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Einen vor ... zwei zurück
Irrtümer einer notwendigen Kritik am „Traditionsmarxismus“ - Moishe Postones „Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft“[1]
von Robert Schlosser02/05
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1) „Traditioneller Marxismus“, Kritik der Arbeit und das Wesen des KapitalismusGemessen am gesellschaftlichen Wirkungsgrad moderner kritischer Gesellschaftstheorien und daraus abgeleiteter Strategien sozialer Emanzipation war der „traditionelle Marxismus“ wie er sich im Kontext der 1., 2., und 3. Internationale entwickelt hat, sehr erfolgreich, auch wenn er nicht das erreichte, was er wollte, zu anderen Ergebnissen führte, als ursprünglich angestrebt und am Ende gescheitert ist.
Es gibt also heute gute Gründe, um nach Fehlern zu suchen und Neues zu entwickeln. Es muss ja nicht immer gleich eine umfassende Neuinterpretation der Kritik der Politischen Ökonomie sein, denn die sind meistens schief gegangen.
Bereits innerhalb des traditionellen Marxismus gab es weitreichende Versuche einer solchen Neuinterpretation.
So wurde beispielsweise im Kontext der Entwicklung einer Krisen- und Zusammenbruchstheorie die Marxsche Reproduktionstheorie des 2. Kapitalbandes durch Luxemburg, Bauer und Großmann sehr kontrovers diskutiert und interpretiert. Vor allem aber erfuhren wesentliche Aspekte der Werttheorie im Kontext der Imperialismus- und Stamokaptheorie und der Einführung der Planungswirtschaft in der Sowjetunion eine Neuinterpretation (Stichworte: Macht der Monopole und Anwendung des Wertgesetzes durch politische Ökonomen des Sozialismus)
Besonders die letztgenannten Versuche einer Neuinterpretation der Kritik der Politischen Ökonomie litten u.a. daran, dass sie – oft unter dem Eindruck aktueller gesellschaftlicher Veränderungen – einzelne Elemente aus dem „artistischen Ganzen“ der Marxschen Kapitalkritik herauslösten und zum Dreh- und Angelpunkt der Ökonomiekritik machten. Dabei wurde nicht nur drastisch reduziert sondern letztlich aus einer wesentlich kritischen Theorie ein positiver Leitfaden für den Umgang mit dem Wert.
Die erreichte Plausibilität ist aus heutiger Sicht meist sehr oberflächlich und kann die durchgängige Logik der Marxschen Darstellung nicht im Entferntesten erreichen.
Moishe Postones Versuch einer grundlegenden Neuinterpretation in „Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft“ macht die Kategorie der Arbeit zum Dreh- und Angelpunkt der Ökonomiekritik. „Kritik der Arbeit“ oder „Kritik vom Standpunkt der Arbeit“, so lautet die von ihm formulierte Trennungslinie zwischen einem „traditionellen Marxismus“, der unfähig war und ist über Wert und Kapital hinauszugehen und seiner neuen Position, die genau das ermöglichen soll.
Das erstaunliche seiner Kritik am „traditionellen Marxismus“ sind zunächst einmal die Autoren, an denen er sich abarbeitet, allen voran die Theoretiker der Frankfurter Schule und angelsächsische Marxisten, wie etwa Sweezy.
Wesentliche Theoretiker des „traditionellen Marxismus“, wie Luxemburg, Kautsky, Lenin, Bucharin u.a. tauchen gar nicht auf, oder werden eher beiläufig angesprochen.
Dafür aber liefert Postone uns eine bündige Definition des „Traditionsmarxismus“.
Unter „Traditionsmarxismus“ fasst Postone
„sämtliche Theorien, die den Kapitalismus vom Standpunkt der Arbeit aus analysieren und davon ausgehen, dass diese Gesellschaft durch Klassenbeziehungen, das Privateigentum an Produktionsmitteln und eine durch den Markt regulierte Wirtschaft ihrem Wesen nach bestimmt sei. Gemeint sind also alle Theorien, die die Herrschaftsverhältnisse vor allem als Klassenherrschaft und Ausbeutung verstehen." (S. 27)
Dem „Traditionsmarxismus“ wirft Postone vor, dass sie die „industrielle Produktionsweise ... als Basis einer zukünftigen sozialistischen Gesellschaft" ansehen. Im Gegensatz zu Marx gehe es dem „Traditionsmarxismus“ um eine Kritik und Überwindung der Distributionsweise, nicht der Produktionsweise (vergl. S. 30) Für die „Traditionsmarxisten“ seien die „>Produktionsverhältnisse< allein als Ausdruck der Distributionsweise" zu verstehen und die „>Produktivkräfte< mit der industriellen Produktionsweise als rein technischer Prozess" (S. 69)
„...:ihr Standpunkt ist der einer bereits bestehenden Struktur der Arbeit und der diese verrichtenden Klasse. Die Emanzipation ist verwirklicht, wenn eine bereits bestehende Struktur der Arbeit nicht mehr durch kapitalistische Verhältnisse im Zaum gehalten ...wird ...." (S. 113)
Seinen eigenen Standpunkt kennzeichnet er als einen, der die Arbeit im Kapitalismus kritisiert. Danach erfordert die Aufhebung des Kapitalismus :
„die Abschaffung eines Verteilungssystems, das auf dem Tausch der Ware Arbeitskraft gegen Lohn basiert,.... ebenso wie die Abschaffung eines Produktionssystems, das auf proletarischer Arbeit basiert, also auf der einseitigen und fragmentierten Arbeit, wie sie für die kapitalistische Industrieproduktion charakteristisch ist. Mit anderen Worten: Die Aufhebung des Kapitalismus bedeutet auch die Aufhebung der durch das Proletariat verrichteten konkreten Arbeit." (S.59)
Dass der Tausch der Ware Arbeitskraft gegen Lohn bei Postone durchgängig nur das kapitalistische Verteilungssystem charakterisiert und nicht etwa die Produktionsverhältnisse, ist eine seiner wesentlichen Neuinterpretationen, auf die ich später in anderem Zusammenhang zurückkommen werde.
Hier interessiert zunächst nur seine Abgrenzung zum „Traditionsmarxismus“, weil dieser angeblich die bestehende Struktur der Arbeit beibehalten wollte und seine Kritik nur vom Standpunkt dieser Arbeit aus formulierte.
Bis zur Entstehung des „realen Sozialismus" war es aber für revolutionäre Sozialdemokraten selbstverständlich, das die Arbeit nicht so bleiben sollte, wie sie war.
So schreibt etwa Bebel in seiner programmatischen Schrift „Die Frau und der Sozialismus"[2]:
„Die sozialistische Gesellschaft bildet sich nicht, um proletarisch zu leben, sondern um die proletarische Lebensweise der großen Mehrzahl der Menschen abzuschaffen." (S. 414)
Nach Bebel soll die Arbeit „im Zeitmaß mäßig sein und keinen überanstrengen", sie soll „möglichst angenehm" sein und Abwechslung bieten, etc. Von irgendeiner Verherrlichung der „proletarischen Arbeit" kann hier jedenfalls nicht die Rede sein, vielmehr wird die Abschaffung „der einseitigen und fragmentierten Arbeit, wie sie für die kapitalistische Industrieproduktion charakteristisch ist" (Postone) verlangt. Dass Bebel gleichwohl dem allgemeinen Arbeitszwang das Wort redet, gehört nicht hier her, denn da beginnt die richtige Kritik am „Traditionsmarxismus".
Darin heißt es:
„Nicht die Freiheit der Arbeit, sondern die Befreiung von der Arbeit, wie sie das Maschinenwesen in einer sozialistischen Gesellschaft in weitgehendem Maße ermöglicht, wird der Menschheit die Freiheit des Lebens bringen, die Freiheit künstlerischer und wissenschaftlicher Betätigung, die Freiheit des edelsten Genusses." (S. 169)
Als eine Kritik vom Standpunkt der Arbeit kann man das wirklich nicht bezeichnen, was immer man sonst daran aussetzen mag. Aber Postone behauptet ungerührt, die „traditionelle Position" verlange, „dass der vollständige Mensch als ...>bloßer Arbeiter< verwirklicht werden müsse." (S. 121) Vor dem „real existierenden Sozialismus" hat das keiner der alten Marxisten vertreten! Dabei soll nicht verheimlicht werden, dass Kautsky und andere den „industriellen Großbetrieb“, „das Maschinenwesen“ verherrlichten. Das implizierte aber niemals die Verherrlichung der darin unter kapitalistischen Bedingungen verrichteten proletarischen Arbeit!
