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Die Zusammenbruchstheorie des Kapitalismus |
Zuerst anonym veröffentlicht in den Niederlanden in Rätekommunist, Nr.1, Juni 1934.
Wieder veröffentlicht in Gruppe Internationaler Kommunisten Hollands, Rowohlt, Reinbek-Hamburg, 1971.
Dank an Adam Buick.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
In den ersten Jahren nach der russischen Revolution herrschte die Ansicht, daß der Kaplismus sich in einer Endkrise, in seiner Todeskrise befinde. Als die revolutionäre Bewegung der Arbeiter in Westeuropa abflaute, gab die 3. Internationale diese Theorie auf. Sie wurde dann aber festgehalten von der Oppositionsbewegung der K.A.P., die die Anerkennung der Todeskrise zu einem Unterscheidungsmerkmal zwischen dem revolutionären und dem reformistischen Standpunkt machte. Die Frage der Notwendigkeit und Unabwendbarkeit des kapitalistischen Zusammenbruchs, und in welcher Weise dieser zu verstehen sei, ist für die Arbeiterklasse, für ihre Erkenntnis und Taktik, die wichtigste aller Fragen. Rosa Luxemburg hatte sie schon 1912 in ihrem Buch Die Akkumulation des Kapitals behandelt, und sie kam dort zu dem Ergebnis, daß in einem reinen, geschlossenen kapitalistischen System der für Akkumulation dienende Mehrwert nicht realisiert werden kann, daß Jäher stetige Ausdehnung des Kapitalismus durch Handel mit nicht- kapitalistischen Ländern nötig ist. Das bedeutet: wenn diese Ausbreitung nicht mehr möglich ist, bricht der Kapitalismus zusammen; er kann als wirtschaftliches System nicht mehr weiter bestehen. Auf diese Theorie, die sofort nach ihrem Erscheinen von verschiedenen Seiten bestritten wurde, hat sich die K.A.P. oft berufen. Eine ganz andere Theorie wurde 1929 von Henryk Grossmann entwickelt in seinem Werk Das Akkumulations- und Zusammenbruchsgesetz des kapitalistischen Systems. Darin leitet er ab, daß der Kapitalismus reinökonomisch zusammenbrechen muß, in dem Sinne, daß er, unabhängig von menschlichem Eingreifen, Revolutionen, als ökonomisches System unmöglich weiter bestehen kann. Die schwere und andauernde Krise, die 1930 einsetzte, hat zweifellos die Geister für eine solche Theorie der Todeskrise empfänglicher gemacht. In dem kürzlich erschienen Manifest der United Workers of America wird Grossmann’s Theorie zu der theoretischen Basis einer Neuorientierung der Arbeiterbewegung gemacht. Daher ist es nötig, sie kritisch zu untersuchen. Dazu ist es unvermeidlich, zuerst die Fragestellung bei Marx und die damit verbundenen vorherigen Diskussionen darzulegen.
In dem 2. Teil des Kapital hat Man die allgemeinen Bedingungen des Gesamtprozesses der kapitalistischen Produktion behandelt. In dem abstrakten Fall der reinen kapitalistischen Produktion findet alle Produktion für den Markt statt: alle Produkte sind als Waren zu kaufen und zu verkaufen. Der Wert der Produktionsmittel geht auf das Produkt über und neuer Wert wird durch die Arbeit hinzugefügt. Dieser neue Wert zerfällt in zwei Teile dem Wert der Arbeitskraft, der als Lohn bezahlt und von den Arbeitern zum Kaufen von Lebensmitteln benutzt wird, und dem Rest, dem Mehrwert, der dem Kapitalisten zufällt. Wird letzterer für Lebens- und Genußmittel verwendet, so findet einfache Reproduktion statt; wird ein Teil akkumuliert zu neuem Kapital, dann hat man eine Reproduktion auf erweiterter Stufenleiter.
Damit die Kapitalisten die Produktionsmittel, die sie brauchen, auf dem Markt finden, und die Arbeiter gleichfalls die Lebensmittel, die sie brauchen, muß ein bestimmtes Verhältnis zwischen allen Produktionsgebieten vorhanden sein. Ein Mathematiker würde dies leicht in algebraischen Formeln zum Ausdruck bringen: Marx hat statt dessen Zahlenbeispiele gegeben, phantasierte Fälle mit dazu gewählten Zahlen, die als Illustration dienen, um diese Verhältnisse zum Ausdruck zu bringen. Er unterscheidet zwei Sphären oder Hauptgebiete der Produktion, dasjenige der Produktionsmittel (I) und dasjenige der Konsumtionsmittel (II). In jedem wird ein bestimmter Wert der gebrauchten Produktionsmittel auf das Produkt ungeändert übertragen (konstantes Kapital c). Von dem neu hinzugefügten Wert wird ein bestimmter Teil für die Arbeitskraft bezahlt (variables Kapital v), und der andere Teil ist Mehrwert (m). Setzt man für das Zahlenbeispiel die Annahme, daß das konstante Kapital 4 mal das variable ist (mit der Entwicklung der Technik steigt diese Zahl), und daß der Mehrwert gleich dem variablen Kapital ist (das wird bestimmt durch die Ausbeutungsrate), so genügen im Fall der einfachen Reproduktion die folgenden Zahlen diesen Bedingungen:
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Jede Zeile genügt den Bedingungen. Weil v plus m, die für Konsumtionsmittel verwendet werden, zusammen die Hälfte sind von c, dem Wert der Produktionsmittel, muß in der 2. Sphäre halb soviel an Wert produziert werden als in der 1. Sphäre. Dann ist das richtige Verhältnis getroffen: die 6000 produzierten Produktionsmittel sind gerade nötig, um für die folgende Umschlagsperiode 4000c für die erste und 2000c für die 2. Sphäre zu liefern; und die 3000 in II produzierten Lebensmittel reichen genau, um 1000 plus 500 für die Arbeiter und 1000 plus 500 für die Kapitalisten bereitzustellen.
Um den Fall der Kapitalakkumulation in ähnlicher Weise zu illustrieren, muß man angeben, welcher Teil des Mehrwerts für Akkumulation dient; dieser Teil wird im nächsten Jahr (der Einfachheit wegen nimmt man eine Produktionsperiode von jedesmal einem Jahre) zum Kapital geschlagen, so daß dann ein größeres Kapital in jeder Produktionssphäre angewandt wird. Wir nehmen in unserem Beispiel an, daß die Hälfte des Mehrwerts akkumuliert (also für neue c und v verwandt) und die andere Hälfte verzehrt wird (Konsum k). Die Berechnung des Verhältnisses von I zu II wird nun etwas verwickelter, aber es läßt sich natürlich finden. Es stellt sich heraus, daß bei den gegebenen Annahmen das Verhältnis 11 zu 4, wird, wie sich in den folgenden Zahlen zeigt:
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Die Kapitalisten brauchen 4400 plus 1600 zur Erneuerung, 440 plus 160 zur Erweiterung ihrer Produktionsmittel, und sie finden in der Tat 6600 an Produktionsmitteln auf dem Markt. Die Kapitalisten brauchen 550 plus 200 für ihren Konsum, die alten Arbeiter 1100 plus 400, die neu eingestellten 110 plus 40 für Lebensmittel; was zusammen die tatsächlich an Lebensmittel produzierten 2400 gleich ist. Im nächsten Jahre findet dann alles in um 10 % größerer Stufenleiter statt:
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So kann dann, jedes Jahr in derselben Proportion steigend, weiterproduziert werden.
Natürlich bildet dies ein ungeheuer vereinfachter Fall. Man kann es verwickelter und damit der Wirklichkeit ähnlicher machen, wenn man für die Gebiete 1 und II eine verschiedene organische Zusammensetzung (Verhältnis c zu v) annimmt, oder auch eine verschiedene Akkumulationsrate oder wenn man das Verhältnis c zu v allmählich zunehmen läßt, wobei auch das Verhältnis von. 1 zu II jedes Jahr anders wird. In allen diesen Fällen wird die Rechnung komplizierter, aber sie läßt sich immer durchführen, da immer eine unbekannte Zahl, das Verhältnis von I zu II aus der Bedingung berechnet wird, daß Nachfrage und Angebot sich decken müssen.
