Ein Leichnam regiert die Gesellschaft
Alfred Baumann
08.01.2000
Das "Schwarzbuch Kapitalismus" und ein "Manifest gegen die Arbeit"
"Beschäftigung schaffen" sei "gesellschaftspolitische Herausforderung Nr. 1" sagt die Bundesregierung. Autoren der Theorie-Zeitschrift "Krisis" waren unlängst mit einem "Manifest GEGEN die Arbeit" auf Vortragstournee. Robert Kurz, der Kopf der Gruppe, hat nun ein dazu passendes "Schwarzbuch Kapitalismus" vorgelegt.
Schon erstaunlich: Als fast alle Deutschen noch an Erhards "Wohlstand-für-Alle"-Versprechen glaubten, da wollten selbst einige SPD-Mitglieder den Kapitalismus schlichtweg abschaffen. Heute zeigt uns die Marktwirtschaft ihre Zähne - und kaum etwas gilt für so indiskutabel wie ökonomische Fundamentalkritik.
Darum überrascht es, dass jüngst, ausgerechnet in der
Zeit, über ein "Schwarzbuch Kapitalismus" zu lesen stand, es handele sich um "die wichtigste Veröffentlichung der letzten zehn Jahre in Deutschland".
Ein "Abgesang auf die Marktwirtschaft"
Das gelobte Buch stammt von dem Nürnberger Publizisten Robert Kurz und handelt von Widersprüchen unseres Wirtschaftssystems. Auf 800 Seiten werden die Metamorphosen des Kapitalismus während seiner drei industriellen Revolutionen untersucht. Neben Liberalismus, Neo-Liberalismus, Sozialdemokratie und Faschismus kommt auch der Staatssozialismus (den der Autor für "Fleisch vom kapitalistischen Fleische" hält) auf den politökonomischen Seziertisch.
Marktwirtschaft - behauptet Kurz - sei totalitär; eine Despotie des unerbittlich prozessierenden Selbstzwecks Kapitalverwertung. Alles und Jeden habe sich das Prinzip "aus Geld mehr Geld machen" im Laufe seiner "Weltkarriere" unterworfen. Moderne Industriegesellschaften glichen kultur- und naturverschlingenden sozialen Maschinen zur Erzeugung abstrakten Reichtums. Anstatt ihre Zukunft selbst zu bestimmen, agiere die Menschheit als Sklave ihres eigenen "Wirtschaftshandelns".
Verrückterweise habe der Dienst am Mammon die Menschen noch nicht einmal im Durchschnitt wohlhabender gemacht: "Dass gesamtgesellschaftlich die Kosten und Schäden überwiegen ... gehört zum Wesen der kapitalistischen Produktionsweise überhaupt".
Ganz wörtlich gemeint ist auch der Buch-Untertitel: "Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft". Kurz stellt folgende Prognose: "Der Kapitalismus ist am Ende seines Blindflugs durch die Geschichte angelangt, er kann nur noch zerschellen." Den Grund entnimmt er Marxens "Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate".
Dessen Entdecker behauptete bekanntlich, die Industrialisierung selbst infiziere den Kapitalismus mit dem Keim seines Untergangs. Zunehmende Maschinisierung der Produktion führe indirekt und ungewollt zum Abschmelzen der Profitmargen. Weil einzelne Waren mit dem Fortschritt der Produktivkräfte immer mehr "konstantes Kapital" und immer weniger "Mehrwert" repräsentierten, müsse sich der Markt unablässig ausdehnen, um ein bestimmtes "Profitniveau" auch nur beizubehalten.
Nach Ansicht von Robert Kurz durchleben wir eine Zeit, in der die Wachstumsräume dieses Expansionsdranges endgültig aufgebraucht sind. Dass die Wirtschaft in Bereichen (noch immer) floriert, leugnet er nicht. Dies aber sei eine "Scheinblüte". Via Aktienmarkt habe sich das System weitgehend in eine "Ökonomie der Simulation" verwandelt. Die Geschäftsgrundlage des "spekulativ gesundgeschminkten Kapitalismus" bestehe gewissermaßen aus ungedeckten Wechseln, gezogen auf eine fiktional glänzende Zukunft. Realwirtschaftlich seien aber die Erwartungen, mit denen heute spekuliert wird, keinesfalls mehr einholbar.
Die materiale Basis des bloß mehr "virtuell sprudelnden Profits" befinde sich dagegen vor dem Kollaps. Die menschlichen Daseinsbedingungen seien so nachhaltig geschädigt, dass das Tor zur Barbarei nunmehr weit offen stehe. "Bleibt eine radikale Gegenbewegung aus", so schließt das Schwarzbuch des Kapitalismus, "ist das Resultat die unaufhaltsame Entzivilisierung der Welt"
Arbeit - die "Verhaltensstörung der Moderne"
Robert Kurz zieht nicht als publizistischer Einzelkämpfer zu Felde. Mit einer Gruppe von Mitstreitern gibt er seit Mitte der achtziger Jahre die Zeitschrift "Krisis" heraus.
Um ihrer radikalen Kapitalismuskritik Breitenwirkung zu verschaffen, haben Mitglieder der Redaktion sich in den vergangenen Monaten auf Vortragsreise begeben. Dem Publikum wurde eine Diskussion über die "Arbeitsgesellschaft" angetragen, mit der die Krisis-Leute in einem
Manifest gegen die Arbeit abzurechnen versuchen.
Die soziale Institution "Arbeit" erfreute sich gerade bei Linken schon immer hoher Wertschätzung und wurde als "historisch universelle Notwendigkeit" betrachtet. Eine lange Tradition des "Arbeiterbewegungsmarxismus" veranstaltete geradezu einen Kult darum. Politisches Ziel war, der Arbeit und den "arbeitenden Massen" (im Gegensatz zum "Kapital") zu ihrem historischen Recht zu verhelfen.
