http://www.thur.de/home/annette/arbeit7.htm 2000 Jahre Arbeit sind genug

2000 Jahre Arbeit sind genug

siehe auch hier

In allen meinen früheren Texten (vor 1999) wird unterschieden zwischen "Arbeit" und "Lohnarbeit = Erwerbsarbeit". "Arbeit" interpretierte ich wie Marx als ein allgemeines Lebenserfordernis für Menschen und die Tätigkeit, die ihn als menschliches Wesen prägt – also in positivem Sinne. Ich verteidigte die "freie" Form der Arbeit gegen die Zwänge der Lohn/Erwerbsarbeit.

Seit einigen Wochen habe ich jedoch eine differenziertere Sicht, die eine Änderung dieser Begriffsverwendung erforferlich macht. Ich verwende das Wort "Arbeit" nur noch für die historisch-konkrete Formen der Reproduktionstätigkeiten, die zum Selbstzweck geworden sind. Ich könnte einfach über alle meine Texte ein "Suchen-Ersetzen"-Tool laufen lassen. Aber ich nutze die Gelegenheit lieber, meine Begriffsänderung zu begründen:

Wir sind alle mit der Selbstverständlichkeit aufgewachsen, daß alle Erwachsenen "arbeiten gehen" müssen. Unübersehbar war, daß alles, was wir zum Leben brauchen, "erarbeitet" werden muß. Schließlich erschien es auch logisch, daß Arbeit zum "Wesensmerkmal aller menschlichen Gesellschaften" erklärt wurde. Auf Arbeit beruht scheinbar das Überleben, die Reproduktion der Menschen.

Praktisch kam es dann aber dazu, daß viele von uns in Arbeitsstellen lediglich irgendwelche "Jobs" erledigen, denen sie kaum noch zutrauen, daß sie wirklich zur Reproduktion der Lebensbedürfnisse notwendig sind - es schleicht sich auch der Verdacht ein, daß viele dieser Jobs letztlich aus ökologischen Gründen dem Überleben der menschlichen Zivilisation sogar eher schaden. Wir mußten uns auch daran gewöhnen, daß wir – zumindest als Erwerbslose auf Arbeitssuche - gar nicht das Recht haben, den Sinn einer Arbeit zu hinterfragen. "Arbeit" ist zum Selbstzweck geworden. In soziologischen Befragungen antwortet natürlich die Mehrheit der Befragten: "Ja, wir wollen Arbeit – wegen Geld und wegen Selbstverwirklichung usw.". Keine der Befragungen hinterfragt diese Äußerungen. Letztlich würde sich dann neben dem Geldmotiv nämlich herausstellen:

"Nicht die "Arbeit" als solche ist erstes Lebensbedürfnis, sondern "Arbeit" nur insoweit, wie sie dem Einzelnen die Teilhabe an der Verfügung über den gesellschaftlichen Prozeß erlaubt, ihn also "handlungsfähig" macht" (Holzkamp, S. 243).

Unbestritten ist, daß Menschen ihre Lebensmittel herstellen, ihr Leben reproduzieren müssen. In Weiterentwicklung der auch bereits von Tieren beherrschten Fähigkeit der Werkzeugherstellung zur unmittelbaren Unterstützung der Bedarfsdeckung (Stab zum Angeln einer Banane) können Menschen Werkzeuge unabhängig von der unmittelbaren Nutzung für spätere Verwendung oder Verwendung durch andere herstellen und aufbewahren (Lenz, Meretz S. 60). Dies erfordert eine gedankliche Distanz zwischen unmittelbarem Bedarf und seiner Befriedigung. Antizipierendes und planendes Bewußtsein entsteht. Bio-soziale Gemeinschaften werden zu Produktionsgemeinschaften (Plesse, S. 139). In dem dadurch entstehenden Gesamtzusammenhang einer Gesellschaft muß nicht mehr jeder Organismus individuell seine Reproduktion sichern, sondern der einzelne Mensch kann seine Existenz auch dann erhalten, wenn er sich nicht an der Erhaltung des Systems beteiligt (Holzkamp, S. 235). Diese neue Möglichkeitsbeziehung erschließt kreative Freiräume und begründet neben der biochemisch-biosozialen Reproduktion neuartige Reproduktionszusammenhänge (Kultur...). Nach der üblichen marxistischen Interpretation beginnt die Menschwerdung mit eben diesen vorausplanenden bewußten Tätigkeiten zur Reproduktion des Lebens, die "Arbeit" genannt werden.

