Der Kommunismus ist die materielle menschliche Gemeinschaft.
Amadeo Bordiga heute
von Loren Goldner
Vorwort (Wildcat)
Vulgärmarxismus oder Kommunismus
Laßt euch durch den Titel von Loren Goldners Text nicht irreführen! Loren benutzt Leben und Werk von Amadeo Bordiga als Aufhänger und seine zuweilen etwas länglichen Ausführungen über dessen Leben und Ansichten sollten euch nicht den Blick trüben: Loren macht viele neue Fenster darauf auf, wie wir uns die Frage nach der Revolution und dem Kommunismus heute stellen können.
Der Text wurde im Jahr 1991 geschrieben. Wie der praktisch gleichzeitig entstandene Text von Riccardo Bellofiore: Plan, Kapital, Demokratie (in Zirkular Nr. 1) versucht er, die Situation nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zu verstehen (Warum führte der Zusammenbruch des »Realsozialismus« nicht zu einem revolutionären Durchbruch?) und der Krise des Marxismus und der revolutionären Theorie überhaupt entgegenzutreten. Wo Riccardo Bellofiore überzeugend nachweist, daß planwirtschaftliche Vorstellungen der Zweiten Internationale nichts mit der Marx'schen Kritik der kapitalistischen Ökonomie zu tun haben, macht Loren Goldners die These Bordigas zum Angelpunkt seiner Überlegungen, der Kapitalismus sei gleichbedeutend mit der Agrarrevolution, d.h. der Kapitalisierung der Landwirtschaft.
Die Überlegungen finden zwar auf ganz unterschiedlichen Ebenen statt, sind aber ähnlich: eine oberflächliche Kritik an der »Bürokratisierung« oder der »stalinistischen Konterrevolution« reicht nicht aus, die Kritik muß bereits an den Wurzeln des Vulgärmarxismus der Zweiten Internationale ansetzen: Diese auf den Staat fixierte »marxistische Ideologie« preußischer Beamter wurde zur Ideologie der nachholenden bürgerlichen Revolution, d.h. der Durchsetzung des Kapitalismus in Agrarländern.
Damit kann Loren gleichzeitig zeigen, warum die russische Revolution von 1917-21 erst zum zentralen Bezugspunkt für Generationen von Revolutionären werden konnte, aber seit Mitte der 70er Jahre ausgedient hat: weil spätestens mit dem Aufstieg neuer Industrieländer in Asien sich Lenins Imperialismustheorie nicht einmal mehr als Grundlage der Ideologie der nachholenden Entwicklung halten läßt. Die Kommunistischen Parteien in den Metropolen gehen gerade dann zugrunde, wenn die Bauern nur noch zirka 5 Prozent der Bevölkerung ausmachen.
Loren zeigt, daß der Kommunismus keine Frage von Parteien, Ländern und Strategien ist, sondern ein gesellschaftlicher Prozeß, unser gesellschaftliches Verhältnis zu unserer eigenen materiellen Reproduktion.
Die Frage nach dem Kommunismus stellt sich somit heute aktuell.
Der Kommunismus ist die materielle menschliche Gemeinschaft.
Amadeo Bordiga heute
von Loren Goldner
Seit vielen Jahrzehnten ist für revolutionäre MarxistInnen klar, daß die gesellschaftliche Wirklichkeit in der Sowjetunion, China und den anderen sogenannten »sozialistischen« Gesellschaften in völligem Widerspruch zu Marx' Projekt der Befreiung der Arbeiterklasse und der Menschheit steht. Viele TheoretikerInnen - von Rosa Luxemburg in »Die Russische Revolution« von 1918 bis zu Mattick, Korsch, Bordiga, Trotzki, Shachtman oder CLR James (um nur einige zu nennen) - haben sich angestrengt, die berühmte »russische Frage« zu beantworten: nämlich was die Niederlage der russischen Revolution und der internationale Erfolg des Stalinismus für MarxistInnen bedeuten. Die in dieser Debatte geäußerten Ansichten waren derart unterschiedlich, daß vor allem Winston Churchill - dem man wohl keine Nähe zum Marxismus und zur Linken nachsagen kann - recht zu behalten schien, der das Sowjetsystem als »doppelt in ein Mysterium verpacktes Rätsel« bezeichnet hatte. Alle heutigen Nachlaßverwalter der Theorien vom »degenerierten Arbeiterstaat«, »Staatssozialismus«, »bürokratischen Kollektivismus«, »Staatskapitalismus« oder von der »Übergangsgesellschaft« haben ihre Analysen und Erklärungen über den Niedergang des Ostblocks nach 1989 - viele davon dienen vor allem der Selbsttröstung. Mit dem für die marxistische Tradition typischen gemäßigten Optimismus meinten die meisten dieser Strömungen (wie auch ich), der Hauptkonkurrent der todgeweihten stalinistischen Bürokratie werde die revolutionäre Arbeiterklasse sein, die jetzt endlich für den wirklichen Sozialismus kämpfen werde. Kaum jemand - und am allerwenigsten die Trotzkisten, die meinten, daß die gesellschaftlichen Grundlagen des Ostblocks denen des Westens überlegen seien - sah voraus, daß auf die Stalinisten nicht der revolutionäre Marxismus folgen würde, sondern ein blind prowestlicher Neoliberalismus im Geiste von Hayek und Friedman und wiederauferstandene rechtsautoritäre Strömungen aus der Zwischenkriegszeit (wobei Ex-Stalinisten in beiden Strömungen eine große Rolle spielten). Erst recht erwartete kaum jemand, daß die Abschaffung der gesellschaftlichen Grundlagen des Stalinismus den Marxismus selbst in eine tiefe Krise stürzen würde. Aber da die Krise des Ostblocks nicht Sowjets und Arbeiterräte auf den Plan ruft, sondern Blut-und-Boden-Populismus, mörderischen Nationalismus, Regionalismus, religiösen Fundamentalismus und Antisemitismus (autoritäre Strömungen, die den Resten der linken Opposition mühelos das Wasser abgraben, wenn es um die Kanalisierung von Bewegungen gegen den IWF und den Markt geht), wird deutlicher denn je, daß dringend auch ein Großteil der Begriffe überprüft werden muß, mit denen sich revolutionäre MarxistInnen in Ost und West die Weltgeschichte seit 1917 erklären.
Der folgende Artikel soll einen bescheidenen Beitrag dazu leisten. Er stellt die kaum bekannten Ansichten des italienischen Marxisten Amadeo Bordiga über das Wesen der Sowjetunion vor (Bordiga ist, wenn überhaupt, als einer der »Ultralinken« bekannt, die Lenin in Der »Linke Radikalismus«, die Kinderkrankheit im Kommunismus denunzierte). Allgemeiner soll es um die These gehen, daß die - nach Bordigas Auffassung für den Kapitalismus zentrale - Agrarfrage den eigentlichen, aber kaum diskutierten Schlüssel zur Geschichte der beiden großen Deformationen des Marxismus im 20. Jahrhundert darstellt: der Sozialdemokratie und des Stalinismus. Der Artikel soll zeigen, daß die europäische (und v.a. deutsche) Sozialdemokratie, obwohl sie scheinbar eine marxistische Sprache sprach, selbst eine etatistische Entstellung des Marx'schen Projekts darstellte und eher als Schule für eine höhere Stufe des Kapitalismus, nämlich den entstehenden keynesianischen Sozialstaat diente. Was heute zu Ende geht, ist also ein langer etatistischer Umweg in der Geschichte der Emanzipation der Arbeiterklasse, der in Wirklichkeit viel mehr mit einem Ersatz für die bürgerliche Revolution zum Zweck der Industrialisierung zurückgebliebener Gesellschaften zu tun hatte als mit dem Sozialismus oder dem Kommunismus. Das traditionelle beschönigende Bild von der historischen deutschen Sozialdemokratie vor dem Triumph des »Revisionismus« läßt sich nicht halten, weil es heute voll in eine Sackgasse führt. Die Geschichte ist der Theorie immer voraus und räumt die Trümmer des etatistischen Erbes der Sozialdemokratie und des Stalinismus aus dem Weg. Die Frage, wie es möglich war, daß sich das Marx'sche Projekt seit den 1860er Jahren immer tiefer in das etatistische Projekt des aufgeklärten Absolutismus und dessen Verständnis von Aufklärung [im Original deutsch] [*] verstrickte, ist heute drängender denn je. Noch drängender ist natürlich die Frage, wie es sich aus dieser Verstrickung wieder befreien kann.
Die Zentralität der Agrarfrage in der Sowjetunion ist eigentlich kein neues Thema. Im akademischen Rahmen hat sich z.B. Barrington Moore schon vor langem damit beschäftigt. [1] Aber in den 60er Jahren, als Moores Buch herauskam, galt allgemein immer noch die Entwicklung der Industrie als wesentliche Bestimmung des Kapitalismus, und da Moore ansonsten nur einen müden Abklatsch von Trotzkis Theorien der permanenten Revolution und der kombinierten und ungleichen Entwicklung vertrat, hinterließ sein Buch in der marxistischen Diskussion keine besonderen Spuren. Adam Ulam, erst recht kein Marxist, hatte im Kalten Krieg geschrieben, der wirkliche Inhalt der marxistischen Bewegung sei die Agrarfrage; [2] er wollte damit den »Marxismus« (den er mit der Sowjetideologie gleichsetzte) diskreditieren, indem er zeigte, daß dieser nicht ein Produkt des Kapitalismus, sondern der Unterentwicklung sei. Auch Gerschenkron, der historisch viel mehr hergibt als Ulam, wirkte wie ein Schatten Trotzkis. [3]
Kein Buch im 20. Jahrhundert hat die Ansichten der MarxistInnen zur Agrarfrage stärker beeinflußt als Preobraézenskijs Neue Ökonomik, das trotz all seiner Fehler wesentlich zum Verständnis der Entwicklung der internationalen linken Opposition ist. [4] Preobraézenskijs Begriff der »sozialistischen Akkumulation« auf Kosten der Bauernschaft wiederum stammte zum großen Teil aus Rosa Luxemburgs Akkumulation des Kapitals. Preobraézenskij behauptete, daß der »Arbeiterstaat« das, was der kapitalistische Staat historisch blind und blutig durchgesetzt hatte, nämlich die Verwandlung der agrarischen KleinproduzentInnen in FabrikarbeiterInnen, bewußt und human durchsetzen könne (es blieb Stalin vorbehalten, diesen Prozeß bewußt und blutig durchzusetzen).
