Die letzten Gefechte
Ein Essay über den Pariser Mai, den Pariser Dezember und das Bündnis für
Arbeit
Im Rückblick auf den Mai 68
Wer erinnert sich nicht an
den Pariser Mai? Selbst die Nachgeborenen, die nicht dabeigewesen sind, erinnern
sich anhand der Dokumente der Geschichte, und bis heute spukt der Mai 1968 durch
die Literatur. Der Pariser Mai 1968, nicht der Berliner oder Frankfurter Mai,
der eher eine Mai-Attrappe war. Frankreich dagegen wurde in seinen bürgerlichen
Grundfesten erschüttert, und de Gaulle floh in die Arme des Generals Massu, der
schon drauf und dran war, die Panzer der französischen Rhein-Armee nach Paris
rollen zu lassen. Denn die Revolte der Studenten, losgetreten von der kleinen
linksmarxistischen Gruppe der Situationisten an der Universität Nanterre, war
wirklich ein Funke, der den Steppenbrand entfachen konnte: Die Kämpfe an der
Universität lösten bekanntlich eine riesige Streikwelle und zahlreiche
Fabrikbesetzungen der Arbeiter aus. Im Unterschied zur vergleichsweise faden
68er Bewegung in Deutschland schien der Pariser Mai die Frage der sozialen
Emanzipation auf die Tagesordnung zu setzen; und die gewerkschaftliche Basis war
zur gesellschaftlichen Konfrontation bereit.
Vom 3. Mai bis zum 30. Juni 1968
schien die Macht des herrschenden Systems gelähmt. Daniel Cohn-Bendit, schon
damals eitel bis dorthinaus, aber noch nicht demokratisch kretinisiert, schrieb
feuerköpfig und vollmundig das Kommunistische Manifest paraphrasierend: »Durch
den Bau von Barrikaden hat die revolutionäre Bewegung die Mauer des Schweigens
durchbrochen... Ein Gespenst geht um in der Welt, das Gespenst des
Linksradikalismus. Alle Mächte der alten Welt haben sich zu einer heiligen
Hetzjagd gegen dieses Gespenst verbündet: der Papst und Kossygin, Johnson und de
Gaulle, französische Kommunisten und deutsche Polizisten« (Linksradikalismus –
Gewaltkur gegen die Alterskrankheit des Kommunismus, Reinbek 1968,
Klappentext).
Französische Kommunisten deshalb, weil die KPF in der bewährten
Manier aller westlichen Linksparteien die Bewegung mit Hilfe ihres
gewerkschaftlichen Einflusses abzuwürgen und parlamentarisch zu kanalisieren
vermochte. Die für einen kurzen historischen Moment aufblitzende Möglichkeit,
daß sich in einem hochentwickelten kapitalistischen Land ein revolutionärer
Umsturz und eine soziale Emanzipation vollziehen könnten, fiel wieder in sich
zusammen. Und aus der historischen Distanz betrachtet waren es weder allein die
bürokratischen Manöver der KPF noch die bürgerlichen Gegenreaktionen, z.B. eine
massive Demonstration der erwachsenen, ums Geschäft besorgten Mittelständler
gegen ihre Kinder und für das nationale Denkmal de Gaulle, die eine
revolutionäre Umwälzung vereitelten. Es war auch eine merkwürdige, keineswegs
allein aus ihrer Spontaneität zu erklärende Zielblindheit der Bewegung selbst,
von der die vorüberhuschende Möglichkeit wieder ins Unwirkliche abgelenkt
wurde.
Sicherlich, es gab einige Worte, die sich einstellten, ohne doch
wirklich Begriffe einer Transzendenz über die bürgerliche Welt hinaus sein zu
können. Jacques Sauvageot, einer der Studentenführer, sprach z.B. von
»Selbstverwaltung der Betriebe durch die Arbeiter«, von einem »nicht-autoritären
Sozialismus«, von »Studentenmacht«, »anarchistischen Traditionen« und dem »Erbe
der französischen Revolutionen des 19. Jahrhunderts« (Sauvageot u.a., Aufstand
in Paris oder Ist in Frankreich eine Revolution möglich?, Reinbek 1968, S. 16
ff.). Es gab auch das Moment einer romantischen Rebellion gegen die »Arbeit«:
»Unter dem Pflaster liegt der Strand«; eine immer wieder kolportierte Parole.
»Selbstorganisation« – aber von was und in welcher gesellschaftlichen Qualität?
Auffällig ist im Rückblick, daß die Radikalität sich (ähnlich wie in den
Revolutionen nachholender bürgerlicher Modernisierung im Osten und Süden) mehr
auf die Formen des politischen Vorgehens und der Organisation als auf die Frage
einer anzustrebenden nicht-kapitalistischen Reproduktion der Gesellschaft
bezog.
Die radikale Kritik der Situationisten an der gesellschaftlichen
Reproduktionsform des Warenfetischismus blieb als Problemstellung der Kritik ein
esoterisches Minderheitsprogramm. Dieses Programm sickerte höchstens indirekt in
die Äußerungen der Bewegung ein und wurde, wenn überhaupt, dann nur in einem
kulturalistischen Sinne verstanden. War das ein Mißverständnis? Vielleicht bloß
ein halbes. Denn die Formulierungen der Situationisten klangen oft eher
kulturrevolutionär als ökonomiekritisch im strengen Sinne. Beides muß sich nicht
ausschließen, gehört vielmehr sogar zusammen. Aber es blieb offen, inwiefern
eine Emanzipation von den Zwängen der totalisierten Ware-Geld-Beziehung möglich
sein und praktisch ins Werk gesetzt werden könnte, ohne die Potentiale der
modernen Produktivkräfte zu negieren. Es gab keinerlei Vermittlung; nur den
großen Gestus.
Der Wille der spontanen französischen Arbeiterbewegung von
1968 ging erst recht nicht über den Horizont der warenförmigen
Vergesellschaftung hinaus; und die beschworene Tradition »der französischen
Revolutionen des 19. Jahrhunderts« sowieso nicht. Die bürgerliche Funktion des
»Geldverdienens« wurde von den meisten Teilnehmern der Bewegung nicht im Ernst,
also nicht sozialökonomisch, sondern bestenfalls metaphorisch und
kulturalistisch in Frage gestellt. So war das Einmünden der Massenbewegung auf
den Parlamentarismus und auf die kümmerliche gewerkschaftliche Forderungsebene
eines »gerechten Lohnes für ein gerechtes Tagewerk« nur das Resultat einer
immanenten Schranke der Bewegung selbst. Was sich im Pariser Mai zum letzten Mal
abspielte, das war der immergleiche Film der westlichen »sozialistischen« und
»proletarischen« Revolutionsbewegungen: ein kurzes Hinausschießen über einen
unbekannten Horizont, um dann von der trägen Masse des Geldverdiener-Bewußtseins
zurückgezwungen zu werden in die bürgerliche Verkehrsform, deren Endlosreform
auf diese Weise als kläglich immanente Zielsetzung einzig und allein übrig
bleibt.
Diese paradigmatische Verlaufsform, von den Linksradikalen zur
heroischen Geschichte der Niederlagen stilisiert, verweist in Wahrheit auf den
zuinnerst bürgerlichen Charakter der formal revolutionären Intention selbst. Der
zweite, dritte, vierte und fünfte Aufguß der bürgerlichen Aufklärungs- und
Modernisierungsvernunft, der bürgerlichen Revolution und ihrer jakobinischen
Spitze kann auch im marxistischen oder anarchistischen Gewande immer nur
dieselben Stationen in einer immer schwächeren Version durchlaufen: wie die
astronomisch determinierte Bahn von Himmelskörpern, deren Vorbild ja auch den
modernen Begriff der Revolution (von Kopernikus entlehnt) geliefert hat.
Je
entwickelter eine moderne warenproduzierende, von der Verwertungsbewegung des
Geldes bestimmte Gesellschaft bereits ist, desto weniger bedarf sie für ihre
weitere Durchsetzungsgeschichte noch der jakobinischen Spitze, die dysfunktional
wird wie ein blinder Wurmfortsatz und daher, in welcher ideologischen
Legitimationsgestalt auch immer, zu einer Art folkloristischen
Begleiterscheinung von Modernisierungsschüben degeneriert. Der Pariser Mai 1968
war vielleicht ein kurzer Blick ins verbotene Zimmer, aber die Tür wurde sofort
wieder zugeschlagen und man beeilte sich, für die Revolutionstouristen die alten
Stammestänze der bürgerlichen Revolution aufzuführen. Das Bakschisch ist ja auch
nicht ausgeblieben.
So hat der Pariser Mai letztlich keine eigene neue Idee
der sozialen Emanzipation über die westlich-kapitalistische Gesellschaft hinaus
stabilisieren und weiterentwickeln können. Die situationistische Leuchtspur
verglühte schnell und wurde in der deutschen 68er Bewegung kaum zur Kenntnis
genommen. Stattdessen richtete man den Blick zunehmend dorthin, wo die alte
Verlaufsform noch jung und frisch zu sein schien: in die Dritte Welt. Die
Solidarität mit den antiimperialistischen Befreiungsbewegungen wurde nicht im
Namen einer Transformation über das moderne warenproduzierende System hinaus
entwickelt, in deren Kontext die historischen Nachzügler und Späteinsteiger
gleichzeitig darüber hinausgetrieben worden wären, sondern genau umgekehrt: Die
nachholende bürgerliche Revolution der Dritten Welt wurde zum Modell erhoben,
weil man sich in ihrem Glanze so schön pseudojakobinisch wärmen konnte. Denn je
unentwickelter eine warenproduzierende Gesellschaft ist, je mehr sie überdies im
Zeichen einer nachholenden Modernisierung ihre nationalökonomische
Selbstbehauptung gegen die vorausgeeilten Konkurrenten auf dem Boden derselben
Produktionsweise und ihrer globalen Vermittlungsform (Weltmarkt) erkämpfen muß,
desto bedeutsamer bleibt die jakobinische Spitze, egal in welcher ideologischen
Gestalt.
