Robert Kurz
Politische Ökonomie des Antisemitismus
Die Verkleinbürgerung der Postmoderne und die Wiederkehr der Geldutopie von Silvio Gesell
1.
Das Verhältnis von Arbeit und Geld war von Anfang an einer der zentralen
Streitgegenstände der Politischen Ökonomie. Tatsächlich ist das Abstraktum
»Arbeit« ebenso wie die nackte, von allen nicht-warenförmigen Beziehungen
losgelöste Ware ein Produkt des kapitalistischen Modernisierungsprozesses. An
der Oberfläche dieses modernen Fetischverhältnisses erscheint es jedoch so, als
würden »Arbeit« und Ware vom (kapitalistischen) Geld usurpiert, obwohl sie nur
Durchgangsstadien des Geldes als Kapital selber sind. Aus dieser
Oberflächenverblendung entsteht der Impuls, die kapitalistischen
Erscheinungsformen Arbeit und Ware vom kapitalistischen Selbstzweck-Medium Geld
irgendwie »befreien« zu wollen.
Als sich das Geld im 18. und 19. Jahrhundert
allmählich zum »produktiven« Kapital mauserte, d.h. zur modernen
betriebswirtschaftlichen Rationalität, hatten bald die Arbeits- und Warenutopien
gegen das kapitalisierte Geld Konjunktur. So bei den arbeitsutopischen
Interpreten des ökonomischen Klassikers David Ricardo: Die Waren als
Arbeitsprodukte sollten sich »unmittelbar« (ohne Dazwischenkunft des Geldes)
»aufeinander als Produkte der gesellschaftlichen Arbeit beziehen«, wie Marx
kritisch bemerkte. Das aber wäre eine contradictio in adjecto: »Die Produkte
sollen als Waren produziert, aber nicht als Waren ausgetauscht werden« (Marx).
Diese falsche Utopie der Arbeit wurde von Pierre-Joseph Proudhon (1809-1865) auf
denselben ideologischen Grundlagen umgedreht zu einer ebenso falschen Utopie der
Ware: Alle Waren sollten unmittelbar zu »Geld« werden, von Marx verspottet als
die Spießbürger-Utopie, daß »alle Katholiken Päpste werden« sollten. Denn die
Aussonderung des Geldes als »allgemeine Ware« ist ja gerade die Voraussetzung
dafür, daß die qualitativ verschiedenen Waren auf einen abstrakten Nenner
gebracht und somit überhaupt miteinander kompatibel werden.
Das absurde
Ansinnen Proudhons, durch einen »direkten« Austausch der Waren mittels
»Arbeitsgeld« die »ehrliche« Arbeit und die »ehrliche« Ware von der Herrschaft
des Geldes zu emanzipieren, läuft in der Tat auf die Paradoxie hinaus, bei
weitergehender Warenproduktion die Bedingungen der Warenproduktion aufheben zu
wollen. Der Versuch, dem Geld gerade jene Eigenschaft der »allgemeinen Ware«
(Warenkönigin) zu nehmen, die es erst zum Geld machen, ist ein Widerspruch in
sich. Das schizophrene Warensubjekt will sich auf die vermeintlich »konkrete«
Seite von Arbeit und Ware retten und sein alter ego, das abstrakte Geldsubjekt,
ganz los werden oder wenigstens an die Kandare nehmen, ohne die
gesellschaftliche Grundlage anzugreifen, die diese Spaltung erst hervorgebracht
hat. Das bürgerliche Subjekt will die bürgerliche Gesellschaft aufheben, ohne
sich selbst als bürgerliches Subjekt aufzuheben. Proudhons Versuche, die
unbegriffene Macht des Geldes durch »Volksbanken« zu überwinden, mit deren Hilfe
die Waren durch jenes »zinslose Arbeitsgeld« (crédit gratuit) getauscht werden
sollten, endeten denn auch unvermeidlich mit einem praktischen Desaster.
Die
schwache Utopie des Geldes, das kein Geld mehr sein soll, leitet stets die Übel
und Katastrophen der kapitalistischen Produktionsweise nicht aus dem Selbstzweck
der abstrakten Arbeit, sondern allein aus dem Selbstzweck des Geldes her, obwohl
das eine immer nur die Kehrseite des anderen ist. Nicht die zugrunde liegende
betriebswirtschaftliche Rationalität mit ihren destruktiven Potentialen wird so
Gegenstand der Kritik, sondern nur die angeblich mangelnde
Verteilungsgerechtigkeit<D> und Tauschgerechtigkeit<D> auf der Ebene
von Distribution und Zirkulation. Bei weitergehender kapitalistischer
Produktion<D> und betriebswirtschaftlicher Rationalität soll die
kapitalistische Distributions<D>- und Zirkulationsweise<D>
abgeschafft werden. Als »Kapitalismus« erscheint somit nicht das Real- oder
Produktivkapital von Industrie, Agrobusiness und Dienstleistungen, sondern
einzig und allein das zinstragende Kapital<D> des im Bankensystem
konzentrierten Finanzüberbaus.
Für Proudhon rührt also der berühmte
»Mehrwert« nicht aus der betriebswirtschaftlichen Rationalität der Produktion,
sondern aus der privilegierten Stellung des Geldes (und somit des Geldbesitzers)
im Austausch her. Dieser Gedanke wurde Anfang des 20. Jahrhunderts von dem
deutsch-argentinischen Kaufmann und Geldtheoretiker Silvio Gesell (1862-1930) in
seiner sogenannten Freiwirtschaftstheorie<D> aufgegriffen und
weitergeführt. Fast dieselben Auffassungen finden sich bei dem österreichischen
Mystagogen und Anthroposophen Rudolf Steiner (1861-1925) in seiner Propaganda
einer angeblich »natürlichen« Wirtschaftsordnung. Weniger bekannt, aber in den
20er Jahren nicht weniger einflußreich war der deutsche Sektenökonom Gottfried
Feder, der im Kern ebenfalls Ähnliches vertrat. An Proudhon anschließend ist
auch für seine ökonomischen Nachfahren, in den Worten eines Gesellianers von
heute, »die Benachteiligung der Anbieter von Arbeit und Waren (Nachfrager nach
Geld) gegenüber den privilegierten Anbietern von Geld (Nachfragern von Arbeit
und Waren)« der Stein des Anstoßes (Dieter Suhr, Geld ohne Mehrwert,
Frankfurt/Main 1983, S. 14).
2.
Worin besteht nun das »Privileg« des Geldes, das den Hassern des
zinstragenden Kapitals ein Dorn im Auge ist? Schon Proudhon sah es schlicht in
der Macht des Geldbesitzers, sich den günstigsten Augenblick für den Tausch
heraussuchen zu können, während die Anbieter von Waren und von Arbeit auf die
sofortige Transaktion angewiesen seien, um sich ihrerseits in den Besitz des
»allgemeinen Äquivalents« (Geld) setzen zu können und kaufkräftig zu werden.
Durch diesen Vorteil könne der Geldbesitzer dem Marktprozeß »einen Riegel
vorschieben«, und für die Entriegelung lasse er sich eine besondere Vergütung
zahlen - eben den Zins, den die »produktiven« oder wirklich marktvermittelnden
Wirtschaftsteilnehmer zahlen müßten. Proudhon bleibt es unbegreiflich, daß diese
besondere Macht des Geldes, seine Schlüsselstellung auf dem Markt, kein »Fehler«
und keine »Anmaßung« ist (und schon gar nicht der Subjektivität des
Geldbesitzers entspringt), sondern vielmehr überhaupt aus der Notwendigkeit
eines warenproduzierenden Systems herrührt, sich durch ein allgemeines
Äquivalent darzustellen und zu vermitteln.
Proudhons programmatische Enkel
wagten sich erst gar nicht mehr auf das dünne Eis der reflektierenden
politökonomischen Theoriebegriffe im engeren Sinne. Ihrer sozialbastlerischen
Heimwerker-Mentalität entsprechend zogen sie es vor, die besondere Macht des
Geldes gegenüber Arbeit und Waren nur noch rein »technisch« oder
quasi-physikalisch zu begründen. Geld könne nämlich, so die Argumentation von
Silvio Gesell, im Unterschied zu den Waren nicht verderben und verschlinge nicht
wie die Arbeitskraft Unterhaltskosten; es verursache also keine Lager- oder
»Durchhaltekosten« (Silvio Gesell, Die natürliche Wirtschaftsordnung, 6.
Auflage, Berlin u. Bern 1924, S. 317 ff.). Auch der Neu-Gesellianer Helmut
Creutz, als Kandidat für den »alternativen Nobelpreis« vorgeschlagen, sieht
darin das Grundproblem: »Man stelle sich vor, daß die Türen eines
Panzerschrankes mit 10.000 Mark für 14 Tage geschlossen werden, ferner die Türen
einer Markthalle mit Waren im Wert von 10.000 Mark und die Türen eines Zimmers,
in dem sich fünf Menschen aufhalten, die in 14 Tagen normalerweise 10.000 Mark
verdienen. Öffnet man die Türen nach 14 Tagen, dann sind die fünf Insassen des
Zimmers wahrscheinlich tot, die Waren in der Markthalle zum größten Teil
verdorben, die Geldscheine im Tresor aber so frisch wie eh und je« (Helmut
Creutz, Das Geld-Syndrom, Frankfurt/Main-Berlin 1994, S. 32).
Diese
Eigenschaft des Geldes, keine Durchhaltekosten zu verursachen, werde nun von den
Geldbesitzern dazu ausgenutzt, von den produktiven Marktteilnehmern jenen »Zoll«
in Gestalt des Zinses zu fordern, ungerechtfertigt »arbeitsloses Einkommen« zu
beziehen und der Produktion wie dem Austausch Steine in den Weg zu legen.
Solange der »Kapitalismus der Geldbesitzer« in der Form des zinstragenden
Kapitals herrsche, könne bei zunehmender Stockung des Warenverkehrs der Fluß von
Arbeit und Geld nur durch das schädliche »künstliche« Mittel der Inflation auf
Kosten der produktiven Einkommensbezieher und ihrer nützlichen Spartätigkeit
mobilisiert werden, während der Krake des Finanzkapitals sich durch Erhöhung
seines »Wegezolls« schadlos halte.
Rudolf Steiner und vor allem Silvio
Gesell, der den ganzen Ansatz am weitesten entwickelt hat, schlagen nun zur
Abhilfe ein typisches Patentrezept auf jener Ebene vor, die Marx schon bei den
arbeitsutopischen Linksricardianern und bei Proudhon schlicht als
»Geldpfuscherei« bezeichnet hatte. Steiner und Gesell wollten sich allerdings
nicht mehr an den »Tauschbanken« Proudhons die Finger verbrennen, sondern durch
einen administrativen »Trick« in der Manier von Daniel Düsentrieb die Logik des
Geldes überlisten. An die Stelle des bisherigen Geldes sollten nämlich ein
»alterndes Geld« (Steiner) bzw. »rostende Banknoten« (Gesell) treten, eben jenes
»Freigeld« der alternativen Ökonomieklempner. Was ist darunter zu verstehen, und
wodurch soll sich dieses »rostende« Geld von der gewöhnlichen Inflation
unterscheiden?
Gesell schlägt vor, daß alle umlaufenden Geldscheine (und
liquiden Bankguthaben) in der Größenordnung von ca. 5 Prozent jährlich
automatisch einer Entwertung unterliegen (»Schwundgeld«). Sie behalten ihren
Nennwert nur, wenn sie periodisch mit einer entsprechenden Wertmarke beklebt
oder gegen Gebühr abgestempelt werden. Durch diese Maßnahme soll in Zukunft auch
das Geld bestimmten »Durchhaltekosten« unterliegen, sodaß der Geldbesitzer
seinen Vorteil gegenüber den Besitzern von Waren und Arbeitskraft verliert.
Alles Geld hingegen, das im Bankensystem als Spargeld längerfristig deponiert
wird und als Basis für zinslose Kredite dient, soll von diesem »Rost« oder
»Schwund« des umlaufenden Geldes ebenso automatisch verschont bleiben. Auf diese
Weise glaubt Gesell, drei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: erstens werde
die Wirtschaft angekurbelt, weil es keinen Anreiz mehr gäbe, das Geld
zurückzuhalten und zu verzinsen, sondern jeder danach streben würde, es sofort
wieder realwirtschaftlich auszugeben, um die Gebühr der administrativen
»Durchhaltekosten« zu vermeiden. Zweitens gäbe es, obwohl der Zins ersatzlos
entfallen soll, einen reellen Anreiz zum Sparen, denn das deponierte Geld wäre
ja vom administrativen »Schwund« der umlaufenden Geldscheine und liquiden
Guthaben ausgenommen. Und drittens endlich könnte auf diese Weise die Währung
als solche völlig stabil bleiben, weil der Maßstab<D> für Kaufkraft und
für Kredite unveränderlich gemacht würde. Das Übel des zinstragenden Kapitals
wäre verschwunden, das Geld verlöre seinen Vorteil gegenüber den anderen Waren
und könnte trotzdem seine notwendigen Funktionen erfüllen, die Grundlage für
eine immerwährende Prosperität und Stabilität wäre gelegt. Soweit das
Patentrezept.
3.
Es kann nicht ausbleiben, daß diese vermeintlich »pfiffige« Lösung den
Positivismus des »gesunden« ökonomischen Alltagsverstandes anspricht, der die
Kategorien des modernen warenproduzierenden Systems unreflektiert als Axiome
nimmt, sie aber in der Krise irgendwie anders und »vernünftiger« geordnet sehen
möchte. »Wege zu einer krisenfreien Marktwirtschaft« (Helmut Creutz), diese
Spießbürger-Utopie spricht der Warenseele aus dem Herzen. Die offizielle
Volkswirtschaftslehre mochte sich zwar mehrheitlich mit dem Gesellianischen
Patentrezept nicht anfreunden, weil es weder theoretische noch praktische
Vermittlungen im Kontext einer volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung aufweist;
überdies mußte der Anstrich einer typischen skurrilen Weltverbesserungs-Sekte,
den die Gesellianer (wie die Anthroposophen) bald gewannen, auf die akademische
Wissenschaft abschreckend wirken. Aber trotzdem war es kein geringerer als John
Maynard Keynes (1883-1946), lange Zeit ein Papst der Nationalökonomie, der sich
in seinem Hauptwerk »Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des
Geldes« (1936) auf mehreren Seiten des Lobes voll über Gesell und seine Ideen
äußerte. Die heutigen Neu-Gesellianer verweisen darauf nicht ohne Stolz und
ergehen sich in dunklen Andeutungen, Keynes' »wahre« Kapitalanalyse und sein
»eigentliches« Konzept würden gerade wegen ihrer Übereinstimmung mit Silvio
Gesells Patentrezept totgeschwiegen.
Die Wahlverwandtschaft von Keynes und
Gesell läßt sich leicht erklären. Wie alle Ökonomen des modernen Fetischsystems
folgen sie dem warenförmigen gesunden Menschenverstand und verzichten von
vornherein darauf, die vorgefundenen Realkategorien von »Arbeit«, Wert, Ware,
Geld, Markt als solche überhaupt noch kritisch zu befragen: »der Mensch« gilt
immer schon als ein warenproduzierendes Wesen. Das besondere Anliegen von Keynes
aber war es bekanntlich, eine Theorie der Krisenbewältigung auf dem Boden dieses
warenproduzierenden Systems zu entwickeln, die drohende (und in den 30er Jahren
manifeste) Stockung des kapitalistischen Produktions- und Marktprozesses zu
überwinden und seine dauerhafte Verflüssigung sicherzustellen. Keynes sah ein,
daß das klassische und neoklassische Dogma von den »Selbstheilungskräften des
Marktes« und der automatischen Herstellung eines Gleichgewichts von Angebot und
Nachfrage, das Fehlen »außerökonomischer Eingriffe« vorausgesetzt, als
falsifiziert betrachtet werden mußte. Er wollte die versiegende warenförmige
Reproduktion durch künstliche (und notfalls inhaltlich-qualitativ völlig
sinnlose) Staatsnachfrage ankurbeln. Dabei mußte freilich unter den gegebenen
Bedingungen eine Inflationierung des Geldes in Kauf genommen werden; und dies
war ja auch die crux des Nachkriegs-Keynesianismus, die schließlich zur
»monetaristischen« Wende im Zeichen der Chicago-Schule von Milton Friedman
beigetragen hat. Kein Wunder, daß Keynes schon frühzeitig begehrlich nach dem
Patentrezept von Silvio Gesell schielte, auch wenn sich dieses in seiner
ökonomischen Schule und in der tatsächlichen keynesianischen Wirtschaftspolitik
später nicht durchsetzen konnte.