Solche Beispiele sind in der Literatur zu finden. In der Wirklichkeit findet natürlich nie ein völliger Ausgleich in einer Periode statt; Waren werden für Geld verkauft, und erst nachher wird das Geld zum Kaufen verwendet, wobei Schatzbildung als Puffer und Reservoir dient. Auch bleiben Waren unverkauft liegen; außerdem wird mit nicht kapitalistischen Gebieten Handel getrieben. Aber das Wesentliche, worauf es ankommt, ist in diesen Reproduktionsschemas klar zu sehen: damit die Produktion, sich erweiternd, ihren stetigen Fortgang nimmt, sind bestimmte Verhältnisse zwischen den Produktionsgebieten nötig, die in der Praxis dann annähernd erfüllt sind; und diese Verhältnisse hängen von den vorhandenen Daten: organischer Zusammensetzung des Kapitals, Ausbeutungsrate, akkumulierter Fraktion des Mehrwerts ab.
Marx hatte keine Gelegenheit, diese Beispiele alle fein sauber auszuarbeiten (vgl. Engels Einleitung zu Bd.II des Kapitals). Das war wohl die Ursache, daß Rosa Luxemburg glaubte, hier eine Lücke zu finden, ein Problem, das Marx nicht gesehen und daher ungelöst gelassen hat, und zu dessen Lösung sie dann ihr Werk Die Akkumulation des Kapitals (1912) abgefaßt hat. Das Problem, wer die Produkte kaufen muß, in denen der Mehrwert enthalten sei. Wenn die Abteilungen I und II sich gegenseitig immer mehr Produktionsmittel und Lebensmittel verkaufen, so wäre das ein zweckloses Sich-im-Kreise-drehen, wobei nichts herauskommt. Die Lösung liege 4arin, daß außerhalb des Kapitalismus stehende Käufer auftreten, fremde überseeische Märkte, deren Eroberung daher eine Lebensfrage für den Kapitalismus sei. Dies sei die wirtschaftliche Grundlage des Imperialismus.
Nach dem Obenstehenden ist wohl klar, daß Rosa Luxemburg sich darin geirrt hat. In dem Schema als Beispiel ist unzweideutig die Tatsache zu erkennen, daß alle Produkte innerhalb des Kapitalismus selbst verkauft werden; nicht nur die Übertragenen Wertteile 4400 plus 1600, sondern auch die 440 plus 160, in denen der akkumulierte Mehrwert enthalten ist, werden als körperliche Produktionsmittel von den Kapitalisten gekauft, die im nächsten Jahr mit im Ganzen 6600 an Produktionsmitteln anfangen wollen. Und ähnlich werden die 110 plus 40 aus dem Mehrwert tatsächlich von den hinzukommenden Arbeitern gekauft. Zwecklos ist auch nichts daran: produzieren, einander verkaufen, konsumieren, akkumulieren, mehr produzieren ist der ganze Inhalt des Kapitalismus, also des Lebens der Menschen in dieser Produktionsweise. Ein ungelöstes Problem, das Marx nicht gesehen haben sollte, ist hier nicht vorhanden.
Bald nach dem Erscheinen des Buches von Rosa Luxemburg ist daher von verschiedener Seite die Kritik gekommen. So hat auch in einem Artikel in der Neuen Zeit (7.-14. März 1913) Otto Bauer eine Kritik gegeben. Natürlich wird darin, wie bei jeder anderen Kritik, gezeigt, daß Produktion und Abnahme zueinander stimmen. Aber hier hat die Kritik diese besondere Form, daß die Akkumulation mit dem Bevölkerungswachstum in Zusammenhang gebracht wird. Otto Bauer setzt zuerst sozialistische Gesellschaft voraus, wo die Bevölkerung jährlich um 5 % wächst; daher muß auch die Produktion von Lebensmitteln in demselben Verhältnis wachsen, wobei, durch den Fortschritt der Technik, die Produktionsmittel stärker zunehmen müssen. Ähnlich muß im Kapitalismus, aber hier nicht durch planmäßige Regelung, sondern durch Akkumulation von Kapital, diese Erweiterung stattfinden. Deshalb wird als Zahlenbeispiel ein Schema aufgestellt, das diesen Bedingungen in einfachster Weise genügt: eine jährliche Zunahme des variablen Kapitals um 5 % des konstanten Kapitals um 10 % und eine Ausbeutungsrate von 100 % (m = v). Durch diese Bedingungen ist dann zugleich festgelegt, welcher Teil des Mehrwerts akkumuliert wird, um gerade die angenommene Zunahme des Kapitals zu ergeben, und welcher Teil verzehrt wird. Es erfordert keine schwere Berechnung, ein Schema aufzustellen, das von Jahr zu Jahr die richtige Zunahme aufweist.
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Bauer führt es für 4 Jahre durch und berechnet auch die Zahlen für die Produktionsgebiete I und II gesondert. Für den Zweck, daß kein Problem im Sinne Rosa Luxemburgs vorlag, war das ausreichend.
Aber der Charakter dieser Kritik mußte selbst Kritik hervorrufen. Sein Grundgedanke erhellt schon aus der Einführung mittels des Bevölkerungszuwachses in einer sozialistischen Gesellschaft. Der Kapitalismus erscheint hier als ein noch nicht geregelter Sozialismus, als ein noch nicht gebändigtes, noch wild um sich schlagendes Füllen, das nur der zähmenden Hand des sozialistischen Dompteurs bedarf. Die Akkumulation dient hier nur der durch den Bevölkerungszuwachs nötigen Erweiterung der Produktion, sowie der Kapitalismus überhaupt der Versorgung der Menschheit mit Lebensmitteln dient; beides findet aber, durch den Mangel an Planmäßigkeit, schlecht, unregelmäßig, bald zu viel, bald zu wenig, in Katastrophen statt. Nun mag auch die zahme Zunahme von 5 % jährlich passen für eine sozialistische Gesellschaft, wo alles Menschtum sauber einrangiert ist. Aber als Beispiel für den Kapitalismus, wie er war und ist, paßt sie schlecht. Seine ganze Geschichte ist ein Vorwärtsstürmen, eine gewaltige Ausbreitung, weit über die Grenzen des Bevölkerungszuwachses hinaus. Die treibende Kraft war der Akkumulationstrieb; möglichst viel von dem Mehrwert wurde als neues Kapital angelegt, und zu seiner Verwertung wurden stets größere Kreise der Bevölkerung in den Prozeß hineingezogen. Es war ja, und es ist noch, ein großer Überschuß an Menschen vorhanden, die noch außerhalb oder halbwegs stehen als Reserve und, je nach dem Bedürfnis aufgesogen oder abgestoßen, für das Verwertungsbedürfnis des akkumulierten Kapitals bereit stehen. Dieser wesentliche Grundcharakter des Kapitalismus würde in der Bauerschen Darstellung völlig verkannt.
Es war selbstverständlich, daß Rosa Luxemburg dies zum Zielpunkt ihrer Gegenkritik nahm. Gegen den Nachweis, daß in den Marxschen Schemas kein Problem des Nichtstimmens lag, konnte sie nicht viel anderes vorbringen, als höhnende Ausrufe, daß in künstlichen Zahlenbeispielen alles schön zum Klappen gebracht werden konnte. Aber die Verbindung mit dem Wachstum der Bevölkerung als das regulierende Prinzip der Akkumulation war dem Geiste der Marxschen Lehren so völlig zuwid.er, daß hier der Nebentitel ihrer Antikritik paßte: was die Epigonen aus der Marxschen Theorie gemacht haben. Es handelt sich hier nicht einfach um einen wissenschaftlichen Irrtum (wie bei Rosa Luxemburg selbst); es spiegelt sich darin der praktisch-politische Standpunkt der damaligen Sozialdemokraten, Sie fühlten sich als die künftigen Staatsmänner, die an die Stelle der herrschenden Politiker tretend, die Organisation der Produktion durchführen sollen, und die daher in dem Kapitalismus nicht den völligen Gegensatz zu einer durch Revolution zu verwirklichenden proletarischen Diktatur sehen, sondern vielmehr eine noch ungeregelte, verbesserungsfähige Form der Lebensmittelbeschaffung.