Es wiederholte sich also die historische Paradoxie, daß das
Bewußtsein der (dem eigenen Selbstverständnis nach) revolutionären Bewegung in
den kapitalistisch entwickeltsten modernen Gesellschaften zum bloßen Ableger des
Bewußtseins einer nachholenden bürgerlichen Revolution in den kapitalistisch
unentwickelsten Gesellschaften wurde. Wie der alte westliche Linksradikalismus
nicht über die Rolle eines kleinen Bruders der Oktoberrevolution hinauskam, so
kam der Radikalismus der neuen Linken nicht über die Rolle eines kleinen Bruders
der Befreiungsbewegungen in der Dritten Welt hinaus. Auch der romantische Impuls
verlagerte sich demzufolge von einer Kritik der »Arbeit« auf die
Schinderhannes-Romantik des bewaffneten Kampfes im Trikont und seiner Symbole,
die doch an den Originalschauplätzen nichts anderes als das Signum der »Arbeit«
und ihrer nachholenden Durchsetzungsgeschichte waren, wie sich am repressiven
Charakter der neuen Regimes schon bald überall zeigen sollte. Als die häßliche,
gänzlich unromantische Seite der nachholenden Modernisierung und etatistischen
»Inwertsetzung« in der Dritten Welt zum Vorschein kam, suchte die 68er
Intelligenz heulend Zuflucht im bürgerlichen Mutterschoß des demokratischen
Westens. Das Umlügen der Repressionsform in eine Befreiungsform kann im Westen
nur bei der liberalen Marktfreiheit des individualisierten Konkurrenzsubjekts
enden.
1968 warf sich ein Cohn-Bendit in die Brust, er und seinesgleichen
könnten sich souverän als antiautoritäre Linksradikale der Marktgesetze
bedienen: »Warum sind wir auf den Vorschlag eingegangen, dieses Buch zu
schreiben? Um den Spieß umzudrehen, die Marktgesetze dieser Gesellschaft gegen
sie selbst zu kehren und endlich auszusprechen, was schon lange ... hätte gesagt
werden müssen« (a.a.O., S. 12). Das war damals wohl mit schiefem Blick auf
mögliche moralisierende Anwürfe gesagt, Cohn-Bendit hätte sich an bürgerliche
Verleger verkauft. Natürlich wäre es albern, die Möglichkeit zu verweigern, mit
antibürgerlichen Inhalten in die bürgerliche Zirkulation hineinzukommen. Denn
die Zirkulation ist in der bürgerlichen Gesellschaft, in der selbst die Liebe
Warenform annimmt, die einzige Vermittlungsweise, in der sich Ideen schnell und
weit verbreiten können. Aber das Problem ist, ob die Ideen überhaupt einen
harten antibürgerlichen Kern besitzen und ob sie sich mit einer Praxis
vermitteln können, die über das System der totalisierten Warenform hinausgeht.
In dieser Hinsicht war die Bewegung von 1968 butterweich. Deswegen ist
Cohn-Bendit heute ein historischer Idiot der Marktwirtschaft; und bekanntlich
nicht er allein.
Der grüne Allerweltsdemokrat meint im beschaulichen
Rückblick, 1968 sei »die letzte Revolution gewesen, die noch nichts vom Ozonloch
wußte«. Mit Blick auf die soziale Physiognomie von ihm und seinesgleichen können
wir sagen, 1968 war die letzte Revolution, die noch verbeamtet werden konnte.
Ja, der Pariser Mai war das unwiderruflich letzte Gefecht der
bürgerlich-proletarischen Revolution in der Moderne, der letzte Schnaufer eines
asthmatisch gewordenen Jakobinismus, das letzte Gefecht des
Geldverdiener-Bewußtseins, das noch in revolutionären Kostümen ausgetragen
werden konnte. Mit dieser Revolution ist es aus, weil sie ihr immanentes Ziel
längst überschritten hat. Die warenförmigen Revolutionen, die jetzt noch
ausgerufen werden, finden nur noch in den Werbetexten eines Gaga-Konsumerismus
statt. Die politische Revolution war der Weg des Fetischismus, das Resultat ist
nicht romantisch. Der urbane Konsumdepp und Marktlückenforscher hat gesiegt,
über den Preis reden wir später.
Vielleicht klingt das alles ziemlich
ungerecht gegenüber dem Pariser Mai, der doch noch gar nichts davon wissen
konnte, wo seine Protagonisten enden würden. Das ist nur halb richtig, also
falsch. Der Pariser Mai hatte durchaus ein gewisses Bewußtsein davon, daß er
sich das verbotene Zimmer letzten Endes auch selber verbietet. Nicht nur der
Pariser Mai im unmittelbaren Sinne, sondern die antiautoritäre Bewegung
insgesamt. Deswegen schlug sie auch so schnell in Autoritätsgläubigkeit um,
zuerst in eine sozialdemokratische oder bolschewistische (auch wenn letztere
bloß ein historisches Faschingskostüm war), dann in eine bedingungslose
Unterwerfung unter die »Autorität« der subjektlosen Marktgesetze. Der
unerkannten Herrschaftsform der Demokratie, deren Name schon die
Selbstrepression beinhaltet, hatte man ja bereits in der antiautoritären Phase
gehuldigt. Insofern ist es gar nicht so überraschend, daß die »neuen
Philosophen« à la Glucksman schließlich einen enthistorisierten westlichen
Kapitalismus in seichten Propagandaschriften besangen, die eine »Philosophie« zu
nennen immerhin dreist ist; ebensowenig wie es überraschend ist, daß die
Cohn-Bendit und Konsorten heute Teil der politischen Klasse sind, die sie einst
bekämpft hatten.
Es steckte eben doch ein harter kleinbürgerlicher Kern in
dieser revoltierenden Mittelstandsjugend, und natürlich in den Arbeitern
sowieso. Die »petit bourgeois«, das sind nun einmal alle, die sich selber als
eine Art Bauchladen begreifen und die sich nicht vorstellen können, daß das
Kaufen und Sichverkaufen jemals aufhören wird; also zunächst einmal buchstäblich
alle. Daß der »Bourgeois« in der kapitalistisch totalisierten Warenform als
solcher steckt, davon wollten auch die Barrikadenkämpfer von 1968 nichts wissen.
Das war nicht bloße Unkenntnis oder Nichtwissenkönnen, sondern ein bewußtes
Absehen von der Möglichkeit, über die Aufhebung der warenförmigen Beziehungen
konkrete Aussagen zu machen und praktische, einsehbare Vermittlungsschritte
anzugeben. Und es war auch nicht bloß ein Bewußtsein davon, daß die Arbeiter
diesen »ungeheuerlichen« Gedanken ablehnen würden; denn das hätten sie mit
Sicherheit (auch die Fabrikbesetzer). Trotz aller romantischen Rhetorik gegen
die »Arbeit« und für den Strand unter dem Pflaster galt in den meisten Köpfen
von 1968 ungebrochen das eherne Gesetz des Geldes. Insofern war die
gewerkschaftliche Beschränkung eine allgemeine. Was zumal in Deutschland aus dem
französischen Impuls wurde, sagt die sinnlose Zusammensetzung des Namens einer
ehemals antiautoritär-linksradikalen Frankfurter Zeitschrift, die sich
»Pflasterstrand« nannte; nicht zufällig ging aus diesem Verein die zentrale
Fraktion der grünen Realos und »urbanen« Marktwirtschaftsfreunde
hervor.
Nein, die bewußte Negation des Gedankens, mit der Kritik und
praktischen Aufhebung des Warenfetischismus Ernst zu machen, ist ja schon damals
zum Prinzip erhoben und ideologisiert worden. Wir wissen doch, daß der gesamte
neuere Linksradikalismus, der von den marxistisch gemauserten Existentialisten
und von der Kritischen Theorie herkam, ein Bilderverbot für das Ziel einer
nichtkapitalistischen Gesellschaft und einer »selbstorganisierten« Reproduktion
ausgesprochen hat. In Wahrheit ist diese bewußt leere Negation ein Selbstschutz
des bürgerlichen Bewußtseins gegen die möglichen Konsequenzen seiner eigenen
Gesellschaftskritik. Eine ökonomische Bestimmung nicht-warenförmiger
Reproduktion gibt es bis heute auch deshalb nicht, weil der Linksradikalismus in
allen seinen Varianten, in der kraftmeierischen ebenso wie in der
schöngeistigen, sich selber diese Aufgabenstellung bewußt verboten hat.
Ausgerechnet im Namen der Selbstbestimmung und der Selbstorganisation der
revolutionären Bewegung, deren glorreiche Praxis nicht im vorhinein theoretisch
geschurigelt werden dürfe! Selten hat es eine billigere Ausrede in der
Geschichte der sozialen Ideen gegeben.
Wahrscheinlich hätte es den
Selbstdarstellern nicht in den großen revolutionären Gestus gepaßt, einfache
ökonomische Bestimmungen und womöglich praktische Ansätze einer Entkoppelung von
Markt und Staat zu entwickeln; das wäre ihnen zu klein und zu langfristig
erschienen, irgendwie zu »weiblich« vielleicht, weil nicht unbedingt mit der
weit ausholenden lateinamerikanischen Guerilla-Gebärde vermittelbar (Frauen
machen immer etwas Unbedeutendes, Nicht-Glorreiches in den Augen der glorreichen
Revolverhelden von Theorie und Politik). Obwohl selbst ein kleiner Schritt der
Entkoppelung von der Warenform bereits zum Konflikt mit der verrechtlichten
bürgerlichen Reproduktionsstruktur führen müßte und damit ein Guerilla-Moment
enthielte – freilich in einer ganz anderen Art und Weise, als es sich die
Heldenspieler von 1968 und ihre ideologischen Nachfahren vorstellen
wollten.