Der protestantische Arbeitsfetischismus der
Moderne und der ökonomische Selbstzweck der Arbeit im warenproduzierenden System
werden von Keynes ebenso wie von Gesell ausdrücklich affirmiert. Keynes ging ja
sogar so weit, notfalls das Graben und Wiederzuschütten von Löchern zu
befürworten, um geldförmige »Einkommen« zu erzeugen und die Warenproduktion am
Leben zu halten. Aus dieser Selbstzweckhaftigkeit der »Arbeit« folgt im Kontext
des warenproduzierenden Systems die Notwendigkeit der »Beschäftigung« (schon der
Terminus erinnert an das therapeutische Bemühen einer Irrenanstalt) im Rahmen
betriebswirtschaftlicher Rationalität: ohne Rücksicht auf die inhaltliche
Sinnhaftigkeit des Tuns und ohne Rücksicht auf sinnliche und ästhetische
Kriterien. Die vermeintliche Selbstbestimmung des Menschen wird apriori nur
unter dem Diktat der totalen Warenform und ihrer abstrakten
Selbstzweck-Kriterien gedacht. Der abstrakten »Arbeit« und den Gesetzen des
Marktes gegenüber sollen die Menschen aus einer angeblich »natürlichen«
Notwendigkeit heraus niemals autonom werden können.
Die Gesellianer tasten
also ebenso wie Keynes den Selbstzweck-Wahn der abstrakten Arbeit nicht im
geringsten an. Es geht ihnen dabei (mehr als Keynes, der eher systemfunktional
dachte) nur um die »Verteilungsgerechtigkeit« auf dem Boden des Fetischsystems
von Arbeit-Ware-Geld selbst. Schon im ersten Satz seines Hauptwerks gibt Silvio
Gesell diese beschränkte Zielsetzung zum besten, die übrigens auch in der
Arbeiterbewegung vorherrschte: »Die Beseitigung des arbeitslosen Einkommens ...
ist das unmittelbare wirtschaftliche Ziel aller sozialistischen Bestrebungen«
(Silvio Gesell, a.a.O., S. 3); gefordert wird, ebenfalls der Massenideologie des
19. Jahrhunderts entsprechend, das berühmte »Recht auf den vollen Arbeitsertrag«
(a.a.O., S. 10). Und da die Verletzung dieser »Gerechtigkeit« ausschließlich aus
der Zirkulationssphäre und aus dem Zins hergeleitet wird, bleibt zusammen mit
dem Selbstzweck von »Arbeit« und »Beschäftigung« auch die
betriebswirtschaftliche Rationalität außerhalb jeder Kritik. Diese Rationalität
wird gar nicht als solche und in ihrer destruktiven Logik, sondern ebenfalls nur
unter Aspekten der Verteilungsgerechtigkeit wahrgenommen; dabei erscheinen der
industrielle Kapitalist bzw. das Management als notwendige Funktionsträger und
ihre Einkommen als gerechtfertigt, etwa im Sinne der Schumpeterschen
»Unternehmerpersönlichkeit« (zuständig für »Risiko«, Innovation etc.). Die
Gesellianer vergießen also Tränen der Rührung über die »arbeitsplatzschaffenden«
Jungunternehmer, die angeblich zusammen mit ihren Lohnarbeitern von den
heimtückischen Pfeffersäcken des Finanzkapitals ausgebeutet und in ihrem
segensreichen Werk behindert würden.
Die betriebswirtschaftliche Rationalität
verliert aber ihre destruktiven Qualitäten keineswegs durch ein Verschwinden des
Zinses, wie die Gesellianer sich einbilden. Die basale Logik der »Verwertung des
Werts«, die jene betriebswirtschaftliche abstrakte und entsinnlichte Ratio erst
konstituiert hat (im Unterschied zu anderen Formen menschlicher
Produktionstätigkeit und Naturbeziehung), ist kein Produkt des abverlangten
»Wegezolls« des Geldes in der Zirkulation. Vielmehr ist es die abstrakte
Gewinnproduktion auf der Ebene der materiellen Produktion selbst, die ein
flächendeckendes, die gesamte gesellschaftliche Reproduktion erfassendes System
der Warenproduktion überhaupt erst möglich macht. Die Gesellianer setzen eine
allgemeine, totale Warenproduktion und sämtliche dazugehörigen Kategorien
bereits voraus, ohne sich über deren »Bedingung der Möglichkeit« auch nur im
geringsten Rechenschaft abzulegen.
Das Kaufmannskapital und das zinstragende
Kapital haben in Wahrheit Jahrtausende als marginale gesellschaftliche
Nischenformen existiert, ohne daß daraus jemals ein warenproduzierendes System
entstanden wäre. Erst als seit der Renaissance und vor allem in der
industriellen Revolution seit dem späten 18. Jahrhundert die materielle
Produktion selbst nach dem Muster der abstrakten Gewinnproduktion organisiert
wurde, konnten sich allmählich die modernen Kriterien von »Arbeit«,
»Beschäftigung« und Marktwirtschaft als allgemeine gesellschaftliche
Bestimmungen überhaupt entwickeln. Die Gesellianer, für die der »Mehrwert« mit
dem gehaßten Zins in eins fällt, wollen diese Bestimmungen ohne ihre eigene
logische Voraussetzung beibehalten. Wenn nämlich keine abstrakte
Gewinnproduktion (»Mehrwert«) mehr, dann kein warenproduzierendes System, keine
»Beschäftigung« und keine »Arbeit« mehr. Verallgemeinerte gesellschaftliche
Warenproduktion ist nur möglich durch eine Rückkoppelung der abstrakten Arbeit
auf sich selbst, d.h. durch die unaufhörliche Verwandlung von lebendiger,
prozessierender Arbeit in tote, in der Waren- und Geldform »inkarnierte« Arbeit
als das andere ihrer selbst. Dieser Prozeß ist logisch und praktisch bedingt
durch die Produktion von »Mehrwert«, der in seinem Wesen nicht auf das
Sekundärproblem der Einkommensverteilung reduziert werden kann, sondern vielmehr
die allgemeine Geldform der Einkommen überhaupt erst hervorruft. Das
Mißverständnis des Verhältnisses von Ware und Geld, aufgrund dessen dem Geld
seine Dominanz gegenüber den Waren abgesprochen wird, führt also notwendig zum
Mißverständnis des Verhältnisses von Geld und Mehrwert, wobei der bloß als
Tribut an das zinstragende Kapital begriffene »Mehrwert« abgeschafft und
absurderweise trotzdem ein allgemeines System der Warenproduktion und der
Geldvermittlung aufrechterhalten werden soll.
4.
Da die Gesellianer schon das Grundproblem der modernen gesellschaftlichen
Warenproduktion verfehlen, kann ihr famoses Patentrezept auch die heutige
ökologische Krise weder erklären noch bewältigen. Die Gleichgültigkeit des
warenproduzierenden Systems gegen den sinnlichen Inhalt und gegen die
ökologischen Folgen der Produktion resultiert nicht erst aus dem Zinsverlangen
des Finanzkapitals, sondern schon aus den gesellschaftlichen Abstraktionen der
allgemeinen Warenform und der betriebswirtschaftlichen Rationalität selbst.
Arbeitszwang, Arbeit und »Beschäftigung« als Selbstzweck, um das
warenproduzierende System permanent am Laufen zu halten (ein erklärtes Ziel der
Gesellianer) bedingen bereits die Gleichgültigkeit gegenüber dem Inhalt, denn
die Ziele sind ja »Beschäftigung« und Geldeinkommen als solche, nicht jedoch die
Frage nach dem qualitativen Sinn und nach der ökologischen Verträglichkeit der
Arbeitsverausgabung. In der Gesellianischen Ökonomie gibt es dafür ebensowenig
ein explizites Sensorium wie in der bürgerlichen Ökonomie überhaupt, sondern
ebenfalls nur nachträglich hineingebastelte fromme Wünsche.
Auch die
Konsequenz der betriebswirtschaftlichen Rationalität, Kosten auf die Natur zu
»externalisieren«, fallen nicht zusammen mit dem äußerlichen Verzinsungszwang
weg. Nach wie vor bleibt die Produktion eine partikulare, »unternehmerische«,
gesellschaftlich nur über den Markt vermittelte. Damit aber bleibt auch der
Anreiz zur betriebswirtschaftlich bornierten Kostensenkung zu Lasten der
Naturgrundlagen. Und beides, sowohl die Gleichgültigkeit gegenüber dem Inhalt
des Arbeits-Selbstzwecks als auch die betriebswirtschaftliche Externalisierung
von Kosten gegen sinnliche Natur und Ästhetik, werden durch den Zwang der
Konkurrenz exekutiert. Gerade die Konkurrenz aber ist den Gesellianern besonders
heilig, hier treffen sie sich sogar mit dem marktradikalen Neoliberalismus.
Schon Silvio Gesell forderte: »Auf dem Wege zielstrebiger Neugestaltung gilt es,
alle Vorrechte, die das Ergebnis des Wettbewerbs fälschen könnten, spurlos zu
beseitigen« (Gesell, a.a.O., S. XI); und diese Beweihräucherung der
marktwirtschaftlichen Konkurrenz wird auch von allen Neo-Gesellianern in
irgendeiner Form wiederholt (vgl. etwa Klaus Schmitt, Geldanarchie und
Anarchofeminismus, in: Silvio Gesell, »Marx« der Anarchist?, Berlin 1989, S. 220
f.).
Ebenso verschwindet auch der kapitalistische Wachstumszwang nicht
zusammen mit dem Zins. Da die abstrakte betriebswirtschaftliche Gewinnproduktion
(bei Gesell verteilungsborniert nur als »Arbeitserlös« der unternehmerischen
Tätigkeit firmierend) bereits die Voraussetzung einer gesellschaftlichen
Allgemeinheit von Arbeit, Ware und Geld ist, verlangt sie als permanente
Überschußproduktion weiterhin ökologisch destruktives Wachstum; und auch dieser
Zwang wird durch die Konkurrenz exekutiert. Silvio Gesell selber, für den das
Problem der warenförmigen Abstraktion von den Naturstoffen im Unterschied zu
Marx keinerlei Rolle spielte, hatte sowieso nicht das geringste gegen das ewige
Wachstum der »Sachgüter« einzuwenden; für ihn als Apostel angeblich
»natürlicher« Ordnungen wieder einmal eine »natürliche« Angelegenheit: »Alles in
der Natur des Menschen, ebenso wie in der Natur der Volkswirtschaft, drängt auf
eine unaufhaltsame Vermehrung (!) der sogenannten Realkapitalien (Sachgüter)
hin, eine Vermehrung, die nicht einmal beim völligen Wegfall des Zinses
innehält« (Gesell, a.a.O., S. 350).
Während heutige Neo-Gesellianer wie
Helmut Creutz, Dieter Suhr, Klaus Schmitt oder die umtriebige gesellianische
Stadtplanerin Margrit Kennedy (vgl. M. Kennedy, Geld ohne Zinsen und Inflation,
München 1994, S. 97 ff.) angesichts der ökologischen Krise den Wachstumszwang
als solchen flugs auf den Zins des Geldkapitals abschieben und schnell noch ein
paar ökologische Gesichtspunkte in ihre arbeits- und warenselige Spießerutopie
hineinjubeln wollen, sah der Meister selber den Zins-»Zoll« des Geldes gerade
umgekehrt als Wachstumsbremse<D> an; hier wieder ganz im Gleichklang mit
dem Wachstumsfetischisten Keynes, der ebenfalls noch keine Ahnung von einem
ökologischen Problem hatte.
5.
Nicht besser als mit dem ökologischen steht es mit dem ökonomischen
Krisenverständnis der Freiwirtschaftler. Indem sie auch hier wieder das Problem
auf den Anspruch des zinstragenden Kapitals reduzieren, stellen sie die Sache
sogar auf den Kopf. Jeder Arbeits-, Waren- und Geldspießer merkt natürlich nur
an der Krise des Geldes (und vor allem des eigenen Geldbeutels), daß etwas nicht
stimmt. Es läßt sich aber leicht zeigen, daß der Ausgangspunkt auch der
ökonomischen Krise nicht auf der monetären Ebene zu suchen ist, sondern in der
betriebswirtschaftlichen Rationalität der Produktionsweise selbst; freilich
nicht auf der Ebene von Verteilungsfragen (im Grunde genommen der einzige
bornierte Gesichtspunkt der Gesellianer), sondern als logischer
Selbstwiderspruch des Systems in der Produktion der Fetischform
»Wert«.
Dieser Grundwiderspruch besteht darin, daß die Wertschöpfung als
Selbstzweck der betriebswirtschaftlichen Rationalität einerseits nur durch
»Arbeit« bzw. Arbeitsmengen vollzogen werden kann (d.h. durch die Verwandlung
von »Arbeit« in ihre abstrakt-allgemeine gesellschaftliche Inkarnationsgestalt
Geld), andererseits aber dieselbe betriebswirtschaftliche Rationalität in einem
säkularen Prozeß dahin drängt, »Arbeit« durch angewandte Naturwissenschaft
überflüssig zu machen. Diese »Verwissenschaftlichung der Reproduktion« wird
wiederum durch die Zwänge der Konkurrenz exekutiert. Auf diese Weise wohnt dem
modernen warenproduzierenden System eine Tendenz inne, seine eigene Grundlage
systematisch zu untergraben, die nicht dem zinstragenden Kapital entspringt,
sondern den »produktiven«, konkurrenzvermittelten Prozessen, die von den
Gesellianern gerade beibehalten und affirmiert werden.
Diese Tendenz machte
sich schon vom Beginn der modernen Produktionsweise an bemerkbar. In den Zyklen
der betriebswirtschaftlichen Produktion und den Strukturbrüchen, wie sie von der
Entwicklung der industriellen Produktivkräfte hervorgerufen wurden, entstand in
mehr oder weniger großen zeitlichen Abständen jene als »Krise« erscheinende
Situation, in der die industriell erzeugten Gewinne mangels Möglichkeit zur
erweiterten Industrieproduktion nicht mehr rentabel reinvestiert werden konnten
(in der Marxschen Krisentheorie als »Überakkumulation« des industriellen
Kapitals bezeichnet). Die industriellen Gewinne drängten dann zur Anlage in den
Finanz- und Kreditüberbau, in die Aktien- und Immobilienspekulation etc. So
entstand mehrfach in der kapitalistischen Geschichte eine spekulative
Finanzblase, deren Platzen schließlich das »fiktive Kapital« (Marx) entwertete,
das in einer Bewegung der Scheinakkumulation rein im Finanzsektor aufgehäuft
worden war, ohne durch reale betriebswirtschaftliche Warenproduktion und deren
Verkauf auf dem Markt hindurchgegangen zu sein.
Die Gesellianer stellen also
in ihrer Kritik von zinstragendem Kapital und »unproduktiver« Spekulation die
Logik des wirklichen Prozesses auf den Kopf und verwechseln die Wirkung mit der
Ursache. Während sie behaupten, daß es der Tribut der industriellen
Warenproduktion an das zinstragende Kapital und dessen spekulative Wucherung aus
sich heraus sei, wodurch die krisenhafte Stockung der realen Produktion
verursacht werde, verhält es sich genau umgekehrt: die Stockung der realen
Warenproduktion durch ihre eigenen inneren Widersprüche läßt die in der Geldform
realisierten Gewinne vergangener Produktionsperioden in den Finanz- und
Spekulationssektor strömen. Es ist das industrielle Kapital selbst, das
letztlich den spekulativen Prozeß des »fiktiven Kapitals« in Gang setzt.
Noch
viel deutlicher springt dieser Sachverhalt heute ins Auge. Ganz unübersehbar
wird die neue Krise der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft seit Beginn der
80er Jahre, die längst über alle früheren bloß zyklischen Krisen hinausgeht und
die Schranke des modernen warenproduzierenden Systems überhaupt markiert, durch
die qualitativ neuen Rationalisierungs-Potentiale der mikroelektronischen
Revolution hervorgerufen. Heute ist es daher ganz besonders lächerlich, das
Abheben der Finanzmärkte einer angeblich selbständigen Potenz des zinstragenden
Kapitals und der Spekulation anzulasten, statt es auf die neue Qualität der
Verwissenschaftlichung zurückzuführen, von der die Kategorie der
warenproduzierenden »Arbeit«, das Heiligtum der Gesellianischen Geldspießer,
nunmehr irreversibel ad absurdum geführt wird.
6.