Historisch gesehen wurde das Wort "Arbeit" jedoch erst in einem konkreten, historisch recht frühen Kontext verwendet. Von der Wurzel "orbu"=Knecht (Hoffmeister, S. 73) herrührend, kennzeichnet "arebeit" die "Mühsal des Verwaisten" (Mackensen, S. 45), des Unmündigen.

Dies kennzeichnet "Arbeit" als bereits spezifische Form der menschlichen Reproduktionstätigkeiten. Mit Entstehung der Ackerbaugesellschaften, die eine höhere Produktivität als das Sammeln (und Jagen) realisierten, begann eine Differenzierung der Lebenszusammenhänge. Die freigewordene Zeit kam - außer in wenigen Ausnahmen, wie wahrscheinlich der vorminoischen Kultur auf Kreta - nur denen zugute, die nicht weiterhin mit Nahrungszubereitung und Kinderversorgung beschäftigt waren (Lerner, S. 76). Der Bereich der notwendigen materiellen Reproduktionsarbeit spaltete sich ab vom Bereich des "Freien", wie es später in der griechischen Antike verwirklicht war. Die versteckte und als freien Bürgern nicht gemäße Arbeit im Oikos (Haushaltung) mußte für die Lebensnotwendigkeiten sorgen und damit die Polis frei halten von den damit verbundenen Hinderungen und Zwängen (Gorz, S. 31, Arendt S. 40). Die Veränderung im Bereich der Reproduktion ist auch an der Veränderung der Rolle der Frau in der Gesellschaft ablesbar (Scholz). Seit der Antike unterliegt die Frau der "Verhäuslichung" (vgl. auch Lerner). Ihr werden seitdem einerseits die stumpf-reproduktiven Tätigkeiten, die nichts Neues schaffen (wie das ewige Saubermachen) – andererseits das im bevorzugten öffentlich-rationalen Leben abgespaltete Sinnlich-Emotionale in abgewerteter Form zugewiesen.

Verbunden mit der Abwertung der "ökonomischen" Tätigkeiten wurde auch "Reichtum" nicht als Wert an sich betrachtet. Erst der Versuch der Kleinbauern, ebenfalls den Lebensstandard der städtischen Mittelschicht zu erringen, führte zu einer weiteren Herauslösung aus der Stammes- und Familienbindung und zur Verselbständigung der Arbeit aus den diesbezüglichen Reproduktionserfordernissen. Ab jetzt sollte "Arbeit" allein zu mehr Anerkennung über Reichtum führen. (Auch der Reichtum als Tätigkeitszweck wurde eher von den "Außenseitern" der Gesellschaft eingeführt - nämlich von den Freigelassenen, die keine andere Möglichkeit hatten, gesellschaftliche Reputation zu erlangen.)