Die ewigen und ewig verwegen dreinschauenden Trenchcoat-Jünglinge
mit der ewigen Zigarette im Mundwinkel, die den Begriff der sozialen
Emanzipation ewig als Zweig der Literatur mißverstehen; die kleinen Dantons und
Mirabeaus vor den Mikrofonen, die eine Chance wittern; die stoppelbärtigen,
lederbejackten Emiliano-Zapata-Attrappen, die für gefährlich gelten und in
irgendwelchen großbürgerlichen Salons herumgereicht werden möchten; die
himmelstürmenden Doktoranden, die doch nur habilitieren wollen: Das alles sind
Masken der bürgerlichen Revolutionen und Revolutiönchen, die irgendwann als
Klamottenteil der Herbstmode gezeigt werden. 1968 ff. wußten ihre Träger bloß
noch nicht, ob sie mit der Utopie und dem »ganz Anderen« als ersten Sprossen der
Karriereleiter nun bürgerliche Literaten, Professoren oder Politiker werden
wollten.
Die Arbeiter in den besetzten Fabriken bekamen also erst 15 Jahre
später, als sie die Frage längst vergessen hatten, eine Antwort auf das
ökonomische Problem eines »antiautoritären Sozialismus«: Selbstverwaltete
Betriebe sollten als Marktteilnehmer ihr Geld »alternativ« verdienen, so die
Köpfe der Alternativbewegung. Das »ganz Andere« sah da schon ziemlich
trübselig-kleinbürgerlich aus. Wir wissen auch, was daraus geworden ist. In
Deutschland gab es ohnehin nicht einmal 1968 besetzte Fabriken; denn hierzulande
wurden die Agitatoren der antiautoritären Bewegung vor den Fabrikstoren von den
fanatischen Gläubigen des gerade zu Ende gehenden Wirtschaftswunders eher
verprügelt. Deshalb konnte die mittelständische Revolutions-Farce hier ganz ohne
Risiken aufgeführt werden, wenn auch nicht ohne Nebenwirkungen eines
marktwirtschaftlichen Modernisierungsschubs, auf die man heute peinlicherweise
auch noch stolz ist.
»Trotz alledem und alledem«: Die Ausstrahlungskraft des
Pariser Mai bestand darin, daß das verbotene Zimmer einen Moment lang offen war.
Oder wenigstens offen zu sein schien, wer weiß das schon so genau; denn richtig
hingesehen hat ja niemand. Und längst ist man heilfroh, daß man nicht so genau
hingeschaut hat, geschweige denn hineingegangen ist, denn das wäre ja furchtbar
gewesen. Die Verwertung des Geldes als totale Reproduktionsform, so heißt es
heute, sei »alternativlos«. Das haben auch die Gewerkschaften in der ganzen Welt
gefressen, die sich endlich nicht mehr vor ihrer eigenen unbestimmten Idee der
sozialen Emanzipation fürchten müssen. Und so soll es auch bleiben. Auch die
ambitiösen Trenchcoat- Jüngelchen sitzen immer noch in den Cafés, aber jetzt
haben sie nicht einmal mehr literarische Träume.
Das Elend des Pariser
Dezember
Welcher Pariser Dezember?, so ist man versucht zu fragen,
weil man sich daran fast so schwer erinnern kann wie z.B. an den Namen des
FDP-Vorsitzenden. Der Pariser Dezember 1995, erst wenige Wochen zurückliegend
(ich schreibe dies Anfang Februar 1996) ist nicht zum Begriff geworden wie der
Pariser Mai; er wird nicht einmal eine kleine Leuchtspur in der Geschichte
zurücklassen. Und das liegt keineswegs bloß an den unterschiedlichen
Temperaturen dieser beiden Monate. Zur Erinnerung also: Im Dezember 1995 war
Frankreich für einige Wochen scheinbar fast so stark erschüttert wie im Mai
1968. Es gab freilich keine Betriebsbesetzungen, und auch der Generalstreik war
nur ein indirekter: Durch den Ausstand bei den öffentlichen Verkehrsmitteln
wurden nahezu alle anderen Bereiche lahmgelegt.
Der Anlaß für die Streiks war
ein partikularer, die Ursache dagegen eine gesellschaftlich-allgemeine. Die
Regierung von Ministerpräsident Juppé plante, nichts Ungewöhnliches in der
gegenwärtigen Welt, »harte Einschnitte« im Interesse eines finanziell
schlankeren Staates: eine restriktive Sanierung der Eisenbahn und eine
restriktive Reform der Sozial- und Krankenversicherung im öffentlichen Dienst.
Oberflächlich gesehen handelte es sich zumindest teilweise um den Abbau von
(allerdings eher bescheidenen) Privilegien der Staatsangestellten. Normalerweise
kann ein derart korporativistisch beschränktes Interesse sich nicht zur Höhe der
gesellschaftlichen Allgemeinheit aufschwingen; und zumal ein Streik im
öffentlichen Dienst, der fühlbar das tägliche Leben belastet, zerrt oft schnell
an den Nerven einer Bevölkerung, die in den Spezialinteressen der
Staatsangestellten nicht ihre eigenen wiedererkennt. Dieser Effekt ist schon oft
einer Regierung im sozialen Konflikt mit ihren Staatsdienern zu Hilfe gekommen;
und offensichtlich hoffte auch Juppé, auf einer solchen Stimmungswelle gegen die
Streiks reiten zu können.
Dieses Kalkül ist gründlich danebengegangen. Das
korporativistische Moment des Streiks wurde rasch überspült von einem
allgemeinen sozialen Protest, der weit über den spezifischen Anlaß
hinausreichte. Nicht nur die unmittelbar Streikenden gingen auf die Straße,
sondern Hunderttausende von Sympathisanten. In vielen Stimmungsberichten war von
einer »Explosion der sozialen Gefühle« die Rede, von einem plötzlich erwachenden
Geist der Solidarität, einem Entdecken der Improvisationskunst und einer
Menschenkameradschaft wie sonst nur noch bei Feuersbrünsten und
Naturkatastrophen. Eine Art soziales Marienwunder mitten in der Wüste der
marktwirtschaftlichen Individualisierung und Entsolidarisierung? Ein
erzreaktionärer deutscher Beobachter aus der Abteilung Adel und Banken, Thankmar
von Münchhausen, wunderte sich in der einschlägigen »Zeitung für Deutschland«:
»Keine demokratische Regierung dürfte den Franzosen Entbehrungen zumuten, wie es
die Gewerkschaften nunmehr fast drei Wochen Tag für Tag tun. Jede bescheidene
Klage über die Auswirkungen – über Schlafmangel oder entgangene Geschäfts- und
Lebenschancen – beginnt mit der Versicherung, daß man für die Forderungen der
Streikenden ja viel Verständnis habe. Das Streikrecht wird auch bei den
Monopolbetrieben des Staates von niemandem in Frage gestellt. Hört man die
resignierten Stimmen, so könnte man meinen, die Staatsangestellten streikten
nicht selbstsüchtig gegen die Allgemeinheit, sondern stellvertretend für alle«
(FAZ, 13. Dezember 1995).
Ungewollt trafen gereizte, von einer
antisozial-konservativen Journaille abgesonderte Kommentare wie dieser den Nagel
auf den Kopf: Der Pariser Dezemberstreik fand deshalb so viel Unterstützung,
weil die Streikenden tatsächlich, und sogar ziemlich bewußt, stellvertretend für
alle Lohnabhängigen in den Ring traten. Nur vordergründig ging es um die Renten
der Eisenbahner oder um die Krankenversicherung der Staatsangestellten: In
Wirklichkeit war der neoliberale Konsens der Eliten die Zielscheibe des
Protestes. Es waren jene aufreizenden Worte von der »Unvermeidlichkeit« des
sogenannten Sozialabbaus, vom Ende des angeblichen »toujours plus« (des »immer
mehr«) und von der »notwendigen Einsicht« etc., die den französischen Massen die
Galle hochsteigen ließ. Und völlig zu recht. Alle wissen doch längst, daß das
soziale Schlachtfest ein allgemeines und das Messer für den eigenen Hals schon
gewetzt ist. Die bodenlose Unverschämtheit der marktwirtschaftlichen Eliten geht
heute ja so weit, und nicht nur in Frankreich, daß sie den sozialen Bankrott
ihres Systems als hinzunehmende Naturgesetzlichkeit verkaufen wollen, an deren
Gang die Menschen sich »anpassen« müßten. Das eigentliche soziale Marienwunder
besteht darin, daß die Eliten in der ganzen Welt für diese Frechheit nicht schon
längst aufgehängt worden sind. Aber während die deutschen Lohnarbeiter sich im
Namen der sogenannten Marktgesetze auch noch dankend die Hosen ausziehen lassen,
scheinen die Franzosen wenigstens den Anstand zu besitzen, sich ihrer
gewaltsamen Entblößung zu widersetzen.
Ein zusätzliches Motiv mag der plumpe
Wahlbetrug von Jacques Chirac gewesen sein, auf den allerdings auch die
Franzosen wider besseres Wissen hereingefallen sind, weil sie sich wie alle
marktwirtschaftlich verhexten Menschen unbedingt betrügen lassen wollten. Es war
der sozialistische Präsident Mitterand, seinerseits längst zum Denkmal mutiert,
also sprachlos und ideenlos wie Stein, der unter dem Druck der
marktwirtschaftlich-kapitalistischen »Systemgesetze« mit den sozialen
Restriktionen begonnen hatte; ähnlich wie schon vorher das deutsche Denkmal
Helmut Schmidt jenen »Sozialabbau« auf den Weg gebracht hatte, den dann die
Kohl-Administration so erfolgreich fortsetzen sollte. In Erwägung, daß das
Gedächtnis der Markt-Menschen extrem kurz ist, kam der um die Nachfolge
Mitterands kämpfende konservative Kandidat Chirac im Herbst 1994 auf die
bauernschlaue Idee, sich als eine Art Linkspopulist zu profilieren, der das
soziale Frankreich gegen die neoliberalen Exzesse der pro-europäischen
Sozialisten zu verteidigen gedenke.