Die Verherrlichung proletarischer Arbeit und Lebensweise beginnt überhaupt erst, mit der „Realisierung von Sozialismus" in der Sowjetunion, und das hat weniger mit einer Fehlinterpretation der Kritik der Politischen Ökonomie zu tun, als mit ganz praktischen Umständen und Zwängen. Man kann die auf proletarischer Arbeit beruhende industrielle Produktionsweise schlecht abschaffen, wenn sie noch gar nicht entwickelt ist. Als die Oktoberrevolution ins Werk gesetzt wurde, war den Bolschewiki klar, das Russland ein rückständiges Land ist und dass die Oktoberrevolution nur dann ein Schritt zu sozialer Emanzipation sein könnte, wenn die Revolution in den entwickelten kapitalistischen Ländern folgen würde, die Oktoberrevolution war als Ouvertüre gedacht. Als die Revolution im Westen ausblieb entschied man sich für „den Aufbau des Sozialismus in einem Land", wobei die Tragweite der Tatsache, dass es sich hierbei um ein sehr rückständiges Land handelte, schnell unter den Tisch fiel. Der „Aufbau des Sozialismus" erforderte die Industrialisierung des Landes, Akkumulation um jeden Preis, also die massenhafte Erzeugung „proletarischer Arbeit". Eine aberwitzige Situation, aber der alleinige Schlüssel zum Verständnis, wie aus dem Projekt sozialer Emanzipation, die Verherrlichung proletarischen Leidens in heroischer Arbeit werden konnte, z.B. in Gestalt der Stachanow-Bewegung. Im Kontext dieser veränderten Praxis der kommunistischen Bewegung und zum Zweck ihrer Legitimierung wurden Elemente der Kritik der Politischen Ökonomie zur Grundlage einer Politischen Ökonomie des Sozialismus uminterpretiert.
Postones Kennzeichnung und Kritik des „Traditionsmarxismus“ erscheint mir aber nicht nur deshalb als eine fragwürdige Konstruktion, weil sie ihren Gegenstand so schablonenhaft fasst. Was sein grundlegendes Verständnis der 3 Bände der Marxschen Kapitalkritik anbetrifft, teilt er den Irrtum gerade derjenigen „Traditionsmarxisten“, die im Kapital ein grob vereinfachende Kritik an Ausbeutung und Klassenverhältnissen sahen. Sie alle meinten, im 1. Band des Kapital sei bereits alles Wesentliche entwickelt.
Ganz in diesem Sinne bemerkt Postone über den 1. Band des Kapital:
„Sein Gegenstand ist das >Wesen< des Kapitalismus als Ganzes.“ S.294
Das Wesen des Kapitalismus als Ganzes erschließt sich dagegen nur im Kontext aller 3 Bände des Kapital, nämlich der allgemeinen Kapitaltheorie von Marx. Der kapitalistische Produktionsprozess als Ganzes betrachtet ist die Einheit von unmittelbarem Produktionsprozess und Zirkulationsprozess und den Gestaltungen, die daraus hervorgehen..
In Kapital Bd. 3 heißt es einleitend:
„Im ersten Buch wurden die Erscheinungen untersucht, die der kapitalistische Produktionsprozeß, für sich genommen, darbietet, als unmittelbarer Produktionsprozeß, bei dem noch von allen sekundären Einwirkungen ihm fremder Umstände abgesehn wurde. Aber dieser unmittelbare Produktionsprozeß erschöpft nicht den Lebenslauf des Kapitals. Er wird in der wirklichen Welt ergänzt durch den Zirkulationsprozeß, und dieser bildete den Gegenstand der Untersuchungen des zweiten Buchs. Hier zeigte sich, namentlich im dritten Abschnitt, bei Betrachtung des Zirkulationsprozesses als der Vermittlung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses, daß der kapitalistische Produktionsprozeß, im ganzen betrachtet, Einheit von Produktions- und Zirkulationsprozeß ist. Worum es sich in diesem dritten Buch handelt, kann nicht sein, allgemeine Reflexionen über diese Einheit anzustellen. Es gilt vielmehr, die konkreten Formen aufzufinden und darzustellen, welche aus dem Bewegungsprozeß des Kapitals, als Ganzes betrachtet, hervorwachsen. In ihrer wirklichen Bewegung treten sich die Kapitale in solchen konkreten Formen gegenüber, für die die Gestalt des Kapitals im unmittelbaren Produktionsprozeß, wie seine Gestalt im Zirkulationsprozeß, nur als besondere Momente erscheinen. Die Gestaltungen des Kapitals, wie wir sie in diesem Buch entwickeln, nähern sich also schrittweise der Form, worin sie auf der Oberfläche der Gesellschaft, in der Aktion der verschiedenen Kapitale aufeinander, der Konkurrenz, und im gewöhnlichen Bewußtsein der Produktionsagenten selbst auftreten.“(KAPITAL Bd.3, S. 33)
Für Postone bedarf es der gesellschaftlichen Vermittlung des Reproduktionsprozesses durch die Zirkulation nicht. Typisch für den Kapitalismus sei gerade, dass die Arbeit sich selbst vermittelt. Das sei gerade das besondere, historisch-spezifische der kapitalistischen Produktionsweise. Er wiederholt immer wieder:
„Die Marxsche Analyse stellt eine Kritik der durch Arbeit vermittelten gesellschaftlichen Beziehungen dar ...“ S. 89
oder gar:
„Im Kapitalismus vermitteln sich die Arbeit und ihre Produkte selbst: sie sind gesellschaftlich, sich selbst vermittelnd.“ S. 232
Ein Ökonomiekritik-Ansatz, der die Sphäre des Tausches in der bürgerlichen Gesellschaft, also der marktvermittelten Vergesellschaftung explizit für nicht wesentlich erklärt, den Markt ausschließlich unter dem simplifizierenden Gesichtspunkt der Verteilung und nicht unter dem Gesichtspunkt der Vermittlung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozess abhandelt, vermag überhaupt keine konsistente Theorie kapitalistischer Vergesellschaftung zu entwickeln. Gerade der Anspruch auf Kritik an der Macht des abstrakten Sachzwangs, der Herrschaft der Abstraktionen, der sich den Produzenten elementar durch das Marktgeschehen mitteilt und in der Macht des Geldes seinen Niederschlag findet, kann nicht eingelöst werden in einer Theorie, in der sich die Arbeit und ihre Produkte selbst vermitteln.[4]
Ein solcher Ansatz fällt auch hinter das zurück, was als gesicherte Erkenntnisse der traditionellen Theorie gelten kann. Ich werde am Schluss meiner Ausführungen noch darauf zu sprechen kommen, dass ein solcher Ansatz es nur zu einer stark vereinfachten Vorstellung von den Aufgaben sozialer Emanzipation bringen kann. Das Problem der Vermittlung der gesellschaftlichen Reproduktion in einer kommunistischen Gesellschaft, an dem der „traditionelle Marxismus“ ganz wesentlich gescheitert ist, sei es nun in Gestalt gewaltsamer, voluntaristischer Eingriffe, sei es in der Gestalt der Anwendung des Wertgesetzes auf den Sozialismus, existiert praktisch nicht. Wenn der Kapitalismus wesentlich dadurch gekennzeichnet ist, dass die Arbeit und ihre Produkte sich selbst vermitteln, dann besteht die wesentliche Aufgabe sozialer Revolution eben darin, diese eigentümliche Art der Selbstvermittlung von Arbeit zu überwinden. Postones Theorie gipfelt daher in der Forderung nach Umgestaltung der industriellen Produktion, ergänzt durch eine andere Art der Verteilung. Eine Vorstellung kommunistischer Produktionsverhältnisse, eines nicht verdinglichten gesellschaftlichen, sondern unmittelbaren gesellschaftlichen Reproduktionszusammenhangs als Ganzes, in dem die Menschen in freier Übereinkunft ihre gesellschaftliche Reproduktion regeln, kann so kaum entstehen.
2. Über kapitalistische Produktionsverhältnisse, Wertabstraktion und Verdinglichung
Ein Unterschied zwischen Marx und manchen modernen Wertkritikern besteht darin, dass er historischer Materialist war und somit Wert und Kapital nicht einfach als abstrakte ökonomische Kategorien verstand, sondern als Ausdruck historisch-spezifischer Produktionsverhältnisse, die er selbst wieder als soziale Beziehung beschrieb, die die Menschen bei der Produktion und Reproduktion ihres Lebens eingehen. Eine historisch-materialistisch begründete Ökonomiekritik erschöpft sich nicht in der ständigen Wiederholung der historischen Besonderheit kapitalistischer Produktionsverhältnisse, sondern fasst diese Besonderheit konkret, indem sie sie abhebt vom Allgemeinen menschlicher Produktionsverhältnisse. Der Arbeitsbegriff spielt dabei eine zentrale Rolle. Ihn für die historische Besonderheit des Kapitals zu reklamieren, bedeutet zugleich auf jede materialistische Vermittlung der kapitalistischen Gesellschaft mit ihren Vorgängern zu verzichten. Danach kann die Kritik der Politischen Ökonomie auch kein tieferes Verständnis älterer Produktionsverhältnisse mehr ermöglichen.