Dasselbe Problem stellt sich auch auf der Ebene der Staatstätigkeit und des
Staatskredits. Beides wird von Silvio Gesell ebenso wie von den Neo-Gesellianern
abermals im trauten Einklang mit dem marktradikalen Neoliberalismus strikt
abgelehnt und bekämpft. Die Staatstätigkeit soll entweder ganz verschwinden oder
in ihren Restbeständen durch den famosen zinslosen Kredit des »ehrlichen«
Sparens finanziert werden. Ebensowenig wie die Wirtschaftsliberalen erkennen die
bornierten Geldutopisten, daß es wiederum der Fortschritt ihrer geliebten
Marktwirtschaft selbst in der Verwissenschaftlichung ist, der hier eine neue
Ebene des Selbstwiderspruchs gesellschaftlicher Warenproduktion hervorbringt. Da
die zunehmenden infrastrukturellen Rahmenbedingungen und die zunehmenden
sozialökologischen Folgekosten der totalen Warenproduktion nicht mehr durch
reguläre Staatseinnahmen finanziert werden können, wird das »fiktive Kapital«
des Staatskredits zwangsläufig zu einer eigenen strukturellen Quelle des
kapitalistisch unproduktiven Finanzüberbaus und der Spekulation mit den
Staatstiteln. Ebenso wie im kommerziellen Bereich ist es der »produktive« Prozeß
der Warenproduktion und ihrer Verwissenschaftlichung selbst, der diese
Erscheinungen hervorbringt, und nicht die selbständige Aktion des zinstragenden
Kapitals.
Auch hinsichtlich der Staatstätigkeit und des Staatskredits
verkehren die Gesellianer Ursache und Wirkung und sorgen sich wie alle
Normalspießer um »ihr« Geld, das sie unbekümmert um die Systemwidersprüche
weiterhin »verdienen« wollen. Sie können und wollen nicht realisieren, daß bei
zunehmender Verwissenschaftlichung die Warenproduktion in jedem Fall von den
Kosten ihrer eigenen Infrastruktur eingeschnürt wird, und daß sich an diesem
Problem durch einen »zinslosen Kredit« nicht das geringste ändern würde. Auch
dann wäre durch das »ehrliche Sparen« nicht genug Geld aufzubringen, um die
gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Warenproduktion ohne schwere Schädigung
der »produktiven« Investitionen und der privaten Geldeinkommen finanzieren zu
können.
Angesichts der bürokratischen und repressiven Form, wie sie jeder
Aktivität eines Staates seinem Wesen nach zukommt, macht es zwar durchaus Sinn,
die Staatstätigkeit durch die autonome, selbstbestimmte Tätigkeit der Menschen
aufzuheben; aber eben nur zusammen mit einer Aufhebung der Warenproduktion
selbst und damit der Marktwirtschaft, der fetischistischen »Arbeit«,
»Beschäftigung« usw., die ja ebensowenig autonom sind, sondern durch die
Zwangsgesetze der Warenform diktiert werden. Wieder wollen die Geldutopisten die
eine Seite des Systems (Staat, Staatskredit) nur loswerden, um sich an der
anderen Seite (»Arbeit«, Warenproduktion) desto hemmungsloser festzukrallen;
wieder wollen sie die Marktwirtschaft ohne ihre eigenen Bedingungen.
7.
Es zeigt sich somit, daß die gesellianische Geldutopie völlig vom Widerspruch
zwischen Warenproduktion einerseits und zunehmender Verwissenschaftlichung,
Automatisierung, Rationalisierung etc. im produktiven Kern des Systems
andererseits abstrahiert. Ihr Ausgangspunkt ist nicht die Analyse des konkreten
realhistorischen Prozesses und seiner Widersprüche, sondern das von seinen
eigenen historischen Bedingungen losgelöste abstrakte Arbeits- und Geldsubjekt;
»der Mensch« also, der unreflektiert als vereinzelter Einzelner, als
Gesellschaftsatom mit einem warenförmigen Streben nach »Eigennutz« vorausgesetzt
wird. Diese axiomatisch leere und unhistorische Abstraktion ist das Kennzeichen
aller modernen bürgerlichen Theorien und Utopien seit dem 18. Jahrhundert.
So
ist es auch kein Zufall, daß Silvio Gesell sich nicht entblödet, die Spielfigur
der frühen ökonomischen Reflexion in der Moderne, den »Robinson«, in seiner
Modellwelt wieder tanzen zu lassen. Die einsame Robinson-Gestalt soll,
unabhängig von jeder wirklichen gesellschaftlichen Entwicklung, an ihrem dürren
Abstraktionskörper (bzw. noch an dem eines »Freitag«, der als zweite ökonomische
Urperson notgedrungen eingeführt werden muß) idealtypisch und modellhaft »das«
ökonomische Kalkül und seine Logik vorführen, womit dann »der« Mensch als ewiges
warenproduzierendes Wesen »bewiesen« wäre. In dieser abstrakten, ausgedachten
Modellwelt werden die Probleme der modernen kapitalistisch vergesellschafteten
und verwissenschaftlichten Produktionsweise ausgerechnet am Handlungsbeispiel
eines Schiffbrüchigen abgehandelt, der auf einer einsamen Insel »Häute gerbt«,
»ein Loch in der Erde« mit Getreide als Vorrat füllt usw. (Gesell, a.a.O., S.
313 ff.).
Wenn diese Absurdität überhaupt einen sozialökonomischen Sinn
macht, dann ist es der einer ebenso peinlichen wie offenkundigen
»kleinbürgerlichen« Ideologie im klassischen Sinne. In der Tat kann man sich
hinter der gesellianischen Geldutopie bestenfalls einen idealtypischen
Kleinproduzenten vorstellen, dem die Mächte der kapitalistischen
Verwissenschaftlichung fremd bzw. eher unheimlich sind und der sich an der
»ehrlichen Arbeit« in seiner jämmerlichen Klitsche für einen »ehrlichen Markt«
und für ein »gutes Geld« festklammert, um von den Widersprüchen, Krisen und
Katastrophen einer hochrationalisierten und globalisierten Warenproduktion
verschont zu bleiben. Dieser bornierte ökonomische Idiot, der natürlich nichts
anderes verdient, als von der Marktwirtschaft (seiner angebeteten Idealbraut) in
ihrer scheußlichen Realgestalt aufgefressen zu werden, ist eigentlich schon ein
Anachronismus. In ihrem Kern müßte die Gesellianische Geldutopie als eine Art
Schuster-, Bäcker-, Bauern- und Metzger-Utopie dechiffriert werden, wie sie
höchstens bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts noch eine nennenswerte
sozialökonomische Basis in der Gesellschaft hatte.
Tatsächlich ist das immer
wieder herbeigezogene »Erfolgsbeispiel« der Gesellianer auf einer solchen Ebene
angesiedelt. Während der Weltwirtschaftskrise hatte die kleine Tiroler Gemeinde
Wörgl 1932 auf Veranlassung ihres Bürgermeisters namens Unterguggenberger
vorübergehend ein »Schwundgeld« in Form von »Arbeitsscheinen« eingeführt. Der
Schwund von jährlich 12 Prozent mußte vom jeweiligen Besitzer des Scheins am
Monatsende durch eine mit Gebühr belastete aufzuklebende Marke in Höhe des
Schwundes ausgeglichen werden. Die an sich bankrotte Gemeinde finanzierte mit
diesem »Notgeld«, für das (dem Nennwert entsprechend) eine Art Deckung in
Schilling hinterlegt wurde, einige typische kommunale »Beschäftigungsmaßnahmen«,
z.B. den Bau einer Skisprungschanze. Den Arbeitern wurde ein erheblicher Teil
des Lohns in diesem Schwundgeld ausgezahlt, das dadurch in Umlauf gebracht
werden sollte. Die Gemeinde wechselte die Scheine auch jederzeit gegen »normale«
Schillinge um, freilich abgesehen vom Schwund und außerdem nur gegen einen extra
Abzug von 2 Prozent.
Was war nun der reale Effekt? Das Schwundgeld wurde von
einigen Bauern, Milchhändlern, Bäckern und Tante-Emma-Läden etc. akzeptiert. Um
das Schwundgeld wieder loszuwerden, bezahlten diese damit postwendend
rückständige Steuern bei der Gemeinde, z.B. Hundesteuer. Ungefähr ein Drittel
der Scheine verschwand, etwa durch den Verkauf als Sammlungsobjekt an Liebhaber.
Ein Vorteil für die Gemeinde, wenn auch in krassem Widerspruch zur
Freigeld-Theorie, weil damit die Pflicht zur Umwechslung dieser Scheine entfiel;
also ein Reingewinn für die Gemeindekasse (alle Angaben nach: Alex von Muralt,
Der Wörgler Versuch mit Schwundgeld; ein 1933 bezeichnenderweise in der
konservativen Zeitschrift »Ständisches Leben« erschienener wohlwollender
Bericht. Nachgedruckt in: Klaus Schmitt, a.a.O., S. 275 ff.). Der zweifellos
vorhandene zeitweilige ökonomische Reparatur-Effekt unterscheidet sich kaum von
demjenigen anderer »Beschäftigungsmaßnahmen«. Eine Hochrechnung des wackligen
Konstrukts von der (damals) bäuerlichen 400-Seelen-Gemeinde Wörgl auf eine ganze
industrielle Volkswirtschaft ist mehr als zweifelhaft. Auch die kurze Zeitdauer
läßt keine zwingenden Schlüsse auf einen grundsätzlichen und dauerhaften
»Erfolg« zu. Daß die Österreichische Nationalbank das Wörgler Experiment schon
bald aus Sorge um ihre Geldhoheit untersagen ließ, gibt dafür den Gesellianern
bis heute Anlaß zur Legendenbildung. Angesichts der heutigen strukturellen
Massenarbeitslosigkeit unter den Bedingungen der mikroelektronischen Revolution
und globalisierter Wirtschaftsbeziehungen bis in die letzte Kleinstadt hinein
ist »Wörgl« erst recht nicht mehr ernsthaft als Modell zu akzeptieren.
Aber
diese schwache Geldutopie kann in einer Art Projektion durchaus eine
weitergehende ideologische Funktion erfüllen und paradoxerweise gerade unter den
heutigen Krisenbedingungen ein gespenstisches Revival erleben. Es müssen keine
»selbständigen« kleinen Bauern und Handwerker oder warenproduzierende
Kleingenossenschaften in diesem Sinne sein, bei denen eine solche Ideologie
fröhliche Urständ feiert. Auf einer höheren Abstraktionsstufe ist heute jedes
postmoderne Warensubjekt, ganz unabhängig von seiner zufälligen Tätigkeit, in
gewissem Sinne ein idealtypischer Kleinbürger. Freilich kein »unabhängig«
produzierender Kleinbürger mehr, sondern ein auf die totale Weltmarktbewegung
des prozessierenden Gesamtkapitals blind bezogenes strampelndes
Willensatom.
Mit dem Ende des alten Klassenkampfs, der noch zur historischen
Aufstiegsphase des warenproduzierenden Systems gehörte, und mit der
Herausbildung des reinen monadenhaften Warensubjekts im Zerfallsstadium der
Moderne, phänomenologisch verkürzt und affirmativ von Ulrich Beck und anderen
als Prozeß der »Individualisierung« beschrieben, ist gewissermaßen jeder
abstrakte Mensch in seinem Körper und Geist seine eigene erbärmliche Klitsche
geworden. Jeder verhält sich nun tatsächlich gerade als total warenförmig
vergesellschaftetes Wesen wie eine Art Robinson, immer schon gestrandet auf der
Insel seines einsamen Waren-Ichs, und »die anderen« erscheinen als stumme
Quasi-Naturwesen, mit denen nur noch durch wirkliche oder symbolische Akte eines
unaufhörlichen Kaufens und Verkaufens kommuniziert werden kann. Freilich ist
dieser Robinson nicht »der« ewige warenproduzierende Mensch, sondern das
jammervolle Endprodukt einer bestimmten historischen Entwicklung, das in
schroffem Widerspruch zu den Produktivkräften steht, die von derselben
Entwicklung hervorgetriebenen worden sind. Der endgültig verrückte Spießbürger:
Das ist nicht mehr der behäbig grunzende fette Metzgermeister, der noch
gemütlich samstags im Wurstkessel badet und dem Schützenverein präsidiert,
sondern der schlankgetrimmte einsame Geldwolf auf der hechelnden und geifernden
Suche nach einer »Marktnische« - egal welcher.
Dieses subjektlose Subjekt der
Postmoderne kann zwar praktisch mit der primitiven gesellianischen Geldutopie
nichts anfangen und »glaubt« daran so wenig, wie es überhaupt an irgendetwas
»glaubt« (außer an die Ewigkeit der Marktwirtschaft); aber es könnte diese
ökonomisch haltlose Utopie durchaus für seine eigene Behauptung in der
mörderischen Konkurrenz ideologisch instrumentalisieren. Die Berührungen und
Überschneidungen der Neo-Gesellianer mit dem marktradikalen Neoliberalismus sind
kein Zufall. Dreht man das utopische Ölgemälde um, dann kommt das finstere Bild
eines knallharten Manchestertums zum Vorschein, ja sogar offener
Sozialdarwinismus. Der Meister selber machte auch gar keinen Hehl daraus: »Die
Manchesterschule war auf dem richtigen Wege, und auch das, was man von Darwin
her später in diese Lehre hineintrug, war richtig« (Gesell, a.a.O., S. XI).
Deutlicher geht es kaum noch. Gesell relativiert diese Aussage nicht, er moniert
am wirklichen historischen Manchester-Kapitalismus einzig und allein, daß dieser
das Gesellsche Patentrezept noch nicht kannte und durch die falschen »Vorrechte«
des Geldes und damit des zinstragenden Kapitals den reinen sozialdarwinistischen
Konkurrenzkampf »verfälscht« hätte. Und nur in diesem barbarischen Sinne ist
auch die sogenannte Verteilungsgerechtigkeit zu verstehen: »Hier aber handelt es
sich um das Recht auf den vollen, durch den Wettbewerb, den Wettkampf
zugemessenen Arbeitsertrag« (Gesell, a.a.O., S. 12).
Die Propaganda gegen
irgendwelche »Vorrechte« oder »Privilegien« ist so alt wie die kapitalistische
Produktionsweise selbst, deren Protagonisten sich dieses Motiv gegen die alte
Feudalgesellschaft bzw. deren Überreste zu eigen machten. Gleichzeitig lauert
hinter diesem Motiv aber die gnadenlose Unterwerfung aller menschlichen Regungen
unter die Gesetze des neuen Fetischsystems einer totalen Warenproduktion und der
Konkurrenz auf dem totalisierten Markt, die immer mehr Menschen bestenfalls zum
Objekt einer grinsenden »Wohltätigkeit« der Sieger in diesem bornierten
Wettbewerb macht. Es ist leicht zu begreifen, in welche Richtung sich solche
Gedanken der Warenseele in der Krise wenden müssen. Die von der Geld- und
Kreditkrise ereilten Geldsubjekte, die trotzdem an das System glauben und sich
selber in ihrer wölfischen »Identität« noch für grundsätzlich konkurrenzfähig
halten, werden losgeifern gegen die »Unproduktiven«.
Vordergründig mögen dies
die Repräsentanten des zinstragenden Kapitals sein, wie es in klassischer
protestantischer Manier der Neo-Gesellianer Klaus Schmitt ausposaunt: »Eine
Wirtschaftsordnung, die dieses eigennützige Streben der Menschen nutzt und die
tüchtigen Produzenten belohnt und nicht die unproduktiven Geldverleiher,
Grundeigentümer und andere Parasiten bereichert, ist ... eine natürliche
Wirtschaftsordnung..« (Schmitt, a.a.O., S. 219). In konzentrierter Form sind
hier alle scheinbar schon anachronistisch gewordenen Fetischkriterien und
Vorurteile des warenproduzierenden Systems versammelt. Der neo-mittelständische
Halsabschneider, »Existenzgründer«, selber geldgierige Konsumidiot und
marktwirtschaftliche Roßtäuscher, der sich für einen »tüchtigen Produzenten«
hält (und sei es dadurch, daß er Dumme findet, die sich von ihm gegen Billiglohn
anstellen lassen), sieht sich in der Krise als Opfer seiner Kollegen
Geldverleiher, Grundeigentümer usw., weil er schlicht Pleite geht und seine
Kredite nicht mehr bedienen kann.
Das ist aber noch lange nicht alles. Der
Haß gegen die »Parasiten« vom Standpunkt des marktwirtschaftlichen Wahnsystems
der Moderne dehnt sich sehr schnell auf die wirklichen Opfer<D> dieses
Systems aus. Die vermeintliche anarchistische Staatsfeindschaft, die das
warenproduzierende System dennoch nicht verläßt, wendet sich notwendigerweise
zuletzt gegen den Sozialstaat auf diesem historischen Boden. Schon beim normalen
marktwirtschaftlichen Gang der Dinge werden ja alle, die noch einen Rest von
sinnlicher Vernunft bewahrt haben und versuchen, sich möglichst der sinnlosen
abstrakten »Arbeits«- Verausgabung zu entziehen, für verrückt erklärt oder als
»Drückeberger« abgestempelt. In der Krise spitzt sich dieses Ressentiment zu und
mündet in den Aufschrei: »Nicht von unserem Geld!«. Je weniger das zinstragende
Kapital real angetastet werden kann, desto mehr richtet sich der Haß der
einschlägigen Ideologen gegen die »Asylanten«, Sozialhilfeempfänger,
Arbeitslosen, »Asozialen«, Behinderten, Alten, Kranken usw., die der
wahnsinnigen Wut des strauchelnden Warensubjekts erst recht als »Parasiten« mit
unrechtmäßigen »Vorrechten« auf Unterhalt erscheinen.