Gestützt auf eine »note« von Emmanuel
Todd, einem Mitarbeiter der akademischen Fondation Saint-Simon, ließ sich Chirac
zu sozialen Versprechungen hinreißen. Nach Todd decken sich die sozialen
Konfliktlinien nicht mehr mit den politischen; und das bedeutet, daß zumindest
propagandistisch Sozialpolitik und Konservatismus fast wie einst bei Bismarck
zusammengehen könnten, während die progressistische und internationalistische,
aber marktwirtschaftlich eingebundene sozialdemokratische Ideologie sich bei den
Unterschichten blamieren muß. Der Denkfehler war allerdings, daß Chirac real
keinen sozialpolitischen Spielraum mehr besaß, im Unterschied zu Bismarck,
sondern unter dem Druck der EU bzw. der anvisierten Europäischen Währungsunion
und unter dem Druck der Weltmärkte sehr schnell (zu schnell sogar für das
marktwirtschaftliche Kurzzeitgedächtnis) zu brutalen Restriktionen und damit zum
offenen Bruch seiner taktischen Wahlversprechen überzugehen genötigt war.
Während aber in Deutschland jedes soziale Wahlversprechen folgenlos gebrochen
werden darf, wird derselbe Vorgang in Frankreich immer noch gnadenlos
bestraft.
Dennoch ist der Pariser Dezember kein Pariser Mai geworden. Eine
Bewegung, die keinen Traum hat, ist keine Bewegung mehr. Der Traum des Pariser
Mai mag einer jener Träume gewesen sein, an die man sich schon während des
Träumens nicht mehr erinnern kann; er mag diffus und inkonsequent gewesen sein,
aber es war dennoch der Traum von einem anderen Leben jenseits des
real-ökonomistischen Stumpfsinns der Marktwirtschaft. Von den einen schwach
utopisch und von den anderen eher verkürzt als eine westlich-demokratische
Variante des »Realsozialismus« gedeutet, war es nur dieser Anflug eines Traums,
der den Pariser Mai historisch und erinnerungswürdig gemacht hat. Dieser Traum,
jeder Traum überhaupt, ging schon damals über das Fassungsvermögen der Partei-
und Gewerkschaftsapparate. Deswegen hofften diese Apparate, zusammen mit dem
Untergang des Staatssozialismus im Osten würde jeder Gedanke an eine
Systemalternative zuschanden werden. Sie hofften, nun pragmatisch das Beste
herausholen zu können jenseits sogenannter dogmatischer oder utopischer und
»unrealistischer« Ideen.
Selten ist der Anti-Traum der westlichen
Apparatschiks grausamer enttäuscht worden. Sie haben nicht begriffen, daß es in
der kapitalistischen Dialektik nur die Existenz des transformatorischen Traums
von einer grundsätzlich anderen Produktions- und Lebensweise ist, die indirekt
auch ihre eigene Existenzberechtigung ausmacht: sei es als zögernde und
bremsende Hiwis einer antikapitalistischen Zielsetzung und der sozialen
Umwälzung oder (in aller Regel) als bürgerliche Sozialtechniker und im Ernstfall
vielleicht als Hiwis der Repression. Zwischen diesen Polen ist das Feld
gewerkschaftlicher Möglichkeiten angesiedelt, auch im Sinne von sozialen
Reformen und selbst der bloßen Abwehr des »Sozialabbaus«. Seitdem es nur noch
marktwirtschaftsfromme »Realisten« gibt, ist der Pol der radikalen Kritik
verschwunden. Damit aber muß das gesamte Feld der gewerkschaftlichen
Möglichkeiten in sich zusammenfallen. Denn eine einpolige und eindimensionale
Handlungsfähigkeit gibt es nicht.
Wenn die Gewerkschaften nicht mehr ein
Bewußtsein repräsentieren, das trotz der verinnerlichten kapitalistischen
Verkehrsform ein Moment der Systemtranszendenz behält, dann verlieren sie ihre
Existenzberechtigung überhaupt. In demselben Maße, wie ihre ideelle Legitimation
deckungsgleich mit dem herrschenden System wird, tendiert ihr Spielraum gegen
Null. Die auch nur partielle Aufhebung der Konkurrenz unter den Lohnarbeitern,
wie sie die Gewerkschaften darstellen, ist nämlich nicht möglich ohne ein Moment
grundsätzlicher Systemkritik und damit der (wenn auch unausgesprochenen) Option
der praktischen Systemaufhebung als letztes Faustpfand. Entfällt diese Option
völlig und selbst als vage Idee, dann werden die Gewerkschaften absolut mit den
»Gesetzen der Marktwirtschaft« erpreßbar, können also keinen nennenswerten
Vorteil mehr für ihre Mitglieder sinnfällig machen. Gleichzeitig werden sie auch
als Puffer des Kapitalismus gegen die Eskalation sozialer Bewegungen
überflüssig. Auf diese Weise setzt sich logischerweise die ungehemmte
individuelle Konkurrenz unter den Besitzern der Ware Arbeitskraft durch. Die
Konsequenz kann nur die allmähliche Selbstauflösung der Gewerkschaften sein, wie
sie sich schon längst durch einen unaufhaltsamen Mitgliederschwund andeutet. Als
soziale Instanz der kapitalistischen Gesellschaft bleibt dann, von caritativen
Institutionen wie der Bahnhofsmission und der Heilsarmee abgesehen, einzig und
allein noch die staatliche Arbeits- und Armutsverwaltung übrig.
Die bleierne
Traumlosigkeit der westlichen Gesellschaften nach dem Ende der bisherigen
(altmarxistischen) Kapitalismuskritik führt auch zum Untergang der
Gewerkschaften. Die ohnehin traumlosen Funktionäre haben vergessen, daß sie nur
als Verwalter eines vergangenen und längst eingesargten Traums der sozialen
Emanzipation existieren konnten. Sie haben vergessen, daß selbst der seichteste
Reformismus innerhalb des kapitalistischen Systems immer einer Legitimation
bedarf, die nicht aus den Systemkriterien selbst ableitbar ist und ein Moment
der Nichtübereinstimmung braucht. Der Verlust jeder transzendierenden Idee führt
den gewerkschaftlichen Reformismus in eine hoffnungslose historische Defensive.
Statt von ideologischem Ballast befreit strategisch offener operieren zu können,
verfallen die legitimatorisch wehrlos gewordenen Gewerkschaften der
strategischen Paralyse. Und statt pragmatisch-selbstsicher verhandeln zu können,
werden sie von ihren »Sozialpartnern«, die den Vorteil wittern, gnadenlos
niedergemacht.
Gewiß kann diese Lage nicht in die alten Kategorien des
Klassenkampfs rückübersetzt werden, wonach dann »die Kapitalistenklasse« und
»ihr Staat« siegreich auf dem strategischen Vormarsch wären. Der Vorteil, den
die Konzernspitzen und Unternehmerverbände aus dem strategischen Desaster der
Gewerkschaften ziehen, beschränkt sich auf das bornierte betriebswirtschaftliche
Kalkül und läßt jeden Blick auf die gesamtgesellschaftliche Entwicklung
vermissen. Zwar gehört es zur Natur des Kapitals als Form der gesellschaftlichen
Reproduktion, daß es von Haus aus nur die Summe partikularistisch bornierter
Interessen-Handlungen darstellt, die eine blinde und subjektlose Resultante
hervorbringen; dennoch war das unternehmerische Interesse für die
gesamtgesellschaftliche Zukunft niemals so gering wie heute. Das geradezu
hemmungslose Wahrnehmen des historisch unverhofften Vorteils und die sozialen
»Machtproben«, auf die man es inzwischen tagtäglich ankommen läßt, all dies hat
etwas Selbstmörderisches an sich, weil jede Reflexion auf die zukünftigen
Verwertungsbedingungen des Kapitals selber fehlt.
Das wird noch deutlicher,
wenn man die staatliche Seite (unabhängig von der parteipolitischen Couleur)
betrachtet. Der Sozialabbau folgt den blinden Zwängen rückläufiger
Wachstumsraten, steigender Massenarbeitslosigkeit, sinkender Staatseinnahmen und
steigender Staatsverschuldung, ohne daß eine andere lenkende Instanz als die
berüchtigte »invisible hand« zu vermuten wäre. Mit anderen Worten: Sozialabbau,
soziale Machtproben »von oben«, Lohnsenkung usw. folgen nicht aus einem »großen
Plan« des Kapitals oder des Staates. Es gibt keinen weitreichenden
politisch-strategischen Willen, der hinter den antisozialen Maßnahmen erkennbar
wäre, weder in Frankreich noch anderswo. Selbst der neoliberale ideologische
Konsens der Eliten ist nur noch das Resultat eines Pawlowschen Reflexes auf die
Signale des irrwitzig vor sich hinprozessierenden Marktes.
Gerade deswegen
aber laufen die Proteste ins Leere. Denn die Protestierenden haben ja selber die
verückt spielende totale Marktwirtschaft als »alternativlos« anerkannt und
hinsichtlich der Systemgesetze längst bedingungslos kapituliert. Wenn ihnen
jetzt kein bloß strategischer sozialer Wille mehr entgegentritt, dem man mit
einer systemimmanenten Gegenstrategie etwas abtrotzen könnte, sondern die
strategielose pure Vollstreckung der Systemgesetzlichkeit selbst, dann dürften
sie sich eigentlich nicht beschweren. Der alte Klassenkampf um Geldlohn,
Arbeitsbedingungen, soziale Reformen etc. setzte nicht nur das
warenproduzierende System, sondern auch dessen objektive soziale
Reproduktionsfähigkeit voraus. Selbst die implizite Drohung mit der
(staatssozialistischen) Systemalternative war ja weit davon entfernt, die
Kategorien der modernen Warenproduktion zu transzendieren. Jetzt wird es immer
deutlicher, daß das Ende des staatssozialistischen Traums einhergeht mit dem
Ende der sozialen Reproduktionsfähigkeit aller warenproduzierenden Systeme
überhaupt, d.h. auch der westlichen Variante.
Der gewerkschaftliche Protest
wird damit gleich doppelt unglaubwürdig. Er kann den erloschenen
staatssozialistischen Traum nicht mehr als impliziten Katalysator benutzen,
während gleichzeitig weder in den Apparaten noch im Massenbewußtsein eine andere
Systemalternative auch nur im Ansatz ernsthaft erwogen wird; in Frankreich will
man sich auch an die situationistische Leuchtspur nicht erinnern. Dennoch sehen
sich die Gewerkschaften genötigt, auf die zunehmende (uneingestandene)
Reproduktions-Unfähigkeit des Systems zu reagieren. Sie müssen also eine Art
Klassenkampf führen, aber paradoxerweise ohne klassenkämpferischen Bezug. Sie
müssen die Systemgesetze vorbehaltlos bejahen und gleichzeitig Maßnahmen gegen
die Systemgesetze verlangen (die dann natürlich nicht so genannt werden dürfen).