Aus den kapitalistischen Produktionsverhältnissen (unabhängig voneinander verausgabte Privatarbeit, Trennung der unmittelbaren Produzenten von den gegenständlichen Bedingungen ihrer Reproduktion) resultieren alle ökonomischen Kategorien von Wert und Kapital bis hin zu Lohn, Preis, Profit, Zins. Nicht umgekehrt. Die Marxsche Kritik ist keine einfache Denunziation von Wert und Kapital, sowie ihrer Verdinglichungen. Es handelt sich vielmehr um eine kritische Darstellung eines besonderen gesellschaftlichen Reproduktionszusammenhangs, respektive besonderer gesellschaftlicher Produktionsverhältnisse, zu denen auch die besondere Art der Verteilung gehört.
Das der Ware sozusagen als Keimform des bürgerlich-kapitalistischen Reproduktionszusammenhangs eine Schlüsselrolle bei der Analyse des Kapitals zukommt, steht außer Frage. Aber sie selbst fällt nicht vom Himmel, sondern ist Produkt der unabhängig von einander verausgabten Privatarbeiten. Diese Form des Reproduktionszusammenhangs setzt wiederum bestimmte Eigentumsverhältnisse voraus. Ohne allgemein anerkanntes Privateigentum an Produktionsmitteln keine ausgedehnte Produktion von Waren und kein Markt.
Postone dagegen schreibt:
„Die Warenförmigkeit gesellschaftlicher Vermittlung bringt historisch einerseits den unabhängigen Privatproduzenten hervor und konstituiert andererseits den gesellschaftlichen Produktionsprozess sowie die Beziehungen der Produzenten als ein von den Produzenten selbst unabhängiges, entfremdetes System allseitiger sachlicher Abhängigkeit." (S. 399)
Hier steht die Welt auf dem Kopf. Nicht die voneinander unabhängigen Privatproduzenten schaffen die Warenförmigkeit gesellschaftlicher Vermittlung, sondern die Warenförmigkeit der gesellschaftlichen Vermittlung schafft den unabhängigen Privatproduzenten. Die gesellschaftlich erzeugten Dinge sind offenbar schon vor den Menschen da.
Marx interpretierend behauptet Postone, dass die kapitalistische „Form gesellschaftlicher Herrschaft in letzter Instanz nicht eine Funktion des Privateigentums oder der Verfügungsgewalt der Kapitalisten über das Mehrprodukt und die Produktionsmittel“ sei.
„Vielmehr gründet sie sich auf die Wertförmigkeit des Reichtums selbst ...“ S. 62
Etwas vereinfacht ausgedrückt lässt sich das Ableitungs- und Kritikverfahren Postones wie folgt kennzeichnen:
Die Ware ist der Ausdruck der Wertförmigkeit des gesellschaftlichen Reichtums, sie beruht auf der „Verausgabung“ abstrakt menschlicher Arbeit. Daraus leitet sich alles andere ab. Die Ableitung der Warenform des Arbeitsprodukts selbst reicht nie weiter als bis zur abstrakten Arbeit. Das es bestimmte soziale Beziehungen sind, die die Menschen bei der Produktion und Reproduktion ihres Lebens eingehen, die die Produkte ihrer Arbeit erst zu Waren machen, steht nicht im Programm.
Ware und Wert erklären alles und müssen nicht selbst erklärt werden.
Die hier angesprochenen sozialen Beziehungen, die Menschen in der Produktion eingehen, sind wesentlich bestimmt durch die Verfügung über die gegenständlichen Bedingungen der Produktion und Reproduktion, also durch die Eigentumsverhältnisse.
Bei Postone bezieht sich Privateigentum immer und ausschließlich auf Herrschaft von Menschen über Menschen, auf Ausbeutung und Verteilung. Privateigentum steht in keinem kausalen Begründungszusammenhang mit der Produktion von Waren und der Entstehung der„Wertförmigkeit des Reichtums“. Tatsächlich aber ist das Privateigentum die Voraussetzung für Warenproduktion. Ohne Privateigentum gibt es keine „abstrakte Herrschaft“, weil es ohne Privateigentum keine Warenproduktion, keine Produktion für den Tausch, also keine „Wertförmigkeit des Reichtums“ gibt! Gerade die Kritik der „abstrakten Herrschaft“, des Werts verlangt an erster Stelle die Kritik des Privateigentums, wie eine Überwindung der Warenproduktion zu aller erst die Beseitigung des Privateigentums an Produktionsmitteln verlangt.
Marx hat die hier angesprochenen Zusammenhänge im Kontext seiner Kritik am Warenfetischismus sehr eindeutig formuliert:
„Gebrauchsgegenstände werden überhaupt nur Waren, weil sie Produkte voneinander unabhängig betriebner Privatarbeiten sind. Der Komplex dieser Privatarbeiten bildet die gesellschaftliche Gesamtarbeit. Da die Produzenten erst in gesellschaftlichen Kontakt treten durch den Austausch ihrer Arbeitsprodukte, erscheinen auch die spezifisch gesellschaftlichen Charaktere ihrer Privatarbeiten erst innerhalb dieses Austausches. Oder die Privatarbeiten betätigen sich in der Tat erst als Glieder der gesellschaftlichen Gesamtarbeit durch die Beziehungen, worin der Austausch die Arbeitsprodukte und vermittelst derselben die Produzenten versetzt. Den letzteren erscheinen daher die gesellschaftlichen Beziehungen ihrer Privatarbeiten als das, was sie sind, d.h. nicht als unmittelbar gesellschaftliche Verhältnisse der Personen in ihren Arbeiten selbst, sondern vielmehr als sachliche Verhältnisse der Personen und gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen.
Erst innerhalb ihres Austauschs erhalten die Arbeitsprodukte eine von ihrer sinnlich verschiednen Gebrauchsgegenständlichkeit getrennte, gesellschaftlich gleiche Wertgegenständlichkeit. Diese Spaltung des Arbeitsprodukts in nützliches Ding und Wertding betätigt sich nur praktisch, sobald der Austausch bereits hinreichende Ausdehnung und Wichtigkeit gewonnen hat, damit nützliche Dinge für den Austausch produziert werden, der Wertcharakter der Sachen also schon bei ihrer Produktion selbst in Betracht kommt. Von diesem Augenblick erhalten die Privatarbeiten der Produzenten tatsächlich einen doppelten gesellschaftlichen Charakter. Sie müssen einerseits als bestimmte nützliche Arbeiten ein bestimmtes gesellschaftliches Bedürfnis befriedigen und sich so als Glieder der Gesamtarbeit, des naturwüchsigen Systems der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit, bewähren. Sie befriedigen andrerseits nur die mannigfache Bedürfnisse ihrer eignen Produzenten, sofern jede besondre nützliche Privatarbeit mit jeder andren nützlichen Art Privatarbeit austauschbar ist, also ihr gleich gilt. Die Gleichheit toto celo <völlig> verschiedner Arbeiten kann nur in einer Abstraktion von ihrer wirklichen Ungleichheit bestehn, in der Reduktion auf den gemeinsamen Charakter, den sie als Verausgabung menschlicher Arbeitskraft, abstrakt menschliche Arbeit, besitzen. Das Gehirn der Privatproduzenten spiegelt diesen doppelten gesellschaftlichen Charakter ihrer Privatarbeiten nur wider in den Formen, welche im praktischen Verkehr, im Produktenaustausch erscheinen - den gesellschaftlich nützlichen Charakter ihrer Privatarbeiten also in der Form, daß das Arbeitsprodukt nützlich sein muß, und zwar für andre - den gesellschaftlichen Charakter der Gleichheit der verschiedenartigen Arbeiten in der Form des gemeinsamen Wertcharakters dieser materiell verschiednen Dinge, der Arbeitsprodukte.“ KAPITAL Bd. 1 S.87
Es handelt sich hier bei Marx nicht um Wortspielereien mit Abstraktionen, die sich ständig im Kreise drehen, sich selber erklären, geradeso, wie die Arbeit sich selbst vermittelt. Logisch ist die gesellschaftliche Form unabhängiger Privatarbeit Voraussetzung dafür, dass Produkte zu Waren werden. Nicht umgekehrt! Der Ware ist der Warenproduzent und –besitzer vorausgesetzt. Der gesellschaftliche Kontakt zwischen den Produzenten kommt erst zustande durch den Austausch ihrer Produkte. Das hat mit Selbstvermittlung von Arbeit und Produkten nichts zu tun.