Wie das um sich
schlagende postmoderne Geldsubjekt in der Krise die Kosten der staatlichen
Infrastruktur eliminieren will und in seiner Panik nicht realisiert, daß es
dadurch die Existenzbedingungen der Warenproduktion selber zerstört, so will es
erst recht die Kosten der staatlichen »Wohlfahrt« eliminieren. Die Menschen, die
den Anforderungen des wunderbaren Wettbewerbs nicht standhalten können, sei es
aus Schwäche und Hilflosigkeit, sei es aus unüberwindlichem Ekel vor dem
Schwachsinn der abstrakten Arbeit und ihrer sinnlosen Erfolgskriterien, sollen
ins Elend gestoßen und wie die Aussätzigen des Mittelalters »privater«
Mildtätigkeit überlassen werden. Statt den Anspruch menschlicher Autonomie gegen
den Systemterror der Marktwirtschaft zu formulieren, vertreten die
Neo-Gesellianer gar nicht klammheimlich die wölfische Autonomie des reinen
Marktteilnehmers gegen jeden menschlichen und sinnlichen Anspruch außerhalb der
warenförmigen Abstraktionen. Auch hier wieder: Staatskritik nicht zusammen mit
Marktkritik, sondern letzten Endes neoliberaler Marktradikalismus sogar noch
gegen die letzten schäbigen und bürokratischen Palliativ- und Reparaturmittel
des Sozialen. Dieser »rechte« Anarchismus läuft auf Thatcherismus pur hinaus und
ist durchaus kompatibel mit den »rechtslibertären« Parolen eines Jörg
Haider.
8.
Das ideologische Syndrom, das sich in diesem Kontext manifestiert, ist die
Politische Ökonomie des<D> Antisemitismus<D>. Eine solche
Kennzeichnung könnte leicht mißverstanden werden. Keineswegs geht es darum, etwa
Silvio Gesell gegen jede historische Wahrheit zum Hitler-Anhänger und
Nationalsozialisten zu stempeln oder jeden Gesellianer bzw. Neo-Gesellianer zum
subjektiven Antisemiten. Das Problem liegt auf einer anderen Ebene. »Politische
Ökonomie des Antisemitismus« meint, daß es einen strukturellen und historischen
Zusammenhang zwischen der verkürzten Kritik des zinstragenden Kapitals und dem
Antisemitismus gibt. Ideologisch handelt es sich um die beiden Seiten derselben
Medaille, wobei der offene Antisemitismus sozusagen die »Kopfseite« bildet. Das
bedeutet, daß nicht jeder tausch- und verteilungsbornierte Ökonom und
Zinskritiker immer auch offener Antisemit sein muß, daß aber umgekehrt jeder
Antisemit stets die ideologisch verkürzte Kritik des zinstragenden Kapitals als
»ökonomisches« Legitimationsmuster benutzt. Der Haß gegen das zinstragende
Kapital, der in der Krise des Geldes bei den Massen der Verlierer begriffslos
und unreflektiert zu wuchern beginnt, bildet nicht nur den allgemeinen
Nährboden, sondern direkt die »ökonomische Grundlage« von Antisemitismus und
antisemitischen Pogromen.
Dieser Zusammenhang, der bei den in ihrer
Angst-Aggressivität aufheulenden Warensubjekten zu reflexartigen Reaktionen
führt, ist bekanntlich historisch tief verwurzelt und geht bis auf das frühe
Mittelalter zurück. Das begriffslose Auseinanderreißen der vermeintlich
konkreten und der unheimlichen abstrakten Seite der Warenproduktion, die
Affirmation von »Arbeit« und Ware einerseits und die Kritik des Geldes bzw. die
Verdammung des Zinses andererseits trieben schon frühzeitig das Moment einer
Bewußtseinsspaltung des Warensubjekts hervor (d.h. soweit die Menschen überhaupt
in embryonalen Ansätzen Warensubjekte waren). Die Politische Ökonomie des
Antisemitismus ist ein logisches und historisches Produkt dieser Verblendung.
Dabei entstand die Verbindung von »Jude« und »Geld« durch eine besondere
Perfidie des christlichen Mittelalters, das den Widerspruch von Verdammung des
Zinses und Notwendigkeit des Kredits auf der Basis von Geldbeziehungen dadurch
löste, daß den Juden die Funktion des Geldvermittlers aufgebürdet wurde.
Daß
gerade die Juden mit dieser Funktion belegt wurden, mochte zunächst eher äußere
historische und religiöse Gründe haben. Strukturell jedoch handelt es sich um
die innere Logik einer Sündenbockfunktion, die aus der Gespaltenheit des
Warensubjekts herrührt. Aus dieser strukturellen Schizophrenie heraus entsteht
der Druck, die »schlechten«, unheimlichen, abstrakten Momente der
Ware-Geld-Beziehung nach außen zu projizieren, auf ein »fremdes Wesen«. Die
eigene innere Selbstentfremdung des Warensubjekts erscheint so als äußeres
Feindbild; und die irre Spaltung der Warenseele konnte insofern schon in ihren
Embryonalformen veräußerlicht werden. Dieser klassische Mechanismus der
Projektion hat sich im Laufe von mehr als tausend Jahren tief in die westliche
Gesellschaft und deren Bewußtsein eingegraben.
Solange auch im Westen noch
die vormodernen Fetischformen herrschten, stand bei der Bestimmung des Juden als
des »Fremden« und »Anderen« auch noch das religiöse Moment im Vordergrund; eine
der ersten großen abendländischen Judenverfolgungen, die an den »Marranen« im
Spanien und Portugal des 15. Jahrhunderts, galt im Zeichen der Inquisition noch
den »Jesusmördern« und Häretikern, die trotz Zwangstaufe an ihrer eigenen
Religion festhalten wollten. Je mehr sich aber die Ware-Geld-Beziehungen
ausdehnten und die kapitalistische Produktionsweise schließlich die vom Westen
ausgehende neue Fetischform der Moderne konstituierte, desto stärker wurde »der
Jude« als der schlechthin »Andere« nicht mehr so sehr im religiösen Sinne
bestimmt, sondern als das fremde »Geld- und Zinswesen«. Tatsächlich war immer
nur eine Minderheit der Juden im Geldgewerbe tätig, seitdem die europäische
Christenheit das eigene Zinsverbot durch Abschieben des Problems auf jüdische
Geldverleiher umgangen hatte. Aber bei einer kollektiven Projektion kommt es auf
wirkliche soziale Verhältnisse und auf die realen Eigenschaften des Objekts der
Projektion überhaupt nicht an. Der phantasmatische Charakter des ganzen Vorgangs
läßt den Projektionsmechanismus auch dann einrasten, wenn der äußere, zum
Vorwand oder Anlaß genommene Sachverhalt real gar nicht vorliegt.
Insofern
ist, wie oft bemerkt wurde, sogar ein »Antisemitismus ohne Juden« möglich (vgl.
Jürgen Elsässer, Antisemitismus - das alte Gesicht des neuen Deutschland, Berlin
1992, S. 55 ff.). Da es sich um einen feindlichen Gegensatz im eigenen Inneren
des Warensubjekts handelt, der nach außen projiziert wird, bleibt sein
eigentliches Wesen unfaßbar. »Jude« wird so zu einer ebenso phantastischen wie
mörderischen Chiffre für den Selbsthaß des »geldverdienenden« Menschen, der sich
von seiner eigenen strukturellen Schizophrenie »befreien« will, ohne jedoch die
kapitalistische Produktionsweise und ohne sich selbst als Warensubjekt
anzutasten und aufzuheben. Indem »Jude« für die als negativ empfundene abstrakte
Seite des warenproduzierenden Systems gesetzt und diese Projektion
vulgärökonomisch mit dem zinstragenden Kapital identifiziert wird, brauchen im
Prinzip gar keine wirklichen Juden vorhanden sein, um den antisemitischen Reflex
auszulösen. Das Phantom dieser kollektiven Psychose ist allgegenwärtig, und im
Pogrom »materialisiert« es sich zwar an den jüdischen Gemeinden als Opfern und
Sündenböcken; aber notfalls können auch linke Gruppen, liberale Politiker,
gesellschaftskritische Schriftsteller, moderne Künstler, Ausländer, andere
religiöse Minderheiten usw. vom psychotischen Pogrombewußtsein als »Juden«
definiert werden.
Es handelt sich also bei der Politischen Ökonomie des
Antisemitismus, d.h. der Affinität zwischen einer verkürzten Kritik des
zinstragenden Kapitals und dem antisemitischen Affekt, keineswegs bloß um eine
äußere, akzidentielle Verbindung. Die tief ins historische Bewußtsein
eingegrabene sowohl funktionale als auch phantasmatische Zuordnung legt sich
über die realen polaren Gegensätze der warenlogischen Kategorien. Der (z.B.
gesellianische) Vulgärökonom spaltet den inneren Zusammenhang der
kapitalistischen Produktionsweise auf in die »gute« Seite von »Arbeit« bzw. Ware
und in die »schlechte« Seite von Geld bzw. zinstragendem Kapital. Die
totalisierte Warenproduktion soll nicht aufgehoben, sondern von ihrer negativen
Seite befreit werden. Der offene Antisemit übersetzt dieses »rein ökonomische«
Konstrukt in ein phantasmatisches Feindbild: Die gute, »konkrete«, »eigene«
Seite der Moderne soll von ihrer schlechten, abstrakten, »fremden« Seite befreit
werden; und das Fremde, Andere ist »der Jude«.
Es besteht also ein
notwendiger struktureller und historischer Zusammenhang zwischen dem
Antisemitismus und der flachen, verkürzten Kritik des zinstragenden Kapitals.
Deshalb handelt es sich bei allen einschlägigen ökonomischen Konzepten um eine
Politische Ökonomie des Antisemitismus, ganz unabhängig davon, ob und wie sich
dieser Zusammenhang subjektiv ausdrückt. Aber auch die subjektive ideologische
Verbindung konnte natürlich auf dieser Grundlage nicht ausbleiben. Die
zinskritischen Vulgärökonomen sind auch auf dieser Ebene nicht die unschuldigen
Opfer, die vom Antisemitismus bloß instrumentalisiert worden wären. Der erwähnte
Gottfried Feder wurde von Hitler in »Mein Kampf« nicht nur begeistert als
Kampfgefährte und ökonomischer Mentor gefeiert; er hatte auch die »Ehre«, das
Wirtschaftsprogramm der NSDAP schreiben zu dürfen. Aber auch bei Rudolf Steiner,
beileibe keine ideologische Leitfigur des Nationalsozialismus, sollen sich in
diversen Briefen wüste antisemitische Ausfälle finden.
Silvio Gesell wiederum
hat zwar anscheinend keinen offenen Antisemitismus vertreten; allerdings
behauptet auch er, daß »die Juden sich mit Vorliebe mit Geldgeschäften
beschäftigen« (Silvio Gesell, zit. nach: Klaus Schmitt, a.a.O., S. 197). Wenn er
sich trotzdem gegen »die Judenhetzerei« als eine »kolossale Ungerechtigkeit«
wendet, so aus dem vordergründig rein ökonomischen Argument, daß die Identität
von »Zinsnehmer« und »Jude« bloß eine akzidentielle sei. Dieser Rückzug auf die
Ebene der (verkürzten, reduzierten) ökonomischen Logik läßt sowohl die
historische Zuordnung als auch das strukturelle Problem einer Projektion des
Widerspruchs im Warensubjekt auf einen äußeren »Fremden« außer acht, eben weil
Gesell selber das Warensubjekt grundsätzlich affirmiert. So ist und bleibt er
der Sache nach ein politischer Ökonom des Antisemitismus, auch wenn er selber
subjektiv den Juden zugesteht, daß sie die »Vorrechte des Geldinhabers«
ausnutzen dürften, solange das Geld nicht durch das Gesellsche Patentrezept
entschärft worden sei.
9.
Unter den Anhängern Gesells gab es dementsprechend jede Menge völkische und
antisemitische Tendenzen, die aus der ökonomischen Logik und aus der falschen
Geldutopie notwendig resultieren. Hinzu kommt die offen sozialdarwinistische,
»rassenhygienische« und biologistische Ideologie bei Gesell selber ebenso wie
bei Steiner und anderen. Die sozialdarwinistische Propaganda der
Konkurrenzwirtschaft wird von Gesell nämlich ergänzt durch ein Programm der
biologischen »Menschenzucht« qua Konkurrenzkampf. In der typischen Sektenmanier
der Jahrhundertwende prangert er die »Ehen mit Alkoholikern« an, die zur
»rassischen Degeneration« führen würden, und empfiehlt den Frauen, sich nur mit
»gesunden, starken Partnern« einzulassen; er spricht sogar von einer
»tausendjährigen Fehlzucht« (zit. nach: Günter Bartsch, Silvio Gesell, die
Physiokraten und die Anarchisten, in: Klaus Schmitt, a.a.O., S. 15). Daß die
Frauen in diesem biologistischen Wahnkonstrukt vor allem als eine Art
»Muttertiere« erscheinen, die sich »frei« für die besten männlichen
»Zuchtbullen« entscheiden sollen, kann kaum noch verwundern.
Die heutigen
Neo-Gesellianer gehen über diese »rassenhygienische« Wahnideologie ihres
Meisters entweder schamhaft hinweg bzw. tun so, als handle es sich dabei bloß um
eine dem ökonomischen Konstrukt äußerliche Angelegenheit, oder sie gehen sogar
so weit, der biologistischen Zuchtideologie auch heute wieder positive Seiten
abgewinnen zu wollen. Günter Bartsch und Klaus Schmitt etwa entblöden sich
nicht, die Überlegungen ihres Meisters zur Menschenzucht als den ganz speziellen
»physiokratischen Feminismus« von Silvio Gesell zu verkaufen. Biologistische
Momente finden sich zwar gelegentlich auch im heutigen Feminismus, aber
wenigstens sind sie dort nicht mit dem Begriff der biologischen »Auslese«
verbunden wie bei dem Neo-Gesellianer Bartsch, der auch dieses Terrormotiv
wieder exhumieren möchte: »Eine physiokratische Eugenik, begründet auf freie
Liebeswahl und freien Wettbewerb, wird ... die Ursachen der Degeneration (!)
beseitigen... Gesell möchte der natürlichen<D> Auslese (!) freie Bahn
schaffen. Nicht auf der Tierstufe, sondern als Ansporn zu immer besseren und
höheren Leistungen (!), die den Tüchtigen nach oben bringen (!) und seine
stärkere Fortpflanzung begünstigen (!)...« (Bartsch, a.a.O., S. 16).
Daß ein
derart indiskutabler Rückgriff auf einen sozialdarwinistischen Biologismus im
alteingesessenen anarchistischen Karin Kramer Verlag (Berlin) Anfang der 90er
Jahre publiziert werden konnte, zeigt zumindest soviel an, daß auch
anarchistische Strömungen für derart mörderischen Unsinn grundsätzlich anfällig
sind und der Anarchismus daher nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus und
dem Obsoletwerden der arbeiterbewegungs-marxistischen Ideologien ebensowenig wie
andere gesellschaftskritische Ansätze der Vergangenheit kurzschlüssig und
unaufgehoben als vermeintliche Alternative hervorgeholt werden kann. Es wird
vielmehr deutlich, daß alle geistigen und politischen Strömungen der
kapitalistischen Durchsetzungsgeschichte, auch die radikal oppositionellen,
kontaminiert sind mit den biologistischen, »rassenhygienischen« Ideen einer
»Auslese« und Menschenzucht, die im Nationalsozialismus zwar ihren brutalsten
und umfassendsten, aber eben keineswegs ihren einzigen Ausdruck gefunden
haben.
Das gilt für den Marxismus und die Arbeiterparteien leider ganz
genauso. Daß man hier kaum weniger leicht fündig werden kann als bei Silvio
Gesell oder bei den Anthroposophen usw. (etwa in den Schriften von Karl Kautsky,
im Massenbewußtsein der alten Arbeiterbewegung oder im ideologischen Kontext des
Stalinismus), nehmen aber Neo-Gesellianer vom Schlage der Schmitt und Bartsch
nicht etwa zum Anlaß einer ebenso umfassenden wie radikalen epochalen
Ideologiekritik, die auch die jeweils »eigenen« theoretischen Vorfahren nicht
verschont, sondern gerade umgekehrt als Rechtfertigung dafür, derart barbarische
Vorstellungen in der gesellianischen »Gesellschaftstheorie« nicht nur zu
entschuldigen, sondern unverschämterweise sogar noch zu wiederholen und am Ende
des 20. Jahrhunderts abermals zu propagieren.