Die "Krisis"-Theoretiker halten das für einen eklatanten Fehler. Die Kritik der Verhältnisse habe auch und gerade an der Arbeit anzusetzen. Denn: Arbeit und Kapital bildeten lediglich zwei Seiten derselben Medaille - der selbstzweckhaften Produktion abstrakten Geldreichtums innerhalb eines verdinglichten gesellschaftlichen Zusammenhangs.
Als bloßes Alter Ego des "abstrakten Reichtums" teile die "abstrakte Arbeit" auch dessen "Rien ne va plus"-Schicksal. Mit Einsetzen der "mikroelektronischen Revolution" ist sie in ein geschichtliches Endstadium getreten: "Erstmals wird flächendeckend mehr Arbeit wegrationalisiert als durch die Verbilligung der Produkte zusätzliche Arbeit rentabel eingesaugt werden kann."
Die Überlebtheit des Arbeitskults werde nirgends sinnfälliger, als im verzweifelten Glauben an ein Jobwunder im Rahmen einer total-flexibilisierten Dienstleistungsgesellschaft. Der reale Kern dieser Geschäftigkeitsdystopie bestehe aber vor allem in einer schönen neuen Welt von "arbeitenden Armen, die den restlichen Business-Men der sterbenden Arbeitsgesellschaft die Schuhe putzen, ihnen verseuchte Hamburger verkaufen oder ihre Einkaufszentren bewachen."
Aber auch der Gewinner-Minorität der High-Tech- und Medien-Professionals winke allenfalls eine zu "Selbstverwirklichung" und "Herausforderungs-Fun" verfabelte Totalindienstname durch den "abstrakten Reichtum".
Selbst ihren exquisit entlohnten Eliten könne die Arbeitsgesellschaft wenig bieten. Im "Manifest" heißt es: "Keine herrschende Kaste in der Geschichte hat jemals ein derart unfreies und erbärmliches Leben geführt wie die gehetzten Manager von Microsoft, Daimler-Chrysler oder Sony. Jeder mittelalterliche Gutsherr hätte diese Leute abgrundtief verachtet. Denn während er sich der Muße hingeben und seinen Reichtum mehr oder weniger orgiastisch verprassen konnte, dürfen sich die Eliten der Arbeitsgesellschaft selber keine Pause gönnen."
Der Schluss aus der "Krise der Arbeit" könne nur lauten: "Wir brauchen keine ´Beschäftigung´, sondern einen vernünftigen Einsatz der Produktivkräfte", die längst über ´Arbeitsgesellschaft´ und Warenproduktion hinausgewachsen seien.
Statt Barbarei: Eine internetgestützte Räte-Republik ?
Unter marktwirtschaftlichen Bedingungen sehen die Krisis-Theoretiker dafür keinerlei Möglichkeit. Über die Hoffnungen einer reformerischen Linken, dem Kapitalismus ein menschenfreundliches Gesicht zu geben, bemerkt Kurz in einer Publikation aus den frühen Neunzigern: "Der heilige Martin konnte seinen Mantel mit dem Frierenden teilen; aber das Geld der Welt kann aufgrund seines eigenen Funktionsgesetzes eben nicht gerecht aufgeteilt oder verwendet werden."
Die einzig verbleibende historische Chance sei die heute utopisch anmutende Umsetzung des Marxschen Traums einer Gesellschaft sich herrschaftsfrei über die Herstellung von Gebrauchwerten verständigender Produzenten. Im Prinzip, befindet Robert Kurz, habe der Schoß der kapitalistischen Verhältnisse die Voraussetzungen dafür ausgebrütet.
"Unter Bedingungen der dritten industriellen Revolution könnten "Räte" ... an die Stelle von Geldform und anonymen Märkten treten. Die Mikroelektronik stellt dafür gleichzeitig die Möglichkeit einer allseitigen kommunikativen Vernetzung bereit, die alle Herrschaftszentren "vertikaler" Menschenverwaltung leicht aushebeln kann."
Für wahrscheinlicher allerdings hält er, dass "die Zukunftsmusik wirklich ausgespielt hat". Und auch von der Homepage der
Krisis-Gruppe prangt wenig hoffnungserregend der Katastrophendampfer Titanic.
Weitere Informationen:
1) Schwarzbuch Kapitalismus: Robert Kurz versenkt unser Wirtschaftssystem. Hat er recht ? Eine Kontroverse in: Die Zeit: Nr. 51/1999
1)
Pro von Hans-Martin Lohmann
2 )
Contra von Uwe Jean Heuser
3 ) Gruppe Krisis:
Manifest gegen die Arbeit
Literatur:
Robert Kurz: Der Kollaps der Modernisierung. Vom Zusammenbruch des Kasernensozialismus zur Krise der Weltökonomie. Eichborn Verlag., Frankfurt a. Main 1991
Ders.: Honeckers Rache. Zur politischen Ökonomie des wiedervereinigten Deutschland. Edition Tiamat, Berlin 1991
Ders.: Potemkins Rückkehr. Attrappen-Kapitalismus und Verteilungskrieg in Deutschland. Edition Tiamat, Berlin 1993
Ders.: Die Welt als Wille und Design. Postmoderne, Lifestyle-Linke und die Ästhetisierung der Krise. Edition Tiamat, Berlin 1999
Ders.: Schwarzbuch Kapitalismus. Ein Abgesang auf die Marktwirtschaft. Eichborn Verlag., Frankfurt a. Main 1999
Robert Kurz, Ernst Lohoff, Norbert Trenkle (Hg.): Feierabend! Elf Attacken gegen die Arbeit. Konkret Literatur Verlag, Hamburg 1999