Lieber Norbert,

einigermassen schockiert bin ich über den Duktus des Textes von Robert Kurz und der Tatsache, dass er nicht als Einzelmeinung, sondern von euch unterstützt, erscheint. Ich habe deshalb ein offenen Brief verfasst, um dessen Verbreiterung über die liste ich hiermit bitte.
Liebe Grüße Holger


Für ein neues Spiel
Offener Brief an die Krisis-Redaktion anlässlich des von ihr unterstützten Textes "Das Spiel ist aus"

Als ich das Editorial der vorletzten Bahamas gelesen hatte, dachte ich, die typisch deutsche Paranoia, die überall nur Verrat an der eigenen Sache wittert, wäre nicht mehr zu toppen. Die Redaktion beschrieb zunächst genüsslich, wie es gelungen sei, mehr und mehr Teile des postautonomen Spektrums auf eine Israel-Solidarität zu verpflichten um diesen dann umgehend den Kampf anzusagen. Unter anderem weil die Israel-Solidarität hie und da nicht als ?bedingungslose? ausgerufen wurde, schloß die Reaktion darauf, dass es sich nur um potentielle Israel-Feinde handeln könne, die ihr Ressentiment perfiderweise noch hinter Israel-Fahnen versteckten.

Robert Kurz` Text "Das Spiel ist aus" in Boykottaufruf zur Münchner Konferenz Spog scheint mir zumindest vom gleichen stalinistischen und kraftmeierischen Denunziationswahn Zeugnis abzulegen, der spiegelbildlich zu den Bahamisten überall den Sumpf unentschlossener und schwächlicher Elemente identifizieren und bekämpfen will.

Die Themen-, Veranstalter- und ReferentInnenliste der Konferenz belegen eigentlich schon alleine die Absurdität des Vorwurfes, hier handele es sich um einen Bellizisten Kongress, der einmal mehr das beliebte Bewegungsbashen als Selbstzweck betreiben wolle. Gerade die Krisis Gruppe schien bisweilen ein erfreuliches Beispiel dafür zu sein, dass eine radikale Kritik an linken Bewegungen nicht den Rückzug von einer auf Praxis drängenden Sozialkritik nach sich ziehen muss. Die Münchner Konferenz bezieht sich jedoch offensichtlich in ihrer Kritik an der Globalisierungsbewegung grundsätzlich positiv auf die Möglichkeit und Notwendigkeit deren Weiterentwicklung.

Natürlich schlägt man immer wieder entsetzt die Hände überm Kopf zusammen, wenn man beispielsweise GenossInnen der iz3w in einer Debatte über den Krieg und nicht im Plausch über Wohnortsträume davon reden hört, sie würden lieber in New York als in Bagdad leben. Natürlich frägt man sich, warum Linke, die es lange Zeit den Kernen des Antimilitarismus und der 3. Welt-Solibewegung überlassen haben, deutsche Rüstungsexporte in den Irak zu thematisieren, ausgerechnet jetzt den Irak entdecken. Natürlich muss es zudem verstören, wenn ein Milieu, das in den vergangenen Jahrzehnten mit der notwendigen Kritik am alten romantisierenden Bezug auf die "Verdammten dieser Erde" auch den Neochauvinismus gegenüber "rückständigen" Sozialrevolten im Süden einführte, auf einmal "die Opposition", die "Menschen im Irak" bemüht und sich damit um eine Position zum Krieg herum stehlt.

Den Bellizismus und seine ideologischen Voraussetzungen, die bei den Antideutschen in einer verkehrten Wahrnehmung des Verhältnisses der "Versprechen" der bürgerlichen Zivilisation und ihrer Wirklichkeit liegen, bekommt man jedenfalls mit einer solch sektiererischen Denunziation, wie sie jetzt Kurz vorgelegt hat, nicht weg.

Bezogen auf die Antideutschen wäre es sicherlich notwendig, einmal gründlich zu untersuchen, warum gerade eine Generation von Linken, die wie keine andere zuvor und woanders in den "Genuß" historisch einmaliger Lebensbedingungen gekommen ist, und in vielen Fällen in der Lage war und ist, ein relativ hedonistisches Leben "wie falsch und entfremdet auch immer" bei vergleichsweise wenig Arbeit führen zu können, zu einem solchen Begriff von bürgerlicher Zivilisation kommen kann, der ganz offensichtlich die absolut partikulare - und zwar notwendig partikulare - Erscheinung mit dem Wesen kurz schließt. Wer weiß, vielleicht käme als Ergebnis einer solchen Untersuchung heraus, dass mit dem positiven Bezug auf die USA als eine zwar widersprüchliche aber doch Freiheit, Genuß und Individualität garantierende Gesellschaftsformation nichts anders gemeint ist als der allerlei Kollateralnutzen ermöglichende autoritäre Kontrollwohlfahrtsstaat deutscher Provenienz der vergangenen Jahrzehnte.

Es ist das Dilemma von radikaler Gesellschaftskritik überhaupt, immer wieder feststellen zu müssen, welch attraktiven ideologischen Anschlüsse die gesellschaftlichen Verhältnisse bereitstellen, um das Unbehagen am Kapitalismus in eine Affirmation seiner Voraussetzungen und Schlimmeres zu transformieren. Aus einer solchen Sicht dürfen die "Verkürzungen" der Kapitalismuskritik, ob bei Globalisierungsgegnern, Pop-und Pomolinken oder eben den bellizistischen oder weniger bellizistischen Zivilisationsfreunden nicht als Problem fehlender Moral oder Integrität betrachtet werden. Wer ernsthaft eine radikale Veränderung der Verhältnisse anstrebt muss die Spannung aushalten lernen, gerade bei Voranschreiten der Vermassung zunehmend mit Menschen zusammen zu kommen, die weder Zeit noch Bock haben, mal eben ein paar Jahre in theoretische Klausur zu gehen, um dann mit Marx, Adorno und Marcuse im Gepäck auf die Barrikaden zurückzukehren. Natürlich müssen klare Grenzen gesetzt werden und bestimmte Ausdrucksformen dieser Verkürzungen wie Antisemitismus oder Militarismus offensiv bekämpft werden. Wer allerdings glaubt dies sei schon notwendig, wenn jemand in Deutschland auf eine Friedensdemo geht oder eben wie demnächst in München, den Krieg, seine Voraussetzungen und Implikationen nicht nur bekenntnishaft denunzieren, sondern analysieren will, ist selbst ein Fall für Klausur.

Da die Krisis-Redaktion explizit den Duktus und die Form des Text von Robert Kurz unterstützt, tendiert meine Lust, als Referent bei dem demnächst stattfindenden Krisis-Jahresseminar aufzutreten, gegen Null. Eine Klarstellung und Entschuldigung seitens der Redaktion aber auch von Robert Kurz wäre ein Zeichen, den Verfall linker Debattenkultur, den sicherlich nicht Krisis verursacht hat, nicht mit gestalten zu wollen.

Holger Schatz, 31.03.03