Wichtiger als die
ideengeschichtliche Zuordnung ist aber die Frage, welchen Stellenwert die
biologistischen Vorstellungen über Menschenzucht und »Auslese« in der
Politischen Ökonomie des Antisemitismus auch heute noch haben können. Die
wahnhafte Selbst-Imagination des »geldverdienenden« Marktmenschen reproduziert
diese halbvergessenen Ideologien der ersten Jahrhunderthälfte in der neuen
Krisensituation am Ende des Jahrhunderts und versucht sie auf der erreichten
höheren Abstraktionsstufe zu reformulieren. In einer Welt, die mehr als jemals
zuvor in der Modernisierungsgeschichte hochgradig »individualisiert« ist, in der
millionenfach »Singles« leben und jede dieser warenförmigen Geldmonaden dem
globalisierten totalen Konkurrenzkampf ausgesetzt ist, entsteht nicht nur eine
explosive Mischung aus dem alten Hyper-Egoismus des Individualanarchisten Max
Stirner (1806-1856), auf den sich u.a. auch die Gesellianer berufen, und
sämtlichen modernen Konkurrenz- und Ausgrenzungsideologien; es ist auch logisch,
daß sich dieses Denken abermals quasi-biologistisch aufzurüsten sucht.
Das
jetzt erst voll ausgereifte, von nahezu allen nicht-warenförmigen Beziehungen
losgelöste abstrakte Individuum erlebt sich als Nabel der Welt und als
selbstbezogenes, selbstgenügsames Zentralwesen, während »die anderen« als eher
störende und feindliche »Umwelt« erscheinen. Kein Wunder, daß der Überanspruch
dieses abstrakten »Selbst« sich in der Krise seiner eigenen Struktur besonders
blähen muß. Wie Katzen, die sich bedroht fühlen, ihr Fell sträuben und einen
buschigen Schwanz bekommen, um größer und einschüchternder zu erscheinen, und
wie Personen mit Autoritätsanspruch sich »in die Brust werfen« und sich
aufplustern, so sucht das allseitig bedrohte einsame Markt- und Geldsubjekt für
seinen grimmigen Selbstbehauptungswillen nach einer möglichst unangreifbaren
Legitimation. Und was wäre unangreifbarer als der Nachweis der »natürlichen«,
biologisch und genetisch verankerten »Überlegenheit«? Die Halluzination eines
»Übermenschen« hat in diesem Grundgefühl der warenproduzierenden Moderne ebenso
ihre Wurzeln wie überhaupt die Propaganda, daß diese oder jene Ideen, Konzepte,
Programme usw. einer angeblich »natürlichen« Ordnung entsprächen. Waren
Imaginationen dieser Art aber in der Vergangenheit noch eher auf die ideell
vorauseilende philosophisch-theoretische oder künstlerische Sphäre beschränkt,
so sind sie heute ins Massenbewußtsein hinabgesunken. Und bezog sich der
Überanspruch des Warensubjekts in der Konkurrenz früher unmittelbar auf
Kollektiv-Konstrukte wie Klasse, Nation oder »Rasse«, so ist derselbe soziale
Naturalismus heute gefiltert durch die erst jetzt voll ausgebildete Struktur des
vereinzelten Einzelnen, der nach diesem Strohhalm einer absurden
Selbstlegitimation greift. Jedes arme Würstchen des warenproduzierenden Systems
plustert sich imaginär als muskelbepackter Rambo, als »Übermensch«, cooler
Professional und genetisch begnadetes Super-Rüsseltier gegenüber den
»degenerierten Untermenschen« auf. Das erbärmliche Umsichbeißen an der sich
leerenden Futterkrippe von »Beschäftigung« und Geldeinkommen wird zur
Götterschlacht der Edlen gegen die Unedlen stilisiert.
10.
Auf dieser Grundlage spaltet sich das ideologische Syndrom dann jedoch noch
einmal polar auf. Denn das imaginierte Gegenbild des »Unproduktiven« und
biologisch »Unreinen« wird, der eigenen Gespaltenheit entsprechend, ebenfalls
doppelt und polar entgegengesetzt erlebt: einmal als »Untermensch« und einmal
als »negativer Übermensch« (vgl. dazu, im Anschluß an die Theorie von Moishe
Postone: Joachim Bruhn, Unmensch und Übermensch, über Rassismus und
Antisemitismus, in: Kritik und Krise, Nr. 4/5, Freiburg 1991).
Marktwirtschaftlich unproduktiv sind nämlich sowohl die konkurrenzschwachen
Kostgänger des Sozialstaats als auch die konkurrenzstarken Mächte des
zinstragenden Kapitals. In der Übersetzung aus der sozialökonomischen Konkurrenz
ins Pseudobiologische erscheint diese Differenz dann wieder als diejenige von
genetisch »Minderwertigen« einerseits und von genetisch fremdartigen
»Überwertigen« andererseits. Diesem Konstrukt entspricht schließlich auch der
Unterschied von Rassismus und Antisemitismus: der Rassismus qualifiziert
Farbige, Osteuropäer oder Asiaten, aber auch Araber, mediterrane Europäer
(Romanen, »Welsche«) und sogar Bevölkerungsgruppen innerhalb des eigenen Landes
als »Minderwertige« ab; der Antisemitismus umgekehrt imaginiert »die Juden« als
das Phantom des übermächtigen Finanzkapitals, als »Weltverschwörung« verborgener
fremdartiger Superintelligenzen usw. Das in seinem Selbstverständnis
»produktive«, heimatliche, mit sich selbst identische, »rassenreine« und
»erbgesunde« Warensubjekt stellt sich imaginär zwischen diese beiden
Phantomgestalten des unter- und des überwertigen »Anderen«, die beide
gleichermaßen nichts als Projektionen seines eigenen inneren Widerspruchs nach
außen sind.
Die schizophrene Aufspaltung und Polarität von falscher Identität
und Projektion auf mehreren sich überlagernden Ebenen macht erst die
ideologische Struktur aus, die als Politische Ökonomie des Antisemitismus
bezeichnet werden kann. Der Nationalsozialismus hat dieses Gesamtkonstrukt
paradigmatisch realisiert. Dabei spielte es keine praktische Rolle, daß der
NS-Antisemit Gottfried Feder mit dem Konzept eines schwundgeldähnlichen
»Federgeldes« Anleihen bei Silvio Gesell machte, wie Neo-Gesellianer beklagen
(vgl. Gerhard Senft, Weder Kapitalismus noch Kommunismus, Berlin 1990, S. 196).
Das »Federgeld« erblickte ebensowenig in irgendeinem relevanten
gesellschaftlichen Maßstab das Licht der Welt wie die originale Gesellsche
Geldutopie. Faktisch lief die NS-Geldpolitik auf das genaue Gegenteil hinaus,
indem mit Hilfe der sogenannten Mefo-Wechsel ein gigantisches
protokeynesianisches Kreditprogramm aufgelegt wurde, das wahrscheinlich selbst
bei einem militärischen Sieg des NS-Regimes zum monetären Zusammenbruch und zur
Hyperinflation geführt hätte. Im Kern war die NS-Ökonomie (ähnlich wie die
zeitgleiche Staatsplanung der Sowjetunion und der »New Deal« Roosevelts in den
USA) eher etatistisch bestimmt, während Feders quasi-gesellianische Geldutopie
bestenfalls zur antisemitischen ideologischen Flankierung dienen konnte. Das
allgemeine Kennzeichen der Epoche war die Illusion vom »Primat der Politik«, die
sich auch das NS-Regime zu eigen machte (vgl. Christina Kruse, Die
Volkswirtschaftslehre im Nationalsozialismus, Freiburg i.Br. 1988).
Aber die
vulgärökonomische Geldutopie kann ohnehin immer nur Vorwand und Verkleidung sein
für den Wahn der warenlogischen Projektion. In dieser Hinsicht hat der
Nationalsozialismus alle Register gezogen, und zwar nach beiden Seiten des
Projektionsmechanismus. Sowohl die rassistisch und sozialdarwinistisch als
»unterwertig« definierten Gruppen (Slawen, Roma und Sinti, Homosexuelle,
Behinderte, Geisteskranke usw.) als auch die antisemitisch als negativ
»überwertig« definierten Juden wurden in die Vernichtungslager gebracht: »Das
Vollwertsubjekt hat gegen die unteren und die oberen anzutreten« (Joachim Bruhn,
a.a.O., S. 19). Der schwarz uniformierte Spießbürger, der sich als »gesundes«
genetisches Arbeits- und Warensubjekt imaginierte, wollte die beiden Seiten des
»Fremden« in seinem eigenen Wesen eliminieren, indem er die »Anderen« ins Gas
schickte.
Der singulare Charakter des Nationalsozialismus besteht gerade
darin, daß er in einer spezifischen historischen Situation alle Konsequenzen
dieser Politischen Ökonomie des Antisemitismus gleichermaßen realisiert hat. Wie
nun die Neo-Gesellianer an der positiven Legende von Wörgl gestrickt haben, so
mögen sie auch an der negativen Legende stricken, daß das NS-Regime ihr
geldutopisches Patentrezept nur »gestohlen« und niemals zu verwirklichen
beabsichtigt habe. Aber diese Klempner-utopie des »ehrlichen« Geldes läßt sich
in keiner einzigen Version verwirklichen, und unter den heutigen Bedingungen der
Verwissenschaftlichung weniger denn je. Was sich aber verwirklichen läßt, und
das haben die Nazis gezeigt, ist die hinter der spießbürgerlichen Geldutopie
stehende Logik der Projektion, die auf Vernichtung hinausläuft. Das Arbeits- und
Warensubjekt entkommt sich selbst nicht, aber es ist in seinem strukturellen
Wahn grundsätzlich zum Holocaust fähig.
11.
Weder der Nationalsozialismus noch der Holocaust werden sich in derselben
Weise wiederholen. Aber die Grundstruktur des Widerspruchs im Warensubjekt
existiert nach wie vor, und sie zeigt sich heute sogar deutlicher in ihrer
weiterentwickelten Form. In der neuen Großkrise des warenproduzierenden Systems,
die im Vergleich zur Weltwirtschaftskrise von 1929-33 auf wesentlich höherer
Stufenleiter wiederum als Finanz- und Kreditkrise in Erscheinung tritt, wird
daher unvermeidlich auch der alte Projektionsmechanismus abgerufen, wenn auch
sicherlich in verwandelter Form.
Gerade dafür aber könnte sich der
Neo-Gesellianismus sogar in besonderer Weise eignen, zumindest im Kern einer
entsprechenden neuen Ideologiebildung. Sogar in mehrfacher Hinsicht zeigt sich
diese Eignung des Gesellianischen Konstrukts, am Ende des 20. Jahrhunderts die
alte Mord- und Ausgrenzungsideologie neu zu fokussieren. Denn dieses Konstrukt
enthält alle wesentlichen Elemente der Politischen Ökonomie des Antisemitismus,
aber in einem anderen Mischungsverhältnis und in einer anderen Konstellation als
die NS-Ideologie. Eben dies aber macht den Neo-Gesellianismus zum potentiellen
Promotor eines neuen schizophrenen Schubs im Warensubjekt, das an seiner
stupiden Normalität nicht mehr festhalten kann.
Gerade weil Silvio Gesell und
seine Richtung der Freiwirtschaftler in der Vergangenheit nicht organisatorisch
im Nationalsozialismus aufgegangen waren, können ihre ideologischen Nachfahren
heute analoge Ideen scheinbar unbelastet wieder aufwärmen. Und gerade weil sie
diese Ideologie auf ihre rein ökonomische Erscheinungsform beschränken, d.h. auf
die vulgärökonomische Kritik des zinstragenden Kapitals, können sie Türöffner
spielen für die Politische Ökonomie des Antisemitismus in einer erneuerten
historischen Gestalt. Der offene Antisemitismus wird nicht auf sich warten
lassen, und im Ergebnis bleibt es gleichgültig, ob das antisemitische Pogrom in
der Krise des Geldes von Neo-Gesellianern selber oder von Banden verübt wird,
die sich auf die einschlägige ökonomische Ideologie berufen, ohne die
antisemitische Konsequenz mehr schamhaft zu verleugnen.
Auch beim Revival des
Sozialdarwinismus und sozialbiologischer Tendenzen könnte dem Gesellianismus
eine Art Modernisierungsfunktion zukommen. Die Spezialität von Silvio Gesell in
dieser Hinsicht ist es nämlich, daß er die Definition der angeblich
Minderwertigen nicht rassistisch im landläufigen Sinne vornimmt, sondern in
gewisser Weise westlich-universalistisch, also der vollentwickelten und
globalisierten Warenform durchaus adäquat. Der biologistische Wahn kann sich
auch im Gewande einer Gleichheitspropaganda verbergen. Es geht dann nicht mehr
so sehr um den partikularen Rassismus gegen bestimmte »Volks«-Konstrukte und
Menschengruppen, sondern um die ebenso paranoide Vorstellung einer »Hochzucht«
der »Tüchtigen« als solchen quer zu den sogenannten Völkern und angeblichen
»Rassen«; umgekehrt sollen die »Minderwertigen« unabhängig von ihrer Hautfarbe,
»Volks«-Zugehörigkeit usw. disqualifiziert und womöglich eliminiert werden.
Diese perverse Gesellianische »Rassenhygiene« ist konsequenter und
universalistischer als diejenige der Nazis, und sie ist einem modernisierten
Sozialdarwinismus auf der Ebene verallgemeinerter Weltmarktbeziehungen
angemessen, der eher einem allgemeinen funktionalistischen Leistungswahn als
besonderen völkisch-rassischen Vorurteilen huldigt. Die Mordideologie des
»survival of the fittest« zeigt sich hier in ihrer puren universalistischen
Form, gereinigt von allen Schlacken des altrassistischen
Partikularismus.
Könnte der Neo-Gesellianismus so die Mechanik der Projektion
im Kontext einer Politischen Ökonomie des Antisemitismus nach beiden Seiten hin
modernisieren, so gilt dasselbe für die Bestimmung des Trägersubjekts, von dem
das Wahnkonstrukt möglicherweise exekutiert wird. War die Nazi-Ideologie noch
auf die kollektiven Meta-Subjekte von Staat und Nation verpflichtet, und konnte
sie demzufolge die Verdammung des zinstragenden Kapitals nur im Zeichen des
Etatismus und mit der zeitbedingten Vorgabe eines »Primats der Politik«
formulieren, so ist der damals eher bremsende und hinderliche individualistische
Anti-Etatismus von Silvio Gesell heute in einer Epoche des weltweiten
marktradikalen Neoliberalismus viel besser geeignet, das postmoderne
Warensubjekt in seinem Konkurrenzwahnsinn zu repräsentieren.
12.
Um die Politische Ökonomie des Antisemitismus gesellschaftstheoretisch
aufrollen zu können, ist der Rückgriff auf die noch lange nicht erledigte
Marxsche Theorie unverzichtbar. Dennoch wäre es verfehlt, so zu tun, als könnte
dabei ungebrochen von einem marxistischen Fundus längst feststehender Wahrheiten
ausgegangen werden. Der Marxismus ist heute in der säkularen Krise neuen Typs
ebensowenig unaufgehoben zu remobilisieren wie andere gesellschaftskritische
Ansätze der Vergangenheit. Es gibt keine durchgängige Linie des
emanzipatorischen Denkens und Handelns in der Moderne, die nur verlängert zu
werden bräuchte, ebensowenig wie es eine historisch durchgängige und klare
Frontstellung von »gut« und »böse« oder »richtig« und »falsch« gibt. In einer
solchen fiktionalen Kontinuität ist aber gerade der vulgärmarxistische
Linksradikalismus zu Hause, der sich moralisierend in einem identitären
Konstrukt suhlt und immer noch so tut, als vermöchte er ohne größeres eigenes
Zutun aus der unerschöpflichen Substanz einer Theorie zu leben, in der alles
Wesentliche bereits gesagt ist, sodaß jederzeit eine passende Wahrheit aus der
Tasche gezogen werden kann.
Sowohl die Marxsche Theorie selber als auch der
historische Marxismus stehen nicht über der kapitalistischen Binnengeschichte
und müssen in dieser reflektierend wahrgenommen werden. Erst dann ist es
möglich, zu prüfen, was vom heutigen Entwicklungsstand aus betrachtet am
Marxismus und an der Marxschen Theorie historisiert werden muß und was
andererseits noch (oder überhaupt erst) für unsere Zeit gültig sein kann. Es ist
geradezu erstaunlich, wie wenig die Binnengeschichte der Moderne bisher kritisch
durchdrungen wurde. Die identitären Konstrukte der ideologischen Hauptströmungen
waren und sind ganz offenkundig darauf orientiert, jeweils das eigene Lager und
die eigene Ahnengalerie zu verschonen und zu rechtfertigen. Schon dieser
Tatbestand verweist darauf, daß es gemeinsame und übergreifende Momente in den
vordergründig feindlichen und entgegengesetzten Positionen
gibt.