„Die Waren können nicht selbst zu Markte gehn und sich nicht selbst austauschen. Wir müssen uns also nach ihren Hütern umsehn, den Warenbesitzern. Die Waren sind Dinge und daher widerstandslos gegen den Menschen. Wenn sie nicht willig, kann er Gewalt brauchen, in andren Worten, sie nehmen. Um diese Dinge als Waren aufeinander zu beziehn, müssen die Warenhüter sich zueinander als Personen verhalten, deren Willen in jenen Dingen haust, so daß der eine nur mit dem Willen des andren, also jeder nur vermittelst eines, beiden gemeinsamen Willensakts sich die fremde Ware aneignet, indem er die eigne veräußert. Sie müssen sich daher wechselseitig als Privateigentümer anerkennen. Dies Rechtsverhältnis, dessen Form der Vertrag ist, ob nun legal entwickelt oder nicht, ist ein Willensverhältnis, worin sich das ökonomische Verhältnis widerspiegelt. Der Inhalt dieses Rechts- oder Willensverhältnisses ist durch das ökonomische Verhältnis selbst gegeben. Die Personen existieren hier nur füreinander als Repräsentanten von Ware und daher als Warenbesitzer. Wir werden überhaupt im Fortgang der Entwicklung finden, daß die ökonomischen Charaktermasken der Personen nur die Personifikationen der ökonomischen Verhältnisse sind, als deren Träger sie sich gegenübertreten.“ Kapital Bd. 1 S.
Die Menschen machen eben ihre Geschichte selbst, will heißen, sie erzeugen auch den äußeren, abstrakten Sachzwang selbst, dem sie sich in ihren Handlungen beugen. Aus der Arbeit und damit dem unmittelbaren Produktionsprozess lassen sich die komplexen Verhältnisse gesellschaftlicher Reproduktion im Kapitalismus nicht unvermittelt ableiten.
Ferner:
Die Arbeitsprodukte erhalten eine von ihrer Gebrauchsgegenständlichkeit getrennte, gesellschaftlich gleiche Wertgegenständlichkeit erst innerhalb des Austausches. Die Abstraktion von ihrer Ungleichheit und die Reduktion auf ihren gleichen Charakter als Produkte menschlicher Arbeit ist die spezifische Leistung des Marktgeschehens, d.h. des Tausches. Anders dagegen bei Postone. Hier leistet die Arbeit selbst diese Abstraktion:
„Als eine gesellschaftlich vermittelnde Tätigkeit abstrahiert die Arbeit von der Besonderheit ihres Produkts, und somit von der Besonderheit ihrer eigenen konkreten Form. In der Marxschen Analyse bringt die Kategorie der abstrakten Arbeit diesen realen gesellschaftlichen Abstraktionsprozess zum Ausdruck “ S.235
Genau das vermag die Arbeit selbst nicht. Sie kann allein Produkt und Mehrprodukt schaffen. Die Abstraktion, die Reduktion der verschiedenen Arbeiten auf ihren gemeinsamen Nenner bewirkt allein der Tausch und darum ist die Arbeit auch nicht die „gesellschaftlich vermittelnde Tätigkeit“ von der Postone hier redet. Die gesellschaftlich vermittelnde Tätigkeit ist der Tausch.
Die Kategorie der abstrakten Arbeit bringt den gesellschaftlichen Abstraktionsprozess nicht zum Ausdruck, sie ist vielmehr nur Resultat des Abstraktionsprozesses, der beim Austausch der Waren stattfindet. Die abstrakte Arbeit ist auch nicht Form von Arbeit, wie Postone immer wieder behauptet. Sie ist lediglich formlose Substanz des Werts der Waren, eine Substanz die selbst wieder nur als Wertform, letztlich Geldform, Gestalt annehmen kann, der man dann wiederum ihre Substanz oder Herkunft nicht ansieht. Das ist das berühmte Geheimnis des Geldrätsels.
Aber für Postone gibt es ja eigentliche keine Rätsel und gesellschaftliche Hyroglyphen, hinter deren Sinn man kommen muss.
Auf S. 108 heißt es geradezu „programmatisch“ für seine Arbeit:
„Marx zufolge stellen sich warenförmige gesellschaftliche Verhältnisse notwendigerweise in fetischisierter Form dar: gesellschaftliche Beziehungen erscheinen >>als das, was sie sind, d.h. ... als sachliche Verhältnisse der Personen und gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen<< (MEW 23, 87) Demnach verbergen im Kapitalismus die in den Kategorien Ware und Wert ausgedrückten, scheinbar objektiven, unpersönlichen gesellschaftlichen Formen die >realen< gesellschaflichen Verhältnisse (das heißt die Klassenverhältnisse) nicht: vielmehr sind die durch diese Kategorien ausgedrückten abstrakten Strukturen eben diese >realen< gesellschaftlichen Verhältnisse.“
Wozu dann noch das Gerede von den Mystifikationen, wenn die realen gesellschaftlichen Verhältnisse eben identisch sind mit ihren Verdinglichungen?
Nehmen wir zunächst das Geld selbst. In der Marxschen Kritik der Politischen Ökonomie heißt es unzweideutig:
„Es ist aber eben diese fertige Form - die Geldform - der Warenwelt, welche den gesellschaftlichen Charakter der Privatarbeiten und daher die gesellschaftlichen Verhältnissen der Privatarbeiter sachlich verschleiert, statt sie zu offenbaren.“ KAPITAL 1 S. 90
Gehen wir einen Schritt weiter und fragen uns, ob die Klassenverhältnisse sich in der Fetischform „Lohn“ hinreichend ausdrücken oder ob der Lohn auch etwas verbirgt.
Auch hier treten die Akteure auf dem Markt in Kontakt und schließen einen besonderen Kaufvertrag ab, den Arbeitsvertrag. Ein „sachliches Verhältnis von Personen“ ist zustande gekommen. Lohn gegen Arbeitsleistung heißt es da. Tatsächlich überlassen die Lohnabhängigen im Regelfall die Nutzung ihrer Arbeitskraft für eine bestimmte Zeit. Im Arbeitsvertrag steht nicht, welche Menge an unbezahlter Mehrarbeit zu liefern ist. Der Lohn, als Preis für die Ware Arbeitskraft verbirgt die Quelle des Mehrwerts, weil in ihm die Arbeit als bezahlt erscheint.
Nehmen wir abschließend noch die Fetischform „Preis“, den Marx auch als Geldnamen der in einer Ware enthaltenen Arbeit nennt. Der Preis drückt aus, dass ein Gebrauchswert für den Austausch produziert wurde, gibt also Auskunft über das grundlegende Produktionsverhältnis der unabhängig von einander verausgabten Privatarbeiten. Er drückt ferner aus, was die Produktion einer Ware gekostet hat und was der Warenproduzent als kalkulierten Gewinn aufgeschlagen hat. Der Preis verbirgt dagegen die konkreten Bedingungen unter denen eine Ware produziert wurde. Ein niedriger Preis kann beispielsweise sowohl Ausdruck einer außerordentlich hohen Arbeitsproduktivität sein, mit vergleichsweise hohen Löhnen und erträglichen sozialen Bedingungen, er kann aber auch Folge von extrem niedrigen Löhnen und unerträglichen Arbeitsbedingungen sein, z. B. Kinderarbeit etc. Das ist weder dem Preis selbst anzusehen, noch steht es auf Beipackzetteln oder in Bedienungsanleitungen.
Im Kontext der Kritik der Politischen Ökonomie stehen Wert und Kapital für ein historisch-spezifisches Produktionsverhältnis, das sich nicht zuletzt ausdrückt im besonderen gesellschaftlichen Charakter der Arbeit: unabhängig von einander verausgabte Privatarbeit und Lohnarbeit (Trennung der unmittelbaren Produzenten von den gegenständlichen Bedingungen ihrer Reproduktion und Kommando der Produktionsmittelbesitzer über fremde Arbeitskraft). Das Wertverhältnis, das auf voneinander unabhängiger Privatarbeit beruht, kann nur in Gestalt des Kapitals, also des Systems der Lohnarbeit, ein gesellschaftlich bestimmendes Verhältnis werden, weil die Verallgemeinerung der Lohnarbeit Voraussetzung für die Verallgemeinerung der Warenproduktion ist.