Im Rahmen dieser Diskussion haben für die meisten westlichen Linken die Ideen des faszinierenden Charakters Amadeo Bordiga kaum eine Rolle gespielt. Bordiga, erster Generalsekretär der Kommunistischen Partei Italiens (PCd'I; ab 1943 PCI) und ihr wichtigster Gründer, war der letzte westliche Revolutionär, der Stalin (1926) ins Gesicht sagte, er sei der Totengräber der Revolution, und das überlebte. Im selben Jahr wurde er aus dem PCd'I ausgeschlossen und nahm einige tausend »Bordigisten« mit. 1928 wählte die »Italienische Kommunistische Linke« (wie sie sich selbst nannte) Trotzki zum »Chef der Internationalen - linke Opposition«. Daran schloß sich eine langwierige Auseinandersetzung zwischen Bordiga und Trotzki an, die etwa 1931/32 in einem vollständigen Zerwürfnis endete. Aber Bordiga ist einer der originellsten, brillantesten und dabei am meisten vernachlässigten Marxisten des Jahrhunderts (anders als Gramsci ist Bordiga für den PCI nach dem zweiten Weltkrieg immer unverdaulich geblieben). Während des Kriegs blieb er in Italien (nachdem ihn die Komintern auf die übliche Weise ausgeschlossen und verleumdet hatte, wurde er von Mussolini eine Zeitlang ins Gefängnis gesperrt und widmete sich dann seinem Ingenieursberuf). Aber aus heutiger Sicht wird Bordigas Werk eigentlich erst nach dem zweiten Weltkrieg wirklich interessant. Er lebte bis zu seinem Tod 1970 praktisch als Unbekannter und schrieb sogar noch einige Artikel über die revolutionäre Bewegung 1968. Nach dem Krieg betrachtete er es als seine Mission, die theoretischen Lehren der weltweiten revolutionären Welle von 1917-21 zu bewahren. Wie fast alle antistalinistischen Revolutionäre meinte er 1945, daß dazu das »russische Geheimnis« gelöst werden müsse, und er schrieb drei (nie ins Englische übersetzte, aber auf französisch erschienene) Bücher über die russische Revolution und die sowjetische Wirtschaft. [5] Außerdem schrieb er eine dreibändige Geschichte der Italienischen Kommunistischen Linken (seiner eigenen Fraktion; leider endet das Buch 1921) und viele kleine Broschüren und Abhandlungen. [6] Die meisten seiner Texte sind in einem überladenen und unlesbaren Stil verfaßt, aber sie lohnen sich. Das Ungewöhnliche und merkwürdig Aktuelle an Bordigas Ansichten war ganz einfach seine Theorie, daß Kapitalismus gleich Agrarrevolution sei. Zu dieser Ansicht war er wahrscheinlich schon vor 1914 gekommen; einige seiner frühesten Artikel beschäftigen sich mit den Positionen der französischen und italienischen Sozialisten zur Agrarfrage. [7]
Bordigas Spur ist nicht ganz leicht zu folgen; er glaubte an »revolutionäre Anonymität«, verabscheute jeden Persönlichkeitskult und zeichnete seine Texte und Bücher oft nicht namentlich. 1967 wurde eine bordigistische Einschätzung der russischen Revolution unter dem Titel An den Rändern des 50. Jahrestages des Oktober 1917 veröffentlicht. [8] Sie bewegt sich völlig außerhalb der üblichen Stalin-Trotzki-Polemiken (über den Staatskapitalismus) in den USA, Britannien, Frankreich und Deutschland (z.B. spricht Bordiga nie von »Staatskapitalismus« und kaum von »Sowjetunion«, da die Sowjets dort ja schon längst zerschlagen worden waren). Für ihn gab es einfach den russischen Kapitalismus, der sich nicht nennenswert von jedem anderen unterschied.
Es war erfrischend, wie Bordiga sich bemühte, das Augenmerk der internationalen revolutionären Bewegung von Rußland abzulenken. Er sagte, die Arbeiterbewegung habe in der Geschichte schon vorher (z.B. nach 1848 mit Louis Napoleon) Konterrevolutionen erlebt, und an Rußland sei nichts Besonderes. Seine 25jährige Konzentration auf die russische Wirtschaft straft diese Kaltblütigkeit allerdings Lügen (interessanterweise hatte er 1945 auch eine lange Phase von kapitalistischer Expansion und Arbeiterreformismus vorhergesagt, die ab 1975 in der nächsten Weltkrise enden sollte). [9] Bordigas Rußland-Analyse sah (nach 1945) folgendermaßen aus: Hatte seine Fraktion im Fraktionskampf der 20er Jahre noch Trotzki total unterstützt, hauptsächlich aus Gründen, die mit der Außenpolitik der Sowjetunion bzw. der Komintern zu tun hatten, ging die bordigistische Analyse aus letztlich »bucharinistischen« Gründen auf Distanz zur Superindustrialisierungsstrategie der Linken Opposition. Nach 1945 meinte er, daß nur so etwas wie Bucharins Strategie noch irgend eine Hoffnung geboten hätte, den internationalen revolutionären Charakter des Regimes zu bewahren (was Bordiga wichtiger war als die Industrialisierung Rußlands), da sie die bolschewistische Partei nicht kaputtgemacht hätte. Bucharin hatte während der Fraktionskämpfe zwischen 1924 und 1928 gesagt, daß sich Trotzkis linke »Superindustrialisierungsstrategie« nur von der monströsesten Staatsbürokratie umsetzen ließe, die die Geschichte je gesehen habe. [10] Als Stalin das Programm der Linken stahl und in die Praxis umsetzte, bestätigte sich vollkommen, daß Bucharin recht gehabt hatte, wie Trotzki hinter vorgehaltener Hand selbst zugab, nachdem der größte Teil seiner Fraktion Stalin gegenüber kapituliert hatte. [11] Bordiga nahm den Gedanken des internationalen Charakters der Revolution und des Sowjetregimes vielleicht sogar noch ernster als Trotzki; für ihn war die Idee eines »Sozialismus in einem Land« ein grotesker Schlag ins Gesicht all dessen, wofür der Marxismus stand, und damit hatte er natürlich recht. Bei seiner letzten Konfrontation mit Stalin in Moskau 1926 schlug Bordiga vor, daß alle Kommunistischen Parteien der Welt zum Zeichen der supranationalen Realität der Arbeiterbewegung die Sowjetunion gemeinsam regieren sollten. [12] Es muß wohl nicht gesagt werden, daß Stalin und seine Freunde diesen Vorschlag kühl aufnahmen.
Aber das ist nur der Anfang. Bordigas Schriften über das kapitalistische Wesen der Sowjetökonomie konzentrieren sich im Gegensatz zu denen Trotzkis zum großen Teil auf den Landwirtschaftssektor. Er wollte zeigen, daß in der Kolchose, das heißt der LPG, und in der Sowchose, d.h. dem mit normaler Lohnarbeit betriebenen Staatsgut, kapitalistische Gesellschaftsverhältnisse herrschten. [13] Er hob hervor, daß ein großer Teil der Agrarproduktion von den kleinen Privatparzellen abhing (das schrieb er 1950), und sagte ziemlich akkurat voraus, in welchem Umfang die Sowjetunion, die von den 1880er Jahren bis 1914 ein großer Weizenexporteur gewesen war, anfangen würde, Weizen zu importieren.
Daß Bordiga den Industriesektor herunterspielte und die Landwirtschaft betonte, ergab sich wie gesagt aus theoretischen und strategischen Überlegungen, die noch aus der Zeit vor der russischen Revolution stammten. Für Bordiga bedeutete Kapitalismus ja in erster Linie Agrarrevolution, Kapitalisierung der Landwirtschaft. Aus diesen Überlegungen heraus verstand Bordiga Bucharin ganz anders als die meisten revolutionären Gegner des Stalinismus. Bordiga führte eine neuartige Unterscheidung zwischen Lenin und Trotzki ein. Die meisten Leute, die zwischen Lenin und Trotzki unterscheiden, sind Stalinisten und Maoisten. Aber Bordiga dreht die Fragestellung der Stalinisten völlig um. Bordiga bezeichnet die russische Revolution mit einem Ausdruck von Lenin als »doppelte Revolution« [14], in der die politische Machtergreifung durch das Proletariat es möglich machte, die unerfüllten Aufgaben der bürgerlichen Revolution zu erfüllen, vor allem die Zerstörung der vorkapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse in der Landwirtschaft. Der große Prototyp der bürgerlichen Revolution war zweifellos der August 1789 in Frankreich. Die Trotzkisten hatten immer gesagt, Lenin sei im April 1917 »ein Trotzkist geworden«, da er die These von der permanenten Revolution übernommen habe. In Wirklichkeit war Lenin aber in Nuancen anderer Meinung gewesen als Trotzki. Das zeigte sich daran, wie er zwischen 1920 und 1922 das Wesen des neuen Regimes beschrieb, vor allem in seinen bemerkenswerten Reden vor dem Parteikongreß 1921, wo er gegen die Erste Arbeiteropposition und ihren Vorwurf polemisierte, im Sowjetstaat herrsche der »Staatskapitalismus«. Lenin antwortete: »Der Staatskapitalismus wäre ein Schritt vorwärts gegenüber der jetzigen Lage der Dinge in unserer Sowjetrepublik«, denn in Wirklichkeit herrsche ein Kleinproduzentenkapitalismus, in dem eine politische Partei der Arbeiterklasse den Staat kontrolliere. [15]
Für Bordiga hieß das, daß, sobald dieser politische Ausdruck der Arbeiterklasse durch den Stalinismus zerstört war, nur noch der Kleinproduzentenkapitalismus übrig blieb. Wenn Lenin Anfang der 20er Jahre vom »Arbeiterstaat mit bürokratischen Deformierungen« sprach, meinte er etwas ganz anderes als Trotzki mit demselben Ausdruck 1936. An dieser Stelle kann und muß ich nicht die ganze Geschichte aufrollen, wer was über diese Frage sagte. Hinter den unterschiedlichen strategischen und taktischen Einschätzungen stehen zwei entgegengesetzte Auffassungen vom Marxismus. Wichtig ist, daß für Trotzki und die Trotzkisten der permanente Charakter der Revolution in »Eigentumsformen« geronnen war und sich später im Wachstum der Produktivkräfte ausdrückte. [16] Für Bordiga war das Wachstum der Produktivkräfte nur ein Beweis für den bürgerlichen Charakter des Sowjetphänomens. Er drehte die Argumentation der Stalinisten völlig um, indem er sagte, das Problem sei nicht, daß Trotzki die Bauernschaft »unterschätzt« habe, sondern daß er die Möglichkeit überschätzt habe, daß die Bauern und die Agrarrevolution der Kleinproduzenten irgendetwas mit einer proletarischen Revolution zu tun haben könnten.
Bordiga hielt Stalin und später Mao, Ho usw. für »große romantische Revolutionäre« im Sinne des 19. Jahrhunderts, d.h. für bürgerliche Revolutionäre. [17] Er meinte, daß die nach 1945 entstehenden stalinistischen Regimes nur die bürgerliche Revolution fortführten (Enteignung der Klasse der preußischen Junker durch die Rote Armee; Agrarpolitik; Entwicklung der Produktivkräfte). Auf die Thesen der französischen linksradikalen Gruppe Socialisme ou Barbarie, die das Regime nach 1945 als staatskapitalistisch denunzierte, antwortete Bordiga mit einem Artikel »Avanti Barbari!« (»Vorwärts Barbaren!«), der die bürgerlich-revolutionäre Seite des Stalinismus als seinen einzigen wirklichen Inhalt feierte. [18] (Man muß nicht mit Bordiga übereinstimmen, um anzuerkennen, daß dieser Standpunkt konsequenter war als die Dummheit der trotzkistischen Analyse nach 1945, die meinte, die Stalinisten in Osteuropa, China oder Indochina seien zitternde »Reformisten«, die den Ausverkauf an den Imperialismus betrieben.)
Der Fortschritt gegenüber Trotzki besteht bei Bordiga vor allem in der Kritik an der in den Trotzkismus und seine Abarten eingeschmuggelten Annahme, daß Stalin und der Stalinismus ein »Zentrum« zwischen der bucharinistischen Rechten und einer trotzkistischen Linken darstellten. Es ist kaum vorstellbar, daß ein Sieg der bucharinistischen »Rechten« in der Industrialisierungsdebatte der internationalen Arbeiterbewegung mehr Schaden zugefügt hätte als der tatsächliche Triumph des stalinistischen »Zentrums«. Wer aber unkritisch eine Kontinuitätslinie von Marx bis zu Trotzki nach 1924 ziehen möchte, erklärt sich stillschweigend mit diesem Bild eines Spektrums »von links bis rechts« mit allen Konsequenzen einverstanden.
1936 schrieb Trotzki: »Der Sozialismus hat gezeigt, daß er das Recht hat, zu siegen, nicht auf den Seiten des Kapitals ..., sondern in den Sprachen von Stahl, Beton und Elektrizität.« [19] Mit der Anwendung der Theorie der permanenten Revolution nicht nur auf die Gründung der Sowjets (1905, 1917), sondern auch auf staatliche Eigentumsformen und schließlich auf die Entwicklung der Produktivkräfte selbst, trieb Trotzki den Marxismus der Zweiten und Dritten Internationale, den ich als »Ersatz für die bürgerliche Revolution« charakterisieren würde, auf die Spitze.
Die Nachkriegstrotzkisten (für die Trotzki natürlich nichts kann) sahen die Industrialisierung der stalinistischen Regimes zu einer Zeit, als in der Dritten Welt nirgendwo Zeichen von Entwicklung zu sehen waren, als endgültigen Beweis für ihren deformierten sozialistischen Charakter. Gegen diese Haltung sagte Bordiga: »Den Kommunismus baut man nicht auf.« Die »Entwicklung der Produktivkräfte« sei nicht die Aufgabe der Kommunisten. Er fügte hinzu: »Es stimmt genau, daß in der Sowjetunion die 'Grundlagen des Sozialismus' errichtet werden.« Genau das bewies seiner Meinung nach den bürgerlichen Charakter des Regimes.