Während der Traum eines anderen, nicht mehr marktwirtschaftlichen Produzierens
und Lebens viel weiter weg als 1968 und praktisch nicht existent ist, sind
gleichzeitig die absoluten, objektivierten Grenzen des warenproduzierenden
Systems viel näher gerückt als 1968. Früher gab es einen kleinen Traum, während
der systemimmanente Spielraum groß war; jetzt bedürfte es eines großen Traums,
um auch nur einigermaßen anständig überleben zu können. Schlechte Karten für
Realisten.
Der Pariser Dezember, um zu diesem zurückzukehren, hat die
desolate Konfliktlage der Gewerkschaften und der sozialen Protestbewegung
überhaupt in mindestens drei Punkten exemplarisch gezeigt. Erstens trat die
Bewegung von vornherein nicht mehr mit eigenen positiven Forderungen auf.
Vielleicht zum erstenmal in der Geschichte der modernen sozialen Bewegungen
waren die Triebkräfte und Beweggründe auf den kläglichen Wunsch
zusammengeschrumpft, daß es doch um Gotteswillen irgendwie so weitergehen möge
wie bisher. Auch insofern wird die Grenze der kapitalistischen Systementwicklung
sichtbar: Noch jeder qualitative Wachstumsschub der letzten 200 Jahre hatte
sowohl immanente politische und soziale Programmforderungen als auch
überschießende utopische Momente seitens der »progressiven« sozialen Bewegung
hervorgebracht; die blanke Verteidigung des status quo stempelt dagegen heute
das letzte soziale Aufbegehren der Gewerkschaften zu einem im Wortsinne
konservativen, ja vielleicht sogar reaktionären Impuls. Nichts könnte deutlicher
machen, daß die Gewerkschaften eine gesellschaftliche Kraft sind, die in ihrer
tradierten Gestalt keine Zukunft mehr hat, weil sie keine Zukunft mehr
formulieren kann.
Wenn auf diese Weise die Gewerkschaften plötzlich als
konservative, bloß noch passiv beharrende soziale Rückzugsarmee erscheinen, dann
darf es kaum verwundern, daß umgekehrt Kapitalmanagement und Regierung sich aus
demselben Grund in die progressive Pose werfen. Fast in situationistischer
Manier haben sie den Gewerkschaften den Begriff der Reform »entwendet«; die
»Entwendung« war ein Ausdruck der Situationisten, mit dem sie eine raffinierte
Umcodierung der herrschenden Codes, Muster und Verhaltensweisen bezeichnen
wollten. Jetzt hat der herrschende Neoliberalismus/Neokonservatismus seinerseits
den Begriff der Reform raffiniert umcodiert und aus einem Inbegriff des sozialen
Fortschritts in einen höhnischen Terminus der sozialen Destruktion verwandelt.
Die Gewerkschaften haben ihren Anteil an der Definitionsmacht über die
gesellschaftspolitische Richtung verloren. Sie müssen sich jetzt anhören, daß
sie den »notwendigen Reformen« im Wege stünden oder sogar »reformunfähig« seien.
Es nützt gar nichts, die ursprüngliche Codierung des Begriffs »Reform« einklagen
zu wollen und z.B. festzustellen, daß damit jetzt nur noch eine unverschämte
Rückkehr in den Frühkapitalismus gemeint ist. Diese neue Konnotation des
Begriffs »Reform« ergibt sich aus den objektivierten Verlaufsformen der
Marktwirtschaft selbst, die als solche auch von den Gewerkschaften nicht einmal
mehr »im Traum« in Frage gestellt wird.
Zweitens disqualifiziert sich der
wieder einmal bemühte Begriff der Solidarität dann automatisch selbst, wenn er
nur noch für das kleinmütige Sichfestkrallen an dennoch objektiv vergehenden
sozialen Gratifikationen der Marktwirtschaft instrumentalisiert wird. Denn unter
den heute gegebenen Bedingungen schließt das Verlangen, es möge irgendwie so
weitergehen wie bisher, von vornherein die stumme Entsolidarisierung mit all
denen ein, die bereits längst »draußen« sind: ob in der ehemaligen Dritten Welt,
in der europäischen Peripherie oder im eigenen Land. Sicherlich waren
gewerkschaftliche Forderungen schon immer ihrem Wesen nach unmittelbar ein
Ausdruck partikularer Sonderinteressen, und sie konnten schon immer auch rein
defensiven Charakter tragen. Aber in der Vergangenheit der noch im Aufstieg
begriffenen Modernisierungsgeschichte war selbst der Kampf für das
beschränkteste Sonderinteresse und Teilziel in das Licht einer allgemeinen,
übergreifenden Idee sozialer Emanzipation getaucht, die wenigstens indirekt und
vermittelt einen Zusammenhang sozialer Bewegung über den unmittelbaren Anlaß
hinaus herstellte und uneingeschränkte »Solidarisierung« ermöglichte. Genau
deswegen konnte auch eine für sich genommen rein defensive Forderung dennoch in
einem historisch offensiven strategischen Kontext stehen.
Zusammen mit der
bedingungslosen Anerkennung der Marktwirtschaft ist aber das strategische Moment
des gewerkschaftlichen Handelns völlig verschwunden, und die defensiven
Abwehrkämpfe können nicht mehr eine Taktik in einem größeren Zusammenhang
sozialer Emanzipation genannt werden. Damit wird der Ausschluß derer, die von
der defensiven Forderung nicht mitgetragen werden, ein absoluter. Die
Solidarität gilt dann nur noch in bezug auf all diejenigen, die noch nicht
»draußen« sind. Insofern haben die streikenden Eisenbahner und
Staatsangestellten des Pariser Dezember strenggenommen nicht wirklich für alle
stellvertretend gekämpft, sondern nur für den marktwirtschaftlich momentan noch
reproduzierbaren Teil der französischen Lohnarbeiter, der sich dagegen sträubt,
in die Masse der bereits Ausgestoßenen hinabgeworfen zu werden, für die es keine
Solidarität mehr gibt. Das wurde sogar institutionell deutlich, als Juppé am 21.
Dezember im Regierungssitz Hôtel Matignon einen »therapeutischen Sozialgipfel«
einberief: »Fast unbemerkt von der Öffentlichkeit hatten ... die Vereinigungen
der sogenannten Rechtlosen (Obdachlose, Arbeits-lose und sonstwie sozial
Ausgeschlossene), die fünf Millionen Personen vertreten wollen, vergeblich einen
Sitz am Verhandlungstisch gefordert« (Neue Zürcher Zeitung vom
22.12.95).
Selbst wenn ein Teil dieser Organisationen und Vereinigungen bloß
caritative Anliegen und zweifelhafte Ideologien vertreten sollte (die auch nicht
zweifelhafter als die marktwirtschaftlichen Anpassungs-Ideologien sein können),
so ist doch ihre bloße Existenz ein Beweis für die Unfähigkeit der Parteien und
Gewerkschaften, auf die soziale Misere der Ausgestoßenen anders als mit
unverbindlich moralisierenden Phrasen zu reagieren. Der Mangel an Systemkritik
erweist sich als identisch mit der Unfähigkeit, eine wachsende Masse von
»herausfallenden« Menschen sozial repräsentieren zu können. Mag daher auch im
Pariser Dezember eine Aufwallung der sozialen Gefühle stattgefunden haben, so
enthielt diese Solidarisierung dennoch ein großes Maß an sozialer Heuchelei. Die
korporatistische Beschränkung der Staatsangestellten wurde bloß zugunsten einer
Meta-Korporation, eines Kartells der Noch-Beschäftigten und Noch-Berechtigten
transzendiert; es war die Pseudo-Solidarität der sozialen Apartheid. Nur eine
uneingeschränkte Solidarität, die nach dem Motto »Alle oder niemand« handelt,
verdient diesen Namen. Wenn die Gewerkschaften kaum mehr als eine organisierte
Gang darstellen, die den Zugang zu den Rettungsbooten ohne Rücksicht auf die
Schwachen und Unglücklichen für sich selbst verteidigt, dann wird »Solidarität«
zu einer perversen Sekundärtugend, die ihr eigenes Gegenteil
einschließt.
Drittens schließlich zeigte der Pariser Dezember seine
historische Nichtigkeit dadurch, daß er bar jeden intellektuellen Ausdrucks,
also völlig theorielos war. Beim 18. Kongreß der Gewerkschaft Force ouvrière
(FO), die neben der bekannteren KPF-nahen CGT den Kampf im Dezember wesentlich
mitgetragen hatte, räumte zwei Monate nach den Streiks der Generalsekretär Marc
Blondel ein, »es habe kein Überfluß an Ideen geherrscht« (Neue Zürcher Zeitung
vom 2.3.1996). Das ist nur logisch: Wenn es keinen Traum einer anderen
Produktions- und Lebensweise, also auch keine Systemkritik mehr gibt, welche
sozialen und ökonomischen Ideen sollte es dann noch geben, die nicht schon
tausendmal ausgelutscht und bis zur Lächerlichkeit unglaubwürdig wären? Vor
allem dann, wenn auch die Gegenseite keiner Idee (d.h. keinem bewußten
»Gestaltungs«- und Regulationsanspruch) mehr folgt, es sei denn, man wollte die
neoliberale Propaganda für die bedingungslos Vollstreckung der subjektlosen
Pseudo-»Naturgesetze« des Marktes eine »Idee« nennen.
