Marx-Lexikon: Reform & Reformismus

von Karl Marx am 24. Oktober 2002 07:04:03:

Reformismus und Reformen
Reformen sind „Abschlagszahlungen“, die man akzeptiert, ohne auf ein einziges der weitergehenden revolutionären Ziele zu verzichten. Der Reformismus dagegen gibt sich mit Reformen zufrieden. An revolutionären Zielen wird verbal festgehalten, aber sie spielen keine praktische Rolle und es wird nichts für ihre Verwirklichung getan.

1. Reformen sind „Abschlagszahlungen“ oder Zwischenschritte auf einem revolutionären Weg.
„... Die deutsche Arbeiterklasse wird alles, was man ihr anbietet, als Abschlagszahlung akzeptieren, aber nicht ein Jota von ihren Prinzipien und Forderungen nachlassen.“ F. Engels, Dt. Wahlen 1890, MEW 22, 5.

Zur politischen Bewegung:
Die politische Bewegung der Arbeiterklasse hat natürlich zum Endzweck die Eroberung der politischen Macht für sie, und dazu ist natürlich eine bis zu einem gewissen Punkt entwickelte vorherige Organisation der Arbeiterklasse nötig, die aus ihren ökonomischen Kämpfen selbst erwächst.
Andererseits ist aber jede Bewegung, worin die Arbeiterklasse als Klasse den herrschenden Klassen gegenübertritt und sie durch Druck von der Straße und aus den Betrieben zu zwingen sucht, eine politische Bewegung.“ K. Marx an F. Bolte, 23.11.1871. MEW 33, 332.

2. Der Reformismus will „Reform jetzt“ – „Revolution später“, ohne Verbindung zwischen beidem.
„...In der sozialdemokratischen Partei selbst, bis in die Reichstagsfraktion hinein, findet ein gewisser kleinbürgerlicher Sozialismus seine Vertretung. Und zwar in der Weise, dass man zwar ... die Forderung der Verwandlung aller Produktionsmittel in gesellschaftliches Eigentum als berechtigt anerkennt, aber ihre Verwirklichung nur in entfernter, praktisch unabsehbarer Zeit für möglich erklärt. Damit ist man denn für die Gegenwart auf bloßes soziales Flickwerk angewiesen ...“ F. Engels, Wohnungsfrage, 1887, MEW 21, 328.

„Das revolutionäre Programm soll nicht aufgegeben, sondern nur aufgeschoben werden – bis auf unbestimmte Zeit. Man nimmt es an, aber eigentlich nicht für sich selbst und für seine Lebzeiten, sondern nach seinem Tod, als Erbstück für Kinder und Enkeln. Inzwischen wendet man seine ‚ganze Kraft und Energie’ auf allerhand Kleinkram und Herumflickerei an der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, damit es doch aussieht, als geschehe etwas und gleichzeitig die Bourgeoisie nicht erschreckt werde. ...
Statt entschiedener politischer Opposition – allgemeine Vermittlung; statt des Kampfes gegen Regierung und Bourgeoisie – der Versuch sie zu gewinnen und zu überreden; statt trotzigen Widerstands gegen Misshandlungen von oben – demütige Unterwerfung und das Zugeständnis, man habe die Strafe verdient.
Alle historisch notwendigen Konflikte werden umgedeutet in Missverständnisse und alle Diskussion beendigt mit der Beteuerung: in der Hauptsache sind wir ja alle einig. ...
Der Sturz der kapitalistischen Ordnung (liegt) in unerreichbarer Ferne, hat also absolut keine Bedeutung für die politische Praxis der Gegenwart; man kann vermitteln, kompromisseln, menschenrechteln nach Herzenslust.
Ebenso geht’s mit dem Klassenkampf zwischen Proletariat und Bourgeoisie. Auf dem Papier erkennt man ihn an, weil man ihn doch nicht mehr wegleugnen kann, in der Praxis aber wird er vertuscht, verwaschen, abgeschwächt. Die sozialdemokratische Partei soll keine Arbeiterpartei sein, sie soll nicht den Hass der Bourgeoisie oder überhaupt irgend jemandes auf sich laden; sie soll vor allem unter der Bourgeoisie energische Propaganda machen; statt auf weitgehende, die Bourgeois abschreckende und doch in unserer Generation unerreichbare Ziele Gewicht zu legen, soll sie lieber ihre ganze Kraft und Energie auf diejenigen kleinbürgerlichen Flickreformen verwenden, die der alten Gesellschaftsordnung neue Stützen verleihen und dadurch die endliche Katastrophe vielleicht in einen allmählichen, stückweisen und möglichst friedfertigen Auflösungsprozess verwandeln könnten. Es sind dieselben Leute, die unter dem Schein rastloser Geschäftigkeit nicht nur selbst nichts tun, sondern auch zu hindern suchen, dass überhaupt etwas geschieht – als schwatzen; ...
Wir haben bei der Gründung der Internationalen ausdrücklich den Schlachtruf formuliert: Die Befreiung der Arbeiterklasse muss das Werk der Arbeiterklasse selbst sein. Wir können also nicht in einer Partei zusammengehen mit Leuten, die es offen aussprechen, dass die Arbeiter zu ungebildet sind, sich selbst zu befreien, und erst von oben herab befreit werden müssen ...“ K. Marx/F. Engels, Zirkularbrief an die SPD-Führung, 1879, MEW 19, 162-165.