Sozialdarwinismus, biologistische Tendenzen und überhaupt die
Naturalisierung des Sozialen gehören zur Durchsetzungsgeschichte des modernen
warenproduzierenden Systems; es handelt sich um Ausgeburten des positivistischen
Denkens, wie es der totalisierten Warenform entspricht. Solche Ideen tauchten
auf allen Entwicklungsstufen der Moderne und besonders in den krisenhaften
Strukturbrüchen auf. Wenn sich dasselbe Gedankengut haufenweise in der
Arbeiterbewegung und bei marxistischen Chefideologen finden läßt, dann erhellt
dieser traurige Sachverhalt eine weitgehende Befangenheit auch des Marxismus im
allgemeinen bürgerlichen Denken der Moderne. Diese Befangenheit läßt sich nur
daraus erklären, daß Marxismus und Arbeiterbewegung auch selber noch immanente
Bestandteile des Modernisierungsprozesses waren, gewissermaßen dessen zweiter
Durchgang auf allen Ebenen. Es konnte bis tief ins 20. Jahrhundert hinein
offenbar noch nicht um die Aufhebung der modernen gesellschaftlichen Fetischform
gehen, sondern nur um ihre innere Entwicklung und Binnenreform (Anerkennung der
»Arbeit« als Systemfunktion des Kapitals) und eine entsprechende »nachholende
Modernisierung« in den peripheren Weltregionen.
Insofern wäre es verfehlt,
die sozialdarwinistischen und naturalisierenden Momente im historischen
Marxismus bloß auf subjektive Entgleisungen einzelner Ideologen zurückzuführen.
Ebensowenig dürfen natürlich die Unterschiede von Marxismus, Gesellianischer
Geldutopie und Nationalsozialismus einfach eingeebnet werden. Wie die Ideologie
von Silvio Gesell zwar der Politischen Ökonomie des Antisemitismus angehört,
aber keineswegs mit der NS-Ideologie identisch ist, so gibt es offenbar auch
Berührungspunkte und Überschneidungen des historischen Marxismus sowohl mit den
Gesellianern als auch mit der NS-Ideologie, ohne daß aber Marxismus und
Arbeiterbewegung der spezifischen Politischen Ökonomie des Antisemitismus
zugeschlagen werden könnten. Es handelt sich vielmehr um übergreifende
ideologische Epochenmerkmale im historischen Aufstiegsprozeß des
warenproduzierenden Systems, und es ist zu fragen, wie diese Momente heute in
der säkularen Krise dieses Systems verwandelt wiederkehren können.
Eine
Klärung ist nur möglich, wenn die Affinitäten und Berührungspunkte der
gegensätzlichen Ideologien im Modernisierungsprozeß nicht bloß auf der
oberflächlichen Erscheinungsebene konstatiert, sondern auf die basale Ebene der
warenlogischen Kategorien zurückgeführt werden. In dieser Hinsicht läßt sich
zunächst einmal sagen, daß alle modernen Ideologien grundsätzlich
Arbeitsideologien<D> sind. Das gilt sowohl für die affirmativen und
prokapitalistischen als auch für die gesellschaftskritischen und vordergründig
antikapitalistischen Ideologien. Gerade diese Gemeinsamkeit ist es, die im Kern
die gemeinsame Befangenheit in der modernen totalen Warenform ausmacht. Der
marktwirtschaftliche Prozeß ist im Grunde genommen eine Realutopie der »Arbeit«,
eine Art von Wirklichkeitsmetaphysik<D>. Und alle gesellschaftskritischen
Ansätze der vergangenen 200 Jahre, darunter auch der Marxismus, waren selber
Arbeitsutopien; allesamt befangen in einer Variante der Arbeitsmethaphysik und
damit auf demselben historischen Boden angesiedelt, ohne zu realisieren, daß die
Realabstraktion »Arbeit« zum kapitalistischen System selber gehört.
Auch Marx
ontologisiert die »Arbeit«, allerdings nicht ungebrochen. In seiner Theorie wird
das Problem marmoriert durch zahlreiche dunkle Stellen, die über die
Arbeitsmetaphysik hinausweisen. Dennoch kann es keinen Zweifel geben, daß die
Marxsche Theorie in diesem Punkt noch mit der bürgerlichen Welt kompatibel
bleibt. Trotz der gegenläufigen, einschlägig interpretationsfähigen Passagen
arbeitet Marx nirgends deutlich und offensiv heraus, daß »Arbeit« nichts weniger
als eine überhistorische anthropologische Konstante, sondern vielmehr eine
historisch beschränkte Funktionskategorie des warenproduzierenden Systems ist.
Vollends der Arbeiterbewegungs-Marxismus der Epigonen affirmierte die »Arbeit«
völlig ungebrochen und sogar militant. Hatte Marx immerhin noch die Warenform
als solche für aufhebungsbedürftig erkannt, wenn auch auf Basis der selber
warenlogischen »Arbeits«-Kategorie, so blieb der epigonale Marxismus auch auf
dieser Ebene in der verdinglichten Fetischform befangen. Insofern besteht trotz
aller Marxschen Kritik an den Linksricardianern und an Proudhon grundsätzlich
ein übereinstimmendes Moment mit sämtlichen Arbeits- und Waren-Utopien der
Modernisierungsgeschichte (darunter auch der gesellianischen) und somit eine
entsprechende letzte Inkonsequenz der »marxistischen« Kritik an solchen
Vorstellungen.
Diese Inkonsequenz zeigt sich zum einen im Vorwurf an die
einseitigen Kritiker des zinstragenden Kapitals, sie würden auf der Ebene von
Zirkulation und Distribution stehenbleiben und die eigentliche Produktionsweise
des Kapitals unberührt lassen. Auch wenn dieser Vorwurf absolut richtig ist, so
muß doch gefragt werden, ob der Marxismus dabei seinem eigenen Maßstab genügen
kann. Er redet zwar unaufhörlich von »Produktion«, aber gerade nicht in einem
kritischen Sinne, sondern ganz in der affirmativen, produktivistischen,
arbeitsfetischistischen Manier des warenproduzierenden Systems selbst. Indem der
Marxismus den »Mehrwert« lediglich als »unbezahlte Arbeit« begreift, die (so die
implizite oder explizite Schlußfolgerung) von Rechts wegen bezahlt werden müßte,
bleibt er ebenso wie Proudhon und die Gesellianer in der Vorstellung bloßer
Verteilungsgerechtigkeit befangen und läßt die basalen Fetischformen des
modernen warenproduzierenden Systems ganz unangetastet, die eigentlich die
»Bedingung der Möglichkeit« sind, daß die Reproduktion überhaupt die Form von
Geldeinkommen annimmt. Trotz gelegentlicher Dementis von Marx selber bot seine
Theorie dem Mainstream des Marxismus genügend Anhaltspunkte dafür, sie
massenopportunistisch im Sinne der eingefleischten Arbeiterbewegungs-Ideologie
vom »vollen Arbeitsertrag« zu interpretieren; lediglich in einer anderen
Variante formuliert als etwa bei Lassalle oder eben Silvio Gesell.
13.
Auf dieser Stufe stehengeblieben ist im wesentlichen auch die neueste
altmarxistische Kritik an den Gesellianern, wie sie etwa von der »Ökologischen
Linken« vertreten wird. Diese Kritik ist »gutgemeint«, aber mehr eifrig und
eifernd als der Sache wirklich auf den Grund gehend; was sich schon daran zeigt,
daß die Darstellung der zahlreichen personellen und organisatorischen
Querverbindungen von alten und neuen Gesellianischen Freiwirtschaftlern mit
völkischen, neo-rechtsradikalen, rassistischen und antisemitischen Strömungen
einen breiteren Raum einnimmt als die eigentliche und doch ziemlich dünne
ökonomische Kritik (vgl. Peter Bierl, Der rechte Rand der Anarchie. Silvio
Gesell und das Knochengeld, in: Ökolinx Nr. 13/1994). Diese politische
Oberflächenseite darzustellen ist zwar nicht ohne Verdienst; aber eine Kritik,
die darauf den Schwerpunkt legt, steht immer in der Gefahr, selber in die
Paranoia einer Art »umgedrehten« Verschwörungstheorie abzugleiten.
Was dem
Gesellianismus dann gegenübergestellt wird, ist leider nichts anderes als die
selber verteilungsbornierte und alt-arbeiterbewegte verkürzte Interpretation des
Marxschen Ausbeutungsbegriffs: »Die Arbeiter stellen Produkte her, deren Wert
höher ist, als der Lohn den sie ausbezahlt bekommen. Der Lohn entspricht etwa
dem Wert der Güter und Dienstleistungen, die notwendig sind, um die menschliche
Arbeitskraft zu erhalten. Die Differenz zwischen Lohn und dem Wert der
hergestellten Produkte ist der berühmte Mehrwert, den das Kapital einbehält.
Soweit in aller Kürze und Schlichtheit. Bei Gesell bedeutet Mehrwert Zinsen und
Renten...« (Bierl, a.a.O., S. 7).
In der Tat sehr schlicht. Es fällt dem
Autor nicht auf, daß er mit dieser Gegenüberstellung mitnichten die
kapitalistische Produktionsweise als solche, sondern ebenfalls nur die
kapitalistische Verteilungsweise kritisiert. Der Begriff des sozialen
Bösewichts, der »den Mehrwert einbehält«, wird im Unterschied zu Gesell
lediglich vom Rentier auf den industriellen Unternehmer ausgedehnt, während die
Fetischkategorie des »Werts« selber, die das ganze Verhältnis erst konstituiert,
außerhalb jeder kritischen Betrachtung bleibt und lediglich als der kritiklos
vorausgesetzte Zankapfel zwischen den beteiligten Sozialsubjekten erscheint, die
um ihren Anteil daran kämpfen.
Wenn nämlich nicht allein der Zinsnehmer,
sondern auch der Betriebskapitalist der sozialen »Ausbeutung« und »Aneignung des
Mehrwerts« geziehen wird, dann ist in Wahrheit noch keineswegs die Ebene von
Zirkulation bzw. Distribution verlassen, sondern bloß dasselbe beschränkte
Argument um eine Stufe erweitert. Denn der Verkauf der Ware Arbeitskraft spielt
sich nirgendwo anders als in der Zirkulationssphäre ab, und der Unterschied in
der Höhe der Geldeinkommen ist immer nur eine Erscheinung der Distribution. Eine
wirklich radikale Kritik der kapitalistischen Produktionsweise (und nicht bloß
der kapitalistischen Zirkulations- und Distributionsweise) müßte dagegen die
Wertform als solche, die betriebswirtschaftliche Rationalität und damit die
Abstraktionsform »Arbeit« ins Visier nehmen, wovon der Marxismus weit entfernt
ist. So erweitert er die in der Politischen Ökonomie des Antisemitismus
enthaltene Dämonisierung des zinsnehmenden Geldkapitalisten bloß auf die Figur
des Produktionskapitalisten, ohne das Paradigma einer verkürzten Subjektivierung
und Soziologisierung des Fetischverhältnisses zu verlassen. Mehr noch: durch
diese analoge Verkürzung wurde der Marxismus selber immer wieder anfällig für
antisemitische Motive, wovon seine Geschichte reichlich Zeugnis ablegt (vgl.
dazu den Artikel von Robert Bösch in dieser Ausgabe).
Zum andern aber bleibt
der Marxismus auch in seiner Zielvorstellung ebenso wie die Gesellianer den
warenlogischen Kategorien verhaftet, wenn auch wiederum auf einer anderen Ebene.
Der gemeinsame Ausgangspunkt des Arbeitsfetischismus führt den Marxismus nur zu
einer anderen Art und Weise, auf dem Boden des unaufgehobenen
warenproduzierenden Systems eine »gute« gegen eine »schlechte« Seite ausspielen
zu wollen. An die Stelle der direkten Arbeits-, Waren- oder Geldutopie wie bei
den Linksricardianern, bei Proudhon und Silvio Gesell tritt eine indirekte, d.h.
eine Staatsutopie<D>. Der Mythos des »Arbeiterstaats« oder (wie es in der
alten Sozialdemokratie hieß) des »Zukunftsstaats« zielt nicht anders als bei den
historischen ideologischen Konkurrenten darauf ab, den Pelz zu waschen, ohne ihn
naß zu machen, d.h. die Realkategorien der Warenproduktion fortzuschreiben, ohne
ihre »Bedingung der Möglichkeit« zu realisieren. An die Stelle der
Gesellianischen Geldpfuscherei tritt bloß eine Staatspfuscherei, die dann (wie
sich gezeigt hat) doch auch wieder nur auf eine zum Scheitern verurteilte andere
Form der Geldpfuscherei hinausläuft.
Der Marxismus vollzieht also wie in der
Bestimmung des Kritikgegenstands auch in seiner Zielvorgabe gegenüber den
Gesellianern nur einen »Ebenensprung« innerhalb derselben Logik. Verbleibt die
Gesellianische Geldutopie innerhalb der Waren-ökonomie im engeren Sinne und will
den Staat überhaupt loswerden, so springt der Marxismus umgekehrt auf den
staatlichen Pol des warenproduzierenden Systems und will von dort aus die
unaufgehobenen Realkategorien der Warenproduktion an die Kandare nehmen. Die
juristische Fiktion des »Privateigentums« soll ganz oberflächlich innerhalb
ihrer eigenen (etatistischen) Funktionssphäre aufgehoben werden, ohne den
eigentlichen Formzusammenhang der abstrakten Privatheit und damit der
menschlichen Selbstentfremdung aufzuheben. Auch hier wieder: Das bürgerliche
Subjekt will die bürgerliche Gesellschaft aufheben, ohne sich selbst als
bürgerliches Subjekt aufzuheben; nur daß im Falle des Marxismus das utopische
politische Subjekt den Vorzug vor dem utopischen Geldsubjekt erhält. Der
gemeinsame Nenner ist das fetischistische Arbeits- und Warensubjekt, das in
allen seinen Ausgeburten zu Ausgrenzungsideologien, zu repressiven Strukturen
und in der Krise zu barbarischen Reaktionen neigt.
14.
Es zeigt sich also, daß eine konsequente Kritik des Neo-Gesellianismus und
überhaupt aller Formen der Politischen Ökonomie des Antisemitismus von einem
unaufgehobenen marxistischen Standpunkt aus gar nicht möglich ist. Vielmehr ist
die ganze Modernisierungsgeschichte noch einmal neu aufzurollen und einer
weitergehenden Kritik als bisher zu unterziehen, wenn nicht unter dem Eindruck
einer neuen Weltwirtschaftskrise, auf die gerade die Reste des Linksradikalismus
überhaupt nicht vorbereitet sind, ein abermaliger, diesmal vielleicht
gesellianisch vermittelter schizophrener Schub das gesellschaftliche Bewußtsein
überschwemmen und womöglich sogar große Teile der ehemaligen linken und
alternativen Opposition mitreißen soll. Die Gleichzeitigkeit von ideologischem
Zusammenbruch des Marxismus und qualitativ neuer Krise der kapitalistischen
Produktionsweise macht gerade die Gefährlichkeit der gesellschaftlichen
Situation in der zweiten Hälfte der 90er Jahre aus. In das Vakuum, das die
marxistische Gesellschaftskritik hinterlassen hat, droht die Politische Ökonomie
des Antisemitismus hineinzuströmen, ähnlich wie in anderen Weltregionen der
islamische Fundamentalismus; und zwar umso heftiger, je einschneidender sich die
Krise von »Arbeit«, Warenform und Geldnexus bemerkbar macht.
Es kommt also
darauf an, als Voraussetzung für eine Aufhebung des warenproduzierenden Systems
auch die obsolet gewordenen Epochen-Ideologien der absterbenden Vergangenheit
unter Einschluß des Marxismus aufzuheben. Nur so kann der heute noch gültige
Gehalt der Marxschen Theorie fruchtbar gemacht werden für eine Erneuerung des
gesellschaftskritischen und emanzipatorischen Denkens. Über den Daumen gepeilt
könnte man sagen: Es gilt, den etatistischen (staatsutopisch verkürzten)
Marxismus mit der anarchistischen Radikalkritik des Staates anzureichern und
umgekehrt den warenförmig-individualistischen (geldutopisch verkürzten)
Anarchismus mit der Marxschen Radikalkritik der fetischistischen Warenform.