An das von Otto Bauer aufgestellte Reproduktionsschema knüpft Henryk Grossmann an. Er hat bemerkt, daß es sich nicht unbeschränkt fortsetzen läßt, sondern bei längerer Fortsetzung auf Widersprüche stößt. Das ist sehr leicht einzusehen. Otto Bauer setzt ein konstantes Kapital 200 000 voraus, das jedes Jahr um 10 % zunimmt, und ein variables Kapital 100 000, das jedes Jahr um 5 % zunimmt; die Mehrwertrate wird 100 % gesetzt, d.h. der Mehrwert ist in jedem Jahre gleich dem variablen Kapital. Eine Größe, die jedes Jahr um 10 % zunimmt, hat sich den Regeln der Mathematik gemäß nach 7 Jahren verdoppelt, nach 14 Jahren vervierfacht, nach 23 Jahren verzehnfacht, noch 46 Jahren verhundertfacht. Eine Größe, die jedes Jahr um 5 % zunimmt, hat sich nach 46 Jahren nur verzehnfacht. Das variable Kapital und der Mehrwert, die im ersten Jahr halb so groß als das konstante Kapital waren, sind nach 46 Jahren nur noch der zwanzigste Teil des viel kolossaler gewachsenen konstanten Kapitals. Der Mehrwert reicht also gar nicht für den 10 prozentigen Zuwachs des konstanten Kapitals.
Das liegt nicht einfach an den von Bauer gewählten Zuwachsraten von 10 und 5 %. Denn tatsächlich nimmt der Mehrwert im Kapitalismus weniger rasch zu als das Kapital. Daß dadurch die Profitrate in der Entwicklung des Kapitalismus fortwährend abnehmen muß, ist eine bekannte Tatsache, und Marx widmet diesem Fallen der Profitrate mehrere Kapitel. Wenn die Profitrate auf 5 % fällt, kann nicht mehr das Kapital um 10 % vergrößert werden, denn die Vergrößerung des Kapitals aus akkumuliertem Mehrwert ist notwendig kleiner als dieser Mehrwert selbst. Die Akkumulationsrate hat selbstverständlich die Profitrate als obere Grenze (vgl. Marx, Das Kapital, III, S.251, wo er sagt, daß „mit der Profitrate die Rate der Akkumulation fällt“). Die Benutzung einer festen Zahl 10 % die für ein paar Jahre, wie bei Bauer zulässig war, Wird unzulassig, wenn man das Reproduktionsschema auf längere Zeit fortsetzt.
Grossmann führt jedoch das Bauersche Schema unbekümmert von Jahr zu Jahr weiter, und glaubt damit den wirklichen Kapitalismus wiederzugeben. Er findet dann die folgenden Werte für konstantes und variables Kapital, Mehrwert, Akkumulation nötigen und den für Konsum der Kapitalisten übrig bleibenden Betrag (alles in Tausende abgerundet).
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Konst. Kap. |
Var. Kap. |
Mehrw. |
Akkumulation |
Konsum |
---|---|---|---|---|---|
Anfangs |
200 |
100 |
100 |
20 plus 5 = 25 |
75 |
nach 20 Jahren |
1222 |
253 |
253 |
122 plus 13 = 135 |
118 |
" 30 " |
3170 |
412 |
412 |
317 plus 21 = 338 |
74 |
" 34 " |
4641 |
500 |
500 |
464 plus 25 = 489 |
11 |
" 35 " |
5106 |
525 |
525 |
510 plus 26 = 536 |
–11 |
Nach dem 21. Jahr nimmt der für den Konsum übrig bleibende Teil des Mehrwerts ab; im 34. Jahr verschwindet er nahezu, und im 35. Jahr ist sogar ein Defizit; der Shylock des konstanten Kapitals fordert unerbittlich sein Pfund Fleisch, es will um 10 % zunehmen, während die armen Kapitalisten hungernd daneben stehen und nichts zum eigenen Konsum behalten.
Vom 35. Jahre an könnte somit die Akkumulation nicht mit dem Bevölkerungszuwachs – auf Basis des jeweiligen technischen Fortschritts - Schritt halten. Die Akkumulation wäre zu klein, es würde notwendig eine Reservearmee entstehen, die mit jedem Jahr anwachsen müßte. (Grossmann, Das Akkumulations- und Zusammenbruchs gesetz des kapitalistischen Systems, S.126)
Unter solchen Umständen werden die Kapitalisten nicht an Fortführung der Produktion denken. Und sollten sie, sie können es nicht; denn wegen des Fehlbetrags von 11 an Akkumulation müssen sie die Produktion einschränken. (Tatsächlich hätten sie das schon früher tun müssen, wegen ihrer Konsumausgaben.) Damit wird ein Teil der Arbeiter arbeitslos; dann wird ein Teil des Kapitals unbeschäftigt und der produzierte Mehrwert weniger, die Masse des Mehrwerts sinkt und ein noch größeres Defizit für die Akkumulation tritt auf, mit noch mehr zunehmender Arbeitslosigkeit. Das ist dann der ökonomische Zusammenbruch des Kapitalismus. Er ist wirtschaftlich unmöglich geworden. Damit ist die Aufgabe gelöst, die Grossmann S.79 stellt:
Wie, auf welche Weise kann die Akkumulation die kapitalistische Produktion zum Zusammenbruch bringen?
Hier findet also statt, was in der älteren marxistischen Literatur immer als ein blödes Mißverständnis der Gegner behandelt wurde, für das der Name „der große Kladeradatsch“ gebräuchlich war. Ohne daß eine revolutionäre Klasse da ist, die Bourgeoisie zu besiegen und zu enteignen, tritt rein wirtschaftlich ein Ende des Kapitalismus ein; die Maschine will nicht mehr drehen, sie stockt, die Produktion ist unmöglich geworden. Mit den Worten Grossmanns:
... trotz der periodischen Unterbrechungen geht der Gesamtmechanismus mit dem Fortschreiten der Kapitalakkumulation immer mehr seinem Ende notwendig entgegen ... Dann gewinnt die Zusammenbruchstendenz die Oberhand und setzt sich in ihrer absoluten Geltung als „letzte Krise“ durch. (S.140)
Und an einer späteren Stelle:
... aus unserer Darstellung (ist) zu ersehen, daß der Zusammenbruch des Kapitalismus, obwohl unter gegebenen Voraussetzungen objektiv notwendig und in bezug auf den Zeitpunkt seines Eintretens exakt berechenbar, dennoch nicht „von selbst“ automatisch zu dem erwarteten Zeitpunkt zu erfolgen braucht und deshalb bloß passiv abzuwarten sei. (S.601)
In diesem Satz, wo man einen Augenblick glauben möchte, daß von der aktiven Rolle des Proletariats als Akteur der Revolution die Rede ist, wird nur über Änderungen des Lohns und der Arbeitszeit gehandelt, die die zahlenmäßigen Grundlagen und Resultate der Rechnung etwas verschieben. Und in diesem Sinne führt er weiter aus:
So zeigt es sich, daß der Gedanke eines aus objektiven Gründen notwendigen Zusammenbruchs durchaus nicht im Widerspruch zum Klassenkampf steht, daß vielmehr der Zusammenbruch trotz seiner objektiv gegebenen Notwendigkeit durch die lebendigen Kräfte der kämpfenden Klassen im starken Maße beeinflußbar ist und für das aktive Eingreifen der Klassen einen gewissen Spielraum läßt. Eben deshalb mündet bei Marx die ganze Analyse des Reproduktionsprozesses in den Klassenkampf aus. (S.602)
Das „deshalb“ ist köstlich; als ob Klassenkampf bei Marx nur Kampf um Lohnforderungen und Arbeitszeit bedeutet.