Ein wichtiges Beispiel für eine Strömung, die mit der pro-stalinistischen Voreingenommenheit des Trotzkismus brachen, ohne das Vermächtnis der Fraktionskämpfe der 20er Jahre zu untersuchen, war die Shachtman-Tradition mit ihrer Analyse, daß in der Sowjetunion der »bürokratische Kollektivismus« herrsche. Zumindest in den 40er Jahren schrieb sie dem Stalinismus eine welterobernde Dynamik zu [20] und meinte, daß der Stalinismus eine ganze Epoche lang mit dem Sozialismus um die Nachfolge des Kapitalismus konkurrieren werde (was die jüngste Geschichte inzwischen allerdings widerlegt hat). Außerdem geht es den Shachtmanianern immer ausschließlich um die »Demokratie«. Sozialismus verstehen sie im Prinzip als »demokratischen Kollektivismus«, also muß ohne Sozialismus und ohne die Oberfläche kapitalistischer Formen »bürokratischer Kollektivismus« herrschen. Der ganze Meinungsunterschied zwischen dieser Fraktion und dem Stalinismus und dann dem Trotzkismus drehte sich also darum, daß das, was nach 1917 oder 1921 in Rußland geschah, antidemokratisch war. Das war natürlich ein wichtiger Aspekt, aber durch diesen demokratischen Blickwinkel übernahmen die Shachtmanianer stillschweigend die ganze »Kontinuitätslinie« bis hin zu Trotzki und Trotzkis Lenin und ignorierten Bucharins Voraussagen über die Bürokratisierung des Staates (vgl. Anm. 10). Ihr ganzes Denken (die Shachtman-Tradition hat die Marx'sche Kritik der politischen Ökonomie nie zur Kenntnis genommen) drehte sich mit anderen Worten um den Gegensatz zwischen Bürokratie und Demokratie und übernahm deshalb Trotzkis Vorstellung, die sich schon in den Marxismus der Zweiten und Dritten Internationale eingeschlichen hatte, daß die bürgerliche Revolution eine ganze Reihe von »Aufgaben« habe. Niemand in der antistalinistischen revolutionären Linken außer Bordiga hielt den Versuch der »Entwicklung der Produktivkräfte« selbst für einen Beweis, daß die Sowjetunion kein irgendwie gearteter Arbeiterstaat war; für die Trotzkisten war dieser Versuch im Rahmen von Nationalisierungen und Planwirtschaft natürlich der definitive Beweis dafür, daß sie ein Arbeiterstaat war.
Aber Bordiga ging weiter. Als Ingenieur legte er eine theoretische Strenge an den Tag, die nervte, die ihm aber auch erlaubte, die Dinge anders zu sehen. Im Kern glaubte er, daß das »kommunistische Programm« ein für alle Mal 1847 von Marx und Engels im Manifest festgelegt und 1848 durch das Auftauchen der kommunistischen Strömung in der Arbeiterbewegung in Frankreich und anderswo bestätigt worden sei. Im wesentlichen dachte er, daß Marx und Engels eine »unveränderliche« Methode ausgearbeitet hätten und daß »Erneuerer« sich früher oder später immer als schlaue bürgerliche Philister auf dem Weg zum Bernsteinismus oder so etwas ähnlichem herausstellen würden. Aber dieses rührende Bestehen auf den 1848 niedergelegten Prinzipien führte ihn zu erstaunlichen Schlußfolgerungen über eine ganze, ebenfalls so gut wie verloren gegangene Dimension der marxistischen Tradition. Bordiga glaubte, daß alles Wichtige über die russische Frage bereits bis zu Marx' Tod 1883 gesagt worden sei. [21]
Das große Interesse von Marx für Rußland zeigte sich daran, daß er in den 1870er Jahren mit den Populisten korrespondierte, daß er bei seinem Tod zwei Kubikmeter Notizen über die Landwirtschaft in Rußland hinterließ (er stellte das Kapital nicht fertig, weil ihn in den letzten 10 Jahren seines Lebens die Agrarfrage in Rußland immer stärker beschäftigte), und an den verschiedenen neuen Vorworten zum Manifest und anderen Schriften aus der Zeit zwischen 1878 und 1883. (Sogar Engels durfte nicht wissen, wie sehr ihn Rußland interessierte, und platzte vor Wut, als er erfuhr, daß die Arbeiten an der russischen Frage der wahre Grund dafür waren, daß Marx mit dem Kapital nicht fertig wurde.) [22]
Das Wichtige für Bordiga war, daß Marx die russische Dorfgemeinschaft entdeckt hatte und zwischen 1878 und 1881 glaubte, Rußland könnte auf der Grundlage der Dorfgemeinschaft die kapitalistische Phase der Geschichte buchstäblich überspringen, sogar ohne Revolution im Westen, und die Bauern vor der Kapitalisierung der Landwirtschaft könnten zentral für diesen Prozeß sein. Marx schrieb (in seinem berühmten Brief von November 1877 an die Redaktion von Otetschestwennyje Sapiski: »Fährt Rußland fort, den Weg zu verfolgen, den es seit 1861 eingeschlagen hat, so wird es die schönste Chance verlieren, die die Geschichte jemals einem Volk dargeboten hat, um dafür alle verhängnisvollen Wechselfälle des kapitalistischen Systems durchzumachen.« [23] Bis zu seinem Tod hatte Marx schon entschieden, daß Rußland die Chance verpaßt hatte, und das sagte er auch den russischen Populisten.
Für Bordiga war das vorstehende Zitat das marxistische Vermächtnis zur »russischen Frage« und »der ganze blutige Prozeß der kapitalistischen Akkumulation« eine von Stalin erfüllte Prophezeiung. Diese ganze Seite von Marx' Verhältnis zu Rußland verschwand 80 oder 90 Jahre lang weitgehend in staubigen Archiven und Fußnoten, obwohl es in den letzten Jahren von Leuten wie Jacques Camatte und Teodor Shanin wiederbelebt wurde. [24]
Zu einer ehrlichen Darstellung Bordigas gehören auch einige Anmerkungen zu seiner Haltung zur Demokratie. Er selbst bezeichnete sich stolz als »Antidemokraten« und glaubte sich darin einig mit Marx und Engels (weiter unten wird klar, wie das mit der Agrarfrage zusammenhängt). Bordigas Ablehnung der Demokratie hatte nichts mit den Gangstermethoden der Stalinisten zu tun. Für ihn waren nämlich sowohl Faschismus als auch Stalinismus der Gipfel der bürgerlichen Demokratie! [25] Demokratie bedeutete für Bordiga vor allem die Manipulation der Gesellschaft als formlose Masse. Dem stellte er die »Diktatur des Proletariats« gegenüber: durchgesetzt von der 1847 gegründeten kommunistischen Partei und beruhend auf Prinzipien und Programm des Kommunistischen Manifestes. Er bezog sich oft auf den Geist von Engels' Bemerkung, daß »am Vorabend der Revolution alle Kräfte der Reaktion sich unter dem Schlachtruf der 'reinen Demokratie' uns entgegenstellen werden« (wie tatsächlich 1921 alle Fraktionen, die in Opposition zu den Bolschewiken standen, von den Monarchisten bis zu den Anarchisten, »Sowjets ohne Bolschewiken« forderten). Bordiga wandte sich vehement gegen die Vorstellung, daß der revolutionäre Inhalt aus einem demokratischen Prozeß pluralistischer Ansichten entstehen könne.
Diese Perspektive ist natürlich nicht unproblematisch, aber angesichts der Geschichte der letzten 70 Jahre unterstreicht sie zumindest die Tatsache, daß der Kommunismus (wie alle gesellschaftlichen Formationen) vor allem ein durch Formen ausgedrückter programmatischer Inhalt ist. Sie unterstreicht die Tatsache, daß der Kommunismus für Marx nicht ein zu erreichendes Ideal war, sondern eine aus der alten Gesellschaft geborene »wirkliche Bewegung« mit einer Reihe von programmatischen Aufgaben. [26]
Im Klima der Neuen Linken in den 60er Jahren, wo »ökonomische Fragen« wegen der »Wohlstandsgesellschaft« scheinbar keine Rolle mehr spielten, drehte sich die Debatte fast ausschließlich um die Gegenüberstellung Bürokratie/Demokratie und um »Organisationsformen« [27] und glitt so in einen methodischen Formalismus ab, der wenig half, als die Weltwirtschaftskrise 1973 alle Regeln des Kampfes änderte.
Als Bordiga in einem anderen Zusammenhang sagen sollte, wer im russischen Kapitalismus die Kapitalistenklasse sei, sagte er, diese existiere in den Zwischenräumen der russischen Ökonomie als sich formierende Klasse. Für ihn ergab der Begriff des Staatskapitalismus keinen Sinn, denn der Staat konnte nur ein Medium für die Interessen einer Klasse sein; wer glaube, »der Staat« könne eine Produktionsweise errichten, der verabschiede sich vom Marxismus. Für Bordiga war die Sowjetunion eine Gesellschaft im Übergang zum Kapitalismus. [28]
Diese Kritik des Formalismus hatte wiederum politische Folgen, da sie mit Bordigas Auffassung von der Rolle der kommunistischen Partei zusammenhing. Bordiga stellte sich resolut dem Rechtsschwenk der Komintern 1921 entgegen; als Generalsekretär des PCd'I weigerte er sich, die »Einheitsfrontstrategie« des 3. Kongresses umzusetzen, mit anderen Worten, er weigerte sich, den gerade gegründeten und »bordigistisch« dominierten PCd'I mit dem linken Flügel des PSI zu vereinigen, von dem er sich gerade abgespalten hatte.
Bordiga hatte eine völlig andere Auffassung von der Partei als die Komintern, die sich der revolutionären Ebbe anpaßte, welche sich 1921 durch das anglo-russische Handelsabkommen, Kronstadt, die Einführung der NEP, das Verbot der Fraktionen und die Niederlage der Märzaktion in Deutschland ankündigte. Die Strategie der westeuropäischen KPen, sich dieser Ebbe entgegenzustellen, indem sie durch die »Einheitsfront« massenhaft linke Sozialdemokraten absorbierten, sah Bordiga als völlige Kapitulation vor der seiner Meinung nach anbrechenden Zeit der konterrevolutionären Ebbe. Das war der Kernpunkt seiner Kritik der Demokratie. Im Namen der »Eroberung der Massen« schien die Komintern nämlich alle möglichen programmatischen Zugeständnisse an die linken Sozialdemokraten zu machen.
Für Bordiga bedeutete das Programm alles und Zahlen im Sinne von verkauften Eintrittskarten nichts. Die Partei hatte in Zeiten der Ebbe die Aufgabe, das Programm zu bewahren und die Agitations- und Propagandaarbeit so weit wie möglich weiterzubetreiben, bis sich die Gezeiten wieder wendeten. Es war nicht ihre Aufgabe, das Programm auf der Jagd nach kurzlebiger Popularität zu verwässern. Gegen diese Auffassung lassen sich durchaus gute Einwände ins Feld führen, sie kann in die geschlossene Welt der Sekte führen, wie es den Bordigisten unbestritten geschah. Andererseits unterstreicht sie aber eine Tatsache, die der trotzkistische Flügel der internationalen linken Opposition und seine Erben nie wahrhaben wollten: Die Grundlagen für die kritiklose Übernahme des Stalinismus durch die außerrussischen »Massenparteien« Mitte der 20er Jahre waren schon durch den Schwenk von 1921 gelegt worden. Um das einzusehen, muß man sich gar nicht auf Bordigas antidemokratischen Standpunkt stellen: Die Bedeutung der Sowjets und Arbeiterräte in Rußland, Deutschland und Italien ging völlig an Bordiga vorbei. Aber was die »soziologischen« Spätfolgen der Einheitsfront von 1921 für die westlichen KPen - ihre »Bolschewisierung« nach 1924 - anging, hatte Bordiga recht, und die Komintern hatte unrecht. Denn die soziale Basis des Stalinismus ab 1924 war historisch zum großen Teil durch die »Einheitsfront«-Taktik von 1921 in die westlichen kommunistischen Parteien hineingekommen. [29]
Mit Bordiga kann man die grundlegende Degeneration der kommunistischen Weltbewegung im Jahr 1921 (und nicht 1927 bei Trotzkis Niederlage) erkennen, ohne in bloße leere Forderungen nach »mehr Demokratie« zurückzufallen. Die abstrakte formale Perspektive Bürokratie/Demokratie, unter der die trotzkistische Tradition diese entscheidende Phase der Geschichte der Komintern behandelt, ist von jedem Inhalt losgelöst. Sein Leben lang nannte Bordiga sich einen Leninisten und polemisierte nie direkt gegen Lenin, aber seine völlig andere Auffassung von den Ereignissen von 1921 und ihren Folgen für die Komintern und seine Gegnerschaft gegen Lenin und Trotzki in der Frage der Einheitsfront beleuchtet einen Wendepunkt, den die Erben des trotzkistischen Flügels der internationalen linken Opposition der 20er Jahre meistens im Dunkeln lassen.