Das ist natürlich nicht
die Schuld allein der Gewerkschaften. Sie brauchen sich gar nicht zu sperren
gegen eine neue systemkritische Theorie, weil eine solche nicht existiert im
öffentlichen Raum. Was schon seit Ende der 70er Jahre absehbar war und nach dem
Epochenbruch von 1989 manifest wurde, hat sich im Pariser Dezember zum ersten
Mal anhand einer konkreten Konfliktsituation in seiner ganzen Erbärmlichkeit
gezeigt: An die Stelle des verblichenen Arbeiterbewegungs-Marxismus in seinen
verschiedenen Spielarten ist weder bei den führenden Intellektuellen noch bei
der akademischen Jugend auch nur der Schimmer einer neuen kritischen
Gesellschaftstheorie getreten. Der Marxismus wurde nicht der
weltgesellschaftlichen Entwicklung entsprechend transformiert, sondern nur
verscharrt. An die Stelle einer obsolet gewordenen Gestalt der kritischen
Theorie trat die Abwesenheit von Theorie überhaupt. Für die Akzeptanz des
Marktes braucht man allerdings weder eine kritische noch überhaupt eine Theorie.
Stattdessen sind die sogenannten Gesellschafts- und Geisteswissenschaften in
eine Art sinnloses Plappern verfallen. Die Kritik der politischen Ökonomie ist
in Frankreich ebenso wie in Deutschland und anderswo so vollständig aus den
Köpfen und aus dem gesellschaftlichen Diskurs verschwunden, als hätte sie
niemals existiert.
So kamen im Unterschied zum Mai 68 auch keinerlei ideelle,
systemkritische Impulse von den französischen Studenten. Zwar gab es parallel
zur Auseinandersetzung um den öffentlichen Dienst im November 95 sogar einen
landesweiten Ausstand der Studenten für bessere Studienbedingungen: »An über 30
Universitäten ruht der Lehrbetrieb« (Frankfurter Rundschau vom 29.11.1995). Aber
dieser Studentenstreik hatte nicht die Qualität einer ideell flankierten
Studentenbewegung, sondern war genauso kopflos und theorielos wie der Streik der
Staatsangestellten. Jugendliche, die nichts weiter wollen als eine
Chancenverbesserung im Konkurrenzkampf um idiotische marktwirtschaftliche
Arbeitsplätze, sind natürlich an nichts weniger als an sozialkritischen Ideen
interessiert.
Am vollständigsten war vielleicht die Blamage der ehemaligen
Linksintellektuellen von Rang und Namen. Die falschen Hofsänger des Kapitalismus
vom Schlage Glucksmann u. Co. starrten ebenso blöde und sprachlos auf den
unverhofften, so gar nicht ins Konzept passenden Sozialkonflikt wie die in
seichten Medien- und Diskurs-Diskursen vor sich hinplaudernden Protagonisten der
Postmoderne. Erst nach einer peinlichen Sendepause meldeten sich dann einige
bekannte, alteingesessene Soziologen in zwei gegensätzlichen Manifesten zu Wort;
geschart um die beiden alten Kontrahenten Alain Touraine und Pierre Bourdieu.
Aber welch ein Abstieg gegenüber den Debatten, die vor zwanzig und dreißig
Jahren noch im Kontext des Marxismus geführt worden sind! Nicht daß die
damaligen Inhalte heute noch wegweisend sein könnten; aber der Verlust jedes
intellektuellen Niveaus in den Äußerungen zum Pariser Dezember macht deutlich,
daß sich die ehemaligen Vordenker nur noch gewohnheitsmäßig zu Wort melden und
ihr Denken die realen Widersprüche der Krisengesellschaft am Ende des 20.
Jahrhunderts nicht mehr kritisch formulieren kann.
Der erste niveaulose
Appell wurde im Umkreis der linkskatholischen Zeitschrift Ésprit formuliert und
von Touraine unterzeichnet, der als spiritus rector dieser Intervention gilt.
Der Inhalt läßt sich auf eine schlichte Zustimmung zu den antisozialen
»Reformen« der Regierung Juppé reduzieren, deren »Notwendigkeit« betont wird.
Damit haben sich zum ersten Mal in Frankreich führende Wissenschaftler, die (im
weitesten Sinne) zu den »Linksintellektuellen« gerechnet werden, offen gegen
eine soziale Massenaktion und an die Seite einer konservativen Regierung
gestellt; eine faule Frucht des »Realismus«, die seit langem zu erwarten war und
bis dahin mangels großer Sozialkämpfe nur keine Gelegenheit gehabt hatte, ihre
Reife zu zeigen (es paßt übrigens ins Bild, daß der grüne deutsch-französische
Taschenplauderer Cohn-Bendit in französischen Zeitungen ebenfalls die »Reform«
von Juppé im Kern verteidigt haben soll).
Die Position von Touraine hat
gleichzeitig eine eindeutig nationalistische Schlagseite insofern, als er sich
um die »Konkurrenzfähigkeit Frankreichs« auf dem Weltmarkt Sorgen macht und
fürchtet, der spezifische französische »Sozialkapitalismus«, insbesondere der
öffentliche Sektor, könnte unfähig sein, sich dem objektiven Prozeß der
Globalisierung anzupassen. Die Vokabel der »Anpassung« hat sich also bereits im
ehemals kritischen Diskurs auch in Frankreich breitgemacht. Im Namen der
(vermeintlichen) nationalen Konkurrenzfähigkeit auf den globalisierten Märkten
dürfen die ohnehin schon seit langem immer kümmerlicher gewordenen sozialen
Gratifikationen geopfert werden. Damit hat im Bewußtsein sogar vieler
Linksintellektueller, die hemmungslos zur Marktwirtschaft übergelaufen sind,
eine ideologische Verkehrung stattgefunden. Nicht die »Konkurrenzfähigkeit« soll
der sozialen Reproduktionsfähigkeit dienen, sondern genau umgekehrt: Die soziale
Reproduktion soll nur noch gelten, soweit sie der Konkurrenzfähigkeit
dient.
Leute wie Touraine können sich die Frage gar nicht mehr stellen, was
das System von Markt und Konkurrenz überhaupt noch für einen Sinn haben soll,
wenn es für die Massen keine Gratifikationen mehr abwirft. Waren früher die
Massen der Gott dieser Linken, so bekennen sie sich jetzt ganz unschuldig tuend
zum Gott der »Verwertung des Werts«, jenem Monstrum der Moderne, das als
verrückter Selbstzweck zur Staatsreligion der Demokratie geworden ist. Das
einzige, was Touraine u. Co. am marktwirtschaftlichen Anpassungskurs der
Regierung noch bemängeln, ist die sogenannte »Unsensibilität« von Juppé beim
propagandistischen Verkauf seiner Maßnahmen an die französischen Massen. Diese
Intellektuellen, die zu soziologischen »Fachberatern« einer restriktiven Politik
mutiert sind, beginnen also, die marktwirtschaftliche Illusion zu teilen, daß
Hundescheiße durch eine raffinierte Verpackung als Konfekt verkauft werden
könnte. Gleichzeitig beweisen sie damit, daß sie zu »Akzeptanzforschern«
herabgesunken sind und aufgehört haben, Theoretiker der Gesellschaft zu sein.
Deswegen hieß dieser Appell wohl auch die »Expertenliste«.
Nicht besser sieht
es freilich mit dem Gegenmanifest der Leute um Bourdieu aus. Dieser Appell
schlug sich vorbehaltlos, das heißt aber auch unkritisch, auf die Seite der
Streikenden. Die alte Anbetung der Massen wurde noch einmal zelebriert, aber
ohne transzendierende Idee. Denn die Marktwirtschaft ist letzten Endes für die
Bourdieu-Soziologen genauso »alternativlos« wie für die Touraine-Soziologen.
Damit aber mußte sich der Solidaritäts-Appell von Bourdieu implizit gleichzeitig
als Entsolidarisierungs-Appell erweisen. Blieb diese Entsolidarisierung nach
innen stumm, so wurde sie dafür nach außen umso brutaler deutlich. »Sollen wir
uns Hongkong anpassen?«, so fragte Bourdieu mehr demagogisch als theoretisch.
Der kritische Verweis auf die Kinderarbeit in Hongkong und anderswo ist aber nur
dann berechtigt, wenn er mit einer radikalen Kritik des marktwirtschaftlichen
Systems verbunden werden kann; ohne diesen Zusammenhang verwandelt er sich in
ein heuchlerisches Argument der Konkurrenz kapitalstarker gegen kapitalschwache
Länder.
Tatsächlich ist der »jakobinische« Bourdieu-Appell sogar noch
nationalistischer als der »pragmatische« Touraine-Appell. Er appelliert
hauptsächlich an die nationale Tradition der Französischen Revolution, die im
Sinne »sozialer Gleichheit« interpretiert wird – ein abgeschabter alter Hut.
Sicherlich war auch schon der alte Sozialismus nationalökonomisch und
nationalstaatlich beschränkt, ebenso wie die sogenannten antiimperialistischen
Befreiungsbewegungen. Aber der frühere linksalternative Nationalismus war mit
der (freilich historisch selber noch bürgerlich-warenförmigen) Idee einer
sozial-ökonomischen Systemalternative verbunden. Zweifellos ist die Zeit dieser
Art der (staatssozialistischen) Systemkritik abgelaufen. Aber wenn keine neue,
andere, weitergehende Systemkritik entwickelt wird, dann bleibt von der linken
Sozialkritik nur irgendeine Version des Sozialnationalismus übrig, und sie wird
Teil der Rechten oder deren Wasserträger.
Die Berufung des Bourdieu-Appells
auf »nationale Traditionen« erinnert fatal an die ideologische Entwicklung in
Osteuropa und in Rußland, wo von der ehemaligen sozialistischen Staatsideologie
und ihren politischen Erben auch nichts anderes zurückgeblieben ist als ein
ordinärer und primitiver Nationalismus. Daran ändert sich auch nichts, wenn z.B.
der Soziologe Edgar Morin, auch er einer von der alten Garde der französischen
Linksintellektuellen, dem französischen Sozialnationalismus eine höhere Weihe
als in anderen Ländern zubilligen möchte, weil in Frankreich der Nationalismus
qua revolutionäre Tradition gleichzeitig moderner Universalismus und eine
sogenannte »republikanische Identität« sei. Das ist alles nur Augenwischerei.