Die bäuerliche und Handwerksarbeit der nächsten Jahrhunderte war davon bestimmt, daß die Arbeit noch "halb künstlerisch, halb Selbstzweck" (Marx, Grundrisse, MEW 42, S. 405) in "bestimmter, selbstgenügsamer Entwicklung einseitiger Fähigkeiten" (ebd.) ausgeführt wurde. "Weberei ist nicht nur Arbeit, sondern eine ganze Lebensweise" (Gorz). Das Ziel der Reproduktion war lediglich das self-sustaining der Gemeinschaft, nicht Reichtumsproduktion (Marx, Grundrisse, MEW 42, S. 388). Wie harmonisch und stabil derartige Reproduktionszyklen waren, davon zeugt ihr Erhalt bis weit in dieses Jahrhundert in einigen Gebieten Deutschlands (Müller). Gleichzeitig jedoch werden ihre Grenzen deutlich: Die "Subsumtion des Instruments unter seine individuelle Arbeit..., d.h. besondre bornierte Entwicklungsstufe der Produktivkraft der Arbeit" (Marx, Grundrisse, MEW 42, S. 406) verhinderte größere Produktivitätssteigerungen und führte dazu, daß ein Großteil der Lebenszeit mit Reproduktionstätigkeiten durchwoben war. Trotz verschiedener Arbeitsteilungen blieben Reproduktionstätigkeiten und Leben eng vermascht. Mit 6 Morgen Land war auf diese Weise eine Mehrgenerationenfamilie zu versorgen, auch die Handwerker lebten im Wesentlichen von ihrer "Nebenlandwirtschaft". Die Kinder begannen im Kindesalter "mitzuwerkeln", was unter den häufig ungünstigen Bedingungen harte Leistungen abverlangte. Zusätzlich wurde die Mehrheit der Gemeinschaften von feudaler Ausbeutung hart gebeutelt – dann blieb oft nur die Hälfte des Ertrags für Selbstversorgung (Borst, S. 360) und verschärfte die Plackerei. Spätestens hier wurde der Unterschied zwischen selbstbestimmtem "Werkeln" und der fremdbestimmten "Arbeit" der Knechte offensichtlich.

Während die Ablösung dieser Lebensweise in diesem Jahrhundert in dem von C. Müller untersuchten Gebiet von den Menschen recht freiwillig unternommen wurde (weil sie eine hochentwickelte, "zivilisierte" Alternativen mit Aldi-Läden, Kaufhäusern, sozialstaatlichen Sicherheiten hatten), war die erste Trennung der Menschen von ihren Lebensvoraussetzungen (Grund und Boden) in früheren Jahrhunderten und ist es heute noch in den Ländern des Trikonts ein sehr brutaler Prozeß unter Blut und Schmerzen. Erst durch diese – oft mit staatlichen Mitteln vorangetriebene - Trennung werden die Menschen so "frei", daß sie zur Arbeit in den Manufakturen und Fabriken gezwungen werden können (dasselbe passiert heutzutage mit den Menschen, die nach Verlust ihrer Subsistenz um Arbeit in den unmenschlichen Weltmarktfabriken betteln müssen). Das "Bauernlegen" in England und anderswo, die Vertreibung der Dienstboten und die Beschränkung der Lebensmittelselbstversorgung durch Handwerker machten die Menschen erst erpreßbar für jene Form der Arbeit, um die sie heute betteln, weil sie sich anders nicht mehr reproduzieren können. In dieser Arbeit ging es aber nicht mehr unmittelbar um die Lebensgewinnung und –reproduktion von Menschen. "Für das Kapital ist der Arbeiter keine Produktionsbedingung, sondern nur die Arbeit" (Marx, Grundrisse, MEW 42, S. 405). Die objektiven Bedingungen der Reproduktion wurden "freigemacht von ihrem bisherigen Gebundensein an die nun von ihnen losgelösten Individuen" (Marx, Grundrisse, MEW 42, S. 410). Die Reproduktionstätigkeiten lösten sich von der Gebundenheit an die qualitativ konkret bestimmten Bedürfnisse der Menschen.

Gleichzeitig jedoch wird auch der einzelne Mensch dadurch "frei" gegenüber den unmittelbaren Reproduktionserfordernissen und die oben schon erwähnte individuelle typisch menschliche Freiheit gegenüber unmittelbaren Reproduktionszwängen ("Möglichkeitsbeziehung") erhält eine neue Qualität. Die Individualität und persönliche Interessen entwickeln sich. "Erst in dem 18. Jahrhundert, in der "bürgerlichen Gesellschaft" treten die verschiednen Formen des gesellschaftlichen Zusammenhangs dem einzelnen als bloßes Mittel für seine Privatzwecke entgegen" (Marx, Grundrisse, MEW 42, S. 20).