3. Reformen als „Abschlagszahlungen“ des revolutionären Kampfes müssen sich in Gesetzen niederschlagen, damit sie Dauer und allgemeine Gültigkeit erlangen. Im politischen Spannungsverhältnis zwischen herrschenden und unterdrückten Klassen entwickeln sich drei Arten von Gesetzen:
- Gesetze, durch die die herrschende Klasse ihr eigenes Interesse direkt geltend macht;
- Gesetze, die der herrschenden Klasse von der ökonomischen Entwicklung diktiert werden;
- Gesetze, die die Arbeiterbewegung und das unterdrückte Volk den Herrschenden aufzwingen.

3.1. Gesetze, durch die die herrschende Klasse ihr eigenes Interesse geltend macht: z.B. Eigentumsrecht (BGB), Strafrecht, Notstandsgesetze, Anti-Terror-Gesetze etc. wird eine emanzipatorische Opposition zunächst zu verhindern suchen und später soweit als möglich ignorieren und damit außer Kraft setzen.
Der Staat ist „die Form der Organisation, welche sich die Bourgeois sowohl nach Außen als nach Innen hin zur gegenseitigen Garantie ihres Eigentums und ihrer Interessen notwendig geben.“ K. Marx, Dt. Ideologie, MEW 3, 62.

„Das materielle Leben der Individuen, welches keineswegs von ihrem bloßen ‚Willen’ abhängt, ihre Produktionsweise und die Verkehrsform, die sich wechselseitig bedingen, ist die reelle Basis des Staats und bleibt es auf allen Stufen, auf denen die Teilung der Arbeit und das Privateigentum noch nötig sind, ganz unabhängig vom Willen der Individuen.
Diese wirklichen Verhältnisse sind keineswegs von der Staatsmacht geschaffen, sie sind vielmehr die sie schaffende Macht.
Die unter diesen Verhältnissen herrschenden Individuen müssen, abgesehen davon, dass ihre Macht sich als Staat konstituieren muss, ihrem durch diese bestimmten Verhältnisse bedingten Willen einen allgemeinen Ausdruck als Staatswillen geben, als Gesetz - einen Ausdruck, dessen Inhalt immer durch die Verhältnisse dieser Klasse gegeben ist, wie das Privat- und Strafrecht aufs Klarste beweisen. ...
Ihre persönliche Macht beruht auf Lebensbedingungen, die sich als Vielen gemeinschaftliche entwickeln, deren Fortbestand sie als Herrschende gegen andere und zugleich als für Alle geltende zu behaupten haben. Der Ausdruck dieses durch ihre gemeinschaftlichen Interessen bedingten Willens ist das Gesetz.“ K. Marx, Deutsche Ideologie, MEW 3, 311.

„Die Steuern sind die wirtschaftliche Grundlage der Regierungsmaschine und von sonst nichts.“ K. Marx, Gothaer Programm, MEW 19, 30.

3.2. Gesetze, die der herrschenden Klasse von der ökonomischen Entwicklung diktiert werden (z.B. Schulpflicht, Sozialversicherungen, Frauenstimmrecht, Scheidungsrecht etc., Kinderhorte, Ganztagsschulen), versucht die emanzipatorische Opposition zu beschleunigen und gleichzeitig darin die Interessen der Lohnarbeiter geltend zu machen.
Sogar „in despotischen Staaten umgreift die Arbeit der Oberaufsicht und allseitigen Einmischung der Regierung beides ...: sowohl die Verrichtung der gemeinsamen Geschäfte, die aus der Natur aller Gemeinwesen hervorgehen, wie die spezifischen Funktionen, die aus dem Gegensatz der Regierung zu der Volksmasse entspringen.“ K. Marx, Kapital III. MEW 25, 397.

„Änderungen, die von einer gesellschaftlichen Notwendigkeit diktiert werden, bahnen sich früher oder später ihren Weg;
wenn sie zu einem dringenden Bedürfnis geworden sind, müssen sie befriedigt werden, und die Gesetzgebung wird immer gezwungen sein, sich ihnen anzupassen.“ Karl Marx, Nationalisierung des Bodens, MEW 18, 60.