Bordigas Gedanke, daß der Kapitalismus mit der Agrarrevolution gleichgesetzt werden muß, ist der Schlüssel zum 20. Jahrhundert, auf jeden Fall der Schlüssel zu fast allem, was die Linke im 20. Jahrhundert »revolutionär« genannt hat, und der Schlüssel zum Überdenken der Geschichte des Marxismus und seiner Verstrickung in Ideologien der Industrialisierung zurückgebliebener Regionen der Weltwirtschaft.
Bordiga liefert natürlich nicht den Schlüssel zur »Entrussifizierung« der »Linsen«, durch die die internationale revolutionäre Bewegung die Welt sieht. Aber seine Konzentration auf die Agrarfrage liefert diesen Schlüssel, wenn man sie weiterentwickelt. Bis Mitte der 70er Jahre war die »russische Frage« mit all ihren Konsequenzen das unausweichliche »Paradigma« der politischen Perspektiven der Linken, in Europa und in den USA, und nur 15 Jahre später nimmt sie sich aus wie älteste Vorgeschichte. Damals schien das minutiöse Studium jedes einzelnen Monats der Geschichte der russischen Revolution und der Komintern von 1917 bis 1928 der Schlüssel zum Universum als Ganzem zu sein. Wenn jemand die Niederlage der russischen Revolution 1919, 1921, 1923, 1927 oder 1936 oder 1953 ansetzte, hatte man eine ziemlich gute Vorstellung davon, was er über so ungefähr jede andere politische Frage auf der Welt dachte: das Wesen der Sowjetunion, China, das Wesen der KPen auf der Welt, das Wesen der Sozialdemokratie, das Wesen der Gewerkschaften, die Einheitsfront, die Volksfront, nationale Befreiungsbewegungen, Ästhetik und Philosophie, das Verhältnis von Partei und Klasse, die Bedeutung der Sowjets und der Arbeiterräte, und ob hinsichtlich des Imperialismus Luxemburg oder Bucharin recht hatte.
Es reicht, die wichtigsten Ereignisse der Weltgeschichte seit 1975 aufzuzählen, um zu sehen, wie tiefgreifend sich die Art geändert hat, wie wir die Welt sehen: Denken wir nur an die Realitäten der 80er Jahre wie Thatchers Britannien, Reagans Amerika, Mitterands Frankreich, Gorbatschows Rußland und Dengs China, d.h. an die »neoliberale« (im Sinne von Hayek und Mises) Flutwelle, die über die etatistische Politik der Sozialdemokratie, des Stalinismus, des Keynesianismus und des Dritte-Welt-Bonapartismus hereingebrochen ist. Selbst noch so gründliche Kenntnisse der russischen Revolution von 1917 bis 1928 und eine daraus abgeleitete »Weltanschauung« nützen sehr wenig, um die Entwicklung Chinas nach 1976 und Rußlands unter Gorbatschow, das Entstehen der sogenannten Schwellenländer, den Krieg zwischen China, Vietnam und Kambodscha, den Zusammenbruch der westeuropäischen KPen, die völlige Eindämmung der britischen Labour Party, der amerikanischen Demokratischen Partei und der deutschen SPD durch die Rechte, die Entwicklung Mitterands hin zum Neoliberalismus oder das Auftreten wichtiger »antistaatlicher« Strömungen selbst in merkantilistischen Regimes wie Mexiko oder Indien zu verstehen. Diese Liste ließe sich noch fortsetzen: eine Arbeiterbewegung in Polen mit einem starken klerikal nationalistischen Einschlag und das Revival des Fundamentalismus in Islam, Judentum und Christentum, Deindustrialisierung, High Tech und Gentrifizierung. Keines dieser Ereignisse diskreditiert den Marxismus, aber sie diskreditieren den bis in die 70er Jahre hinein praktisch universellen Hang der westlichen Linken, die Wirklichkeit durch die Linse der russischen Revolution zu betrachten.
Auch das Beste aus den heldenhaften Zeiten der deutschen Sozialdemokratie und des russischen Bolschewismus reichte nicht als Zugang zu dieser neuen Realität, obwohl ein konsequenter Third Camper (Anhänger des »dritten Lagers«, »weder Moskau noch Washington«) seit Mitte der 70er Jahre nie irgendwelche Illusionen über niedergehende etatistische Formationen gehabt hatte. Aber ein »Third Camper«, der Lenins Imperialismustheorie und die anderen Prognosen der ersten drei Komintern-Kongresse akzeptierte, mußte insgeheim auch den unterschwelligen stalinistischen Annahmen zustimmen, daß der kapitalistische Weltmarkt nicht mal ansatzweise in der Lage sei, die Dritte Welt zu industrialisieren - und konnte dementsprechend den Aufstieg der sogenannten Schwellenländer nicht verstehen. [30]
Aber die Verunsicherung geht noch tiefer, nämlich bis ins Herz der aus der Zweiten und Dritten Internationale abgeleiteten revolutionären Identität. Wenn man nämlich eine »Karte« der militanten kommunistischen Massenparteien oder Regimes in Europa zwischen 1920 und 1975 zeichnet, dann deckt diese sich fast exakt mit einer Karte der aufgeklärt despotischen Staaten zwischen 1648 und 1789, nämlich: Frankreich, Deutschland, Rußland, Spanien, Portugal, Schweden (die wichtigste skandinavische KP; die einzige, die den Zweiten Weltkrieg nicht nur als Sekte überlebt hat). Es gibt keine Massen-KPen in Britannien, den USA, Holland, der Schweiz (und den englischsprachigen »Siedlerstaaten« wie Australien, Neuseeland und Kanada). Die scheinbare Ausnahme ist der PCI. Aber die lokalen merkantilistischen Stadtstaaten Italiens wirkten als Prototypen der aufgeklärt absolutistischen Staatskunst, und die regionalen Hochburgen des PCI scheinen sich mit unterschiedlichen regionalen Erfahrungen während der historischen Phase des Ancien régime zu decken. Schließlich war und ist der PCI nach 1956 die »sozialdemokratischste« der großen westlichen KPen; natürlich ist er aus diesem Grund als einziger übrig.
Die Verbindung zwischen dem Vorhandensein eines aufgeklärt absolutistischen Staats im Jahr 1648 und einer Massen-KP oder einem stalinistischen Staat im Jahr 1945 ist die Agrarfrage. Diese Staaten, deren Prototyp Frankreich darstellte, wurden geschaffen, um die Kapitalisierung der Landwirtschaft zu beschleunigen. Bewußt oder unbewußt machten sie mit ihren Bauern etwa das gleiche, was der sowjetische Staat ab 1928 mit den Bauern machte und was liberale kapitalistische Regimes im 19. Jahrhundert taten. Die aufgeklärt absolutistischen Staaten plünderten mit Steuern die Bauern aus, um sie als Quelle der Akkumulation zu benutzen. Diese Methoden waren eine Reaktion auf die in den »calvinistischen« Ländern schon existierenden erfolgreichen Zivilgesellschaften, deren Erfolg auf der zuvor vollzogenen Kapitalisierung der Landwirtschaft, zuerst und vor allem in England, beruhten. [31] Der Kapitalismus ist in erster Linie die Agrarrevolution. Bevor es Industrie und Städte und städtische ArbeiterInnen geben kann, muß die landwirtschaftliche Produktivität revolutioniert werden, damit es einen Überschuß gibt und Arbeitskraft vom Land befreit werden kann. Wo dies 1648 (am Ende des Dreißigjährigen Krieges und somit der Religionskriege) nicht vollzogen war, mußte es von oben herab durch den Staat geschehen. Dies prägte die kontinentale merkantile Tradition, die nach der französischen Revolution bis ins 20. Jahrhundert als reiferer Merkantilismus Bestand hatte. Dies charakterisierte das Zweite Empire unter Louis Napoleon (1852-1870) und vor allem Preußen und das preußisch dominierte Deutschland unter Bismarck. [32] Besonders Deutschland wurde nach der deutschen Vereinigung 1871 von allen »Zuspätgekommenen« auf der Welt kopiert, angefangen bei Rußland.
In diesem Zusammenhang können wir jetzt auch auf Barrington Moores Ansatz zurückkommen: Die 1860er Jahre waren ein enorm wichtiges Jahrzehnt: der Bürgerkrieg in den USA, die Vereinigung Deutschlands, die Vereinigung Italiens, die Befreiung der Leibeigenen in Rußland und die Meiji-Restauration in Japan. Man kann auch noch die industrielle Entwicklung des Zweiten Empire in Frankreich und die Gründung der Dritten Republik aufzählen, aber das ist sekundär. Anscheinend hatte ein Land, das 1870 nicht intern »reorganisiert« war, keine Chance, 1914 zum »inner circle« der nennenswert industrialisierten Länder zu gehören. Zweitens hatten von den fünf erwähnten Ländern (wiederum abgesehen von Frankreich) vier im Jahr 1933 totalitäre/autoritäre Merkantilstaaten. Von den großen Ländern kamen nur diejenigen, die in nennenswertem Umfang an der ersten nordatlantischen kapitalistischen Ökonomie teilnahmen (Britannien, Frankreich, die USA) in den 1930er Jahren um autoritäre merkantile Lösungen herum, und von den fünf Ländern, die sich in den 1860er Jahren reorganisierten, waren es nur die USA. (Das ist ein wichtiger Hinweis darauf, wie zentral die vorindustrielle historische Erfahrung ist.)
Was führt zu dem Eindruck, daß die 1860er Jahre so einen Torschlußtermin darstellten? Offensichtlich die weltweite Depression von 1873 und vor allem die Depression in der Landwirtschaft. [33] Als die USA, Kanada, Argentinien, Australien und Rußland in großem Stil als Exporteure auf den Weltgetreidemarkt traten, entstand im Prinzip wieder genau der Gegensatz von 1648: die Kontinentalstaaten mußten als Reaktion auf die Depression der Landwirtschaft zwischen 1873 und 1896 alle zum Protektionismus übergehen, um ihre nationale Landwirtschaft zu retten. Am wichtigsten war das »Eisen und Roggen«-Bündnis von 1879 zwischen Industriellen und Junkern in Deutschland, das die Unterwerfung des deutschen Kapitalismus und Liberalismus unter den von Junkern dominierten preußisch-deutschen Staat besiegelte. Aber Vergleichbares spielte sich auch in Frankreich, auf der iberischen Halbinsel, in Italien und in Österreich-Ungarn ab. Der Eintritt der USA, Kanadas, Argentiniens und Australiens auf den Agrarweltmarkt zog ein Jahrhundert lang eine Linie um den bestehenden Kern fortgeschrittener kapitalistischer Entwicklung. Schon 1890 war es billiger, Weizen von Buenos Aires nach Barcelona als 100 Meilen weit über Land zu transportieren. Die Landwirtschaftssektoren der merkantilistischen Kontinentalstaaten verloren ihre internationale Konkurrenzfähigkeit. Bisher wurde nicht genügend beachtet, was das für die Entwicklung der Arbeiterbewegung bedeutet hat.