Ideologisch handelt es sich bei einem derartigen Räsonnement sowieso schon immer
bloß um die linke Anrufung der bürgerlichen Ideale gegen die bürgerliche
Realität; jetzt aber, im Zeichen der unaufhaltsamen kapitalistischen
Globalisierung, durch deren Prozeß die nationalökonomischen Fundamente
wegbrechen, ist es der ideologische Selbstmord der Linken, die schon keine mehr
ist.
Paradoxerweise hat Bourdieu gleichzeitig in einem Gespräch eine neue
»Internationale von kritischen Intellektuellen und sozialen Bewegungen« als ein
»vitales Bedürfnis« eingeklagt. Das klingt zwar gut; aber wenn dabei mit keinem
Wort von einer neuen radikalen Kritik der Marktwirtschaft die Rede ist, bleibt
diese Forderung hoffnungslos unglaubwürdig. Eine »Internationale« im Schatten
des akzeptierten Marktes und auf der Basis von nationalen ökonomischen und
politischen Institutionen wird es nicht mehr geben; und wie sollte eine
schwächelnde, begriffslos gewordene Sozialkritik, die sich an »nationale
Traditionen« klammert, eine transnationale Perspektive und Ausstrahlungskraft
gewinnen? Eine Internationale von Sozialnationalisten wäre ein Widerspruch in
sich.
Ist der Nationalismus Marke Touraine ein indirekter, der eine fiktive
nationale (in Wirklichkeit bloß betriebswirtschaftliche) Konkurrenzfähigkeit in
den globalisierten Strukturen ohne Rücksicht auf die Verlierer verficht, so ist
der Nationalismus Marke Bourdieu sogar ein direkter, der im Namen des sozialen
Status quo die (erst recht fiktive) nationale ökonomische Eigenständigkeit gegen
die Globalisierung einklagt. Diese Intellektuellen haben wirklich keinerlei
kritische Reflexion mehr zu bieten, sondern nur noch affirmative
pseudotheoretische Reflexe auf die totale Marktwirtschaft. Ihr Denken verdoppelt
lediglich die praktische Paralyse der Gewerkschaften in der Sphäre der Ideen.
War der Pariser Mai das letzte Gefecht des alten Arbeiterbewegungs-Radikalismus,
so war der Pariser Dezember das allerletzte Gefecht eines historischen
Nachtrabs, der nicht einmal mehr ein eigenes Emblem besitzt. Tiefer können
Theorie und Praxis der sozialen Bewegung nicht mehr sinken.
Die
deutsche Version der sozialen Paralyse: ein »Bündnis für Arbeit«
Im
Unterschied zu Frankreich können in Deutschland die Gewerkschaften gar nicht
mehr im Sinne einer sozialen Bewegung kritisiert werden, weil sie den Charakter
einer solchen längst verloren haben. Der sozialpatriotische Sündenfall der alten
westlichen Arbeiterbewegung im Ersten Weltkrieg war zwar bereits ein gemeinsamer
gewesen. Und natürlich ist diese Bezeichnung heute nur noch ironisch zu nehmen,
weil die Kapitulation vor dem Krieg nicht subjektivem »Verrat« entsprang,
sondern erstmals den bürgerlich immanenten, warenförmigen Charakter des
»Klassenkampfs« ans Tageslicht der Geschichte brachte. Aber innerhalb dieser
reduzierten, bereits nicht mehr ernsthaft systemkritisch interpretierbaren
Konstellation behielten die Gewerkschaften in den westeuropäischen Ländern auch
später noch ein soziales Bewegungsmoment, das die altsozialistische, zunehmend
verblassende Systemkritik immer wieder (und zum letzten Mal im Pariser Mai) wie
eine lästige Erinnerung aufblitzen ließ. In Deutschland dagegen waren die
Gewerkschaften mit der nicht nur kampflosen, sondern auch peinlich anbiedernden
Kapitulation vor dem Nationalsozialismus selbst im reduzierten Sinne als soziale
Bewegung bereits historisch erledigt.
Daran änderte sich auch nach 1945
nichts mehr grundsätzlich. Zwar versuchten einige Gewerkschafter, die aus dem KZ
und aus dem Exil zurückkamen, an den alten Bewegungs-Charakter der
Gewerkschaften, an die Tradition sozialer Kämpfe und an die Zielsetzung einer
gesellschaftlichen Transformation anzuknüpfen. Aber die Mehrheit der kleinen
Kader, die durch die NS-Arbeitsfront hindurchgegangen waren, wußte mit dieser
Tradition bereits nichts mehr anzufangen. Die sozialen Konflikte der BRD kamen
nie über ein harmloses Schattenboxen hinaus. Insofern war die BRD von Anfang an
»moderner« als Westeuropa; eine fortgeschrittene Modernität warenförmiger und
sozial-etatistischer Integration, die sie durchaus vom Nationalsozialismus
geerbt hatte (und die damit ihren destruktiven, im Kern barbarischen Charakter
verriet). Während in Frankreich, Italien, Spanien und auch England die alten
sozialen Milieus der kapitalistischen Klassen noch länger fortbestanden und die
Nachhutgefechte des alten Klassenkampfs sich hinzogen, erreichte der Grad
abstrakter Individualisierung in der BRD bereits das Maß der USA (wenn auch mit
anderer Akzentsetzung), und zwar gerade durch die Vorbereitung der kurzen, aber
tief einschneidenden nationalsozialistischen Ära. Zwar zerfielen die
Gewerkschaften in der BRD nicht augenblicklich zusammen mit dem sozialen Milieu
der alten Arbeiterbewegung, aber sie blieben nur als formale Hülle stehen, die
im Massenbewußtsein keinen höheren Rang mehr als den einer Autoversicherung oder
einer Sterbekasse einnahm.
Daß dieser Zustand als gelungene
»Sozialpartnerschaft« und sogar als »Modell Deutschland« verkauft werden konnte,
hatte seinen Grund einzig und allein im Aufstieg der BRD (neben Japan) zum
großen Weltmarktgewinner und Exportweltmeister. Nur durch die riesigen Gewinne
auf den Weltmärkten seit dem »Wirtschaftswunder« war es möglich, daß die als
soziale Bewegung bereits in die Leichenstarre übergegangenen westdeutschen
Gewerkschaften fast reibungslos als Tarifmaschine und sozialpolitische Instanz
erfolgreich funktionieren konnten. Selbst ein Blinder hätte sehen müssen, daß
diese Erfolge nicht auf sozialer Kampfkraft, sondern lediglich auf den
nationalen Privilegien einer Gewinnerökonomie beruhten, also nicht
verallgemeinerbar und somit auch kein »Modell« sein konnten. Umso größer mußte
die Hilflosigkeit der deutschen Gewerkschaften werden, als seit den 80er Jahren
die strukturelle Massenarbeitslosigkeit von Zyklus zu Zyklus immer größere
Ausmaße annahm und die sozialen Gratifikationen Stein für Stein abgetragen
wurden. Heute sind für die Ruinen des einst so stolzen deutschen Sozialstaats
die Abrißbirnen aufgefahren, und die Gewerkschaft als gesellschaftliche Instanz
zerfließt wie ein Schneemann an der Sonne.
In der strukturellen Dauerkrise
des kapitalistischen Systems ist es nur folgerichtig, daß die in Westdeutschland
längst vollzogene sozialökonomische Individualisierung auch an die
institutionelle Oberfläche durchschlägt. Deswegen sind die deutschen
Gewerkschaften nicht einmal mehr zu jenem schwachen Nachspiel des letzten
Verlierergefechts fähig, das wir in Frankreich gesehen haben (und vielleicht in
ganz Westeuropa in einigen Varianten noch öfter sehen werden). Obwohl die
soziale Konstellation im eingemeindeten Ostdeutschland eine andere ist und dort
unter der staatsbürokratischen Kruste auf paradoxe Weise das Milieu einer
sozialen Kohärenz als eine Art Subkultur weiterexistierte, schlägt sich dieser
Unterschied bis jetzt nicht sozial und institutionell nieder; stattdessen
scheinen es die Ostdeutschen eilig zu haben, die westdeutsche abstrakte
Individualisierung im Eiltempo nachzuholen und sich selbstkasteiend an den
westdeutschen Kapitalismus anzupassen (daß der verlorenen sozialen Nestwärme
einige sentimentale Tränen nachgeweint werden, hat den Prozeß der Anpassung in
einem halben Jahrzehnt nicht im geringsten gestört).
Es wäre verfehlt, nach
alten linksradikalen Mustern vor allem die Gewerkschaftsführung dafür
verantwortlich zu machen, daß nicht einmal dem Schein nach eine Gegenwehr zu
erkennen ist. Der Apparat würde zwar mit Sicherheit eine militante Bewegung der
gewerkschaftlichen Basis nicht unterstützen, sondern sie abwürgen; in
Deutschland noch eindeutiger und brutaler als einst im französischen Mai. Aber
umgekehrt kann der Apparat natürlich erst recht nicht kämpferischer und
aktivistischer sein als seine eigene Mitgliederbasis. Wer jahrzehntelang nichts
als Schattenboxen gelernt hat, kann nicht plötzlich ernsthaft in den Ring
steigen. Die Prügel kämen zuerst gar nicht vom institutionellen Gegner, sondern
von der Mehrheit der Gewerkschaftsmitglieder selber, die sich in Deutschland nie
auf einen verzweifelten Kraftakt wie im Pariser Dezember einlassen würden.
Hierzulande heißt es in der Krise eindeutiger als sonst in der Welt (außer
vielleicht in den USA): »Jeder für sich und Gott gegen alle«.
Dennoch ist die
institutionelle Restmasse der deutschen Gewerkschaften gezwungen, im Interesse
der eigenen raison d'être so etwas wie eine »Krisenpolitik« zu versuchen.
Naturgemäß sieht diese noch viel schäbiger als in Frankreich aus. Führende
Gewerkschaftsvertreter wie der IG Metall-Vize Walter Riester haben schon längst
einen ideologischen Stellungswechsel vollzogen, wie er in Frankreich bis jetzt
noch undenkbar wäre: »Ich bin zunehmend gezwungen, unternehmerisch mitzudenken –
auch und vor allem im Interesse der Beschäftigten, sagt der Tarifexperte ...