Auch diese verteidigungswerte Binsenweisheit des „Traditionsmarxismus“ kann in Postones Neuinterpretation nicht unangetastet bleiben. Er schreibt:
„In dem Maße wie der Wert – und nicht die Arbeit – als historisch spezifisch angesehen wird, stellt er nichts weiter dar als eine Distributionsform dessen, was durch die Verausgabung von <Arbeit überhaupt> konstituiert wird.“ S. 262
>Arbeit überhaupt< wird und wurde nirgendwo verausgabt. Ebensowenig, wie irgendwer Singen überhaupt anstimmt oder ein Loch als solches bohrt. Verausgabt wird immer nur eine konkrete Arbeit, niemand arbeitet abstrakt. Arbeit überhaupt ist eine gedankliche und eine real gesellschaftliche Abstraktion bei der von der konkreten Art der Verausgabung von unterschiedlichen Tätigkeiten abstrahiert wird. Wie bereits erwähnt, ist die real gesellschaftliche Abstraktion eine Leistung des Tausches von Waren. Nur während des Tausches können verschiedene besondere Arbeiten verglichen und auf ihren gemeinsamen Nenner gleichsam reduziert werden. (Der „Nenner“ muss sicher als Potenz schon vor dem Tausch da sein, es muss sich also um Produkte menschlicher Arbeit handeln. Aber dieser Nenner ist gesellschaftlich unwirksam und bedeutungslos, solange nicht für den Tausch gearbeitet wird.) Die Menschen vergleichen beim Tausch nicht bewusst in dieser Weise, aber sie tun es, indem sie ihren Waren einen Preis geben und diese Preise vergleichen. Weil abstrakte Arbeit nicht verausgabt wird, kann sie als solche auch nicht erscheinen, sondern muss eine besondere Form, die Wertform, letztlich die Geldform annehmen. „Arbeit überhaupt“ konstituiert keine besondere gesellschaftliche Form!
Weil das so ist, kann der Wert auch nicht eine Distributionsform dessen, was angeblich durch die Verausgabung von „Arbeit überhaupt“ konstituiert wird, darstellen. „Arbeit überhaupt“ war bisher allenfalls eine der wesentlichen Grundlagen von menschlicher Existenz „überhaupt“. Mehr nicht.
Sofern die Arbeit historisch-spezifisch ist, trägt sie den Stempel der Produktionsverhältnisse, ist z. B. Sklavenarbeit, Fronarbeit oder Lohnarbeit. Davon ist aber bei Postone nicht die Rede, sondern von der Arbeit ohne alle weitere soziale Formbestimmung. Insofern ist bei ihm, wenn von Wert die Rede ist, auch niemals das gesellschaftliche Produktionsverhältnis gemeint, das bei Marx als Wertverhältnis bezeichnet ist. Die unmittelbare Vergesellschaftung der Arbeit somit auch keine Aufgabe der sozialen Revolution, sondern schon im Kapitalismus verwirklicht. „Nur im Kapitalismus“ habe die Arbeit eine „unmittelbar gesellschaftliche Dimension“.
Tatsächlich spricht auch Marx von diesem unmittelbar gesellschaftlichen Charakter der Arbeit, nämlich mit Blick auf den unmittelbaren Produktionsprozess des Kapitals in der Gestalt der modernen Industrie, mit Blick auf das arbeitsteilige Zusammenwirken einer großen Anzahl von Menschen in der Produktion. Nirgendwo aber wird man bei ihm eine solche Formulierung finden, wenn es um den gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsprozess als Ganzes geht. Dieser ist vielmehr gekennzeichnet durch den vom Wert vermittelten gesellschaftlichen Charakter der Arbeit. Der gesellschaftliche Charakter der Arbeit ist hier niemals unmittelbar in der Produktion gesetzt, sondern kann sich erst ex post Geltung verschaffen über den Austausch der Arbeitprodukte, durch ihre Anerkennung als Werte. Wäre die Arbeit im Kapitalismus unmittelbar gesellschaftlich, dann gäbe es kein Wertverhältnis und keine Verdinglichung sozialer Beziehungen in den Formen des Wertes.
Um zeigen zu können, dass der Kapitalismus nicht auf voneinander unabhängiger Privatarbeit und der Lohnarbeit, sowie den entsprechenden Produktionsverhältnissen beruht, sondern auf Arbeit ohne weitere Spezifikation, muss Postone der Arbeit als solcher eine historisch-spezifische Qualität zusprechen, nämlich die der Selbstvermittlung. Tatsächlich schreibt er: Wesentlich für das Wertverhältnis sei „die Verausgabung unmittelbar menschlicher Arbeit im Produktionsprozess“ (S.54), wobei es ein Geheimnis bleibt, warum das Wertverhältnis dann nicht alle bisherigen Gesellschaftsformationen kennzeichnete.
3. Kritik der Arbeit, Kritik vom Standpunkt der Arbeit, soziale Emanzipation, Verteilungskämpfe und das revolutionäre Subjekt
So schroff der von Postone eingangs formulierte Gegensatz zwischen dem „traditionellen Marxismus“ und seiner Sichtweise als Gegensatz zwischen einer Kritik der Arbeit und einer Kritik vom Standpunkt der Arbeit zu sein scheint, sowenig kann er seinen formulierten diesbezüglichen Kritikansatz durchhalten. Seine Ausführungen quer durch das dicke Buch können auch als Dementi des eigenen Anspruchs auf Kritik der Arbeit gelesen werden.
Auf Seite 70 heißt es beispielsweise:
„Mit Blick auf die Struktur der gesellschaftlichen Arbeit kann der Grundwiderspruch im Kapitalismus verstanden werden als wachsender Widerspruch zwischen der Art der Arbeit, die die Menschen unter dem Kapitalismus verrichten, und der, die sie verrichten könnten, wenn der Wert abgeschafft ist und das in der kapitalistischen Form entwickelte produktive Potential reflexiv genutzt wird, um die Menschen von der durch ihre eigene Arbeit konstituierten Herrschaft entfremdeter Strukturen zu befreien.“
Das hätte auch einer der von ihm gescholtenen „Traditionsmarxisten“ formulieren können. Wenn der Grundwiderspruch so formuliert ist, dann liegt die Lösung auf der Hand: Durch und mit Abschaffung des Wertes die Art der Arbeit ändern. Auch das ist schließlich eine Kritik vom Standpunkt der Arbeit, nämlich vom Standpunkt einer möglichen zukünftigen Arbeit an der heutigen Arbeit im Kapitalismus. Es geht aber nicht nur darum, die Arbeit zu verändern, sondern auch Arbeit abzuschaffen. Auf letzteres zielt die Kritik der Arbeit, auf ersteres die Kritik vom Standpunkt der Arbeit. Da eine menschliche Gesellschaft ganz ohne notwendige, unmittelbar menschliche Arbeit kaum vorstellbar ist – außer man greift zur Methode der Begriffsakrobatik, ersetzt das Wort Arbeit durch das Wort Tätigkeit und meint damit etwas wesentliches geändert zu haben (Krisis) – wird und kann die Kritik vom Standpunkt der Arbeit nie ganz verschwinden.
Der Versuch einen grundsätzlichen Gegensatz zwischen der Kritik der Arbeit und einer Kritik vom Standpunkt der Arbeit aufzumachen, ist in dieser pauschalen Form eine nicht eben sinnvolle Konstruktion.
Der Kapitalismus hat die Tendenz die Masse der lohnabhängigen Menschen auf den Status von bloßen Produktionsinstrumenten zu reduzieren. Neben den Bestrebungen, den Arbeitstag überhaupt zu verlängern, wird jeder Produktionsfortschritt im ungezügelten Fortgang der kapitalistischen Produktion dazu genutzt, neue unbezahlte Mehrarbeit zu setzen. Die soziale Emanzipation von den Zwängen der Kapitalverwertung beginnt da, wo diesem Zwang zur Verwandlung von Lebenszeit in reine Arbeitszeit einhalten geboten wird, auf Seiten den Individuen also disponible Zeit verfügbar wird. Auch Arbeitszeitverkürzung im Kapitalismus ist ein kleines Stück Befreiung von sozialem Zwang der Verwertung von Kapital, wenn auch der grundsätzlich ökonomisch sachliche Zwang der Verwertung fortbesteht.
Meint man es ernst mit der Abschaffung der Arbeit, der Reduktion der Zeit, die Menschen mit notwendiger Arbeit verbringen, wird dies selbst zu einem vorrangigen Ziel erhoben, dann verlangt das nach mehr als nach Kämpfen für der Verkürzung der Arbeitszeit im Kapitalismus, dann verlangt das die Beseitigung der Lohnarbeit und Lohnabhängigkeit durch Vergesellschaftung der Produktionsmittel in freier Assoziation der Produzenten. Das Privateigentum an Produktionsmitteln muss fallen, nicht nur um einer anderen Art der Verteilung den Weg zu ebnen, sondern um sich die gegenständlichen Bedingungen der Produktion und Reproduktion anzueignen, was selbstverständlich auch eine andere Art der Verteilung nicht nur ermöglicht sondern auch verlangt! Diese Aneignung der gegenständlichen Bedingungen ihrer eigenen Reproduktion durch die Gemeinschaft der unmittelbaren Produzenten ist auch die Voraussetzung für die Umgestaltung der industriellen Produktion.