In der revolutionären Tradition meinte man, daß der Sozialismus/Kommunismus im wesentlichen aus der Explosion des Dritten Standes nach der französischen Revolution entstanden sei: mit Babeuf, den Enragés und anderen radikalen Elementen, die links von den Jakobinern auftauchten; vor allem mit der Revolution von 1848 in Frankreich und im übrigen Europa (einschließlich der englischen Chartisten, die ihren Höhepunkt 1848 erreichten). Die Geschichte wirkt überzeugend: Von 1793/94 bis 1917/21 zieht sich die Linie von Frankreich über Deutschland nach Rußland mit den französischen Revolutionen von 1830, 1848 und der Commune, mit dem Aufstieg der SPD bis 1914, mit den russischen Revolutionen von 1905 und 1917; und erreicht ihren Höhepunkt mit der gescheiterten weltweiten revolutionären Welle von 1917 bis 1921, als es in Deutschland, Italien, England und Spanien beinah-revolutionäre Situationen und fast überall sonst auf der Welt Aufstandsstreiks gab. Das war der Höhepunkt der »klassischen Arbeiterbewegung«. CLR James sagte einmal, man müsse den historischen Moment wiederherstellen, als 1917-1918 die deutsch-russische Front zusammenbrach, das heißt, daß es um die Weltrevolution seither nie mehr so gut stand wie vor dem Scheitern der Revolution in Deutschland und der Niederlage der weltweiten revolutionären Welle. In dieser historischen Linie denkt die Lenin/Trotzki-Orthodoxie. Wenn die Revolution in Deutschland die Isolation Rußlands verhindert hätte, dann wäre das 20. Jahrhundert völlig anders verlaufen.
Diese Sicht auf die Geschichte war ein sehr nützliches »heuristisches Werkzeug«, um den Fallen der Sozialdemokratie, des Stalinismus, des Maoismus und der Dritte-Welt-Ideologie zu entgehen. Wenn man in dieser Tradition lebt - als Trotzkist, als Third Camper oder als Ultralinker - beurteilt man die Geschichte vom Standpunkt der deutschen und russischen Sowjets von 1917-21. Das ist nicht der schlechteste Maßstab für historische Einschätzungen, sein Begriff von der sozialistischen Gesellschaft ist dem keynesianischen Wohlfahrtsstaat, den stalinistischen Erfolgen im ersten Fünfjahresplan oder den arbeitsintensiven Landwirtschaftskommunen in China eindeutig vorzuziehen. Aber er führt in eine Sackgasse. Er führt dazu, daß man die Geschichte als Stratege der Komintern im Jahre 1920 sieht, daß man da weitermacht, wo die mittel- und osteuropäischen Revolutionen gegen die Hohenzollern, Habsburgs und Romanows aufhörten.
Aber diese Revolutionen und ihr Doppelcharakter sind durch einen historischen Abgrund von der Gegenwart getrennt. [34] Die Doppelnatur der Oktoberrevolution bestand darin, daß in ihr die historischen Aufgaben der bürgerlichen Revolution unter der Führung der Arbeiterklasse erfüllt wurden und daß anschließend der proletarische politische Inhalt von der stalinistischen Konterrevolution völlig ausgelöscht wurde.
Die Linie der »Kontinuität« unkritisch bis zu Lenin und Trotzki als geradlinige Verlängerung von Marx ins frühe 20. Jahrhundert weiterzuführen und die russische Revolution zum Prüfstein des 20. Jahrhunderts zu machen (zum »Wendepunkt der Geschichte, als die Geschichte sich nicht wendete«, wie es jemand ausdrückte), bedeutet, pauschal eine ganze Sicht der Geschichte vor und seit 1917 zu übernehmen. Vor allem übernimmt man den Mythos, daß die deutsche Sozialdemokratie irgendwann einmal eine revolutionäre Formation war, bis dann 1890, 1898 oder 1914 der »Revisionismus« in ihr die Macht übernahm. Dieser verklärte Blick auf die frühe SPD ist der zentrale Mythos, der der heute problematisch gewordenen Vorstellung vom »Besten der deutschen Sozialdemokratie und des russischen Bolschewismus« zugrundeliegt. Genau dieser verklärte Blick durch die Linsen der Aufklärung hat die internationale Linke kolonisiert, denn er ging zurück auf das Beamtentum der aufgeklärt despotischen Staaten.
Diese Sackgasse zeigt sich auf verschiedenen Ebenen. Beginnen wir beim nichtmarxistischen »Vulgärmaterialismus«, dem üblichen Denken der klassischen Arbeiterbewegung der Zweiten, Dritten und Vierten Internationale, deren Zentrum erst die SPD und dann die bolschewistische Partei war.
Nach der Entdeckung der Manuskripte von 1844, der Hegelschen Fingerabdrücke im Kapital, der Thesen über Feuerbach, der Grundrisse, Korschs usw. hatten sich ja viele Leute gefragt, wie es möglich war, daß der »Vulgärmarxismus« die klassische Arbeiterbewegung überwältigt hatte. Warum hat der vorkantianische Materialismus (d.h. ein Materialismus, der nicht wie der Marx'sche durch einen Dialog mit dem deutschen Idealismus und Feuerbach hindurchgegangen ist) so viel Ähnlichkeit mit dem Materialismus der englisch-französischen Aufklärung im 18. Jahrhundert, d.h. der Ideologie der bürgerlichen Revolution? Wie läßt sich die historische Hegemonie des Vulgärmarxismus marxistisch erklären? Schließlich lehnt es der Marxismus ab, psychologisch-moralisch zu urteilen: »weil sie falsche Gedanken hatten«. Die Antwort schien nicht so kompliziert zu sein: Wenn sich der Materialismus der klassischen Arbeiterbewegung, dessen Zentrum von 1860 bis 1914 die SPD war und der sich dann in der russischen Revolution fortsetzte, erkenntnistheoretisch kaum vom bürgerlichen revolutionären Materialismus unterschied, dann deshalb, weil die klassische Arbeiterbewegung in Mittel- und Osteuropa eine Fortsetzung der bürgerlichen Revolution war. Vom Standpunkt eines Bewunderers der heldenhaften frühen SPD läßt sich kaum eine andere sinnvolle Erklärung finden. So ähnlich argumentiert schließlich auch Trotzkis Theorie der kombinierten und ungleichen Entwicklung: Wo die Bourgeoisie schwach und unfähig ist, das Ancien régime zu stürzen, fällt diese Aufgabe der Arbeiterklasse zu (Trotzkis Irrtum bestand darin, daß er glaubte, die Arbeiterklasse mache die sozialistische Revolution).
Dieser »Vulgärmarxismus« war die »Weltanschauung«, die sich in den populären Broschüren des späten Engels und in den Schriften Bebels, Kautskys, Wilhelm Liebknechts, Bernsteins, bevor er Revisionist wurde, und Plechanows ausdrückte - der grauen Eminenzen der Zweiten Internationale, die für die »Bildung« Lenins und der Bolschewiken verantwortlich waren. Man sollte nie vergessen, daß Lenin erst 1910-12 begann, Kautsky und die SPD zu durchschauen, und 1914 den Zeitungsberichten über die Zustimmung der SPD zu den Kriegskrediten nicht glauben wollte. So nahe war er diesen Einflüssen. Er schrieb seine Imperialismustheorie, um den Zusammenbruch der SPD zu erklären. Trotzki fügte später als weitere Erklärung für die Niederlage in Westeuropa nach dem Krieg noch das »Fehlen einer revolutionären Führung« hinzu.
Vielleicht ist Raya Dunayevskayas Darstellung, daß Lenin im September 1914 in Zürich sofort in die Bibliothek rannte und Hegels Logik [35] las, um das Debakel der SPD zu verstehen, erfunden. Aber so oder so: Der »späte Lenin« nach 1917 hinterließ jedenfalls keinerlei Spuren im offiziellen Marxismus, auch nicht in der Vierten Internationale. Lukács und Korsch ernteten in der Komintern 1923 mit ihren philosophischen Ansichten nur noch Gelächter. In den intellektuell gewitzten Milieus der US-Linken Mitte der 60er Jahre war der beste englischsprachige Text zum philosophischen Hintergrund des Marxismus (vor der Welle von Übersetzungen aus dem Französischen, Deutschen und Italienischen nach 1968) vielleicht Sidney Hooks Towards an Understanding of Karl Marx. Daran war niemand schuld; es spiegelt nur die Tatsache wider, daß die Entdeckung der Marx'schen Frühschriften, des wahren Ausmaßes von Hegels Einfluß auf Marx, der Kritik des Vulgärmaterialismus in den Thesen über Feuerbach und von Werken wie den Grundrissen erst in den 50er und 60er Jahren über kleine Spezialistenzirkel hinaus Wirkung zeigte. Aber dafür mußte es einen historischen Grund geben; es war nicht nur eine Frage, was wann und wo veröffentlicht worden war (die Grundrisse z.B. waren 1941 in Moskau zunächst in einer Auflage von 200 Stück auf deutsch veröffentlicht worden).
Aber dieser ideologische Anachronismus in der Geschichte des Marxismus und der Arbeiterklasse läßt sich wie gesagt auf keinen Fall mit »falschem Denken« erklären. Die eigentliche Erklärung muß in der Akkumulation bzw. ihrem Einfluß auf den internationalen Klassenkampf gesucht werden. Wiederum grub die bordigistische Tradition Perspektiven aus, die in den allgemeinen Debatten der 60er und 70er Jahre kaum eine Rolle spielten, meiner Meinung nach aber die Verbindung zwischen der Agrarfrage, der Periodisierung der kapitalistischen Akkumulation, der wirklichen historischen Rolle der Sozialdemokratie und des Bolschewismus und dem historischen Zusammenhang zwischen dem aufgeklärten Absolutismus im 17. und den kommunistischen Massenparteien im 20. Jahrhundert herstellen.
Den interessantesten Ansatz zur Erhellung dieser Fragen verfolgten die »Neobordigisten«, französische Strömungen, die von Bordiga beeinflußt waren, ihm aber nicht sklavisch folgten: Die besten von ihnen versuchten eine Synthese aus Bordiga, dem die historische Bedeutung von Sowjets, Arbeiterräten und Arbeiterdemokratie völlig entgangen war und für den die Partei alles war, und den deutschen und holländischen Ultralinken, die die Arbeiterräte verherrlichten und alle Fehlschläge und Fehler nach 1917 mit dem »Leninismus« erklärten.
Alle diese französischen Strömungen stellten einen Text von Marx in den Mittelpunkt, der langfristig vielleicht wichtiger ist als all das andere neue Material, das seit den 50er und 60er Jahren ans Licht kam: das sogenannte »unveröffentlichte 6. Kapitel« des ersten Bandes des Kapital. [36] Man weiß nicht, warum Marx es aus der ursprünglichen Fassung des ersten Bandes entfernt hat, aber es ist eine materialistische »Phänomenologie des Geistes«. Zehn Seiten reichen, um Althussers Behauptung zu widerlegen, daß Marx in seiner »Spätphase« Hegel vergessen habe. Aber die Bestätigung der Kontinuität mit der Hegelschen Methode ist das wenigste; in dem Text werden als grundlegende Kategorien die Unterscheidungen zwischen dem absoluten und dem relativen Mehrwert und der von Marx so genannten »extensiven« und »intensiven« Phase der Akkumulation, die der »formellen« und der »reellen« Herrschaft des Kapitals über die Arbeit entsprechen, herausgearbeitet. Diese Unterscheidungen werden sehr theoretisch eingeführt; Marx versucht nicht, sie allgemein auf die Geschichte anzuwenden. Aber die französischen Ultralinken fingen an, die kapitalistische Geschichte genau um diese Unterscheidungen herum zu periodisieren. Nicht nur Marxisten sprechen von einer »extensiven« und einer »intensiven« Phase der kapitalistischen Geschichte; auch bürgerliche Wirtschaftshistoriker haben diese Begriffe als Beschreibungsinstrumente benutzt. Eine Strömung faßte das Wesen des Unterschieds zusammen als »die Phase, die den Arbeiter auflöst und nur den Proletarier übrig läßt«. [37] In diesem Satz steckt ein vernichtendes Urteil über die gesamte Gutman-Schule der New labor history. Im 6. Kapitel wird der Übergang zur »intensiven« Akkumulation als die »Reduzierung der Arbeit auf die allgemeinste kapitalistische Form der abstrakten Arbeit« bezeichnet, womit bündig der Massenproduktionsprozeß im 20. Jahrhundert in der fortgeschrittenen kapitalistischen Welt definiert ist. Die New labor history ist ein einziges langes nostalgisches Abschiedslied auf die Phase der formellen Herrschaft.