Sehen wir uns die Grundlage dieses Zusammenbruchs etwas näher an. Worauf beruht die notwendige Zunahme des konstanten Kapitals mit jedesmal 10 %? In dem oben gegebenen Zitat wird gesagt, daß der technische Fortschritt (bei gegebenem Bevölkerungszuwachs) einen bestimmten jährlichen Zuwachs des konstanten Kapitals vorschreibt. Man könnte dann, ohne den Umweg des Reproduktionsschemas sagen: wenn die Profitrate kleiner wird als diese vom technischen Fortschritt geforderte Zuwachsrate, muß der Kapitalismus zugrunde gehen. Abgesehen davon, daß dies nichts mit Marx zu tun hat: was ist der von der Technik geforderte Kapitalzuwachs? Verbesserungen in der Technik werden eingeführt in gegenseitiger Konkurrenz, uni den Extraprofit (relativen Mehrwert) zu ergattern; aber das geht nicht weiter als die finanziellen Mittel vorhanden sind. Jedermann weiß auch, daß Dutzende von neuen Erfindungen, von technischen Verbesserungen, nicht eingeführt werden und oft absichtlich von den Unternehmern unterdrückt, damit nicht der vorhandene technische Apparat entwertet wird. Die Notwendigkeit des technischen Fortschritts wirkt nicht als äußerer Zwang; sie wirkt mittels der Menschen und für diese gilt das Müssen nicht weiter als ihr Können.
Aber nehmen wir an, daß es richtig ist, und daß infolge des technischen Fortschritts das konstante Kapital sich nach dem Schema zum veränderlichen verhalten muß: im 30. Jahre wie 3170 zu 412, im 34. wie 4641 zu 500, im 35. wie 5106 zu 525, im 36. wie 5616 zu 551. Der Mehrwert im 35. Jahr ist nur 525 Tausend und reicht nicht aus, 510 Tausend zum konstanten und 26 Tausend zum variablen Kapital hinzuzufügen. Grossmann läßt das konstante Kapital um 510 Tausend wachsen und behält dann bloß 15 Tausend als Zuwachs des variablen Kapitals! 11 Tausend zu wenig. Er sagt dazu:
11.509 Arbeiter (auf 551 Tausend) bleiben arbeitslos, es bildet sich die Reservearmee Und weil nicht die ganze Arbeiterbevölkerung in den Produktionsprozeß eintritt, so wird nicht die ganze Summe des zusätzlichen konstanten Kapitals (510.563) zum Ankauf von Produktionsmitteln erforderlich sein. Sollte bei einer Bevölkerung von 551.584 ein konstantes Kapital von 561.6200 angewendet werden, so muß bei einer Bevölkerung von 540.075 ein konstantes Kapital von nur 5.499.015 angewendet werden Somit verbleibt ein Kapitalüberschuß von 117.185 ohne Anlagemöglichkeit. So zeigt uns das Schema ein Schulbeispiel für den Tatbestand, an den Marx dachte, als er den entsprechenden Abschnitt des 3. Bandes des Kapital“ mit der Überschrift versah: Überfluß von Kapital bei Überfluß an Bevölkerung. (S.126)
Grossmann hat offenbar nicht bemerkt, daß diese 11.000 nur deshalb arbeitslos werden, weil er, ganz willkürlich, ohne einen Grund anzugeben, das Defizit ganz auf das variable Kapital abwälzt und das konstante Kapital ruhig 10 % zunehmen läßt, als ob nichts los ist; als er dann aber gewahr wird, daß für all diese Maschinen keine Arbeiter da sind, oder richtiger, kein Geld da ist, ihnen Löhne zu zahlen, läßt er auch diese Maschinen lieber nicht bauen und muß nun Kapital unbenutzt liegen lassen. Nur durch diesen Schnitzer gerät er in das „Schulbeispiel“ für eine Erscheinung, die bei den gewöhnlichen kapitalistischen Krisen auftritt. In Wirklichkeit werden die Unternehmer ihre Produktion nur soviel erweitern können, als ihr Kapital, für Maschinen und Lohn zusammen reicht. Ist im Ganzen zu wenig Mehrtwert da, so wird er (bei dem angenommenen technischen Zwang) proportional auf die Bestandteile des Kapitals verteilt werden; die Rechnung zeigt, daß von dem 525.319 betragenden Mehrwert 500.409 zu dem konstanten, 24.910 zu dem variablen Kapital geschlagen werden müssen, um das richtige, dem technischen Fortschritt entsprechende Verhältnis zu haben; nicht 11.000 sondern 1.356 Arbeiter werden freigesetzt und von überschüssigem Kapital ist keine Rede. Führt man das Schema in dieser richtigen Weise weiter, so findet statt einer katastrophalen eine sehr langsam zunehmende Freisetzung von Arbeitern statt.
Wie ist es nun möglich, diesen angeblichen Zusammenbruch auf das Konto von Marx zu schieben und durch viele Kapitel hindurch Dutzende von Zitaten von Marx zu bringen? Diese Zitate beziehen sich alle auf die wirtschaftlichen Krisen, auf den. Konjunkturwechsel von Aufschwung und Niedergang. Während das Schema dazu dienen sollte, einen nach 35 Jahren einsetzenden endgültigen ökonomischen Zusammenbruch zu zeigen, heißt es 2 Seiten weiter:
Die hier zur Darstellung gelangte Marx’sche Theorie des Wirtschaftszyklus. (S.123)
Nur dadurch, daß er fortwährend Sätze von Marx, die über die periodischen Krisen handeln, durch seine Ausführungen streut, kann Grossmann den Schein erwecken, er stelle eine Theorie von Marx dar. Bei Marx findet sich aber nichts von einem endgültigen Zusammenbruch nach dem Grossmannschen Schema. Allerdings: ein paar Zitate führt Grossmann an, die nicht über die Krisen handeln. So schreibt er S.263:
Es zeigt sich, daß die kapitalistische Produktionsweise an der Entwicklung der Produktivkräfte eine Schranke findet ... (Marx, Kapital, III, S.252)
Schlägt man aber das Kapital, III, S. 292, auf, so liest man dort:
Das wichtige aber in ihrem (d.h. Ricardo s und der anderen Okonomen) Horror vor der fallenden Profitrate ist das Gefühl, daß die kapitalistische Produktionsweise an der Entwicklung der Produktivkräfte eine Schranke findet ...
Das ist wohl etwas anderes. Und S.79 zitiert er, um nachzuweisen, daß sogar das Wort Zusammenbruch von Marx stammt:
Dieser Prozeß würde bald die kapitalistische Produktion zum Zusammenbruch bringen, wenn nicht widerstrebende Tendenzen beständig wie der dezentralisierend neben der zentripetalen Kraft wirken. (a.a.O., S.256)
Diese widerstrebenden Tendenzen, das betont Grossmann mit Recht, beziehen sich auf das „bald“, so daß der Prozeß mit ihnen bloß langsamer stattfindet. Spricht Marx hier nun von einem reinwirtschaftlichen Zusammenbruch? Lesen wir den vorhergehenden Satz bei Marx:
Es ist diese Scheidung zwischen Arbeitsbedingungen hier und Produzenten dort, die den Begriff des Kapitals bildet, die mit der urprünglichen Akkumulation sich eröffnet, dann als beständiger Prozeß in der Akkumulation und Konzentration des Kapitals erscheint, und hier endlich sich dz Zentralisation schon vorhandener Kapitale in wenigen Händen und Entkapitalisierung (dahin verändert sich nun die Expropriation) vieler ausdrückt.
Es ist hiernach wohl klar, daß der dann folgende Zusammenbruch, wie so oft bei Marx, einfach für das Ende des Kapitalismus durch den Sozialismus steht.