Der Lohn ist weit mehr als ein Kennzeichen der gegenwärtigen Distributionsweise, nämlich Merkmal von Produktionsverhältnissen, in der die Masse der Menschen nicht über die gegenständlichen Bedingungen ihrer Reproduktion verfügt. Die Abschaffung des Lohnsystems steht nicht in erster Linie für ein anderes spezifisches Verteilungssystem, sondern für die Abschaffung eben dieser Produktionsverhältnisse als Ganzes mit der für sie typischen Trennung und Verbindung von Produktionssphäre und Markt. Durch Vergesellschaftung der Produktionsmittel in freier Assoziation, der Aneignung der gegenständlichen Bedingungen ihrer eigenen Reproduktion schaffen die Menschen die Lohnarbeit ab, produzieren ihre Lebens- und Produktionsmittel damit nicht mehr als Ware und müssen daher auch eine neue Form der Vermittlung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses schaffen, jenseits des Marktes.
Die gesellschaftliche Kommunikation des Tauschens von Produkten voneinander unabhängiger Privatarbeiten muss ersetzt werden durch das bewussten Teilen und Verteilen. Das bewusste Teilen und Verteilen bestimmt die Produktion selbst wie die Aneignung ihrer Produkte. An Stelle einer indirekten Regulation über den Wert und des dadurch erzeugten äußeren Zwangs tritt die direkte, freie Übereinkunft zwischen Menschen. An die Stelle des Geldes, der Preisbildung, des Kaufens und Verkaufens tritt die unmittelbar menschliche, d.h. sprachliche Kommunikation und die bewusste Entscheidung.
Das ist eine gigantische Aufgabe und Herausforderung, wenn man auch nur an die Umgestaltung der wichtigsten kapitalistischen Industrieländer denkt, in denen eine solche Umwälzung gleichzeitig stattfinden müsste, um Aussicht auf Erfolg zu haben. Das setzt eine Menge an objektiven und vor allem subjektiven Bedingungen voraus. Und an dieser Aufgabe ist der „real existierende Sozialismus“ gescheitert und musste er scheitern, weil weder die objektiven noch die subjektiven Voraussetzungen dafür vorhanden waren.
Immerhin hat er sich der Aufgabe einer bewussten Gestaltung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses gestellt. Wie er diese Aufgabe gelöst hat muss kritisiert werden und die Kritik an seiner Unfähigkeit zur Umgestaltung der industriellen Produktionsweise ist davon allenfalls ein Teilaspekt.
Erst im Zuge der soeben skizzierten Umgestaltung werden die Voraussetzungen geschaffen für die grundsätzliche Möglichkeit einer Umgestaltung der industriellen Produktion, sei es durch Reduktion der Zeit, die die Menschen mit notwendiger Arbeit verbringen, indem sie zum Beispiel ganze Produktionszweige, wie die Rüstungsproduktion abschaffen, sei es durch Veränderungen der einzelnen Arbeitsprozesse, Wechsel der Tätigkeiten und vielseitige Ausbildung.
Sofern sich wieder große soziale Bewegung mit solchen weitreichenden Zielsetzungen bilden und die Menschen beginnen, um ihre soziale Befreiung zu kämpfen, wird sich auch zeigen, dass dann weniger die abstrakten Strukturen, die abstrakte Herrschaft, sie an der Durchsetzung ihrer Ziele hindert, sondern handfeste Interessen und Repressionsinstrumente, die diesen Interessen dienen.
Dies war im Übrigen eine wesentliche Ursache für die starke Orientierung des „Traditionsmarxismus“ auf die Fragen der Klassenherrschaft und des Klassenkampfes. Im Unterschied zu heute war der „Traditionsmarxismus“ mit einer starken sozialen Bewegung verbunden, ja Ausdruck dieser Bewegung, die das Privateigentum an Produktionsmitteln mindestens in Frage stellte und für das Kapital bedrohlich war. Weil viele Menschen den Kapitalismus überwinden wollten, bekamen sie es eben sehr drastisch mit den Repressionsapparaten der bürgerlichen Gesellschaft zu tun, im alltäglichen Klassenkampf, wie besonders in revolutionären Situationen.
Sobald eine relevante Anzahl von Menschen den Kampf für soziale Emanzipation aufgenommen hat, treten die abstrakten Herrschaftsstrukturen in den Hintergrund, weil sie eben nur für den ökonomischen Sachzwang stehen, dem sich Menschen sozusagen freiwillig beugen. Soziale Bewegungen und insbesondere revolutionäre Bewegungen sind aber gerade Ausdruck davon, dass der Sachzwang seine Wirkung einbüßt, die Menschen sich ihm nicht mehr ohne weiteres beugen und sei es auch nur in Verteilungskämpfen. Einer solchen Bewegung dann pauschal vorzuhalten, sie missverstehe die Kritik der Politischen Ökonomie, weil sie nicht die abstrakten Strukturen von Herrschaft für wesentlich erachte, sondern ihre Kritik zu sehr auf die konkrete Herrschaftsausübung fixiere, ist zumindest ungenügend.[5]
Selbstverständlich steht im Mittelpunkt der Kritik der Politischen Ökonomie die Auseinandersetzung mit dem ökonomischem Sachzwang der Verwertung von Wert, eben dem ökonomischen Bewegungsgesetz der bürgerlichen Gesellschaft. Sie liefert keine Antwort auf alle Fragen der gesellschaftlichen Entwicklung und der sozialen Auseinandersetzung.
Wie alle modernen Wertkritiker so rümpft auch Moishe Postone bei der Austragung des Klassengegensatzes im Kapitalismus die Nase und bescheinigt ihnen Systemimmanenz. Im Resultat trügen sie eigentlich nur zu Systemdynamik bei. (S. 473 ff) Für ihn stellt der Klassenkonflikt „keine Störung in einem ansonsten harmonischen System dar.“(S. 478)
Von einem „ansonsten harmonischen System“ hat, von den bürgerlichen Apologeten einmal abgesehen, allerdings auch nie ein „Traditionsmarxist“ gesprochen. Wohl aber von einer Störung des Systems der Kapitalverwertung und im Kampf um den Normalarbeitstag sah Marx sogar zwei „Prinzipen“ im Widerstreit (Soziale Ein- und Vorsicht wider nacktes Profitinteresse). Postone meint hingegen, dass der Klassenkonflikt „nicht auf entgegengesetzten Prinzipien“ beruhe. (S. 478)
In diesem Punkt stehen alle modernen Wertkritiker jedenfalls mit der so oft ins Feld geführten und manchmal auch strapazierten Kritik an der Sachlogik der Kapitalverwertung auf dem Kriegsfuß. In der Marxschen Variante der Kritik der Politischen Ökonomie kennt diese Sachlogik der Verwertung von Wert keine soziale Ein- und Vorsicht, sondern einzig den Heißhunger nach unbezahlter Mehrarbeit. Alle Umverteilungen, sei es in der Gestalt von Lohnerhöhungen, Arbeitszeitverkürzungen oder von Beitragszahlungen der Kapitalisten in Sozialversicherungen bedeuten eine Verletzung und Verbiegung dieser ökonomischen Sachlogik, sind oder waren Ausdruck davon, das der Sachzwang nicht rein und unangefochten zur Geltung kam. Der „traditionelle Marxismus“ und die durch ihn repräsentierte Arbeiterbewegung waren also nicht nur Teil der Durchsetzungsgeschichte des Kapitalismus, sondern vor allem gescheiterte Versuche den Kapitalismus sozial verträglich zu gestalten oder ihn zu überwinden.
Mit dem Zusammenbruch der letzten Bastionen des Traditionsmarxismus und dem dramatischen Niedergang der alten Arbeiterbewegung entfaltet der ökonomische Sachzwang fast ohne Repression eine imposante Macht und bestimmt alle öffentlichen Diskurse nahezu ohne weitere Einschränkung. Weitgehend unbehindert durch Verteilungskämpfe entfaltet sich das allgemeine Gesetz der kapitalistischen Akkumulation mit einer atemberaubenden Wucht. Zügig wurde und wird überall nun auch aufgeräumt mit allen Sozialstaatsillusionen des alten Reformismus. Vielleicht am deutlichsten tritt das - ideologiekritisch betrachtet - in dem Bedeutungswandel des Wortes Reform zutage, dessen Nennung heute immer eine massive Drohung bedeutet. Die Herrschenden selbst erklären jeden Versuch der sozialen Bestandswahrung vor dem Hintergrund struktureller Überakkumulation und sinkender Profitraten zu einer Schicksalsfrage des Systems. Immer weiter klafft der Gegensatz von arm und reich auseinander, zwischen den Ländern mit unterschiedlichem Entwicklungsstand und in allen diesen Ländern.