Das »unveröffentlichte 6. Kapitel« wirft auch Licht auf die »Hegel-Renaissance« im Marxismus und die Frage, warum ein ernsthaftes Interesse an Marx' hegelianischem Hintergrund in Deutschland erstmals in den 20er Jahren aufgetreten war (Lukács, Korsch, die Frankfurter Schule) und erst in den 50er Jahren in Frankreich Fuß faßte. Tatsächlich war der Vulgärmarxismus in Frankreich - bei den Intellektuellen - erst in den 30er und 40er Jahren, d.h. während der Volksfront und der Résistance, zu einer Modeideologie geworden. Was erklärt diese 30jährige Kluft zwischen Frankreich und Deutschland? Die Antwort mußte natürlich etwas mit dem großen Vorsprung der industriellen Entwicklung in Deutschland in den 20er Jahren zu tun haben, den Frankreich erst in den 50er Jahren einholte. Offensichtlich besteht ein Zusammenhang zwischen einem »hegelianisierten« Marxismus und Verhältnissen der »intensiven Akkumulation« und »reellen Subsumtion«. Merkwürdigerweise hatte auch Italien lange vor Frankreich eine entwickelte, viel »germanisiertere« marxistische Kultur. Das muß irgendwie damit zusammenhängen, daß auch Italien politisch »zu spät gekommen« war, während Frankreich schon an der ersten nordatlantischen kapitalistischen Ökonomie und an der bürgerlich-revolutionären Welle von 1770 bis 1815 beteiligt gewesen war. Die jakobinische Tradition, die sich im Rationalismus Comtes, Saint-Simons und Guesdes ausdrückte, Jaures' kantianischer Idealismus oder der Rationalismus selbst der anarchistischen Tradition (mit ihrem Glauben an die antiklerikale Wissenschaft) oder schließlich der »positivisme laique et républicain« der Dritten Republik kamen nicht an das Niveau des nachkantianischen Denkens in Deutschland heran. Italien wurde in den 1890er Jahren »germanisiert«, Frankreich erst in den 1930er und 40er Jahren.
Die Lenin-Trotzki-Tradition unterteilt die Geschichte des Kapitalismus in zwei Phasen, deren Trennung der erste Weltkrieg markiert. Ab dort beginnt die »Epoche des imperialistischen Niedergangs«. Die theoretischen Quellen dieser Theorie stammen aus der »Monopolkapital«-Diskussion vor dem Ersten Weltkrieg (Hobson, Hilferding, Lenin), die eine ganze Epoche lang durch Lenins Imperialismustheorie popularisiert wurde. Während der Hochphase der Zweiten Internationale sah der Kapitalismus anders aus, als ihn Marx beschrieben hatte (dabei muß man im Kopf behalten, daß der zweite und dritte Band des Kapital erst in den 1880er und 90er Jahren erschienen; die meisten sozialistischen Militanten kannten die »marxistische Ökonomie« aus dem ersten Band oder eher noch aus populären Broschüren wie Lohn, Preis und Profit). Scheinbar ging der Kapitalismus von einer »Konkurrenz«- oder »Laissez-faire«-Phase über in eine Phase der Kartelle, der Monopole, des Imperialismus, der staatlichen Lenkung, der Entstehung des Finanzkapitals, der Rüstungswettläufe, des kolonialen Landraubes: also das, was Hilferding um 1910 als »organisierten Kapitalismus« bezeichnete.
Der erste Weltkrieg markierte den Wendepunkt. Die russische Revolution zeigte, daß, wie Lenin sagte, »hinter jedem Streik die Weltrevolution lauert«, und die Zeit von 1917 bis 1921 hätte das ja um ein Haar bestätigt. Nach einer kurzen Stabilisierungsphase folgte dann 1929, die Weltwirtschaftskrise, der Faschismus, der Stalinismus und der Zweite Weltkrieg, auf den wiederum unaufhörliche nationale Befreiungskriege folgten. Wer konnte 1950 bestreiten, daß er oder sie in einer »Epoche des imperialistischen Niedergangs« lebte?
Diese sehr realen Erscheinungen zementierten eine ganze Weltanschauung, die in den frühen Jahren der Komintern erstmals kodifiziert wurde: die Kontinuität mit Kautskys Vulgärmarxismus aus der Zeit vor 1914, die Bezeichnung der Epoche als »Monopolkapitalismus«, am gekonntesten durch Bucharin, Trotzkis Theorien der permanenten Revolution und der kombinierten und ungleichen Entwicklung und die Einschätzung der historischen Phase als »Epoche des imperialistischen Niedergangs« durch den Komintern-Kongreß. So wenigstens stellte sich diese Überlieferung Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre den besten Versuchen, wieder an das revolutionäre Potential des deutsch-polnisch-russischen Korridors von 1905 und 1917-21 anzuknüpfen, kondensiert dar. Diese Periodisierung der neueren Geschichte erlaubte es, die Welt »von Moskau aus im Jahre 1920« zu sehen, und das wiederum machte es so zentral und scheinbar folgenreich, die Geschichte der russischen Revolution und der Komintern von 1917 bis 1928 zu entwirren. In dieser Geschichte lag der Stein der Weisen: für die Trotzkisten und die Shachtmanianer ebenso wie für die Ultralinken. Diesen Standpunkt vertraten bis Mitte der 70er Jahre diejenigen, die sich keine Illusionen über die Sozialdemokratie, den Stalinismus oder den Dritte-Welt-Bonapartismus machten, d.h. die vom Standpunkt der revolutionären Arbeiterdemokratie im Sinne von Sowjets/Arbeiterräten gegen diese Ideologien auftraten. Auf einer bestimmten Ebene ließ sich die Welt bis Mitte der 70er Jahre scheinbar völlig widerspruchsfrei auf diese Weise erklären. Hatte die revolutionäre Arbeiterbewegung nicht in Deutschland und Rußland ihren höchsten Ausdruck gefunden? War nicht alles seither ein Desaster und ein bürokratischer Alptraum gewesen?
Bordiga griff dieser Haltung vor, als er irgendwann in den 50er Jahren schrieb: »Nur weil die gesellschaftliche Entwicklung in einer Zone [damit meinte er Europa und die USA; L.G.] ihre vorletzte Phase erreicht hat, ist das, was in der übrigen Welt passiert, noch lange nicht gesellschaftlich uninteressant«. Für die oben beschriebene Weltanschauung (der auch ich damals anhing) war das, was in der übrigen Welt geschah, eben gerade gesellschaftlich uninteressant. Wer konnte den amerikanischen oder europäischen ArbeiterInnen ernsthaft China oder Nordkorea oder Albanien oder die nationalen Befreiungsbewegungen mitsamt ihren Staaten als Modelle vorschlagen? Aber obwohl die Frage stimmte, reichte diese Weltanschauung nicht aus.
Warum nicht? Weil sie an zwei Mitte der 70er Jahre schon recht weit fortgeschrittenen Realitäten vorbeiging, nämlich an der Doppelbewegung von Industrialisierung der Dritten Welt und technologieintensiver (»High-Tech«-) Entwicklung in den Metropolen. Diese Doppelbewegung veränderte brutal die Bedingungen der westlichen Arbeiterbewegung, auf die sich die ganze bisherige Perspektive bezogen hatte. 1970 war es angesichts der ganzen stalinistischen, maoistischen und Dritte-Welt-orientierten Begeisterung über die bürokratischen Bauernrevolutionen richtig und revolutionär gewesen, sich auf die westliche Arbeiterklasse als einzige Klasse zu beziehen, die die Klassengesellschaft tatsächlich überwinden konnte. Man mußte sich damals genauso gegen das Dritte-Welt-Geschwätz stellen, wie man sich heute gegen seine kläglichen Überreste stellen muß. Allerdings hat sich seitdem tatsächlich etwas verändert: Die Deindustrialisierung im Westen und die Industrialisierung in der Dritten Welt (zwei Seiten derselben Münze) haben nämlich reale Arbeiterbewegungen in der Dritten Welt selbst hervorgebracht - Südkorea ist das jüngste Beispiel.
Bis Mitte der 70er Jahre sah die Welt im großen und ganzen so aus, wie es sich aus der oben skizzierten frühen, heldenhaften Komintern-Sicht hatte hochrechnen lassen. Dieselben Länder, die 1914 der industrielle Kern der Welt gewesen waren (Westeuropa, USA und Japan), waren immer noch der Kern. Im Sinne der oben zitierten Diskussion war ein Land, das in den 1860er Jahren nicht »innerlich reorganisiert« worden war, weder 1914 noch 1975 im »industriellen Club«. Außerdem war der Anteil an Industriearbeitern an den Gesamtbeschäftigten, der zwischen 1900 und 1914 mit etwa 45 Prozent in Deutschland und England seinen Höhepunkt erreicht hatte, Anfang der 70er Jahre in der fortgeschrittenen kapitalistischen Zone insgesamt immer noch auf demselben Stand. Natürlich hatte sich in der Zwischenzeit die Zusammensetzung der Beschäftigten stark verändert: Während zwischen 1900 und 1914 etwa 45 Prozent der Beschäftigten in der Industrie, 45 Prozent in der Landwirtschaft und 10 Prozent im Angestelltenbereich gearbeitet hatten, waren es Anfang der 70er Jahre 40 bis 45 Prozent in der Industrie, 5 bis 10 Prozent in der Landwirtschaft und 40 bis 45 Prozent Angestellte (ganz abgesehen von der Schaffung eines großen Rüstungssektors, den es um die Jahrhundertwende noch kaum gab).
Das zeigte, daß die »Geschichte« der kapitalistischen Entwicklung folgendermaßen verlief: In der Phase des »klassischen« oder »Konkurrenzkapitalismus« hatte das System hauptsächlich BäuerInnen in ArbeiterInnen verwandelt, zumindest in England, den USA, Frankreich und Deutschland. In der Zeit nach 1914 (die in Wirklichkeit etwa 1890 begann), der neuen Phase des »organisierten Kapitalismus« oder »Monopolkapitalismus« bzw. der »Epoche des imperialistischen Niedergangs« wurden die ländlichen Bevölkerungen der westlichen Welt (und Lateinamerikas, der Karibik, Südeuropas und Afrikas) weiter aufgesogen, aber wohin? Statt die Industriebeschäftigung weiter auszudehnen, benutzte der Kapitalismus die stark gestiegene Produktivität eines stagnierenden Anteils der Beschäftigten zur Unterhaltung eines ständig wachsenden Angestellten-»Dienstleistungssektors« (und der Waffenproduktion). Aber um zum Hauptthema zurückzukehren: Gerade dann, wenn nur noch mickrige 5 bis 10 Prozent der Bevölkerung eines Landes in der Landwirtschaft beschäftigt sind, fangen die hard-core-KPen an, sich aufzulösen und werden von integrierten Parteien sozialdemokratischen Typs überholt. Genau das geschah z.B. in den letzten 15 Jahren in Frankreich und Spanien, während es in Portugal noch nicht geschah, eben weil dort immer noch ein beträchtlicher Teil der Beschäftigten in der Kleinproduzenten-Landwirtschaft arbeitet. Dies ist der Hintergrund der Verwandlung des PCI. Genau dies geschah vor langer Zeit in Nordeuropa und in den USA. Und ganz genauso ist es mit den Problemen in Osteuropa und der Sowjetunion. Dort ist jetzt nämlich die »extensive« Phase der Akkumulation vollendet, und der Übergang zur intensiven Phase steht an, die der Westen durch die Krise von 1914 bis 1945 erreichte.
Kurz gesagt besteht das Problem - vom aufgeklärten Absolutismus im 17. Jahrhundert bis zu den Kommunistischen Parteien im 20. Jahrhundert - in der extensiven Phase der Akkumulation: in der Verwandlung von BäuerInnen in ArbeiterInnen. Letztlich heißt das, daß eine Gesellschaft erst dann voll und ganz kapitalistisch ist, wenn nur noch ein winziger Teil der Beschäftigten in der Landwirtschaft arbeitet, d.h. wenn sie von der extensiven/formellen zur intensiven/reellen Phase der Akkumulation übergegangen ist. Kurz gesagt heißt das, daß weder Europa noch die USA um 1900 so kapitalistisch waren, wie die sozialistische Bewegung dachte, und daß der Mainstream der klassischen Arbeiterbewegung in allererster Linie eine Bewegung war, die den Kapitalismus in seine intensive Phase trieb.
