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Antisemitismus und die deutsche Linke

Moishe Postones Vortrag zu "Antisemitismus und Nationalsozialismus"


In der Debatte um den "linken Antisemitismus" innerhalb des Freien Sender Kombinats im letzten Jahr hat sich die Redaktion 3 immer wieder auf den Text Antisemitismus und Nationalsozialismus von Moishe Postone bezogen, der 1979 auf Deutsch in der Studierendenzeitung diskus und 1980 auf Englisch in der wissenschaftlichen Zeitschrift New German Critique erschienen ist (und bis heute in verschiedenen Publikationen wiederaufgelegt wurde). Dieser Text ist deswegen für eine Diskussion über einen spezifisch "linken Antisemitismus" besonders relevant, weil Postone den Antisemitismus der Nationalsozialisten verknüpft mit ihrem "antikapitalistischen" Selbstverständnis. Die Frage, die sich an Postones Ausführungen nämlich anschließt, wäre, ob diese Art "Antikapitalismus” heute eine Rolle spielt innerhalb der deutschen Linken. Der "Antikapitalismus" der Nazis richtete sich - auf der phänomenalen Ebene - gegen die angeblich reichen Jüdinnen und Juden, die das deutsche Volk ausgeraubt hätten; auf einer tieferen Ebene wurden die Jüdinnen und Juden, so Postone, identifiziert mit dem Kapitalismus selbst, mit seinen Krisen und Auswirkungen, so daß sie auch dann noch eine Gefahr darstellten, wenn sie individuell nicht von den kapitalistischen Verhältnissen profitieren. "Es handelt sich dabei nicht um die bloße Wahrnehmung der Juden als Träger von Geld - wie im traditionellen Antisemitismus; vielmehr werden sie für ökonomische Krisen verantwortlich gemacht und mit gesellschaftlichen Umstrukturierungen und Umbrüchen identifiziert, die mit der raschen Industriealisierung einhergehen: Explosive Verstädterung, der Untergang von traditionellen sozialen Klassen und Schichten, das Aufkommen eines großen, in zunehmendem Maße sich organisierenden industriellen Proletariats usw. Mit anderen Worten: die abstrakte Herrschaft des Kapitals, wie sie besonders mit der raschen Industriealisierung einhergeht, verstrickte die Menschen in das Netz dynamischer Kräfte, die, weil sie nicht durchschaut zu werden vermochten, in Gestalt des 'Internationalen Judentums' wahrgenommen wurden."

Auffällig am "Antikapitalismus" der Nazis ist, daß sie das "Industriekapital", die ganze Sphäre der Produktion von ihrem Angriff ausnehmen - und hier wäre erneut ein Anknüpfungspunkt für die Position der Linken in Deutschland, die sich zu Teilen positiv auf den Bereich der Produktion, auf ihre eigene "Arbeit" berufen, als wäre an dieser nur problematisch, daß sie kapitalistisch organisiert ist. "Kapital selbst - oder das, was als negativer Aspekt des Kapitalismus verstanden wird - wird lediglich in der Erscheinungsform seiner abstrakten Dimension verstanden: Als finanz- und zinstragendes Kapital. In dieser Hinsicht steht die biologistische Ideologie, die die konkrete Dimension (des Kapitalismus) als 'natürlich' und 'gesund' dem Kapitalismus (wie er erscheint) gegenüberstellt, nicht im Widerspruch zur Verklärung des Industriekapitals und seiner Technologie. Beide stehen auf der 'dinglichen' Seite der Antinomie." Postone bezieht sich zur Erläuterung auf Karl Marx’ Ausführungen in dem Kapitel Der Fetischcharakter der Ware im Ersten Band des Kapitals. So wie die Ware eine konkrete, dingliche und eine abstrakte, übersinnliche Dimension hat, aufgrund deren sie überhaupt Wert hat, so läßt sich der ganze Kapitalismus beschreiben als Wechselbeziehung des Konkreten und des Abstrakten. Der "fetischisierte Antikapitalismus", den Postone bei den Nationalsozialisten diagnostiziert, besteht gerade darin, die abstrakte und die konkrete Dimension als zwei getrennte Sphären wahrzunehmen: Die Produktion, auch in der Industrie, steht für das Konkrete, hingegen das Geld, die Börse und die Wertform für das Abstrakte. Der Nationalsozialismus bestand demnach in dem absurden und mörderischen Unterfangen, die vermeintlich vorkapitalistische Produktion von der als kapitalistisch verstandenen Wertform zu befreien. "Auschwitz war eine Fabrik zur 'Vernichtung des Werts', d. h., zur Vernichtung der Personifizierungen des Abstrakten. Sie hatte die Organisation eines teuflischen industriellen Prozesses mit dem Ziel, das Konkrete vom Abstrakten zu 'befreien'."