Mir wäre wohler, wenn es heute noch eine große Zahl von Menschen gäbe, für die die Worte Sozialismus und Kommunismus eine positive Bedeutung für die Gestaltung einer besseren Zukunft hätte. Dann fiele es leichter die ökonomische Sachlogik des Kapitals zu verbiegen und mit der Perspektive zu kämpfen, sie aus der Welt zu schaffen. Eine sozialrevolutionäre Bewegung, die sozusagen aus dem Stand um den Kommunismus kämpft und jeden Versuch der Einschränkung und Verbiegung dieser Sachlogik ablehnt oder gar verhöhnt, wird es nicht geben. Dies ist und bleibt das Vorrecht des Sektierertums und ein Rückschritt hinter den „Traditionsmarxismus“. Aus Verteilungskämpfen im Kapitalismus, die nur geführt werden in dem Maße, wie die lohnabhängigen Menschen nicht bereit sind, sich dem äußeren Sachzwang, der ökonomischen Vernunft vorbehaltlos zu beugen, entsteht nicht geradlinig die soziale Revolution, aber jedes Verlangen nach sozialer Revolution, jede Verweigerung den ökonomischen Sachzwang zu akzeptieren, muss sich zunächst und auch ausdrücken in Verteilungskämpfen.
In diesem Zusammenhang möchte ich abschließend noch ein paar Anmerkungen zur Frage des „revolutionären Subjekts“ und zum Abschied vom Proletariat loswerden. Selbstverständlich beantwortet auch Moishe Postone diese Frage im landläufig wertkritischen Sinne, dass er die Masse der lohnabhängigen Menschen unter dem aktuellen Eindruck ihres weitgehend widerstandlosen Mitmachens und aus grundsätzlich theoretischer Erwägung nur zu einem Pol eines widersprüchlichen Verhältnisses erklärt, ohne jede revolutionäre Potenz. Was das revolutionäre Subjekt anbelange, liefere die Kritik der Politischen Ökonomie keinerlei begründete Hinweise auf die Objektivität eines revolutionären Subjekts. Da er aber die objektive Möglichkeit der sozialen Befreiung begründen will, verweist er uns zum einen auf die Potenzen, die in der Entwicklung der Produktivkraft der Arbeit schlummern sowie auf die Probleme, die sich daraus für die Kapitalreproduktion ergeben und ... auf alle Menschen.
Dass die Gewissheit des „Traditionsmarxismus“ über den angeblich historischen Beruf des Proletariats verraucht ist, muss weder verwundern noch bedauert werden. Richtig ist, dass sich aus der sozialen Lage der Lohnabhängigen keine Automatik der Kritik- und Erkenntnisfähigkeit ergibt, also auch keine Gewähr für die selbstbewusste Bildung eines revolutionären Subjektes. Deshalb nun auf alle Menschen zu verweisen, hilft nicht wirklich weiter, denn soziale Befreiung ist eine Angelegenheit der Menschen, die sozial unfrei sind und diese Unfreiheit ist durch die Lohnabhängigkeit gekennzeichnet. Daran führt kein Weg vorbei, oder man gibt jeden Gedanken an soziale Befreiung auf. Selbst wenn nun angeblich alle Menschen das mögliche revolutionäre Subjekt bilden könnten, wäre die große Masse davon lohnabhängig.
Bestritten wird nun, dass dieser objektive Status der Lohnabhängigkeit irgendetwas mit dem möglichen Zustandekommen revolutionärer Subjektivität zu tun habe. Frei nach dem Motto: wenn Lohnabhängige revolutionäre Subjektivität entwickeln, dann nicht, weil sie lohnabhängig sind, sondern obwohl sie lohnabhängig sind. Den gescheiterten kommunistischen Bestrebungen (der Vergangenheit) unter den lohnabhängigen ArbeiterInnen wird damit angedichtet, ihre Bestrebungen hätten nichts mit ihren Existenzbedingungen zu tun gehabt, seien sozusagen historisches Zufallsprodukt oder ihnen wird rundheraus jede kommunistische Absicht abgesprochen.
Anders als die theoretische Kritik selbst, die sehr wohl eine bestimmter Reflexion des objektiven Kapitalverhältnisses ist, soll die Verarbeitung unmittelbarer Erfahrung grundsätzlich nichts mit einer möglichen revolutionären Subjektivität zu tun haben. Fetisch und abstraktem Sachzwang sei Dank.
Danach besteht aber die einzige Möglichkeit zur Entwicklung revolutionärer Subjektivität in der theoretischen Kritik. Etwas platt ausgedrückt: Die Mehrheit der Menschen kann nur dann revolutionäre Subjektivität entwickeln, wenn sie die Kritik der Politischen Ökonomie studiert hat und massenweise „kluge“ Bücher in sich hinein frisst. Der theoretische Kritiker vergisst dabei allzu leicht, dass er selbst auch ein sinnliches Lebewesen der Gattung Mensch ist. Will sagen, die theoretisch nicht reflektierte Erfahrung, die er im Kapitalismus gemacht hat, hat ihn überhaupt erst zum Studium theoretischer Kritik veranlasst. Er muss die Zustände im Kapitalismus persönlich als unerträglich empfunden haben, oder mindestens einen erheblichen Leidensdruck verspürt haben, bevor er praktisch und theoretisch zu rebellieren anfing. Man muss also die Frage an den theoretischen Kritiker weiterleiten: Hatten bei ihm die objektiven Verhältnisse und danach die eigenen unmittelbaren Erfahrungen, mögen sie auch nur mittelbar durch Lohnabhängigkeit geprägt sein, nichts mit seiner Entwicklung revolutionärer Subjektivität zu tun?
Basis für revolutionäre Subjektivität ist immer, dass Zustände als unerträglich empfunden werden, oder mindestens einen Leidensdruck erzeugen, der Menschen zum Widerstand veranlasst. Die Zustände, die wir überwinden wollen sind gesellschaftliche Reproduktionszusammenhänge, die durch das Wert- und Kapitalverhältnis geprägt sind. Abgeschafft werden sollen zuerst das Erleiden eines fremden Kommandos über die eigene Arbeitskraft, sowie das Erleiden von Armut, zerstörerischer Arbeit und last but not least, die existenzielle Unsicherheit, das ausgeliefert sein an die Wechselfälle der krisenhaften Kapitalakkumulation. Für mich ist es eine absurde Vorstellung, dass das Erleiden dieser Zustände ursächlich nichts mit dem Zustandekommen revolutionärer Subjektivität zu tun haben soll, bzw. die Erfahrung dieser Zustände nicht die Potenz revolutionärer Subjektivität in sich trägt. Das hieße, dass wir Menschen aufhörten, sinnliche Wesen zu sein, reine Kopfmenschen wären, als die sich die theoretischen Kritiker sicher zuerst fühlen. Nur über reine Kopfmenschen könnten die Fetische von Wert und Kapital eine absolute Allmacht ausüben.
Den Lohnabhängigen das Potential zur revolutionärer Subjektivität abzusprechen, heißt im Grunde, ihnen jede menschliche Subjektivität abzusprechen, sie tatsächlich als das zu nehmen, wozu sie das Kapital machen will: Produktionsinstrumente.
An der Möglichkeit sozialer Emanzipation festzuhalten, heißt für mich selbstverständlich zugleich, dass man an der Möglichkeit der Bildung eines revolutionären Subjekts festhält. Die Kritik der Politischen Ökonomie stößt uns meiner Meinung nach mit der Nase auf diese Zusammenhänge.
Analog zu den Potenzen, die in der Produktivkraftentwicklung schlummern, von denen Postone spricht, liegt in der Lohnabhängigkeit die Potenz zu revolutionärer Subjektivität.
Ohne Rückgriff auf ontologische Gegebenheiten, lässt sich aber weder die vom Wert beherrschte, aber nicht vollständig in ihm aufgehende „Gebrauchswertdimension“ (Postone) erkennen, noch das revolutionäre Potential, dass in der Lohnabhängigkeit schlummert.
Dieses Potential lässt sich allerdings nicht beliebig abrufen oder wach küssen, etwa durch ständige Agitation der Erleuchteten. Wann die Zustände als unerträglich erfahren werden, der Leidensdruck zur verändernden Tat drängt, hängt zu aller erst von der objektiven Entwicklung der Kapitalverwertung ab und erst dann vor einer Reiher subjektiver Voraussetzungen, etwa politischen Konstellationen, dem Vorhandensein schlüssiger Kritik und verständlicher Agitation.
Es ist also auch klar, dass sich erneute Entwicklung starker antikapitalistischer sozialer Bewegungen und Organisationen weder prognostizieren noch durch kontinuierliche Agitiation einfach machen lässt. Der verheerende Fehlschlag des Realsozialismus und die rapide Umwandlung des alten Sozialreformismus in ein sozialreaktionäres Projekt tragen ihr Teil dazu bei, das kurzfristig wohl kaum mit einer empirischen Bestätigung der hier angestellten Überlegungen zu rechnen ist.
Nachtrag:
Klassenkampf und Wertgesetz
Bei Postone wird die Wirkungsweise des Wertgesetzes auf die Ware Arbeitskraft erst durch die gewerkschaftlichen Organisationen und die Kollektivverträge voll durchgesetzt.