Zusammengenommen bedeutet Kapitalismus in erster Linie die Umwälzung der Landwirtschaft.
Die Agrarfrage hatte in der Geschichte der internationalen Linken unterschiedliche Bedeutungen. Sie stellte sich in Verbindung mit den Bauernrevolutionen, die die französische und die russische Revolution begleiteten, mit der durch den Bürgerkrieg durchgesetzten Kapitalisierung der Landwirtschaft im Süden der USA, mit der Agrarrezession nach 1873, mit der Entleerung der ländlichen Regionen Europas nach dem Zweiten Weltkrieg. Dabei geht es natürlich um sehr unterschiedliche Erscheinungen, die nicht einfach in einen Topf geworfen werden sollten. Aber konzentrieren wir uns auf den Zusammenhang von intensiver Akkumulation und Verringerung der landwirtschaftlichen Beschäftigung auf 5 bis 10 Prozent als Definition einer »voll und ganz kapitalistischen« Gesellschaft. Voll und ganz kapitalistisch ist die Landwirtschaft, wenn sie mechanisiert ist wie in den USA. So gesehen wurde die »Agrarfrage« in Frankreich nicht 1789, sondern zwischen 1945 und 1973 gelöst. Der Zusammenhang zwischen Landwirtschaft und intensiver Akkumulation in der Industrie besteht in der Senkung der Kosten der Lebensmittel als Anteil am Arbeiterkonsum, wodurch Kaufkraft für langlebige Konsumgüter (wie das Auto) geschaffen wurde, die im Zentrum der Massenproduktion des 20. Jahrhunderts stehen.
Fassen wir zusammen und kommen wir dann noch einmal auf Bordiga und die Neobordigisten zurück. Der Vulgärmarxismus war eine Ideologie der mittel- und osteuropäischen Intelligentsia, die zusammen mit der Arbeiterbewegung darum kämpfte, die bürgerliche Revolution zu vollenden (der Marxismus der Zweiten und Dritten Internationale). Seine Ähnlichkeit mit dem vorkantianischen bürgerlichen Materialismus von vor 1789 ist nicht auf einen »Irrtum« zurückzuführen (»sie hatten falsche Vorstellungen«), sondern sie drückt genau den wirklichen Inhalt der Bewegung aus, die ihn hervorbrachte. Sinn ergibt dieser Inhalt letztlich im Rahmen einer Periodisierung der kapitalistischen Geschichte, die Lenin/Trotzkis »Zeitalter des imperialistischen Niedergangs« durch die Begriffe der extensiven/formellen Herrschaft und der intensiven/reellen Akkumulation ergänzt. Die ganze Theorie des »organisierten Kapitalismus« und »Monopolkapitalismus« von Lenin, Hilferding und der Zweiten Internationale verdeckt also bloß den Übergang vom Extensiven zum Intensiven.
Der Standpunkt des »offiziellen Marxismus« ist daher der Standpunkt einer im Entstehen begriffenen, staatlichen Elite - ob sie an der Macht ist oder nicht -, deren Bewegung zu einer anderen Form von Kapitalismus führt (nämlich zur reellen Herrschaft), die sie »Sozialismus« nennt. Das Bestechende an einer solchen Analyse ist, daß sie nicht moralisieren muß und eine »soziologische« Erklärung für eine »Erkenntnistheorie« bietet. Das heißt noch einmal, daß der Materialismus dieser sozialen Schicht die Form der Aufklärung annahm und daß ihre in der leninistischen Imperialismustheorie kodifizierte Wirtschaftstheorie auch die Wirtschaftstheorie dieser Schicht war. Das ist kein wirklicher Marxismus, denn tendenziell ersetzt er die Analyse von Produktionsverhältnissen und Produktivkräften durch (letztlich Dühring'sche) »Kräfte«-Analysen. Die Theorie des »Monopolkapitals« ist eine Theorie von Staatsbürokraten: von Lenin und Bucharin über Baran und Sweezy, Bettelheim und Amin bis Pol Pot (bei riesigen Brüchen und einem fürchterlichen Verfall, aber auch mit einer Kontinuität). Sie ist grundsätzlich gegen die Arbeiterklasse gerichtet. Sie sieht den Reformismus der Arbeiterklasse im Westen als Ausdruck von »Superprofiten« aus dem Imperialismus und verdeckt den Interessenunterschied zwischen der staatsbürokratischen Elite und den Bauern- und Arbeiterklassen in den unterentwickelten Ländern, wo sie die Macht hat.
Die französischen Neobordigisten, besonders Camatte, zeigten, daß der Marxismus vor allem in Rußland sich Schritt für Schritt von einer Theorie der »materiellen menschlichen Gemeinschaft«, einer aus dem reifen Kapitalismus »geborenen« wirklichen Bewegung, in etwas verwandelt, das im unterentwickelten Protokapitalismus »aufgebaut« wird. Dies läßt sich am Unterschied zwischen der Marx'schen Position zur russischen Frage 1878 bis 1883 und der bolschewistischen Polemik gegen die letzte Phase des Populismus in den 1890er Jahren ersehen. Egal, was Marx für die mögliche Grundlage eines unmittelbaren »Sprungs« der russischen Kommune zum Kommunismus gehalten haben mag, er hätte nie wie Trotzki 1936 geschrieben, daß »der Sozialismus dem Kapitalismus jetzt in Tonnen von Stahl und Beton gegenübertritt«. Das soll nicht heißen, daß es bei Marx keine Grundlage für einen produktivistischen Diskurs gäbe; es soll nur heißen, daß der Abgrund, der Marx von dem ganzen Marxismus der Zweiten und Dritten (und Vierten) Internationale trennt, genau darin besteht, daß Marx über den »vorkantianischen« Materialismus und weit über die »Monopolkapital«-Ökonomie hinausgekommen war, beides Beamten-Weltanschauungen.
In dem Kampf zwischen Lenin und den Populisten in den 1890er Jahren, als sich dieser verkürzte »Marxismus« der Zweiten Internationale in Rußland durchsetzte, ging die ganze Dimension der marxistischen Analyse der »russischen Frage« von vor 1883, die Bordiga dann später ausgrub, in einem produktivistischen Chor unter. Die lineare, mechanistische Affirmation des »Fortschritts«, die den Kern des historischen Denkens der Aufklärung darstellt und vom Vulgärmarxismus in eine »Stufentheorie« der Geschichte übernommen wurde, hat im Gegensatz zu Marx keinen Sinn für die russische Dorfgemeinschaft. Das Gemeinwesen (die materielle menschliche Gemeinschaft) als Telos des Kommunismus wird abgeschafft zugunsten des Produktivismus. Sobald die Bolschewiken an der Macht waren, nahmen sie die Reproduktionsschemata und Kategorien des zweiten Bandes des Kapital und übersetzten sie in Wirtschaftsplanungshandbücher, ohne zu bemerken, daß sie es mit einer »ricardianischen« Beschreibung des Kapitalismus zu tun hatten, die Marx im dritten Band untergräbt. [38] Dies ebnete der »Stahlfresser«-Ideologie der stalinistischen Planer nach 1928 den Weg. Zwischen Marx und der Zweiten Internationale und später den Bolschewiken liegt schon eine ganze Welt, die sich in der »Philosophie« und der »Ökonomie« ausdrückt, und in diesen Unterschieden drücken sich unterschiedliche »gesellschaftliche Erkenntnistheorien« aus, die in den Perspektiven zweier verschiedener Klassen wurzeln: der Arbeiterklasse und des Beamtentums. In diesem Sinne gewinnt der Satz, daß sich das Beste der deutschen Sozialdemokratie und des russischen Bolschewismus hoffnungslos in den Staat verstrickt hat, seine eigentliche Bedeutung. Eine Erneuerung der revolutionären Vision ist nur möglich, wenn wir begreifen, daß sie keine direkten Erben des Marxismus waren, sondern ein Umweg, auf dem er mit einem ihm fremden etatistischen Diskurs verschmolz.
Anders als die Revolutionäre von 1910 leben wir im Westen heute in einer voll und ganz kapitalistischen Welt. Es steht keine Kapitalisierung der Landwirtschaft mehr an, es gibt keine »Bauernfrage« mehr für die Arbeiterbewegung. Gleichzeitig stecken wir mitten in einer Weltwirtschaftskrise von den Ausmaßen der 30er Jahre, in der sich alle alten revolutionären Visionen verflüchtigt haben, und es ist weniger klar denn je, wie eine positive Welt jenseits des Kapitalismus aussehen würde (die jüngste Geschichte bietet eine Menge Beispiele für negative Alternativen). Wenn wir aber verstehen, daß viel von dem, was heute zusammenbricht, letztlich das Vermächtnis des aufgeklärt absolutistischen Staates und seiner modernen Fortsetzungen ist, dann wird uns auch klar, daß viele der bis in allerjüngste Zeit gebräuchlichen begrifflichen Werkzeuge Werkzeuge zur Vollendung der bürgerlichen Revolution waren und von Bewegungen entwickelt wurden, die letztlich von tatsächlichen oder potentiellen Beamten geführt wurden. Wenn wir den Marxismus von diesem etatistischen Erbe befreien, können wir endlich anfangen, die Welt vom Standpunkt der »unter unsern Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung« (Kommunistisches Manifest) zu sehen.
Bibliographie
Unter anderem sollte dieser Aufsatz Bordiga und seine Ideen in der englischsprachigen Welt bekannter machen. Viele der Quellen, aus denen sich dieser Artikel speist, sind leider nur auf italienisch und französisch von obskuren linken Verlagen veröffentlicht worden, von denen viele nicht mehr existieren. Daher sind sie, abgesehen von den Schriften von Bordiga selbst, praktisch unzugänglich. Wer an den Schriften Bordigas in verschiedenen Sprachen interessiert ist, kann sich an Edizioni il programma comunista 1997, Casella postale 962, 20101 Milano, Italien, wenden. [Anm. d. Übers.: Verschiedene Reden Bordigas aus den 20er Jahren (hauptsächlich vor der Komintern) in deutscher Übersetzung können heruntergeladen werden von der Homepage der bordigistischen Gruppe Kommunistische Politik:
http://www.geocities.com/CapitolHill/Lobby/7099/indexde.html.]
Die wichtigen Schriften Bordigas sind folgende: Struttura economica e sociale della Russia d'oggi (Edizioni il programma comunista 1976) ist sein Hauptwerk über die russische Wirtschaft. Ein großer Teil davon wurde auf französisch unter dem Titel Russie et revolution dans la théorie marxiste (Paris: Ed. Spartacus 1975) veröffentlicht. Darauf folgte eine vollständige Übersetzung unter dem Titel Structure économique et sociale de la Russie d'aujourd'hui (Editions de l'oubli 1976, 2 Bände). Storia della sinistra comunista (Ed. il programma comunista), die Geschichte von Bordigas Fraktion zwischen 1912 und 1921, erschien ab 1964 in drei Bänden.
Kürzere aber grundlegende theoretische Aussagen finden sich in Proprietà e capitale (Florenz: Edizioni Iskra 1980) und Mai la merce sfamerà l'uomo: la questione agraria e la teoria della rendita fondiaria secondo Marx (Florenz: Ed. Iskra 1979). Eine französische Sammlung von kürzeren Bordiga-Texten einschließlich seiner Kommentare zu Marx' Manuskripten von 1844 ist mit einem Vorwort von Jacques Camatte unter dem Titel Bordiga et la passion du communisme (Paris: Ed. Spartacus 1974) erschienen.