Mit den Marx-Zitaten ist es also nichts: aus ihnen ist eine wirtschaftliche Endkatastrophe ebensowenig zu lesen, wie sie aus dem Reproduktionsschema abzuleiten ist. Kann es dann aber zur Darstellung und Erklärung der periodischen Krisen dienen? Grossmann sucht beides zu einer festen Einheit zu vereinigen:
Die Marx sehe Zusammenbruchstheorie ist zugleich eine Krisentheorie
lautet die Überschrift des 8. Kapitels (S.137). Aber als Nachweis gibt er nichts als eine Figur S.141, wo eine schief emporlaufende „Akkumulationslinie“ in kleinere Stücke zerschnitten wird. Nach dem Schema soll aber erst nach 35 Jahren der Zusammenbruch beginnen, während nach 5 oder 7 Jahren als jedesmal die Krise einsetzt, in dem Schema alles noch in schönster Ordnung ist.
Will man einen rascheren Zusammenbruch bekommen, so geht das, wenn der jährliche Zuwachs des konstanten Kapitels nicht 10 % sondern viel größer ist. Tatsächlich findet bei steigender Konjunktur in dem Wirtschaftszyklus ein viel rascheres Wachstum des Kapitals statt, das dann aber nichts mit dem technischen Fortschritt zu tun hat; der Produktionsumfang wird sprunghaft erweitert. Allerdings nimmt dabei auch das variable Kapital rasch und sprunghaft zu. Woher dann nach 5 oder 7 Jahren ein Zusammenbruch kommen muß, bleibt dunkel. Das heißt: die wirklichen Ursachen, die die rasch steigende und dann zusammenbrechende Konjunktur bewirken, sind ganz anderer Natur als was in dem Grossmannschen Reproduktionsschema steht.
Marx spricht von Überakkumulation, die die Krise einleitet, einem Zuviel an akkumuliertem Mehrwert, das keine Anlage findet und den Profit drückt; Grossmanns Zusammenbruch entsteht durch ein Zuwenig an akkumuliertem Mehrwert.
Gleichzeitiger Überfluß an unbeschäftigtem Kapital und an unbeschäftigten Arbeitern ist eine typische Krisenerscheinung; das Schema führt zu einem Mangel an genügendem Kapital, der nur durch den schon erwähnten Fehler Grossmanns zu einem Kapitalüberfluß umkonstruiert werden kann. Also: während das Grossmann’sche Schema einen endgültigen Zusammenbruch nicht beweisen kann, paßt es auch nicht auf die wirklichen Zusammenbruchserscheinungen, die Krisen.
Es mag noch hinzugefügt werden, daß es, seinem Ursprunge nach, an dem gleichen Fehler Otto Bauers leidet: das wirkliche stürmische Vorwärtsdrängen des Kapitalismus über die Welt, immer mehr Völker in seine Gewalt bringend, wird hier durch eine zahme regelmäßige Bevölkerungszunahme von 5 % jährlich dargestellt, als wäre der Kapitalismus in eine geschlossene Staatswirtschaft eingepfercht.
Grossmann brüstet sich damit, daß er hier zum ersten Male die Theorie von Marx wieder richtig gestellt hat gegenüber den Entstehungen der Sozialdemokraten.
„Eine dieser neu gewonnenen Erkenntnisse“, sagt er stolz im Anfang der Einleitung, „ist die nach folgende Zusammenbruchstheorie, die tragende Säule im ökonomischen Gedankensystem von Karl Marx.“
Wie wenig dasjenige, was er als Zusammenbruchstheorie ansieht, mit Marx zu tun hat, haben wir gesehen. Immerhin konnte er, bei seiner besonderen Interpretation, doch glauben, mit Marx in Übereinstimmung zu sein. Aber es gibt andere Punkte, wo das nicht gilt. Weil er sein Schema für ein richtiges Bild der kapitalistischen Entwicklung hält, leitet er aus ihm zu verschiedenen Punkten Erklärungsweisen ab, die, wie er zum Teil selbst bemerkt hat, den in Das Kapital entwickelten Anschauungen widersprechen.
Das gilt erstens für die industrielle Reservearmee. Nach dem Grossmann’schen Schema muß vom 35. Jahre an eine Anzahl Arbeiter arbeitslos werden, eine Reservearmee entstehen.
Die Entstehung der Reservearmee, d.h. die Freisetzung der Arbeiter, von der hier gesprochen wird, muß streng von der Freisetzung der Arbeiter durch die Maschine unterschieden werden. Die Verdrängung der Arbeiter durch die Maschine, die Marx im empirischen Teil des 1. Bandes des Kapital beschreibt (13. Kapitel), ist eine technische Tatsache ... (S.128-129) ... Aber die Freisetzung der Arbeiter, die Entstehung der Reservearmee, von der Marx im Akkumulationskapitel (Kap. 23) spricht, ist – das wurde bisher in der Literatur gänzlich außer acht gelassen – nicht durch die technische Tatsache der Einführung von Maschinen verursacht, sondern durch die mangelnde Verwertung ... (S.130)
Das kommt auf den Tiefsinn hinaus: daß die Spatzen davongeflogen, kam nicht durch den Flintenschuß, sondern durch ihre Schreckhaftigkeit. Die Arbeiter werden durch die Maschinen verdrängt; durch Erweiterung der Produktion finden sie teilweise wieder Arbeit; in diesem Gehen und Kommen bleibt ein Teil unterwegs oder draußen. Soll nun die Tatsache, daß sie noch nicht wieder eingestellt sind, die Ursache ihrer Arbeitslosigkeit heißen? Liest man das 23. Kapitel des Kapital, so handelt es sich dort immer um die Verdrängung durch die Maschine als Ursache der Reservearmee, die je nach der Konjunktur teilweise aufgesogen oder aufs neue freigesetzt wird und sich selbst auch als Überbevölkerung reproduziert. Grossmann bemüht sich einige Seiten um den Nachweis, daß hier das ökonomische Verhältnis c : v, und nicht das technische Verhältnis Pm : A wirkt; tatsächlich ist beides identisch. Aber diese Bildung der Reservearmee nach Marx, die von Anfang des Kapitalismus an immerfort und überall stattfindet, wo Arbeiter durch Maschinen ersetzt werden, ist nicht identisch mit der angeblichen Bildung der Reservearmee nach Grossmann, die erst als Folge der Überakkumulation nach 34 Jahren technischen Fortschritts eintritt.
Ähnliches gilt für den Kapitalexport. In langen Ausführungen werden nacheinander alle marxistischen Autoren abgeschlachtet, Varga, Bucharin, Nachimson, Hilferding. Otto Bauer, Rosa Luxemburg, weil sie alle die Ansicht bekunden, daß der Kapitalexport wegen des größeren Profits stattfindet. Mit den Worten Vargas:
Nicht weil es absolut unmöglich wäre, Kapital im Inlande zu akkumulieren ... sondern weil Aussicht auf höheren Profit besteht, wird Kapital ausgeführt. (Vgl. S.498)
Diese Auffassung bekämpft Grossmann als unrichtig und unmarxistisch:
Nicht der höhere Profit des Auslandes, sondern der Mangel an Anlagemöglichkeiten im Inland ist der letzte Grund des Kapitalexports. (S.561)
Er bringt dann viele Zitate aus Marx über Überakkumulation, und verweist auf sein Schema, wo nach dem 35. Jahre steigende Kapitalmassen keine Verwendung im Inlande mehr finden; deshalb müssen sie exportiert werden.