Die Reproduktion löste sich von unmittelbaren Bedürfnissen und erhielt eine neue Dynamik durch die Erfordernisse der Kapitalverwertung. Die Gesellschaft konstitutiert sich nicht mehr primär über menschliche Kontakte (Kommunikation/Kultur, qualitativ bestimmter Warenaustausch), sondern wird seitdem über Waren als Tauschobjekte und ihre abstrakten Werte vermittelt. Der Kapitalismus realisiert auf diese Weise eine "Wert-Vergesellschaftung". Die Waren werden durch voneinander isolierte Produzenten hergestellt, die erst im nachhinein erfahren, ob sie dem Bedarf entsprechen oder nicht. Auch die konkrete Gebrauchswertproduktion ist dieser Bewertung im Nachhinein unterworfen und wird in Form und Prozeßqualität davon bestimmt. Wenn vorher auch der Reichtum (z.B. die Menge von Tieren im Besitz) noch an qualitativ bestimmte Fähigkeiten der Menschen gekoppelt war (das sachgerechte Betreuen der Herde) – so löst er sich jetzt von den individuellen Fähigkeiten und läßt sich als tote Dinge (Geld) anhäufen. Macht löst sich noch mehr von sachlicher Autorität oder persönlicher Vererbung und verselbständigt sich zu einem "sachlichen Verhältnis". "Jedes Individuum besitzt die gesellschaftliche Macht unter der Form einer Sache" (Marx: Grundrisse, MEW 42, S. 91). Die gewonnene "persönliche Unabhängigkeit" wird bezahlt mit "sachlicher Abhängigkeit" (ebd.). Diese Vergesellschaftung beruht auf der Dominanz des Ökonomischen in einem Maße, wie weitaus ärmere Gesellschaften es nie realisiert hatten. Die verselbständigte Produktionsdynamik schafft seither sogar in verstärktem Maße Knappheiten, um bei ständiger Überproduktion den Reproduktionskreislauf schließen zu können. In dieser konkret-historischen Vergesellschaftungsform vollzog sich ein Dominanzwandel von werkelnd-arbeitender Reproduktion hin zu "Arbeit" in dem Sinne, daß sich auch die konkrete Arbeit vom unmittelbaren Reproduktionszweck gelöst hat und Selbstzweck geworden ist. Wie schon erwähnt, hat dies nicht nur negativ zu wertende Konsequenzen, sondern eröffnet neue Möglichkeitsräume, die die Menschheit aber noch nicht betreten hat.

"Arbeit" ist deshalb nicht nur die dem biologischen Prozeß des Körpers entsprechende zyklische Reproduktion - wie H.Arendt annahm - , sondern die Loslösung von jeglichen qualitativ bestimmten Bedürfnissen. Auch ihre Ausweitung ist jedoch keine qualitative Neusetzung, wie sie Arendt in der vita activa des Handelns im Gegensatz zur Arbeit einfordert.

"Arbeit" ist deshalb genau betrachtet und glücklicherweise tatsächlich nicht das, was das Wesen der Menschheit ausmacht. In ihrer Begrenztheit ist sie eher eine Fessel der Entwicklung des Menschlichen. Wie die derzeitigen politischen Forderungen nach "Arbeit" ohne Berücksichtigung ökologischer Grenzen der Produktion und der Sinnlosigkeit der meisten Jobs zeigen, ist sie tatsächlich lediglich "Tätigkeit, die zum Zwecke ihres warenförmigen Austauschs verrichtet wird..." (Gorz, S. 195). Sie ist "ihrem Wesen nach die unfreie, unmenschliche, ungesellschaftliche, vom Privateigentum bedingte und das Privateigentum schaffende Tätigkeit" (Marx 1972, S. 436). Als solche wurde sie schließlich zum absoluten Selbstzweck, der die Reproduktionsbedingungen auf dem ganzen Planeten Erde gefährdet und höchstens noch "nebenbei" auch Lebensbedürfnisse befriedigt. Qualitativ bestimmt ist diese Form der Arbeit durch Lohnarbeit und extremste Zwangsarbeit in den Weltmarktfabriken sowie andere Formen von Arbeit (z.B. die Kakao- und Bananenpflege und -ernte in Afrika) in Abhängigkeit vom Kapitalverwertungsmechanismus. "Arbeit ist rastlose Verwandlung lebendiger (real) abstrakter Tätigkeit in ihre tote (real) abstrakte Darstellungsform, die im absoluten Fetisch-Ding des Geldes zu sich kommt" (Kurz 1995).