Meines Wissens gibt es keine vernünftige umfassende Untersuchung über Bordiga. Zwei Werke, die die schlimmsten Fehler und frühere Verleumdungen vermeiden, sind Amadeo Bordiga von A. Clementi (Turin 1971) und die Biographie Amadeo Bordiga des PCI-Intellektuellen Franco Livorsi (Rom 1976). Eine Darstellung von Bordigas Ansichten zum Sowjet-Phänomen ist Amadeo Bordiga: capitalismo sovietico e comunismo von Liliana Grilli (Mailand 1982). Die beste Gesamtdarstellung von Bordiga und dem Einfluß seiner Theorien auf diesen Text findet sich in Jacques Camattes Aufsatz »Bordiga et la revolution russe: Russie et necessité du communisme« in der Zeitschrift Invariance, Jg. VII, Serie II, Nr. 4. Eine kritische Würdigung der bordigistischen Fraktion ist das 1981 von Courant Communiste International veröffentlichte La Gauche Communiste d'Italie. Eine insgesamt bordigistische Sicht der russischen Revolution und der Folgezeit findet sich in einer Sonder-Dreifachausgabe der Zeitschrift Programme communiste unter dem Titel »Bilan d'une revolution« (Nr. 40/41/42, Oktober 1967 bis Juni 1968). Programme communiste war die Theoriezeitschrift einer der damals konkurrierenden bordigistischen Parteien. Ich konnte nicht überprüfen, ob die in dieser Ausgabe ausgedrückten Ansichten von Bordiga selbst geschrieben oder gutgeheißen wurden.
Zwei weitere Werke, die sich kritisch auf Bordiga beziehen, sind Le mouvement communiste von Jean Barrot (Paris: Ed. Camp Libre 1972) und Capital et Gemeinwesen. Le 6e chapitre inédit et l'oeuvre économique de Marx von Jacques Camatte (Paris: Ed. Spartacus 1978).
Viele Informationen über Bordiga in der Zeit seines größten Masseneinflusses finden sich in der quasi-offiziellen Geschichte des PCI von Paolo Spriano: Storia del Partito comunista italiano, Vol. 1 Da Bordiga a Gramsci (Turin 1967). Wie das Buch von Livorsi ist auch dieses mit Vorsicht zu genießen.
Fußnoten:
[*] Ich benutze hier das deutsche Wort »Aufklärung«, um zu betonen, daß dieses Denken durch das preußische Beamtentum und die Bürokratie der stark von den etatistischen Traditionen Preußens beeinflußten SPD hindurch in die Arbeiterbewegung hineinkam. Die Symbolfigur dafür ist Ferdinand Lassalle.
[1] Barrington Moore: Soziale Ursprünge von Diktatur und Demokratie: die Rolle der Grundbesitzer und Bauern bei der Entstehung der modernen Welt, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1969.
[2] Adam Ulam: The Unfinished Revolution, New York 1960.
[3] A. Gerschenkron: Economic Backwardness in Historical Perspective, Boston: Harvard University Press 1962.
[4] Evgenij Preobraézenskij: Die neue Ökonomik, Berlin: Verlag Neuer Kurs 1973 (2. Auflage), Kap. II.
[5] Vgl. bibliographische Anmerkungen am Ende des Textes.
[6] ebenda.
[7] Die reife Position zur Verbindung zwischen der Agrarfrage und dem Kapitalismus findet sich in Bordiga: Mai la merce sfamerà l'uomo, 1979; vgl. bibliographische Anmerkungen.
[8] Vgl. »Bilan d'une revolution«, in Programme communiste, Nr. 40/41/42, Oktober 1967 bis Juni 1968; vgl. bibliographische Anmerkungen.
[9] Die Entwicklung von Bordigas Prophezeiung, daß es 1975 zu einer großen Weltkrise kommen werde, ist dargestellt bei Franco Livorsi: Amadeo Bordiga, Rom 1976, S. 426-444; vgl. bibliographische Anmerkungen.
[10] Zu einer konzentrierten Darstellung von Bucharins Kritik an Preobraézenskij vgl. »Bilan d'une revolution«, a.a.O., S. 139-140. Gegen die Superindustrialisierungsstrategie der Linken sagte Bucharin, die Arbeiterklasse würde »gezwungen« sein, »einen kolossalen Verwaltungsapparat zu errichten... Der Versuch, alle Kleinproduzenten und Kleinbauern durch Bürokraten zu ersetzen, wird einen derart kolossalen Apparat erzeugen, daß die Kosten seiner Aufrechterhaltung unvergleichlich viel größer sein werden als die unproduktiven Ausgaben, die aus den anarchischen Bedingungen der Kleinproduktion resultieren: zusammengenommen wird der ganze ökonomische Apparat des proletarischen Staats die Entwicklung der Produktivkräfte nicht nur nicht erleichtern, sondern tatsächlich behindern. Er führt zum genauen Gegenteil dessen, was er erreichen soll.« (ebenda).
[11] In »Bilan d'une revolution« wird auf den »bucharinistischen« Aspekt von Trotzkis Einschätzung der stalinistischen »Linkswendung« nach 1928 hingewiesen (ebenda, S. 148).
[12] Diese Intervention fand statt auf dem 6. Vergrößerten Plenum des Exekutivkomitees der Komintern 1926. ebenda, S. 38.
[13] Zum kapitalistischen Wesen der Kolchose vergleiche ebenda, S. 172-179.
[14] Bordigas Vorstellung von der doppelten Revolution findet sich verstreut in seinen Schriften, z.B. in Russie et revolution dans la théorie marxiste, Ed. Spartacus, 1975, S. 192 ff.; vgl. bibliographische Anmerkungen.
[15] W.I. Lenin: »Die Naturalsteuer. Die Bedeutung der Neuen Politik und ihre Bedingungen«, in Lenin Werke, Bd. 32, S. 342. Hier analysiert Lenin 1921 das Verhältnis zwischen Kleinproduzentenkapitalismus und Staatskapitalismus.
[16] Trotzkis lyrischste Formulierungen über das Wachstum der Produktivkräfte im stalinistischen »Arbeiterstaat« finden sich im Einleitungsteil von Verratene Revolution, Zürich 1957 [Originalausgabe 1936].
[17] So die Formulierung in »Bilan d'une révolution«, a.a.O., S. 95.
[18] Zitiert bei Liliana Grilli: Amadeo Bordiga: capitalismo sovietico e comunismo, Mailand 1982, S. 282; vgl. bibliographische Anmerkungen.
[19] Trotzki: Verratene Revolution, a.a.O.
[20] Vgl. Max Shachtman: The Bureaucratic Revolution, New York 1962. Hier legt er seine Ansichten am ausführlichsten dar. Shachtman war einer der Begründer des US-Trotzkismus. Zusammen mit James P. Cannon und Martin Abern gründete er nach der 6. Komintern-Konferenz 1928 die Communist League of America (CLA), aus der später die Socialist Workers Party (SWP) wurde. 1940 brach seine Fraktion in der SWP mit Trotzki und behauptete gegen die trotzkistische Theorie vom »degenerierten Arbeiterstaat« den Klassencharakter der stalinistischen Bürokratie in der UdSSR. Diese Workers' Party (WP) lehnte die Teilnahme am zweiten Weltkrieg ab, da dieser nur ein innerimperialistisches Gemetzel wie der erste Weltkrieg sei. Nach dem zweiten Weltkrieg driftete Shachtman immer weiter nach rechts. In den 60er Jahren unterstützte er die Invasion in der Schweinebucht und den Vietnamkrieg. Als er 1972 starb, war er beim rechten Flügel der Demokratischen Partei gelandet.
[21] Vgl. Bordiga: Russie et revolution dans la théorie marxiste, a.a.O., S. 226-297. Hier behandelt Bordiga die Entwicklung in Marx' Denken über die russische Dorfgemeinschaft und Rußlands verpaßte »historische Chance«, die kapitalistische Phase zu überspringen.
[22] Wie stark sich Marx in den letzten zehn Jahren seines Lebens mit dem Problem der russischen Landwirtschaft beschäftigte, zeigt Teodor Shanin in seinem Aufsatz »Late Marx«, in T. Shanin (ed.): Late Marx and the Russian Road, New York: Monthly Review Press 1983. Siehe hierzu auch den von Maximilien Rubel herausgegebenen Marx-Engels-Band: Die russische Kommune: Kritik eines Mythos, München: Hanser 1972. Vgl. auch Jacques Camatte: »Bordiga et la revolution russe: Russie et necessité du communisme« in der Zeitschrift Invariance, Jg. VII, Serie II, Nr. 4., S. 15-23; vgl. bibliographische Anmerkungen.
[23] MEW 19, S. 107-112.
[24] Vgl. Anm. 22.
[25] Die Analysen des italienischen Faschismus von Bordigas Fraktion aus den Jahren 1921-24, die zum Teil zweifellos von Bordiga selbst geschrieben wurden, sind nachzulesen in Communisme et fascisme, Ed. Programme communiste 1970.
[26] Wie Marx im Manifest sagte, ist der Kommunismus nicht ein Ideal, das verwirklicht werden muß, sondern im Gegenteil »eine unter unsern Augen vor sich gehende geschichtliche Bewegung« (MEW 4, S. 475). Zum Kommunismus als »wirkliche Bewegung« vgl. Jean Barrot: Le Mouvement communiste, Paris: Ed. Camp Libre 1972; vgl. bibliographische Anmerkungen.
[27] Zur Kritik des Formalismus, der darin liegt, das Problem des Sozialismus als Problem der »Organisationsformen« zu sehen, vgl. Jean Barrots Aufsatz: »Contribution à la critique de l'ideologie ultra-gauche (Leninisme et ultra-gauche)« in seinem Buch Communisme et question russe, Ed. de la Tête de Feuilles 1972, S. 139-178.
[28] So stellt es Grilli dar, a.a.O., S. 38.
[29] Ähnlich wurde die Partei auch in Rußland selbst durch das »Lenin-Aufgebot« mit formbaren, unerfahrenen oder einfach karrieregeilen neuen Mitgliedern überschwemmt, die sich von den Stalinisten mühelos gegen die wenigen manipulieren ließen, die von der Alten Garde übriggeblieben waren. International waren Gestalten wie Cachin im PCF oder Thälmann in der KPD Beispiele für diese Veränderung der Kommunistischen Internationale.
[30] Zum Aufstieg der »Schwellenländer« und den weltweiten Folgen für die Ideologie vgl. Nigel Harris: The End of the Third World, London: Routledge 1986.
[31] Zur Kapitalisierung der englischen Landwirtschaft vgl. Robert Brenner: »The Agrarian Origins of European Capitalism«, in T.H. Ashton und C.H.E. Philpin: The Brenner Debate, Cambridge UP 1985, S. 213-327.
[32] Zur merkantilen Tradition und ihren Folgen vgl. Roman Szporluk: Communism and Nationalism: Karl Marx vs. Friedrich List, Oxford University Press 1988.
[33] Zu den Auswirkungen der Agrarkrise nach 1873 vgl. Hans Rosenberg: Große Depression und Bismarckzeit, Berlin 1967.
[34] Der holländische Ultralinke Herman Gorter begriff schon 1921 etwas wirr, aber korrekt, daß der Unterschied zwischen der russischen Revolution und jeder möglichen Revolution im Westen im wesentlichen darin bestand, daß es für die westlichen Arbeiter keine Agrarfrage gab, während Lenin diesen Unterschied in Der linke Radikalismus, die Kinderkrankheit im Kommunismus herunterspielte. Vgl. Herman Gorter: »Offener Brief an den Genossen Lenin«, reprint in Frits Kool (Hrsg.): Die Linke gegen die Parteiherrschaft, Dokumente der Weltrevolution, Bd. 3, Olten 1970, S. 416-496 [Originalausgabe: Berlin: Verlag der KAPD 1921].
[35] Raya Dunayevskaya: Algebra der Revolution, Wien 1981, Kap. 3 [Original: Philosophy and Revolution, New York 1973].
[36] Erstmals veröffentlicht auf deutsch und russisch 1933 in Moskau. Auf deutsch neu erschienen unter dem Titel Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses, Dietz Verlag: Berlin 1988, und in der MEGA (Marx Engels Gesamtausgabe), II. Abt., Band 4.1, S. 24-129, Berlin 1988. Auf englisch als Anhang zur Neuübersetzung des Kapital: Capital, Vol. 1, Harmondsworth/New York: Penguin 1976.
[37] Vgl. die Broschüre Lip and the Self-Managed Counter-Revolution der französischen Gruppe Négation (auf englisch übersetzt und veröffentlicht von Black and Red, Detroit 1975).
[38] Wie der zweite Band des Kapital in der Sowjetunion als »Handbuch« benutzt wurde, aus dem die Kategorien des Planungsprozesses entwickelt wurden, ist gut dargestellt in: Rita di Leo: Gli Operai ed il sistema sovietico, Bari 1970.