Am 17. Juli 2000 hat Moishe Postone in der Humboldt-Universität einen Vortrag unter dem Titel Antisemitismus und Nationalsozialismus gehalten, der im wesentlichen den Gedanken des gleichnamigen Artikels enthält. Die Redaktion 3 in Verbindung mit Academic Hardcore hat einen Mitschnitt dieses Vortrags im Juli und im August schon einige Male gesendet. Anlaß für die Einladung Postones, der Geschichte und Gesellschaftstheorie an der Universität Chicago lehrt, war die Ausstellung Betrifft: Aktion 3. Deutsche verwerten jüdische Nachbarn, die die Initiative Kritische Geschichtspolitik (IKG) ins Kreuzberger Rathaus geholt hatte; im Begleitprogramm wollte die IKG die Rolle des Antisemitismus für die Enteignungen der zu deportierenden Jüdinnen und Juden klären. Die Ausstellung Betrifft: Aktion 3 des Düsseldorfer Politikwissenschaftlers Wolfgang Dreßen zeigt unkommentiert Kopien von Akten der Oberfinanzdirektion Köln, die die penible, bürokratische Enteignung von jüdischen Familien ab 1941 und - nach deren Deportation - die Versteigerung unter Deutschen dokumentieren.

Moishe Postone hat seit den achtziger Jahren seine materialistische Studie des Antisemitismus nicht mehr weiterverfolgt, sondern - unter dem Titel Time, Labor, and Social Domination - an einer Neuinterpretation des Kapitals gearbeitet, die 1993 in den USA erschienen ist und seit drei Jahren in deutscher Sprache erscheinen soll. In dieser Neuinterpretation grenzt sich Postone scharf vom sogenannten "traditionellen Marxismus" ab, der sich positiv auf die "Arbeit" beruft. Statt dessen, so Postone, müsse es bei einer marxistischen Gesellschaftskritik darum gehen, "Arbeit" selbst als kapitalistisch zu kritisieren. Man müsse bei den verschiedenen kritischen Gesellschaftstheorien, die sich auf Marx berufen, unterscheiden zwischen: "a critique of capitalism from the standpoint of labor, on the one hand, and a critique of labor in capitalism, on the other. [...] According to the second mode of analysis, labor in capitalism is historically specific and constitutes the essential structures of that society. Thus labor is the object of the critique of capitalist society." Die Redaktion 3 in Verbindung mit Academic Hardcore wird zu Postones Marxinterpretation in Zukunft einige Sendungen produzieren; denn nach unserer Auffassung ist Postones Kapitalismuskritik am ehesten dazu geeignet, mit Theorien zu geschlechtsspezifischen und rassistischen Unterdrückungsmechanismen verknüpft zu werden.

Am Freitag, den 29. September 2000 wird von 14 bis 17 Uhr noch einmal Moishe Postones Vortrag Antisemistismus und Nationalsozialismus gesendet.

Die Sendung kann außerdem auf zwei neunzigminütige Cassetten überspielt werden. Bitte bei der Redaktion 3 anfragen. Die Texte von Moishe Postone sind in der Hamburger Studienbibliothek einzusehen.

Moishe Postone: Time, Labor, and Social Domination. A Reinterpretation of Marx’s Critical Theory, Cambridge University Press 1993 (daraus das zweite Kapitel auf Deutsch in: Jungle World 29, 12. Juli 2000, S. 16-18).

Moishe Postone: Antisemitismus und Nationalsozialismus. Ein theoretischer Versuch, übersetzt von Dan Diner und Renate Schumacher, in: Dan Diner (Hrsg.): Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, Frankfurt am Main 1988, S.242-254.