Die Verwechslung von menschlichkeitsschaffender und –reproduzierenden Tätigkeiten mit "Arbeit" führt zu mangelnden Differenzierungen, die strategisch zumindest desorientierend wirken und nicht auf der Höhe der Möglichkeiten sind. Wenn die Anwendung "Arbeitskraft" im Stoffwechsel mit der Natur hypostasiert wird, wird die damit verbundene Entpersönlichung übersehen. Menschen werden weiter über ihre "Arbeit" definiert und nicht ihre konkrete persönliche Subjektivität. In menschlichen Beziehungen wird keine Alternative mehr zum Vertragskontext ins Auge gefaßt – in den schließlich sogar Hausfrauen- und Beziehungs"arbeit" kommen soll. Menschen bleiben die "Charaktermasken ihre Waren" (Lohoff b). Die Herrschaft der sachlich bedingten Reproduktionszwänge (Profit, Kapitalvermehrung) reproduziert und verstärkt die Herrschaftsstrukturen der Gesellschaft. Produktivität wird zum Fetisch, der von realen Bedürfnissen und Erfordernissen abstrahiert. Der damit verbundene lineare, abstrakte Zeitbegriff beherrscht weiter die Strategien der Zukunftsgestaltung. Natur bleibt weiterhin lediglich Objekt von Arbeit (Sesink, S. 135). Alternativen auf Grundlage des "Arbeitsfetisch" können niemals wirklich selbstbestimmte, demokratische Grundlagen entwickeln, da sie einen Zwang zur Arbeit implementieren müssen. Dann meist wird davon ausgegangen, daß die weitere Arbeit schließlich immer mehr und weiterentwickeltere Bedürfnisse zu befriedigen habe. Dies übersieht qualitative Wandlungsprozesse in den Möglichkeiten und Erfordernissen der Bedürfnisbefriedigung auf der "Angebots"- wie auch auf der "Nachfrage"seite. Die materiellen Bedürfnisse könnten heute mit einem Bruchteil des Aufwands an lebendiger Arbeit, die sie zum verschwindenden Teil der Lebenstätigkeit machen würde, befriedigt werden. Die Menschheit leidet außer an strukturell fehlerhafter Verteilung der materiellen Reichtümer außerdem eher an mangelnder Befriedigung menschlich-sinnlich-emotional-sozialer Bedürfnisse, die als Ursache eben die Herrschaft der Ökonomie haben.

Die Verselbständigung von Reproduktionstätigkeiten als Selbstweck ist ein gesellschaftlich derartig einschneidender Qualitätswandel, daß er eine begriffliche Differenzierung rechtfertigt. Als Selbstzweck wurden die allgemein-menschlichen Reproduktionstätigkeiten historisch zu "Arbeit". Die Geschichte der Arbeit nun wiederum führt zu ihrer eigenen Aufhebung, deren Ausmaß auch erst begrifflich durch diese Unterscheidung faßbar wird.

Allgemeiner als die oben qualitativ und historisch bestimmten Arbeitsprozesse ist die menschliche Lebenspraxis. Praxis als "schöpferisch-selbstschöpferische Tätigkeit des Menschen" (Flego) ist die des Menschen eigene Art des Seins (Petrovic) und als solche "Zweck für sich, ohne instrumentelles Ziel" (Markovic). Die reflexive Struktur menschlicher Praxis ist eine dem Arbeitsprozeß logisch vorausgehende Bedingung, die erst sichert, daß menschliche Reproduktionstätigkeit (als Teil der Praxis) von Selbstformierungsprozessen der Natur unterschieden ist (Lefevre, S. 96).