Natürlich geht das nicht auf eine bloß eklektische Weise, als äußerliches
Zusammenbasteln der beiden feindlichen Ideensysteme in ihrer ansonsten
unaufgehobenen Vergangenheitsform. Eine wirkliche Aufhebung ist vielmehr nur
dann möglich, wenn gleichzeitig die den beiden Gestalten der alten
Gesellschaftskritik gleichermaßen zugrundeliegende moderne Arbeitsmetaphysik
ebenfalls aufgehoben wird. An Stelle der bewußtlos vorausgesetzten und immer
schon warenförmigen Realabstraktion »Arbeit« ist eine andere Art der
Reproduktion jenseits von Markt und Staat zu entfalten, um den menschlichen
»Stoffwechselprozeß mit der Natur« (Marx) vom Abstraktionsterror der modernen
Fetischform zu befreien und im Kontext »autonomer Tätigkeiten« die
funktionalistische Trennung der Lebenssphären aufzuheben.
Es gibt eine ganze
Reihe von Problemen, die dabei theoretisch und praktisch in Vermittlung mit dem
neuen historischen Krisenprozeß zu lösen sind. Dazu gehört etwa die Einsicht,
daß nicht ein neues abstrakt-allgemeines »Prinzip« an die Stelle der bisherigen
Fetischform gesetzt werden kann, was nur die abermalige Verlängerung des
warenlogischen Denkens und Handelns bedeuten würde. Vielmehr ist eine
gesellschaftliche Transformation über den unhaltbar werdenden
Markt-Staat-Komplex der totalen Warenform hinaus nur als eine Vielfalt von
Ansätzen auf ganz verschiedenen Ebenen denkbar: in der unmittelbaren Reichweite
etwa neue nicht-marktvermittelte Formen genossenschaftlicher Produktion und
selbstverwalteter Dienste; in der mittelbaren Reichweite der zentralen
Industriesektoren die Entwicklung einer nicht-etatistischen neuen
Planungungsdebatte (etwa mit Hilfe kybernetischer und ökologischer Modelle)
jenseits von Nationalstaat und Nationalökonomie. Wesentlich dabei wäre, das
Vergesellschaftungs- und Produktivkraftniveau der Moderne nicht einfach
fahrenzulassen, sondern vielmehr seine Potenzen und Erscheinungsformen nach
sinnlichen und ästhetischen nicht-warenförmigen Kriterien auszusortieren. All
dies liegt freilich schon jenseits einer Auseinandersetzung mit der
gesellianischen schwachen Geldutopie.
Entscheidend dabei ist, ob es denkbar
und praktisch gemacht werden kann, reale Ressourcen überhaupt der Warenform zu
entreißen, sie »umzuwidmen«, zu besetzen etc. Das ist durchaus auch auf der
Ebene »lokaler Ökonomie« möglich, ohne daß weitergehende Überlegungen
ausgeschlossen werden. Der grundsätzliche Konflikt um eine neue Orientierung
verläuft nicht zwischen »kleinen« und »großen« oder zwischen lokalen und
gesamtgesellschaftlichen Ansätzen, sondern um die Frage, ob die bürgerliche,
warenförmige Tausch- und Geldsubjektivität in Teilbereichen (und perspektivisch
gesamtgesellschaftlich) überwunden wird oder nicht. Alternative Tauschringe und
lokale Geldsurrogate (»Talente« usw.) müssen zwar nicht in jedem Fall verteufelt
werden, wenn sie in dieser oder jener Hinsicht zur lokalen, nachbarschaftlichen
Selbsthilfe taugen; eine Orientierung auf die tatsächliche Entkoppelung von
Ware-Geld-Beziehungen und im Sinne einer Transformation des bürgerlichen
Tauschsubjekts bieten sie jedoch nicht. Im Gegenteil, auf diese Weise droht
gerade im Mikrobereich der praktischen Alternativen das bürgerliche Wesen der
vereinzelten Einzelnen sogar dort noch zementiert zu werden, wo es schon
praktisch obsolet geworden ist. Und es bedarf keiner großen Vorstellungskraft,
um zu erkennen, daß gerade solche Versuche grundsätzlich anfällig sein müssen
für den Gesellianismus und die Politische Ökonomie des Antisemitismus.
15.
Eine elementare Ressource, die in einer großen sozialen Bewegung von der
Warenform entkoppelt werden könnte, ist wahrscheinlich Grund und Boden. Diese
Frage, die auf der ganzen Welt immer drängender wird, kann durchaus unter
bestimmten Bedingungen für eine soziale Mobilisierung ohne schlechten utopischen
oder massenopportunistischen Beigeschmack geeignet sein. Daß auch Silvio Gesell
die Idee eines »Freilands« propagiert und überhaupt die »Bodenfrage« im
irrationalen System der Politischen Ökonomie des Antisemitismus immer wieder
auftaucht, darf den Blick auf die tatsächliche Relevanz dieser elementaren
Ressourcenfrage nicht verstellen.
Ohnehin spielte der Begriff des »Bodens«
bei den zinskritisch-antisemitischen Strömungen weniger eine sozialökonomische
als vielmehr eine ideologische Rolle zur Legitimation völkischer und
rassistischer Wahnideen (etwa in der »Blut und Boden«-Metapher der Nazis). Auch
Silvio Gesell verknüpft die Idee des »Freilands« eindeutig mit seinen
sozialdarwinistischen und biologistischen Vorstellungen einer »Menschenzucht«,
wobei der »gesunde« Boden in ähnlicher Weise wie bei den Nazis analog zur
»Erbgesundheit« gesetzt wird. Noch schlimmer: Was Neo-Gesellianer wie Klaus
Schmitt als »physiokratischen Feminismus« verkaufen wollen, entpuppt sich auch
hinsichtlich der Bodenfrage als Bestandteil der sozialdarwinistischen
»Rassenhygiene«. Denn nach Aufhebung des Privateigentums an Grund und Boden soll
laut Gesell die (übrigens von den »Meistbietenden«) zu zahlende Pacht in eine
»Mutterrente« verwandelt werden; also in eine Art »Gebärprämie« für die
»Muttertiere« im Namen des Wahns von »Menschenzucht« und »Fortpflanzung der
Konkurrenzstarken«.
Die Idee einer Entkoppelung der Ressource Land von der
Warenform bedarf nicht eines derart absurden und gemeingefährlichen
Begründungszusammenhangs. Die Forderung nach einer freien, nicht-privilegierten
und kommunal in Selbstverwaltung organisierten Nutzung von Grund und Boden ist
nichts weniger als eine Spezialität der Politischen Ökonomie des Antisemitismus,
die vielmehr diese Idee nur vor ihren Karren gespannt hat. In Wirklichkeit
handelt es sich um eine seit dem Mittelalter in fast allen sozialen Bewegungen
(auch in der Arbeiterbewegung) bis heute wiederkehrende Forderung. Nur in den
wenigen industriellen Kernländern eines flächendeckend gewordenen Fordismus ist
dieses Moment (auch als soziale Imagination) nach dem Zweiten Weltkrieg
verschwunden, weil der weltmarktvermittelte Hochlohn und Sozialstaat das Problem
gegenstandslos zu machen schien. In der kapitalistischen Peripherie und in den
postkolonialen Weltregionen der sogenannten Dritten Welt dagegen ist die
Bodenfrage niemals von der Tagesordnung verschwunden (und auch niemals gelöst
worden); und heute könnte sie als Bestandteil einer neuen
Transformationsbewegung auch in die westlichen Kernländer zurückkehren und
(natürlich nur in Verbindung mit anderen sozialen Forderungen) neue
Durchschlagskraft gewinnen.
In der Marxschen Theorie findet sich die Kritik
der kapitalistischen Grundrente und die Idee einer Entkoppelung des Bodens von
der Warenform ökonomisch durchaus präzise formuliert; auch auf andere Ökonomen
und Gesellschaftskritiker (ohne Politische Ökonomie des Antisemitismus im
Hintergrund) könnte dabei zurückgegriffen werden. Dieser Punkt ist sogar einer
der wenigen, in denen dem untergegangenen Staatssozialismus tatsächlich eine
sozialökonomische Alternative zur westlichen Variante des warenproduzierenden
Systems nachgesagt werden kann. Denn in den meisten staatssozialistischen
Ländern waren Grund und Boden ganz oder teilweise vom System der
Warenzirkulation ausgeschlossen, also (ähnlich wie zumindest dem Anspruch nach
in der mexikanischen Revolution) weder kauf- noch verkaufbar. Angesichts von
unbezahlbaren Mieten und massenhafter Obdachlosigkeit als Folge des
Privatisierungsdrucks wäre es im Osten viel sinnvoller, daran im Kontext z.B.
eines Programms von kommunaler Selbstverwaltung (an Stelle staatsbürokratischer
Verfügung) wieder anzuknüpfen und diesen Gedanken auch im Westen zu propagieren,
statt ausgerechnet den sozialdarwinistisch besudelten gesellianischen
Freilandgedanken aufzugreifen.
16.
Es ist eher unwahrscheinlich, daß die gesellianische Geldutopie jemals
praktische ökonomische Relevanz gewinnen kann oder daß überhaupt die Politische
Ökonomie des Antisemitismus noch einmal in einem Land zur großen Staatsdoktrin
wird. Wahrscheinlich ist jedoch, daß das ideologische Gesamtsyndrom in
gesellianisch individualisierter Form den Krisenprozeß des warenproduzierenden
Weltsystems begleitet und zu einem von mehreren Legitimationsmustern im Zerfall
der modernen Zivilisation wird. Auf der Linie des blinden Systemprozesses sind
bereits nach und nach einige Kräfte erschienen, von denen die neue Art der
Barbarei getragen wird: zuerst die Mafia in ihren verschiedenen südlichen,
östlichen und westlichen Versionen; dann die rassistischen und mordbrennerischen
Straßen- und Jugendbanden (von Deutschland bis Ruanda); nicht zuletzt die sich
zersetzenden Verwaltungs- und Gewaltapparate der Demokratien selber.
Als
vierte Gewalt der sekundären Barbarei tritt mehr und mehr ein aufblühendes
wildes Sektenwesen hinzu, nicht nur im religiösen und eschatologischen Gewande
(wie etwa die »Scientologen« oder die japanische Chemikaliensekte Aum Shinri
Kyo), sondern auch in bizarren Weltverbesserungsgruppen und sozialökonomischen
Patentrezept-Vereinen, wie es gerade die Freiwirtschaftler mit Haut und Haar
sind. Das gemeinsame Kennzeichen dieses Sektenwesens ist es, daß die Welt
vermeintlich durch irgendeinen (irrational konstruierten) Generalhebel wieder
ins Lot gebracht werden soll, statt das historisch-genetische Problem des
warenförmigen Vergesellschaftungs-Prozesses der Moderne aufzurollen und die
Fragestellungen einer gesellschaftlichen Transformation zu entwickeln.
Alleingelassen von den ehemaligen Trägern reflektierter Gesellschaftskritik, die
den Epochenbruch rein affirmativ verarbeitet haben und großenteils zu
marktwirtschaftlichen »Realisten« der schlimmsten Sorte mutiert sind, züchten
die wildgewordenen sozialen Bastler und Tüftler des minderbemittelten
ökonomischen Alltagsverstands in ihren geistigen Schrebergärten eine neue
Politische Ökonomie des Antisemitismus heran.
Es läßt sich kaum mehr
übersehen, daß dieses Gedankengut gerade in seiner »bloß« vulgärökonomischen,
noch nicht zur vollen Kenntlichkeit entpuppten Gestalt heute immer mehr Anhänger
findet; nicht als große gesellschaftliche Bewegung, sondern als wachsender
Fleckenteppich von gesellianischen Grüppchen und Vereinchen, die ihre
ideologischen Hausierer, Publizisten und Prediger hervorbringen. Mit ihrem
kleinbürgerlichen geldutopischen Patentrezeptchen reihen sie sich ein in den
blühenden Markt der Endzeitsekten, die alle irgendein skurriles Erlösungsprinzip
zu verkaufen haben. Fast im Zeitraffer ist zu beobachten, wie sich das
warenförmig fixierte Bewußtsein in der Krise zersetzt und die Paranoia gebiert.
Die Politische Ökonomie des Antisemitismus ist hervorragend geeignet, als
ideologisches Ferment diesen ganzen geistigen Brei des die Krise wahnhaft
verarbeitenden Bewußtseins in Wallung zu bringen, aus dem dann das Monstrum des
Pogroms auftauchen kann; zumal das gesellianische Gedankengut weit verästelt ist
und inzwischen von Sekten, Wohngemeinschaften und subkulturellen Zeitschriften
bis in die Kirchen und Gewerkschaften, in das Management, in die politische
Klasse (vor allem bei den Grünen) und in den Wissenschaftsbetrieb hineinreicht.
Mag es bis jetzt noch so scheinen, als handle es sich bloß um eine skurrile
Landplage im allgemeinen Geistesbetrieb, so könnte sich mit fortschreitender
Krise des Geldes bald herausstellen, daß die wiederaufgewärmte Politische
Ökonomie des Antisemitismus alles andere als harmlos ist: dann nämlich, wenn die
sozialdarwinistischen und manchester-kapitalistischen Krallen der konkurrenten
Selbstbehauptungswut ausgefahren werden und gleichzeitig der
Weltverschwörungswahn durchbricht.
Auf einer anderen Entwicklungsstufe waren
vor einem knappen Jahrhundert schon einmal ähnliche Erscheinungen zu beobachten.
Die Strukturbrüche des Übergangs zur fordistischen Industrialisierung und zum
Totalkapitalismus des 20. Jahrhunderts hatten die westlichen Gesellschaften, vor
allem die deutsche, von den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts bis zur
Machtergreifung des Nationalsozialismus tief erschüttert. Schon vor der ersten
großen Kriegskatastrophe schossen alle möglichen seltsamen Erlösungsvereine aus
dem Boden: Nudisten, Radikalvegetarier, antisemitische Sekten, Lebensreformer,
religiöse Erweckungsbewegungen, ökonomische Patentrezept-Vereine,
pseudowissenschaftliche Gesellschaften mit vitalistischen und biologistischen
Ideen, »Krisenheilige«, Esoteriker und Okkultisten, buddhistische Clubs usw.
Damals entstand auch der Wahn von der »Weltverschwörung«, der in den
verschiedensten Varianten durch die Köpfe geisterte (nur allzu leicht
dechiffrierbar als phantasmatische Versubjektivierung und Dämonisierung des als
bedrohlich erlebten blinden Strukturprozesses von industrialisierten
Weltmarktbeziehungen). Und keineswegs zufällig brachte in diesem geistigen
Milieu auch Silvio Gesell seine Schriften heraus und durchlief bis zu seinem Tod
(1930) eine Karriere als »Krisenheiliger« der spießbürgerlichen
Geldutopie.
Der offene Antisemitismus wuchs und gedieh auf dem Boden dieser
buntschillernden Sektenwelt, und zwar keineswegs bloß bei den Nazis, die
ursprünglich selber eine absurd anmutende Politsekte waren. Es ist heute nicht
mehr ausreichend bewußt, daß alles, was wir inzwischen fast ausschließlich mit
dem Nationalsozialismus verbinden, durchaus auch bei vielen seiner damaligen
Gegner ideologisch präsent war. Sogar Emigranten verschiedenster Couleur, die
sich aus anderen Gründen mit der Hitler-Bewegung angelegt hatten, nahmen ihren
Antisemitismus und Sozialdarwinismus mit und fanden in den Exilländern durchaus
verwandte Strömungen vor. Erst im nachhinein wurden die Bilder und Selbstbilder
retuschiert, weil mit dem Grauen von Auschwitz niemand in Verbindung gebracht
werden wollte.
17.
Auf einer viel höheren Stufenleiter der Entwicklung braut sich offenbar am
Ende des 20. Jahrhunderts eine vergleichbare Suppe zusammen. Nach der großen
Katastrophenepoche der ersten Jahrhunderthälfte, deren geistige Vorzeichen die
paranoiden Erlösungsideen, skurrilen Lebensreform-Basteleien und Krisensekten
gewesen waren, hatte der kurze sibirische Sommer des fordistischen
»Wirtschaftswunders« in wenigen Nachkriegs-Jahrzehnten scheinbar den ganzen Spuk
und selbst die Erinnerung an seine ideelle Genesis ausgelöscht. Aber die
ideologische Struktur der Politischen Ökonomie des Antisemitismus lauert in der
gesellschaftlichen Warenform selbst und daher im »kollektiven Unbewußten«, aus
dem sie in verwandelter Gestalt wieder hervorbrechen kann.
Die historisch
kurzlebige Epoche der Prosperität erzeugte auf eine geradezu beschämend
mechanische Weise bis tief in die marxistische Gesellschaftskritik hinein die
ungeheure Illusion, das warenproduzierende System habe nun im wesentlichen das
Schlimmste hinter sich und es gelte nur noch, durch Aufräum- und
Entwicklungsarbeit die Spuren der Katastrophenepoche allmählich zu beseitigen.