„Der Paragraf im SPD-Parteiprogramm von Gotha über die Schulen hätte wenigstens technische Schulen (theoretische und praktische) in Verbindung mit der Volksschule verlangen sollen.
Ganz verwerflich ist eine ‚Volkserziehung durch den Staat’.
Durch ein allgemeines Gesetz die Mittel der Volksschulen bestimmen, die Qualifizierung des Lehrerpersonals, die Unterrichtszweige etc., und, wie es in den Vereinigten Staaten geschieht, durch Staatsinspektoren die Erfüllung dieser gesetzlichen Vorschriften überwachen, ist etwas ganz anderes, als den Staat zum Volkserzieher zu ernennen!
Vielmehr sind Regierung und Kirche gleichermaßen von jedem Einfluss auf die Schule auszuschließen. Im preußisch-deutschen Reich nun gar ... bedarf umgekehrt der Staat einer sehr rauen Erziehung durch das Volk.” K. Marx, Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, 30f.

3.3. Gesetze zur Verkürzung der Arbeitszeit, zum Schutz besserer Arbeitsbedingungen und konkrete Rechte zur Selbstbestimmung des Volkes versucht das Volk der herrschenden Klasse aufzuzwingen: z.B. 8-Stunden-Tag, Organisationsfreiheit, Mitbestimmungsgesetze etc., Freiheit der Meinungsäußerung, Amnestie der 68er Bewegung, Verbot der Nutzung von Kernenergie usw.
„Diese Organisation der Proletarier zur Klasse, und damit zur politischen Partei, wird jeden Augenblick wieder gesprengt durch die Konkurrenz unter den Arbeitern selbst. Aber sie ersteht immer wieder, stärker, fester, mächtiger. Sie erzwingt die Anerkennung einzelner Interessen der Arbeiter in Gesetzesform, indem sie die Spaltungen der Bourgeoisie unter sich benutzt. So das Gesetz zum Zehnstundentag in England.“ K. Marx, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW 4, 471.

„Die grausamen Gesetze gegen die Gewerkschaften fielen in England 1825 vor der drohenden Haltung des Proletariats. Trotzdem fielen sie nur zum Teil. Einige schöne Überbleibsel der alten Bestimmungen verschwanden erst 1859.
Endlich beanspruchte der Parlamentsakt vom 29. Juni 1871 die letzten Spuren dieser Klassengesetzgebung zu beseitigen durch gesetzliche Anerkennung der Gewerkschaften. Aber ein Parlamentsakt vom selben Datum ... stellte tatsächlich den vorigen Stand in neuer Form wieder her. Durch diesen parlamentarischen Trick wurden die Mittel, deren sich die Arbeiter bedienen können bei einem Streik oder einer Aussperrung ... für illegal erklärt und unter eine Ausnahme-Strafgesetzgebung gestellt...
Man sieht, nur widerwillig und unter dem Druck der Massen verzichtete das englische Parlament auf die Gesetze gegen Streiks und Gewerkschaften, nachdem es selbst, fünf Jahrhunderte hindurch, mit schamlosem Egoismus die Stellung einer permanenten Gewerkschaft der Kapitalisten gegen die Arbeiter eingenommen hatte.“ K. Marx, Kapital I. MEW 23, 768f.

„Wir schlagen 8 Arbeitstunden als gesetzliche Schranke des Arbeitstages vor. ...
Zur Information der Mitglieder auf dem Kontinent, deren Erfahrungen auf dem Gebiete der Fabrikgesetzgebung relativ gering sind, fügen wir hinzu, dass alle gesetzlichen Beschränkungen misslingen und vom Kapital durchbrochen werden, wenn nicht die Tageszeit bestimmt wird, in die die 8 Arbeitsstunden zu fallen haben. ...
Die Tendenz muss dahin gehen, jede Nachtarbeit abzuschaffen.“ K. Marx, Vorschläge für das Programm der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA), MEW 16, 194.

„Die Verwandlung gesellschaftlicher Einsicht in gesellschaftliche Gewalt... (kann) unter den gegebenen Umständen ... nur durch allgemeine Gesetze geschehen, durchgesetzt durch die Staatsgewalt. Bei der Durchsetzung solcher Gesetze (, die in ihrem Interesse liegen,) stärkt die Arbeiterklasse keineswegs die Macht der Regierung. Im Gegenteil, sie verwandelt jene Macht, die jetzt gegen sie gebraucht wird, in ihre eigenen Diener. Sie erreicht durch einen allgemeinen Gesetzesakt, was sie durch eine Vielzahl isolierter individueller Anstrengungen vergeblich erstreben würde.“ K. Marx, Vorschläge für das Programm der Internationalen Arbeiterassoziation (IAA), MEW 16, 194.

Wo es dem Verständnis dient, habe ich die Rechtschreibung, veraltete Fremdwörter, Maßeinheiten und Zahlenangaben modernisiert. Diese und alle erklärenden Textteile, die nicht wörtlich von Marx stammen, stehen in kursiver Schrift.
Wal Buchenberg, 21.10.2002.






bisherige Antworten:



  Internationales
Marx-Forum