bolschewistischen Praktiken und demnach gegen alle politischen Gruppen, die ihn erneut im Proletariat verankern wollen, ist eine der ersten Aufgaben im Kampf um die revolutionäre Neuorientierung der Arbeiterklasse. Proletarische Politik kann nur vom Boden der proletarischen Klasse aus und mit den ihr gemässen Methoden und Organisationsformen entwickelt werden." Auch für uns besitzt die russische Revo-lution eine wichtige Lehre, nämlich die, dass nicht Mythen, blutleere Programme des einen oder anderen Ismus oder revolutionäre Führungen, sondern der selbst organisierte Kampf der Arbeiter die Perspektive auf eine klassenlose kommunistische Gesellschaft bietet. Die russische Arbeiterklasse war unter widrigen Bedingungen zum Kampf gezwungen und dennoch wandte sie sich im hohen Bewusstsein gegen alle bürgerlichen Lager, einschliesslich des Bolschewismus. Der Bolschewismus stellt nur noch eine tote konterrevolutionäre Doktrin dar, aber der proletarischen Selbstorganisation muss die Zukunft gehören, sofern wir frei sein wollen. Für den Kommunismus!
„Wenn der Sozialismus die
Entfaltung der autonomen Tätigkeit der Massen ist und wenn die Ziele
dieser Tätigkeit und ihre Formen nur aus der Erfahrung hervorgehen
können, die die Arbeiter selber mit der Ausbeutung und Unterdrückung
haben, kann es weder darum gehen, ihnen ein ‚sozialistisches
Bewußtsein‘, das durch eine Theorie hergestellt wurde, einzuimpfen,
noch darum, daß man an ihre Stelle tritt, wenn es um die Führung der
Revolution oder den Aufbau des Sozialismus geht." Socialisme ou
Barbarie
Hier noch einige Literaturempfehlungen unsererseits zum Themenkomplex der Oktoberrevolution und des Bolschewismus:
Pannekoek, Mattick u.a. „Marxistischer Antileninismus", ça ira Verlag, 1990
Maurice Brinton „Die Bolschewiki und die Arbeiterkontrolle. Der Staat und die Konterrevolution", Verlag Association, 1976
Pannekoek, Mattick u.a. „Partei und Revolution", Kramer Verlag; Volin "Die unbekannte Revolution", Libertäre Assoziation (trotz einiger moraltriefender anarchistischer Gefühlsduselei)
Gruppe Internationaler Kommunisten, „Thesen über den Bolschewismus", Kollektiv Verlag
Red Devil, „Die Kronstadt-Rebellion. Alle Macht den Sowjets, nicht den Parteien!"
Einige dieser Bücher und Broschüren sind bei uns erhältlich, die anderen allesamt über das Internet unter www.zvab.de beschaffbar.
Folgende Homepages sind empfehlenswert:
* Collective Action Notes: www.geocities.com/CapitolHill/Lobby/2379/
* Cajo Brendels Homepage: www.members.partisan.net/brendel
* Left wing communism – an infantile disorder?: http://www.left-dis.nl/
* Council Communist Archive Kurasje: http://kurasje.tripod.com/eng/start.htm
* Unabhängige Rätekommunisten: www.geocities.com/raetekommunismus/
** Folgende Broschüren der
Bibliothek des Widerstandes sind erhältlich: Auschwitz als Alibi.
Kritik des bürgerlichen Antifaschismus (Euro 3,40) * Die
Kronstadt-Rebellion. Alle Macht den Sowjets, nicht den Parteien!
(Charakter und Bedeutung der Kronstadt-Rebellion 1921; Euro 2,30) * 17.
Juni 1953 – Arbeiteraufstand oder Konterrevolution? (Euro 4,10) *
Frankreich 1968: Rebellion im Herzen der Bestie (Klassenkämpfe in
Frankreich 1968 bis heute; Euro 4,10) * Welche Perspektive hat die
Anti-Globalisierungsbewegung? Eine not-wendige Kritik (Euro 2,00). Zu
bestellen gegen Vorauskasse bei: Revolution Times, Post-lagernd, 23501
Lübeck, Deutschland ** Homepage: www.geocities.com/revolutiontimes/ **
Folgende Ausgaben der Sozialen Befreiung sind erhältlich: Terror des
Kapitals I. Vom Kapitalismus zur klassenlosen Gesellschaft!
Beschreibung einer Möglichkeit in drei Bän-den (Band I: Euro 7,00). **
Zu bestellen bei: Soziale Befreiung, Postlagernd, 36433 Bad Salzungen
** Homepage: www.geocities.com/sozialebefreiung/ ** Homepage der
Unab-hängigen Rätekommunisten: www.geocities.com/raetekommunismus/
„Es war der bolschewistische Staat, der die wirklichen Interessen der
Arbeiter kannte und vertrat, auch dann, wenn dies den Arbeitern selbst
nicht bewußt sein sollte. Wenn notwendig, mußten die Interessen der
Arbeiter gegen die Arbeiter selbst verteidigt werden..." Paul Mattick
in „Der Leninismus und die Arbeiterbewegung des Westens", 1970
„Wenn das Proletariat selbst die notwendigen Bedingungen einer sozialistischen Organisierung der Arbeit nicht zu schaffen weiß, kann niemand das ans einer Stelle tun! ... Der Sozialismus und die sozialistischen Organisationen werden vom Proletariat selbst oder überhaupt nicht geschaffen werden; sondern stattdessen nur Staatskapitalismus." Osinski, April 1918 in der Zeitung „Kommunist"
V.i.S.d.P.: Petritschenkow, Straße der Kommune 1871, 13333 Berlin
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