Wir erinnern daran, daß nach dem Schema jedoch zu wenig Kapital vorhanden war für die vorhandene Bevölkerung, und der Überfluß an Kapital bei ihm nur ein Rechenfehler war. Übrigens hat er bei all seinen Marxzitaten vergessen, dasjenige anzuführen, wo Marx selbst über den Kapitalexport spricht:
Wird Kapital ins Ausland geschickt, so geschieht es nicht, weil es absolut nicht im Inland beschäftigt werden könnte. Es geschieht, weil es zu höherer Profitrate im Auslande beschäftigt werden kann. (Kapital, III, S.266)
Das Fallen der Profitrate ist einer der wichtigsten Teile der Kapitaltheorie bei Marx; er hat es zuerst theoretisch erklärt, und nachgewiesen, wie in dieser Falltendenz, die sich periodisch in den Krisen durchsetzt, die Vergänglichkeit des Kapitalismus verkörpert ist. Bei Grossmann ist es ein anderes Phänomen, das hervortritt: nach dem 35. Jahr werden Arbeiter massenhaft freigesetzt und wird zugleich Kapital überflüssig gemacht; dadurch wird das Defizit an Mehrwert im nächsten Jahr schlimmer, werden also noch mehr Arbeiter und noch mehr Kapital stillgelegt; mit der Abnahme der Arbeiterzahl nimmt die Masse des produzierten Mehrwerts ab, und so sinkt der Kapitalismus immer tiefer in die Katastrophe hinein. Hat Grossmann da selbst nicht den Widerspruch bemerkt? Ja doch; und so setzt er sich in dem Kapitel Die Ursachen der Verkennung der Marx’schen Akkumulations- und Zusammenbruchstheorie, nach einer einleitenden Betrachtung, ans Werk:
„So ist die Zeit für die Rekonstruktion der Marx’schen Zusammenbruchslehre herangereift.“ (S.195) „Äußerlich mochte der Umstand den Anlaß zum Mißverständnis ... gegeben haben“, daß das 3. Kapitel von Bd.III, wie Engels im Vorwort sagte, ‚in einer Reihe unvollständiger mathematischer Bearbeitungen‘ vorlag.“
Engels nahm bei ihrer Bearbeitung die Hilfe seines Freundes, des Mathematikers Samuel Moore in Anspruch.
„Aber Moore war kein Nationalökonom ... Die Entstehungsweise dieses Teiles des Werkes also macht es schon im voraus glaubhaft, daß hier zu Mißverständnissen und Irrtümern reichlich. Gelegenheit bestand und daß diese Irrtümer dann auch auf das Kapitel von dem tendenziellen Fall du Profitrate ... leicht übertragen werden konnten.“ (Nota bene: diese Kapitel lagen von Marx fertig vor!,) „Die Wahrscheinlichkeit des Irrtums erhebt sich fast zur Gewißheit, wenn wir erwägen, daß es sich dabei um e in Wort handelt, das aber unglücklicherweise den Sinn der ganzen Darstellung vollständig entstellt das unvermeidliche Ende des Kapitalismus wird dem relativen Fall der Profitrate, statt -masse, zugeschrieben. Hier hat sich Engels oder Moore sicher verschrieben.“ (S.195)
So sieht also die Rekonstruktion der Marx’schen Lehre aus! Und in einer Note wird noch ein Zitat angeführt und gesagt:
Bei den in Klammem gesetzten Worten hat sich Engels oder Marx selbst verschrieben, es sollte richtigerweise heißen „und zugleich eine Profitmasse, welche relativ fällt“. (Kapital, III, S.229)
Nun ist es Marx selbst schon, der sich verschreibt! Und nun handelt es sich hier um eine Stelle, wo der Sinn unzweideutig klar ist, wie der Wortlaut im Kapital sie gibt. Die ganze Darlegung bei Marx, die mit jenem änderungsbedürftigen Satz endet, dient als Fortsetzung eines Satzes, wo Marx erklärt:
Die Masse des von ihm produzierten Mehrwerts, daher die absolute Masse des von ihm produzierten Profits kann also wachsen, trotz des progressiven Falls der Profitrate ... Dies kann nicht nur der Fall sein, es muß der Faß sein – vorübergehende Schwankungen abgerechnet – auf Basis der kapitalistischen Produktion. (a.a.O., S.228)
Dann folgt eine Darlegung, weshalb die Profitmasse wachsen muß, und wieder heißt es:
Im Fortschritt des Produktions- und Akkumulationsprozesses muß also die Masse der aneignungsfähigen und angeeigneten Mehrarbeit und daher die absolute Masse des vom Gesellschaftskapital angeeigneten Profits wachsen. (a.a.O., S.229)
Also das völlige Gegenteil der von Grossmann ausgedachten Zusammenbruchserscheinungen. Und in den folgenden Seiten wird das noch öfters wiederholt; das ganze 13. Kapitel besteht aus einer Darlegung über:
Das Gesetz, das der durch die Entwicklung der Produktivkraft verursachte Fall der Profitrate begleitet ist von einer Zunahme der Profitmasse. (a.a.O., S.236)
Es kann also nicht der geringste Zweifel darüber bestehen, daß Marx genau sagen will, was dort gedruckt steht und sich durchaus nicht verschrieben hat. Und wenn Grossmann schreibt:
Der Zusammenbruch kann indessen durch den Fall der Profitrate nicht erfolgen. Wie könnte ein prozentuales Verhältnis, wie die Profirate, eine reine Zahl, den Zusammenbruch eines realen Systems herbeiführen! (S.196)
so spricht er damit noch einmal aus, daß er von dem ganzen Marx nichts verstanden hat und daß sein Zusammenbruch sich in völligem Widerspruch zu Marx befindet.
Hier wäre die Stelle, wo er sich von der Haltlosigkeit seiner Konstruktion hätte überzeugen können. Hätte er sich aber hier von Marx belehren lassen, dann wäre seine ganze Theorie gefallen und sein Buch ungeschrieben geblieben.
Das Grossmann’sche Werk kann man am richtigsten bezeichnen als eine Zusammenstoppelung von Hunderten von Zitaten aus Marx, unrichtig angewandt und zusammengeleimt durch eine selbstkonstruierte Theorie. Jedesmal wo eine Beweisführung nötig wäre, wird ein Marxzitat angeführt, das dazu nicht paßt, und die Richtigkeit der Marx’schen Aussagen muß dem Leser den Eindruck der Richtigkeit der Theorie vortäuschen.
Die Frage verdient schließlich Beachtung, wie ein Nationalökonom, der glaubt die Anschauungen von Marx richtig wiederzugeben, ja sogar mit naiver Selbstsicherheit erklärt, als erster die richtige Interpretation zu geben, so völlig daneben hauen kann und sich in völligem Widerspruch zu Marx befindet. Die Ursache liegt in dem. Mangel an historisch-materialistischer Einsicht. Die Marx’sche Ökonomie ist gar nicht zu verstehen, wenn man sieh nicht die historisch-materialistische Denkweise zu eigen gemacht hat.
Für Marx wird die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft, also auch die wirtschaftliche Entwicklung des Kapitalismus, durch eine feste Notwendigkeit, wie durch ein Naturgesetz bestimmt. Aber zugleich ist sie das Werk der Menschen, die darin ihre Rolle spielen, indem jeder mit Bewußtsein und Absicht – obgleich nicht Bewußtsein des gesellschaftlichen Ganzen – seine Taten bestimmt. Für die bürgerliche Anschauungsweise liegt darin ein Widerspruch; entweder das Geschehen hängt von menschlicher Willkür ab, oder, wenn es durch feste Gesetze beherrscht wird, wirken diese als ein außer- menschlicher, mechanischer Zwang. Für Marx setzt sich alle gesellschaftliche Notwendigkeit mittels der Menschen durch; das bedeutet, daß das menschliche Denken, Wollen und Handeln – obgleich es dem eigenen Bewußtsein als Willkür erscheint – durch die Wirkungen der Umwelt völlig bestimmt wird; und nur durch die Gesamtheit dieser, hauptsächlich durch gesellschaftliche Kräfte bestimmten menschlichen Taten setzt sich in der gesellschaftlichen Entwicklung eine Gesetzmäßigkeit durch.
Die gesellschaftlichen Kräfte, die die Entwicklung bestimmen, sind daher nicht nur die rein ökonomischen, sondern auch die dadurch. bestimmten allgemein-politischen Taten, die der Produktion die nötigen Rechtsnormen verschaffen müssen. Die Gesetzmäßigkeit liegt nicht nur in der Wirkung der Konkurrenz, die Preise und Profite ausgleicht und Kapitalien konzentriert, sondern auch in der Durchführung der freien Konkurrenz, der freien Produktion durch bürgerliche Revolutionen. Nicht nur in der Bewegung der Löhne, in der Ausdehnung und dem Zusammenschrumpfen der Produktion in Prosperität und Käse, in dem Schließen der Fabriken und dem Entlassen von Arbeitern, sondern auch in der Empörung, dem Kampf der Arbeiter, in ihrer Eroberung der Herrschaft über Gesellschaft und Produktion zwecks Durchführung neuer Rechtsnormen. Die Ökonomie, als Totalität der für ihre Lebensnotwendigkeit arbeitenden und strebenden Menschen, und die Politik (im weitesten Sinne) als das Wirken und Kämpfen dieser Menschen als Gesamtheit, als Klasse, für ihre Lebensnotwendigkeit bilden ein einziges einheitliches Gebiet gesetzmäßiger Entwicklung. Die Kapitalakkumulation, die Krisen, die Verelendung, die proletarische Revolution, die Besitzergreifung der Herrschaft durch die Arbeiterklasse bilden zusammen eine als Naturgesetz wirkende, untrennbare Einheit, den Zusammenbruch des Kapitalismus.