Arbeitsprozesse sind letztlich an materielle und energetische Voraussetzungen gebunden und erhalten ihre surplusschaffenden Potenzen nur durch lebendige Arbeit (durch das Anzapfen der schöpferischen Praxis von Menschen als Subjekten). Ihre Dynamik wurde angetrieben durch nichtqualitativ bestimmte, sondern abstrakte Wert-Verwertung (Kapital: definiert als in Arbeitsprozessen mehrwertheckender Wert). Letztere überschreitet in der Gegenwart die Voraussetzungen und Potenzen der konkreten Arbeit. Nicht als Arbeitskraft verwertbare Menschen bekommen gänzlich ihr Lebensrecht abgesprochen ("Überbevölkerung" im Trikont und "Sozialschmarotzer" in den privilegierteren Ländern), wodurch offensichtlich wird, daß die Arbeit nicht etwa für die Befriedigung menschlichen Bedürfnisse gemacht wird, sondern die Menschen (z.T. als "Reservearmee") bisher lediglich als notwendige "Zutat" zur Kapitalverwertung ausgehalten wurden. Die spekulationsgetriebenen Casino-Kapitalvermehrungsprozesse speisen sich aus Optionen auf die Zukunft, die auch diese lebendige Zutat nicht mehr benötigen. Lohnarbeit wird gänzlich zum Privileg für immer weniger Menschen in den hochindustrialisierten Ländern, der Welt und auch für die "virtuell Scheinselbständigen" und die Weltmarktfabrik"sklavinnen". Das Vordringen in die entscheidenden Potenzen der lebendigen Arbeit, das Bewußtsein, die Kreativität und das Wissen gibt gegenwärtig diesen Prozessen nur weiteren Treibstoff, ändert das Wesen aber nicht.

Durch Arbeit der letzten 2000 Jahre ist ein Stand der Produktivität erreicht worden, bei dem "die Surplusarbeit der Masse hat aufgehört, Bedingung für die Entwicklung des allgemeinen Reichtums zu sein..." (Marx, Grundrisse, MEW 42, S. 593). Auch der Vergesellschaftungsgrad "hat eine derartige Höhe erreicht, daß eine individuelle "Leistung" weder zurechenbar noch von entscheidendem Gewicht ist" (Lohoff b). Für die oben bereits zweimal erwähnte "Möglichkeitsbeziehung" der Menschen zur Welt bedeutet dies ein erneuter qualitativer Sprung ins "Reich der Freiheit". Diese grundlegende historische Möglichkeit für die Menschheit wird jedoch noch blockiert durch die historische Trennung der Menschen von ihren Lebensgrundlagen. Diese Trennung hat sie in existentielle Abhängigkeit vom Wettlauf um die Abschaffung der Arbeit gemacht, die es gleichzeitig immer weniger gibt. Die hochentwickelten Handlungsfähigkeiten und -möglichkeiten der Menschen innerhalb und außerhalb der Arbeit werden gleichzeitig immer stärker gehemmt - widersprüchlicher und im besten Sinne des Wortes "ver-rückter" und un-vernünftiger kann die Situation kaum noch werden.

Damit dieser Widerspruch sich nicht in Form der Beendigung der Menschheitsgeschichte auflöst – sondern zu neuen emanzipierten Lebensformen führt, sind andere als gerade arbeitszentrierte Perspektiven zu verfolgen.

Beispielsweise sollten die Haushaltstätigkeiten oder gar die "Beziehungsarbeit" nicht noch in die Vertragsbeziehungen der Lohnarbeit hineingenommen werden, sondern davor gerettet werden. Ganz grundlegend ist "nicht um das "Recht auf Arbeit" ...zu kämpfen, sondern um einen selbstverständlichen "Anspruch auf Leben" (Kurz 1998).

Wichtig ist eine "Entwöhnung von Arbeit und Rückgewinnung nichtdisziplinierter Eigentätigkeit" (Stolz) mit der Losung: "Stellt Euch vor, es gibt Arbeit und keiner geht hin!"

Die historische Möglichkeit, sich von (ökologisch verträglicher!) Technik einen großen Teil der notwendigen Arbeit abnehmen zu lassen - und sich dafür neue Bereiche menschlicher Kreativität zu erschließen ist motivierender als der Kampf um etwas, wofür man morgens aus dem warmen Bett kriechen und noch behaupten muß, das wäre der Sinn des Lebens. Es wäre weitaus progressiver, statt "Recht auf Arbeit" zu fordern: "Recht auf mehr Eigen- und Berufungstätigkeit" (Schlemm 1999, S. 70).