„Sobald die Arbeiter in der Lage sind, kollektiv als Warenbesitzer zu handeln, ist Marx zufolge historisch der Boden für eine Produktionsform bereitet, die dem Kapital adäquat ist.“ (S.480)
Damit erlangen diese gewerkschaftlichen Organisationen quasi den Status einer ökonomischen Kategorie. Wie viele andere auch, will er durch diese Krücke demonstrieren, dass der Kapitalismus sich erst im Kontext von systemimmanenten Klassenkämpfen in Reinheit entfaltet.
Ich halte eine solche Konstruktion für falsch und tendiere mittlerweile zu ganz anderen Einschätzungen. Keine Frage, der Wert der Ware Arbeitskraft enthält auch ein historisch-moralisches Element. Daraus abzuleiten, der Preis der Ware Arbeitskraft entspreche gerade dann ihrem Wert, wenn es zu Kollektivverträgen zwischen Kapitalisten und starken Gewerkschaften kommt, liefert nachher zwar eine plausible Erklärung dafür, dass der Klassenwiderspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital keine revolutionäre Brisanz enthalte, mehr aber auch nicht. Es entsteht ein Bild, dass hohe Löhne und ein hohes Maß an sozialer Sicherheit nicht im Widerspruch zum Wertgesetz stehen, sondern ihm erst zu vollständigen Entfaltung verhelfen. Das korrespondiert dann wieder mit dem Verschwinden sozialrevolutionärer Bestrebungen der Lohnabhängigen und so entspricht auch dies dem gereiften Kapitalismus. Der Augenschein bestätigt ja seit Jahren, dass die Lohnabhängigen sozialrevolutionären Ideen ablehnend gegenüberstehen.
Es entsteht ein völlig anderes Bild und eine andere Interpretation, wenn man davon ausgeht, dass durch starke gewerkschaftlichen Organisationen in den hochentwickelten Ländern der Preis der Ware Arbeitskraft im Schnitt über viele Jahre deutlich über ihrem Wert lag, das Wertgesetz sich also nicht ungehemmt entfaltete. Dass der Preis der Ware Arbeitskraft deutlich über ihrem Wert liegt, schließt die Produktion und Realisierung von Mehrwert ja nicht aus, es schmälert ihn nur. Welche Bedingungen sprechen dafür?
- Die außerordentlich günstige Situation für Kapitalverwertung nach dem 2. Weltkrieg, die Möglichkeit außerordentlich hohe Gewinne zu erzielen.
- Die intensive „Erschließung“ von Ländern der sog. 3. Welt und die hier erzielten Extraprofite.
Beides zusammen brachte eine starke Wachstumsdynamik und enorm hohe Gewinne und ermöglichte - rein ökonomisch betrachtet - weitreichende Zugeständnisse des Kapitals, ohne die progressive Verwertung nennenswert in Frage zu stellen.
Die Bereitschaft zu Zugeständnissen ergab sich u.a. aus der Bedrohung durch den „realen Sozialismus“, der zumindest von 45 bis in die 70iger Jahre hinein sehr expansiv war (z. B. antikoloniale Revolution). So waren die Kapitalisten bereit, den Sozialreformisten weitreichende Zugeständnisse zu machen, was allerdings nichts zu tun hat mit Bestechung aus eigenem Antrieb, der Bestechung einer sog. Arbeiteraristokratie.
Es geht hier um den Zusammenhang von Wertgesetz und Klassenkampf, nicht um Bestechung. Der Klassenkampf setzt in Bezug auf die Ware Arbeitskraft nicht das Wertgesetz durch, sondern er schränkt seine Wirkungsweise ein. Nur im rein ökonomischen Wechselspiel von Angebot und Nachfrage dominiert die Tendenz, den Preis der Ware Arbeitskraft ihrem Wert entsprechend festzusetzen, von den konjunkturellen Schwankungen abgesehen. Allgemein gesprochen wirkt das Wertgesetz nur da ungehindert, wo die Konkurrenz sich ungehindert entfaltet. Das ergibt sich aus der gesellschaftlichen „Natur“ des Werts. Bezogen auf die Ware Arbeitskraft verlangt das Wertgesetz die freie Konkurrenz der „Besitzer“ von Ware Arbeitskraft. Organisationen, die diese Konkurrenz wenigstens teilweise aufheben, sind Gift für die Durchsetzung des Wertgesetzes.
Kollektivverträge durch Organisationen, Streik und Aussperrung sind keine ökonomischen Kategorien und somit auch nicht Gegenstand der Kritik ökonomischer Kategorien, haben nichts zu suchen in einer kritischen Darstellung des ökonomischen Bewegungsgesetzes selbst. Es verwundert eigentlich, wenn gerade diejenigen, die ständig von der Herrschaft der Abstraktionen, von abstrakter Herrschaft reden, diese nicht konsequent als ökonomische Kategorien entwickeln können. Sie verfolgen die Absicht der Denunziation der Arbeiterbewegung und des „traditionellen Marxismus“ und müssen deshalb den Klassenkampf bemühen, um die Wirkungsweise des Wertgesetzes zu demonstrieren.
Nun leben wir in einer Zeit, in der alle Bedingungen für die Einschränkung der Wirkung des Wertgesetzes auf den Preis der Ware Arbeitskraft verschwinden oder schon verschwunden sind. Die Auswirkungen des 2. Weltkrieges sind lange zu Ende, in Pleitenflut und hoher Lohnarbeitslosigkeit zeigt sich der Verfall der Kapitalrentabilität und die „Wachstumsschwäche“, die Bedrohung durch einen expansiven Realsozialismus hat sich in Luft aufgelöst. Das Kapital drängt entschieden auf Korrekturen und Rücknahme der Zugeständnisse, will, dass allein Angebot und Nachfrage den Preis der Ware Arbeitskraft bestimmen („natürlicher Preis“). Sie drohen den Gewerkschaften mit Selbstauflösung der Arbeitgeberverbände und bringen sie so dazu, Zug um Zug den Zweck gewerkschaftlicher Organisation, die Aufhebung der schrankenlosen Konkurrenz unter den Verkäufern von Ware Arbeitskraft, preiszugeben. Mehr noch, die Gewerkschaften setzen diese Konkurrenz selbst mit durch. Das funktioniert prima, weil die Sozialreformisten sich zu Sozialreaktionären mausern, und es beschleunigt diesen Prozess.
Die Frage nach einer möglichen revolutionärer Subjektivität auf Seiten der Lohnabhängigen wird sich in den nächsten Jahrzehnten von selbst beantworten, dessen bin ich ganz sicher. Sie wird wieder lebendig werden.
Vor dem Hintergrund der verheerenden Niederlage der Arbeiterbewegung zwischen den beiden Weltkriegen und den angeführten Faktoren, die einen Lohn deutlich über dem Wert der Ware Arbeitskraft, sowie vergleichsweise hohe soziale Standards auf Seiten der Lohnabhängigen mit sich brachten, konnte sich sozialrevolutionäres Gedankengut kaum behaupten oder von neuem entwickeln. Was diese gesellschaftlichen Umstände nicht schafften, das schaffte der „Realsozialismus“, diese grausame Karikatur auf die freie Assoziation der Produzenten.
Anmerkungen
[1] Moishe Postone, „Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft“, ca ira Verlag, Feiburg 2003
[2] August Bebel, „Die Frau und der Sozialismus“, Dietz Verlag, Berlin 1964
[3] Karl Kautsky, „Das Erfurter Programm“, Verlag J.H.W. Dietz Nachf., Bonn-Bad Godesberg 1974
[4] Vergl. auch meine „Einwände eines Traditionsmarxisten“ in trend 06/04. Postone hält nicht nur den Zirkulationsprozess des Kapitals für unwesentlich, sondern will mit einer sehr eigenwilligen Marxinterpretation den Tausch, soweit er wesentlich sei, im unmittelbaren Produktionsprozess selbst verorten.
[5] In früheren Artikeln habe ich gerne den Begriff des „politischen Marxismus“ gebraucht, weil der „traditionelle Marxismus“ aufs engste mit einer starken politischen und gewerkschaftlichen Bewegung von lohnabhängigen ArbeiterInnen verbunden war und tatsächlich die Erkenntnisse aus der Kritik der Politischen Ökonomie nur soweit akzeptierte, als sie der politischen und gewerkschaftlichen Bewegung unmittelbar Nutzen versprachen. Die Kritik der Politischen Ökonomie wurde zu einer Legitimationswissenschaft für eine bestimmte politische Praxis.
Editorische Anmerkungen
Auf Einladung der trend-Redaktion referiert Robert Schlosser (Bochum) am Sa. 8.1.2005, in Berlin-Kreuzberg, im Mehringhof, Blauer Salon, 19.00 Uhr über "Irrtümer einer notwendigen Kritik am Traditionsmarxismus".
Der vorliegende Text ist eine schriftlich überarbeitete und erweiterte Fassung seines Referats vom 8.1.2005.