Die bürgerliche Denkweise, die diese Einheit nicht erfaßt, hat nicht nur außerhalb, sondern auch innerhalb der Arbeiterbewegung immer eine große Rolle gespielt. In der alten radikalen Sozialdemokratie galt die – aus historischen Umständen verständliche – fatalistische Anschauung, die Revolution werde naturnotwendig einmal kommen, aber jetzt sollen die Arbeiter keine gefährlichen Aktionen versuchen. Der Reformismus bezweifelte die Notwendigkeit der gewaltsamen“ Revolution, und glaubte die Vernunft der Staatsmänner und Führer werde durch Reform und Organisation das Kapital bändigen. Andere glaubten, das Proletariat müsse durch moralische Predigten zu revolutionärer Tugend erzogen werden. Immer fehlte das Bewußtsein, daß diese Tugend nur durch die ökonomischen Kräfte, die Revolution nur durch die geistigen Kräfte in den Menschen ihre Naturnotwendigkeit finden. Jetzt treten andere Anschauungen auf. Der Kapitalismus hat sich einerseits mächtig und unangreifbar gezeigt gegen allen Reformismus, alle Führerkunst und alle Revolutionsversuche; lächerlich unbedeutend erscheint dies alles gegen seine gewaltige Kraft. Aber zugleich tritt in furchtbaren Krisen seine innere Unhaltbarkeit hervor. Und wer jetzt Marx zur Hand nimmt und studiert, kommt tief unter den Eindruck der unabwendbaren Gesetzmäßigkeit des Zusammenbruchs und nimmt begeistert diesen Gedanken in sich auf.
Wenn aber seine tiefste Denkweise bürgerlich ist, kann er diese Notwendigkeit nicht anders verstehen, als eine außermenschliche Macht. Der Kapitalismus ist ihm ein mechanisches System, in welchem die Menschen als Wirtschaftspersonen, Kapitalisten, Käufer, Verkäufer, Lohnempfänger etc., mitspielen, aber sonst einfach passiv zu erleiden haben, was der Mechanismus kraft seiner inneren Struktur über sie verhängt.
Diese mechanistische Auffassung kann man auch erkennen in den Darlegungen Grossmanns über den Arbeitslohn, wo er heftig losfährt gegen Rosa Luxemburg:
Überall begegnet man einer unglaublichem barbarischen Verstümmelung der grundlegendsten Elemente der Marx’chen Lohntheorie (S.585)
gerade dort, wo sie vollkommen richtig den Wert der Arbeitskraft als eine mit der gewonnenen Lebenshaltung selbst dehnbare Größe behandelt. Für Grossmann ist der Wert der Arbeitskraft
keine elastische, sondern eine fixe Größe (S.586);
solche Wilkürlichkeiten als Kampf der Arbeiter können keinen Einfluß darauf haben; nur bei einer größeren Intensität der Arbeit muß mehr verausgabte Arbeitskraft ersetzt werden, muß also deshalb der Lohn steigen.
Es ist hier die gleiche maschinenmäßige Auffassung: der Mechanismus bestimmt die ökonomischen Größen, während die kämpfenden und handelnden Menschen außerhalb dieses Zusammenhanges stehen. Er beruft sich dabei wieder auf Marx, wo dieser über den Wert der Arbeitskraft sagt:
Für ein bestimmtes Land, zu einer bestimmten Periode jedoch, ist der Durchschnitts-Umkreis der notwendigen Lebensmittel gegeben. (Kap.1, S.134);
aber er hat leider wieder übersehen, daß bei Marx der Satz unmittelbar vorangeht:
Im Gegensatz zu den anderen Waren enthält also die Wertbestimmung der Arbeitskraft ein historisches und moralisches Element.
Von seiner bürgerlichen Denkweise aus sagt daher Grossmann in seiner Kritik verschiedener sozialdemokratischer Auffassungen:
Wir sehen: der Zusammenbruch des Kapitalismus wurde entweder geleugnet, oder aber voluntaristisch mit politischen, außerökonomiscrhen Momenten begründet. Ein ökonomischer Nachweis der Notwendigkeit des Zusammenbruchs des Kapitalismus wurde nicht erbracht. (S.58-59)
Und er zitiert mit Zustimmung einen Ausspruch Tugan-Baranowsky’s daß zuerst ein strenger Beweis zu liefern sei für die Unmöglichkeit des Fortbestehens des Kapitalismus und damit erst die Notwendigkeit der Verwandlung des Kapitalismus in sein Gegenteil bewiesen sei. Tugan selbst verneint diese Unmöglichkeit und will dem Sozialismus eine ethische Begründung geben. Daß Grossmann sich diesen liberalen russischen Ökonomen, der bekanntlich dem Marxismus immer völlig fremd gegenüberstand, als Schwurzeugen wählt, zeigt wie sehr er ihm, trotz entgegengesetztem praktischen Standpunkt, im Grund des Denkens verwandt ist. (Vgl. auch S.108) Die Marx’sche Auffassung daß der Zusammenbruch des Kapitalismus die Tat der Arbeiterklasse sein wird, also eine politische Tat ist (in der weitesten Bedeutung dieses Wortes: allgemein-gesellschaftlich, was von Besitzergreifung der ökonomischen Herrschaft untrennbar ist), kann er nur verstehen als „voluntaristisch“, d.h. daß es dem freien Willen, der Willkür der Menschen anheim gestellt wird.
Der Zusammenbruch des Kapitalismus bei Marx hängt in der Tat von dem Willen der Arbeiterklasse ab; aber dieser Wille ist nicht Willkür, nicht frei, sondern selbst vollkommen bestimmt durch die ökonomische Entwicklung. Die Widersprüche der kapitalistischen Ökonomie, die in der Arbeitslosigkeit, in den Krisen, in den Kriegen, in den Klassenkämpfen immer aufs neue hervortreten, bestimmen den Willen des Proletariats immer aufs neue auf die Revolution. Nicht weil der Kapitalismus ökonomisch zusammenbricht, und deshalb die Menschen, Arbeiter und andere, durch Notwendigkeit gezwungen, eine neue Organisation schaffen, kommt der Sozialismus. Sondern weil der Kapitalismus, wie er lebt und wächst, für die Arbeiter stets unerträglicher wird und sie in den Kampf treibt, immer wieder, bis in ihnen der Wille und die Kraft gewachsen sind, die Kapitalherrschaft zu stürzen und eine neue Organisation aufzubauen, bricht der Kapitalismus zusammen. Nicht weil diese Unerträglichkeit von außen demonstriert, sondern weil sie spontan als solche empfunden wird, treibt sie zur Tat. Die Marx’sche Theorie, als Ökonomie zeigt, wie jene Erscheinungen unabwendbar immer stärker auftreten, und als Historischer Materialismus, daß aus ihnen dann notwendig der revolutionäre Wille und die revolutionäre Tat entstehen.