Absurderweise hält sich diese behäbige demokratische Vorstellung bis heute
(sogar verstärkt durch den Zusammenbruch des Staatssozialismus), obwohl die
marktwirtschaftliche Prosperität längst dahingeschmolzen ist. Blind gegen die
realen Krisenschübe gibt man im Dunstkreis des Habermasianischen
Reformgeschwaders nun erst recht die unsinnige Losung aus, »den Kapitalismus bis
zur Unkenntlichkeit zu zivilisieren« (Helmut Dubiel). Umgekehrt wurde in
Wahrheit längst die radikale Gesellschaftskritik selber bis zur Unkenntlichkeit
entstellt und demokratisch verhausschweint, statt sie durch »Aufhebung« zu
erneuern.
Dabei ist zu berücksichtigen, daß die radikale Opposition der Neuen
Linken seit 1968 ebenso wie die spätere grün-alternative Bewegung selber noch in
den Ausläufern der Prosperitätsepoche ihre politische Sozialisation erlebt und
immer unausgesprochen von der starken Weltmarktposition des Westens und speziell
der BRD mitgezehrt hatte. Ihre Vorstellungen, Konzepte, Losungen und Forderungen
hatten stets eine wenigstens einigermaßen »gelingende Marktwirtschaft« als
stummen Hintergrund, selbst wenn man sich mit Krisentheorie beschäftigte. Quer
durch alle Fraktionen war aber von Anfang an jede »Zusammenbruchstheorie«
verpönt und geradezu tabuisiert, obwohl dieser Gegenstand des Abscheus fast nur
chimärisch existierte und nie systematisch aufgearbeitet wurde. Vielleicht war
in dieser Verdrängung der Möglichkeit, daß das warenproduzierende System einer
absoluten und katastrophischen historischen Endlichkeit unterliegen könnte, von
Anfang an beschlossen, daß die Neue Linke den Rubikon der radikalen Kritik
ebensowenig überschreiten würde wie die alte.
Die zum sozialökonomischen und
ökologischen Prozeß gewordene Krise forderte dennoch zu Reaktionsbildungen
heraus. Im Vergleich zur letzten Jahrhundertwende handelt es sich am Ende des
20. Jahrhunderts um einen Strukturbruch höherer Ordnung: es gibt Anzeichen
dafür, daß wir es nicht mehr mit dem Übergang zu einem neuen Entwicklungsschub
des warenproduzierenden Systems auf seinen eigenen Grundlagen zu tun haben (wie
allgemein immer noch hoffnungsvoll angenommen wird), sondern tatsächlich um
einen Zusammenbruchsprozeß der warenförmigen Kohärenz von »Arbeit« und Geld, in
dem das reifgewordene System seine eigenen Grundlagen irreversibel zerstört. Die
Realos ebenso wie die Restbestände des unaufgehobenen alten Linksradikalismus
ziehen sich auf die selber irre werdenden Kriterien der bürgerlichen Revolution
und Vernunft zurück (die einen zeitgemäß marktwirtschaftsdemokratisch, die
anderen mit einem bloß noch faden Neuaufguß der altmarxistischen
Klassenkampf-Variante innerhalb desselben warenförmigen Aufklärungsdenkens); die
Opposition andererseits gegen diese Art der Krisenverdrängung gleitet
stattdessen zunehmend in den Irrationalismus ab, der nicht die Aufhebung der
bürgerlichen Rationalität ist, sondern nur ihre Kehrseite, wie sie sich von
Anfang an gezeigt hatte und wie sie immer wieder (angefangen von Johann Georg
Hamann im 18. Jahrhundert) auf die Defizite der warenförmigen Vernunft verwies
und gleichzeitig in den Krisenbrüchen zu barbarischen Denk- und Handlungsmustern
führte. Diese falsche und unheilvolle Alternative baut sich offenbar auch heute
in der neuen Großkrise des warenproduzierenden Systems wieder auf.
Die 80er
Jahre waren nicht nur die Ära des Kasinokapitalismus und des sozusagen
ultimativen Konsumwahns von kommerzgefütterten Vulgärhedonisten, sondern auch
eine neue Blütezeit des politischen, sozialökonomischen, kulturellen und
religiösen Sektenwesens (vgl. dazu den Essay von Roswitha Scholz in dieser
Ausgabe). Der Promotor dafür waren die Neue Linke und die nachfolgende
grün-alternative Bewegung selbst, und zwar sowohl ideell als auch personell.
Schon die durchaus emanzipatorischen Ansätze der Psychobewegung, der
»Politisierung des Privaten«, der Kritik des Geschlechterverhältnisses etc. in
den 70er Jahren gingen klammheimlich, indem sie nie mit einer Kritik der
modernen Fetischform als solcher vermittelt werden konnten, in einen Boom des
Irrationalismus über. So mancher stramme Weltrevolutionär der 70er wandelte
bereits Anfang der 80er im orangenen Gewande der Baghwan-Jünger. Und bei den
Grün-Alternativen blühten schon in den frühen 80ern Naturmystik und
Kamillentee-Romantik; die lebensreformerischen Skurrilitäten der
Jahrhundertwende erlebten ein nur schwach modernisiertes Revival.
Aus diesen
Milieus heraus hat sich mit zunehmender Schärfe der sozialen Restriktionen eine
»Stimmung« entwickelt, die irrationalen Krisenideologien entgegenkommt, in denen
die reale Krise der warenförmigen Vergesellschaftung phantasmatisch verzerrt
verarbeitet wird. An die Stelle einer Analyse, Kritik und Aufhebung des
warenproduzierenden Systems tritt der Versuch, sich mit irrationalen und
phantastischen Mitteln doch noch in der Konkurrenz zu behaupten.
Individualistisch erscheint dabei die positive Besetzung der vermittelten
Techniken, Verhaltensweisen, »Lebensregeln« usw.; als kollektiver ideologischer
Prozeß dagegen die im Sektenwesen keimende Konsequenz der Ausgrenzung und
womöglich Vernichtung »der anderen«. Ausgangspunkt dafür ist auch
heute wieder eine zunehmende »Naturalisierung« des Sozialen, wie sie inzwischen
bereits als breiter ideologischer Strom sichtbar geworden ist. Die Propaganda
einer »natürlichen Ordnung« lauerte schon in den ersten Ansätzen eines
abstrakten Naturbegriffs, der in den 80ern den soziologischen Begriff der
gesellschaftlichen Beziehungen zu beerben begann. Symptomatisch war es z.B., daß
der Fischer-Taschenbuchverlag die Reihe »Theorie und Geschichte der
Arbeiterbewegung« einstellte und, parallel zu »Fischer Alternativ«, eine groß
angelegte Reihe »Anthroposophie« startete, bezeichnenderweise gemixt mit Titeln
wie »Kursbuch Geld« und »Kursbuch Spekulation«; offenbar eine Reaktion auf die
veränderten Publikumsbedürfnisse. Das Ende des Arbeiterbewegungsmarxismus und
seiner neolinken Revivals stand sicherlich auf der Tagesordnung; aber nicht die
kritische Aufhebung wurde geleistet, sondern stattdessen bloß eine andere
ideologische Leiche aus der Durchsetzungsgeschichte des warenproduzierenden
Systems exhumiert: die des Irrationalismus und des abstrakten Naturbegriffs,
während gleichzeitig »marktwirtschaftliche Lebenshilfe« gesucht war und ins
Angebot kam. Der verkürzte subjektivierende Soziologismus des altbackenen
warenförmigen »Klassenkampf«-Paradigmas wurde nicht durch eine höhere
Reflexionsstufe abgelöst, sondern durch einen Rückfall selbst noch hinter den
Soziologismus.
Von der Ersetzung des kritischen Gesellschaftsbegriffs durch
den Naturbegriff bis zur Naturalisierung des Sozialen und zur »natürlichen
Wirtschaftsordnung« ist es nicht weit. Dem Revival der Anthroposophie folgte das
Revival von Silvio Gesell und die Verästelung dieses Gedankenguts bis tief in
die linken und autonomen Strömungen hinein. In dieser sonderbaren »Rückkehr des
Ökonomischen« ist jeder radikale, emanzipatorische Ansatz getilgt; die
sozialdarwinistische und antisemitische Fratze einer verlorenen, umgedrehten
Gesellschaftskritik wird sichtbar. Die Neue Linke selber, die sich zur
Transformation des Marxismus unfähig zeigte, ist über die Vermittlungsschritte
von zwei Jahrzehnten hinweg zum Katalysator für die erneuerte Politische
Ökonomie des Antisemitismus geworden, die sich ebenso wie frühere »Innovationen«
der Linken und ihrer diversen »Milieus« gesellschaftlich zu verselbständigen
beginnt.
18.
So peinlich es ist: selbst die unmittelbare »ökonomische Basis« im plattesten
Sinne für diese ideologische Mutation hat sich in einer lebensgeschichtlichen
Verkleinbürgerung der Ex-Linken aufgebaut. Es geht gar nicht darum,
Lebensschicksale und Existenzen als solche zu denunzieren; die Frage ist
allerdings, ob und wie auf eine grotesk lehrbuchmäßige Weise ökonomisches »Sein«
in ideologisches »Bewußtsein« umschlägt. Den Kern bildeten zunächst die
übriggebliebenen Projekte der ehemaligen Bewegungslogistik: Buchläden, Verlage,
Kleindruckereien, Stadtzeitungen und andere Medienprojekte, Szene-Kneipen etc.,
die mangels Bewegung und gesellschaftskritischer Perspektive zu stinknormalen
Kleinunternehmen werden mußten, wenn sie überleben wollten. Hinzu kamen später
die Projekte des »alternativen Lebens«; ebenfalls Kneipen, aber auch alternative
Bäckereien, Schreinereien, Kfz-Werkstätten, Landwirtschaftsbetriebe,
Tagungshäuser und Seminarbetriebe, Therapie-Unternehmen usw.
Das meiste ging
über den Jordan, aber die ökonomisch Überlebenden mußten sich
»professionalisieren«. Viele hängen über Kredite am Tropf der Banken; in
Deutschland und in der Schweiz wurden sogar Alternativ-Banken gegründet. Im Zuge
der »Professionalisierung« dieses Klitschenwesens wurde (durchaus verständlich)
die Ideologie der »Selbstausbeutung« angegriffen. Aber unter den gegebenen
Bedingungen konnte sich daraus leicht die typische Spießbürger-Ideologie der
»ehrlichen Arbeit« und des »gerechten Lohns für ein gerechtes Tagewerk«
entwickeln, paradoxerweise verquickt mit postmodernen »Haltungen«, Theorien und
Medien. Wie anschlußfähig ist dieses Syndrom für den Gesellianismus und die
Politische Ökonomie des Antisemitismus? Und wohin gehen die Gedanken in der
höchst persönlichen Krise, wenn der höchst persönliche Finanzüberbau des
alternativen Klitschenwesens kracht?
Heute noch wählt man in diesen Kreisen
z.B. teilweise PDS, und auch das ist schon schief: eingebunden in eine Mischung
aus Bierzeltatmosphäre, Arbeitsideologie, Heimatkunde und Haß gegen »das«
Kapital, das fast schon hakennasig aussieht. Wie weit ist es da noch zum
Absprung in die Paranoia? Und das Myzel der Politischen Ökonomie des
Antisemitismus hat noch weitere Wachstumschancen. Ein erheblicher Teil der
alternativen Kulturszene hängt am Tropf des Staatskredits, etwa der kommunalen
»Alternativtöpfe«; und diese Gelder werden gekappt, sogar durch die
parlamentarischen grünen Realos. Die Reaktion darauf muß nicht emanzipatorisch
sein, sie kann auch in den Gesellianismus und seine sozialdarwinistischen
Konsequenzen abkippen.
Diese Möglichkeit ist auch für die (ex-)linke und
autonome »Jobber«-Szene und die »free rider« der postmodernen Medien
(Musikszene, Publizistik, Werbung etc.) nicht auszuschließen. Zu einer
aufhebenden Kritik und zu praktischen Ansätzen einer Emanzipation von der
gesellschaftlichen Warenform hat man es auch in diesen Kreisen nicht gebracht;
stattdessen war das pseudokritische »Mitschwimmen« im Kasinokapitalismus
angesagt. Restbestände eines unaufgehobenen und verwässerten marxistischen
Denkens, angereichert mit postmodernen Theoremen (Foucault usw.) und eher
kultur- bzw. medientheoretisch als ökonomiekritisch ausgerüstet, konnten mehr
oder weniger klammheimlich unheilige Allianzen mit dem durchkommerzialisierten
Bewußtsein der 80er Jahre eingehen. Wenn aber der Turnus von Jobs und
Ferntourismus oder das lustige postmoderne Leben aus dem Überziehungskredit jäh
abgewürgt wird, wohin geht dann die Reise?
Freilich fallen die einschlägigen
sozialen Kleinmilieus rein zahlenmäßig kaum ins Gewicht, auch wenn ihre
ideologischen Mutationen gesellschaftlich wirksam werden. Die im engeren Sinne
klassisch kleinbürgerliche bzw. freiberufliche (und großenteils auch prekäre,
auf Gelegenheitsarbeit abgesunkene) Reproduktion im Dunstkreis der linken und
grün-alternativen Bewegungen geht aber sozial in das weitaus größere Spektrum
des neuen Mittelstands in den staatlichen Dienstleistungssektoren (Lehrer,
Sozialarbeiter etc.) über, die genauso brutal über die Krise des Staatskredits
ausgedünnt werden wie die alternativen Szene-Projekte; dementsprechend größer
wird auch der mögliche Einzugsbereich der Politischen Ökonomie des
Antisemitismus.
Natürlich kann dieser sozialen, soziopsychischen und
ideologischen Kleinbürgerei, die schrecklich zu werden verspricht, nicht mehr
der alte »proletarische Klassenstandpunkt« gegenübergestellt werden. Schon ganz
vordergründig und immanent ist festzustellen, daß gerade die klassischen
Sektoren der »Arbeiter-und-Bauern-Ideologie« (Landwirtschaft, Bergbau,
Stahlindustrie, Werften), weit davon entfernt, noch die entsubstantialisierte
Reproduktion des warenproduzierenden Systems zu tragen, selber längst am Tropf
des Staatskredits (also des »fiktiven Kapitals«) hängen und demzufolge in einer
Großkrise des Geldes auch selber für die Politische Ökonomie des Antisemitismus
anfällig werden könnten; vielleicht eher in einer keynesianisch und
national-etatistisch vermittelten Version.
Über alle analytisch noch
ausfindig zu machenden sozialen Strukturen aber legt sich die abstrakte
Individualisierung als jene Superstruktur einer postmodernen, nicht mehr an das
Kleineigentum, sondern an die ausdifferenzierte Kernstruktur des Warensubjekts
gebundene Verkleinbürgerung der Gesamtgesellschaft, die auf den historischen
Kulminationspunkt und die Krise der totalisierten Warenform als solcher
zusteuert. Sowohl durch die partikulare Interessen-Katastrophe der einzelnen
sozialen Segmente als auch durch den darüber hinweggehenden Gesamtprozeß der
sozialen Atomisierung können Anknüpfungspunkte für eine modernisierte Variante
der Politischen Ökonomie des Antisemitismus entstehen. Und damit ist auch real
zu rechnen. Schon jetzt zeigt es sich, daß es keine noch so durchsichtige und
absurde Verarbeitungsform gibt, der sich die in die Enge getriebenen
Warensubjekte nicht hemmungslos ergeben könnten.
Dennoch ist es nicht
zwangsläufig, daß die irrationale Krisenideologie sich gesellschaftlich
durchsetzen wird. Wie es an sich schon keine mechanische Determination des
Bewußtseins aus dem sozialen Sein gibt, so kann sich der primitive Instinkt des
stur immanenten warenförmigen Interesses erst recht (und auch massenhaft) an der
historischen Grenze des warenproduzierenden Systems brechen. Voraussetzung dafür
ist allerdings erstens, daß gerade die opinion leaders<D> in den
Restbeständen der linken und grün-alternativen Bewegung, in den alternativen
Unternehmen und Medien, in den postmodern-hedonistischen Szenen, in den
Kulturprojekten und sozialen Institutionen usw. entschieden Front machen gegen
jede Erscheinungsform der Politischen Ökonomie des Antisemitismus, daß sie
überhaupt ein Problembewußtsein darüber entwickeln und jeden einschlägigen
Fraternisierungsversuch zurückweisen. Zweitens kann angesichts der Bedrohung
nicht länger verdrängt werden, daß jetzt ein neuer Diskurs zur radikalen Kritik
des warenproduzierenden Systems auf der Tagesordnung steht, der den obsolet
gewordenen Arbeiterbewegungsmarxismus transformiert und kritisch aufhebt, statt
ihn entweder bloß zu verlängern oder in der Mottenkiste unaufgehoben
verschwinden zu lassen.