Damit wird die vorherrschende negative Vergesellschaftung selbst kritisiert, also die Reichtumsproduktion von den Restriktionen des modernen warenproduzierenden Systems befreit (Lohoff a) und Menschen können hinter ihren "Warenmasken" hervorkommen und zu vollen Individuen werden. Das ist nicht das Ende der Reproduktionstätigkeiten. "Getan werden wird. Gearbeitet werden muß deswegen noch lange nicht" (Kurz 1998).

zitierte und weitere Literatur:

Borst, A., Lebensformen im Mittelalter, Frankfurt/Main, Berlin 1992

Flego, G., Das Verhältnis von Denken und Wirklichkeit. In momoriam Gajo Petrovic, in: Kritische Philosophie gesellschaftlicher Praxis – Auseinandersetzungen mit der Marxschen Theorie nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus, Hrsg. Eidam, H., Schmied-Kowarzik, W., Kassel 1995

Gorz, A., Kritik der ökonomischen Vernunft, München 1994

Hoffmeister, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Hamburg 1955

Holzkamp, K., Grundlegung der Psychologie, Frankfurt/New York, 1985

Kurz, R., Der doppelte Marx, in: Kritische Philosophie gesellschaftlicher Praxis – Auseinandersetzungen mit der Marxschen Theorie nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus, Hrsg. Eidam, H., Schmied-Kowarzik, W., Kassel 1995

Kurz, R., Die historische Karriere der Arbeit, 1998

Lefevre, W., Kants "Von der Amphiloie der Reflexionsbegriffe", in: Furth, P.(Hrsg.), Arbeit und Reflexion. Zur materialistischen Theorie der Dialektik – Perspektiven der Hegelschen "Logik", Köln 1980

Lenz, A., Meretz, St., Neuronale Netze und Subjektivität, Braunschweig/Wiesbaden 1995

Lerner, G., Die Entstehung des Patriarchats, München 1997

Lohoff, E., (a) Zur Kernphysik des bürgerlichen Individuums

Mackensen, Ursprung der Wörter, Wiesbaden 1985

Markovic, M., Praxis und Freiheit, in: in: Kritische Philosophie gesellschaftlicher Praxis – Auseinandersetzungen mit der Marxschen Theorie nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus, Hrsg. Eidam, H., Schmied-Kowarzik, W., Kassel 1995

Lohoff, E., (b) Marx 2000. Der Stellenwert einer totgesagten Theorie für das 21. Jahrhundert, Manuskript 1999

Marx, K., Über Friedrich Lists Buch "Das nationale System der politischen Ökonomie", in Beiträge zur Geschichte der Arbeiterbewegung, 14. Jg. Heft 3, 1972, S. 423-446

Marx (im Text)

Müller, C., Von der lokalen Ökonomie zum globalisierten Dorf, Frankfurt/New Work 1998

Plesse u.a., Philosophische Aspekte der Biologie, Jena 1982

Schlemm, A., Daß nichts bleibt, wie es ist... Band 2: Möglichkeiten menschlicher Zukünfte, Hamburg-Münster, 1999

Scholz, R., Der Wert ist der Mann. Thesen zu Wertvergesellschaftung und Geschlechterverhältnis, in: KRISIS 12 (1992)

Sesink, W., Der Wert der Natur, in: Kritische Philosophie gesellschaftlicher Praxis – Auseinandersetzungen mit der Marxschen Theorie nach dem Zusammenbruch des Realsozialismus, Hrsg. Eidam, H., Schmied-Kowarzik, W., Kassel 1995

Stolz, H.-J., Männliche Subjekpositionen im Kontext von Arbeit, in: Rundbrief Alternative Ökonomie, TAKAÖ, Neu-Ulm 1998

Trenkle, N., Diskussion bei Seminar "Grundlagen einer Kritik der Warengesellschaft", Dezember 1998 in Haina, vgl. auch:

Trenkle, N., Was ist der Wert? Was soll die Krise? In: Streifzüge 3/1998

 

 

Neu zum Thema:
Postone, Moishe (2003):
Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft.
Eine neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx.

Freiburg: ca ira-Verlag.

Andere Texte zum Thema Arbeit:

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