Daß das Buch Grossmanns unter den Wortführern der neuen Arbeiterbewegung einige Beachtung gefunden hat, ist aus dem Grunde verständlich, daß er sich gegen dieselben Gegner wendet wie sie. Sie hat die Sozialdemokratie und den Parteikommunismus der 3. Internationale, zwei Äste desselben Stammes, zu bekämpfen, weil diese die Arbeiterklasse an dem Kapitalismus anpassen. Er wirft den Theoretikern dieser Richtungen vor, daß sie die Marx’schen Lehren verunstaltet und gefälscht haben, und er betont den notwendigen Zusammenbruch des Kapitalismus. Seine Schlußfolgerungen klingen ähnlich wie die unsrige; Sinn und Wesen sind jedoch völlig verschieden. Wir sind auch der Meinung, daß die sozialdemokratischen Theoretiker, so gute Kenner der Theorie sie oft waren, doch Marx Lehre verunstaltet haben; aber ihr Irrtum war ein historischer, war der als Theorie festgeronnene Niederschlag einer früheren Kampfperiode des Proletariats. Sein Irrtum ist der eines bürgerlichen Nationalökönomen, der den Kampf des Proletariats praktisch nie kannte, und daher dem Wesen des Marxismus verständnislos gegenübersteht.
Ein Beispiel, wie seine Schlußfolgerungen scheinbar mit den Anschauungen der neuen Arbeiterbewegung übereinstimmen, aber im Wesen völlig entgegengesetzt sind, finden wir in seiner Lohntheorie. Nach seinem Schema tritt nach dem 35. Jahre in dem Zusammenbruch eine rasch steigende Arbeitslosigkeit ein. Dadurch wird der Arbeitslohn tief unter den Wert der Arbeitskraft sinken, ohne daß ein wirksamer Widerstand möglich ist.
Hier ist die objektive Grenze der gewerkschaftlichen Aktion gegeben. (S.599)
So bekannt dies klingt, so ist doch die Grundlage verschieden. Die schon lange eingetretene Machtlosigkeit der gewerkschaftlichen Aktion ist nicht einem ökonomischen Zusammenbruch, sondern einer gesellschaftlichen Machtverschiebung zuzuschreiben. Jedermann weiß, wie die gestiegene Macht der Unternehmerverbände des konzentrierten Großkapitals die Arbeiterklasse relativ machtloser machte. Hier kommt jetzt die Wirkung einer schweren Krise hinzu, die die Löhne herunterdrückt, wie das in jeder früheren Krise geschah. Der reinwirtschaftliche Zusammenbruch des Kapitalismus, den Grossmann konstruiert, bedeutet nicht eine völlige Passivität des Proletariats. Denn wenn dieser Zusammenbruch stattfindet, dann muß eben die Arbeiterklasse aufstehen, um die Produktion auf neuer Grundlage wieder zu errichten.
So drängt die Entwicklung zur Entfaltung und zur Zuspitzung der inneren Gegensätze zwischen Kapital und Arbeit, bis die Lösung nur durch den Kampf beider herbeigeführt werden kann. (S.599)
Und dieser Endkampf steht auch mit dem Lohnkampf im Zusammenhang, wenn (wie schon oben erwähnt) bei Herunterdrückung des Lohnes die Katastrophe etwas aufgeschoben, bei Lohnsteigerung dagegen beschleunigt wird. Aber die ökonomische Katastrophe ist doch das wesentliche Moment, und die Neuregelung wird den Menschen zwangsweise aufgenötigt. Zwar werden die Arbeiter als Bevölkerungsmasse die wuchtige Kraft der Revolution abgeben, genau so wie sie in früheren bürgerlichen Revolutionen die Massenkraft der Aktion bildeten; dies ist aber, wie bei einer Hungerrevolte in, Großen, unabhängig von ihrer revolutionären Reife, von ihrer Fähigkeit selbst, die Herrschaft über die Gesellschaft in die Hand zu nehmen und zu behalten. Das bedeutet, daß eine revolutionäre Gruppe, eine Partei mit sozialistischen Zielen als neue Herrschaft an die Stelle der alten treten muß, um statt des Kapitalismus irgendeine Planwirtschaft einzuführen. Diese Theorie der ökonomischen Katastrophe paßt also gerade für Intelligenzler, die die Unhaltbarkeit des Kapitalismus erkennen und eine Planwirtschaft wollen, weiche durch fähige Ökonomen und Führer aufgebaut werden muß. Und man wird darauf rechnen müssen, daß noch manche ähnliche Theorie aus diesen Kreisen aufkommen oder dort Beifall finden wird.
Auch auf revolutionäre Arbeiter wird die Theorie der notwendigen Katastrophe eine gewisse Anziehungskraft ausüben können. Sie sehen die übergroßen Massen des Proletariats noch an den alten Organisationen, den alten Führern, den alten Methoden hängen, Blind für die Aufgaben, die die neue Entwicklung ihnen auferlegt, passiv, unbeweglich, ohne Anzeichen revolutionärer Tatkraft. Und die wenigen Revolutionäre, die die Entwicklung erkennen, möchten den dumpfen Massen eine tüchtige wirtschaftliche Katastrophe wünschen, damit sie endlich aus dem Schlafe erwachen und in Aktion treten. Auch gäbe die Theorie, daß der Kapitalismus jetzt in eine Endkrise getreten ist, eine so schlagende und einfache Widerlegung allen Reformismus und aller Parteiprogramme, die Parlamentsarbeit und Gewerkschaftsbewegung voranstellen, eine so bequeme Beweisführung, daß eine revolutionäre Taktik notwendig ist, daß revolutionäre Gruppen sie sympathisch begrüßen müssen. Aber so einfach und bequem ist nun, einmal der Kampf nicht, auch nicht der theoretische Kampf der Gründe und Beweisführungen.
Der Reformismus war nicht nur in der Krise, sondern auch schon während der Prosperität eine falsche Taktik, die das Proletariat schwächte. Parlamentarismus und Gewerkschaftstaktik haben sich nicht nur in dieser Krise, sondern schon während einiger Jahrzehnte unfähig erwiesen. Nicht wegen eines ökonomischen Zusammenbruchs des Kapitalismus, sondern wegen seiner ungeheuren Machtentfaltung, seiner Ausdehnung über die ganze Erde, seiner Zuspitzung der politischen Gegensätze, seiner gewaltigen Stärkung der inneren Macht muß das Proletariat zu Massenaktionen greifen, zum Aufbieten der Kraft der ganzen Klasse. In dieser Machtverschiebung liegt der Grund für die Neuorientierung der Arbeiterbewegung.
Nicht eine Endkatastrophe, aber viele Katastrophen hat die Arbeiterklasse zu erwarten, politische, wie die Kriege, und ökonomische, wie die Krisen, die periodisch bald regelmäßiger, bald unregelmäßig, aber im Ganzen mit dem zunehmenden Umfang des Kapitalismus immer verheerender werden. Darin werden die Illusionen und die Ruhetendenzen des Proletariats immer wieder zusammenbrechen, werden immer schärfere und tiefere Klassenkämpfe ausbrechen. Es erscheint als Widerspruch, daß die heutige Krise, so tief und verheerend wie keine zuvor, nichts von einer erwachenden proletarischen Revolution zeigt. Aber die Beseitigung alter Illusionen ist ihre erste große Aufgabe; einerseits der Illusion, mittels sozialdemokratischer Parlamentspolitik und gewerkschaftlicher Aktion durch Reformen den Kapitalismus erträglich zu machen, andererseits der Illusion mittels einer sich revolutionär gebärenden kommunistischen Partei als Führerin den Kapitalismus in einem Sturmlauf überrennen zu können. Die Arbeiterklasse selbst, als Masse, hat den Kampf zu führen, und sie hat sich noch in den neuen Kampfformen zurechtzufinden, während die Bourgeoisie schon ihre Macht fester ausbaut. Schwere Kämpfe können nicht ausbleiben. Und mag diese Krise auch abflauen, neue Krisen werden kommen und neue Kämpfe. In diesen Kämpfen wird die Arbeiterklasse ihre Kampfkraft entwickeln, ihre Ziele herausfinden, sich schulen, sich selbständig machen und lernen, die eigenen Geschicke, d.h. die gesellschaftliche Produktion selbst in die Hand zu nehmen. In diesem Prozeß vollzieht sich der Untergang des Kapitalismus. Die Selbstbefreiung des Proletariats ist der Zusammenbruch des Kapitalismus.
Zuletzt aktualisiert am 17.1.2004