über die in Zeiten des Stellenabbaus wachsende Herausforderung an seine
Organisation, oft auch für die Belegschaften unangenehme Entscheidungen
mitzutragen« (Nürnberger Nachrichten, 27.12.95). Die auf den ersten Blick
ziemlich krause Logik, »im Interesse« der Beschäftigten für dieselben
»unangenehme Entscheidungen mitzutragen«, kann (abgesehen von dem
penetrant-paternalistischen Beigeschmack) nur den Zweck haben, die
marktwirtschaftliche »Anpassungspolitik« innerhalb der Gewerkschaften zu
radikalisieren. Auf die Krise soll nicht mit einer Reformulierung der
Gesellschaftskritik, sondern im Gegenteil mit einer Verschärfung des
Akzeptanz-Masochismus reagiert werden. Genau das ist es, was Riester u. Co.
letzten Endes unter »Modernisierung« verstehen, ganz ähnlich wie die sogenannten
SPD-Modernisierer um den niedersächsischen Ministerpräsidenten Schröder oder den
nordrhein-westfälischen Wirtschaftsminister Clement.
Diese Linie ist
sicherlich in den Gewerkschaften nicht unumstritten; aber sie konnte einen
Durchbruch erzielen, als der IG Metall-Vorsitzende Klaus Zwickel im Herbst 1995
auf dem Gewerkschaftstag der größten Einzelgewerkschaft der Welt die Delegierten
mit einem undiskutierten und unabgesprochenen Konzept überrumpelte, das seither
als »Bündnis für Arbeit« firmiert. Damit wurde nicht nur den »Modernisierern«
und den institutionellen Eliten bis hin zur konservativ-neoliberalen
Bundesregierung eine griffige Floskel oder Formel für die
Ruhigstellungs-Propaganda geliefert, sondern auch eine dramatische Kehrtwende in
der Gewerkschaftspolitik überhaupt vollzogen, die schon länger im Krisenkontext
herangereift war.
Der entscheidende Punkt dabei ist, daß die Politik der
Arbeitszeitverkürzung klammheimlich aufgegeben und begraben wird. So schnell
wird man das nicht offiziell zugeben, aber faktisch ist es so. Daran ändert auch
die jüngste Vereinbarung in der Stahlindustrie mit der Möglichkeit, die
wöchentliche Arbeitszeit situationsbedingt auf 30 Stunden (ohne Lohnausgleich)
herunterzufahren, nichts mehr; ebensowenig die sogenannte Altersteilzeit, die
nur das Auslaufen der »unbezahlbar« gewordenen Frühverrentungs-Modelle
flankieren soll und nicht mehr Teil einer allgemeinen Strategie der
Arbeitszeitverkürzung ist. Das Ende dieser Strategie war schon länger abzusehen.
Als die IG Metall und die IG Druck und Papier (heute: IG Medien) Ende der 70er
Jahre die Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich als Forderung gegen die
beginnende Massenarbeitslosigkeit aufstellten, taten sie das noch als
Tarifmaschinen, deren Sprit von den Weltmarktgewinnen der BRD geliefert wurde.
Soweit der Einstieg in die 35-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgleich in den 80er
Jahren gelang, geschah dies keineswegs als bloße Umverteilung zwischen Kapital
und Arbeit innerhalb der BRD, sondern teils auf Kosten der Weltmarktverlierer,
teils mit Hilfe des defizitgenährten Exportbooms in die USA während der Hochzeit
der »Reaganomics«. Die Massenarbeitslosigkeit wurde dadurch nicht gestoppt, sie
stieg vielmehr auch in dieser Zeit von Zyklus zu Zyklus an.
Als die
Weltmarktposition der BRD zu bröckeln begann und der von der gewaltigen
Sockelarbeitslosigkeit ausgehende soziale Druck den institutionellen Spielraum
der Gewerkschaften immer mehr beschränkte, begann in den 90er Jahren eine
allerdings ziemlich vage Diskussion über Arbeitszeitverkürzung auch ohne (bzw.
ohne vollen) Lohnausgleich. Es gab sogar einige Modellversuche, z.B. bei
Volkswagen (oder eben jetzt wieder marginal in der Stahlbranche). Aber diese
Strategie hätte nur eine Perspektive, wenn sie mit dem Übergang zu autonomen
Reproduktionsformen jenseits von Markt und Staat verbunden wäre, d.h. wenn die
zusätzliche »disponible Zeit« nicht als leere »Freizeit«, sondern als Zeit für
selbstbestimmte Tätigkeiten außerhalb der Ware-Geld-Beziehung genutzt werden
könnte. Für eine solche Doppelstrategie fehlt aber nicht nur ein Konzept, es
mangelt auch an der Bereitschaft, darüber nachzudenken. Innerhalb einer
flächendeckenden marktwirtschaftlichen Reproduktion aber macht das Modell
Arbeitszeitverkürzung ohne Lohnausgleich weder ökonomisch noch sozial einen
Sinn. Was die Krise angeht, so ist dieses Modell durch die Verminderung der
Binnenkaufkraft von prozyklischer Wirkung. Während ein systemkritisches Programm
der gesellschaftlichen Transformation dadurch dynamisiert werden könnte, muß das
in der totalen Lohnarbeit verharrende Bewußtsein denselben prozyklischen Effekt
rein negativ als Krisenverschärfung erleben. Für die Massen, die auf
Geldeinkommen durch Lohnarbeit sowie auf den warenförmigen Konsum fixiert sind
und am Tropf von Eigenheim- und Konsumkrediten hängen, ist dieses Modell nicht
oder nur schwer akzeptierbar. Lediglich für Doppelverdiener könnte es eine
gewisse Attraktivität gewinnen, in der Regel zu Lasten der Frauen, die durch
Teilzeitarbeit in einem rein marktwirtschaftlich bestimmten Kontext wieder mehr
auf »Kinder, Küche, Kirche« beschränkt werden. Die VW-Arbeiter wiederum nutzten
ihre gewonnene disponible Zeit reichlich für handwerkliche Schwarzarbeit, was zu
Klagen der Handwerkskammern im Raum Wolfsburg führte. Das Fehlen jeder
Systemalternative und die totale Fixierung auf Markt und Lohnarbeit führen
zwangsläufig dazu, daß für den Gedanken einer Arbeitszeitverkürzung ohne
Lohnausgleich kaum mehr als ein stilles Begräbnis übrigbleibt. Was dann noch so
genannt wird, ist kein gesellschaftspolitisches Konzept mehr, sondern nur noch
ganz gewöhnliche Kurzarbeit bei schlechten Auftragslagen.
Es ist bezeichnend,
was das »Bündnis für Arbeit« an die Stelle der Arbeitszeitverkürzung als
gesellschaftspolitische Perspektive gesetzt hat, nämlich außer dem Versprechen
einer Zurückhaltung bei den kommenden Tarifrunden vor allem die Akzeptanz von
»Einstiegslöhnen« unter Tarif für Langzeitarbeitslose und die Hinnahme von
Kürzungen bei den Sozialleistungen. Das ist ein Dammbruch in mehrfacher
Hinsicht. Für die Arbeitslosen ist es eine freche Zumutung: Teilzeitlohn bei
Vollzeitarbeit. Statt zusätzlicher disponibler Zeit, die zumindest der
Potenz nach für soziale, ökonomische und kulturelle Alternativen zur Lohnarbeit
und für eine Kritik der Marktwirtschaft genutzt werden könnte, der »Einstieg« in
die soziale Apartheid und in die marktwirtschaftliche Sklaverei bei Billiglohn,
um für schwachsinnige oder gemeingefährliche Zwecke »voll« schuften zu »dürfen«.
Kein Wunder, daß die neoliberale Wirtschaftspresse diesen »Schritt nach vorn« zu
würdigen wußte, als das »Bündnis für Arbeit« unter der Schirmherrschaft von
Kanzler Kohl abgesegnet wurde: »Man kann von den Gewerkschaften nicht erwarten,
beim Abbau von Sozialleistungen oder Überstundenzulagen und bei niedrigen
Einstiegslöhnen an der Spitze der Bewegung zu stehen. Mit ihrem Ja zu dem
Bündnis-Papier erklären sie sich bereit, solche Eingriffe ohne Streiks,
Massenproteste oder das bisher übliche Gekeife hinzunehmen. Allein damit hat die
Kanzlerrunde einen wichtigen Beitrag zum sozialen Frieden in diesem Land
geleistet« (Handelsblatt, 25.1.96).
Die Kritik aus den eigenen Reihen und von
Seiten kleinerer Gewerkschaften soll offenbar in bewährter administrativer
Manier abgewürgt werden; in ihrer starren bürokratischen Struktur mit de facto
von oben eingesetzten hauptamtlichen Spitzenfunktionären kennen die
Gewerkschaften ohnehin keinen wirklich offenen Prozeß der Meinungsbildung. Die
IG Metall-Spitze um Zwickel und Riester erhält dabei kräftige Schützenhilfe
seitens der schon traditionell »rechten« IG Chemie, die sich am frühesten zu
einem weltmarkt-orientierten Sozialkartell von Kernbelegschaften gemausert
hatte: »Der Vorsitzende der IG Chemie, Hubertus Schmoldt, hat davor gewarnt, den
Vorschlag der IG Metall für ein Bündnis für Arbeit im eigenen Lager zu zerreden.
In einem Gespräch mit dem Handelsblatt übte er scharfe Kritik an den skeptischen
Äußerungen aus Gewerkschaftskreisen in den vergangenen Tagen... Dies sei nicht
die Stunde der Bedenkenträger, die nicht bereit seien, traditionelle
Gewerkschaftsstandpunkte wie den, daß Lohnsenkungen keine Arbeitsplätze bringen
(!), zum Gegenstand von Gesprächen zu machen... Jeder, der im Vorfeld der
Gespräche Hürden aufbaut, die später ohne Gesichtsverlust nicht mehr beseitigt
werden können, riskiert französische Zustände in Deutschland (!)... Völlig
unverständlich findet Schmoldt die Ablehnung von niedrigeren Einstelltarifen (!)
durch die Gewerkschaft HBV. Auch wenn eine entsprechende Vereinbarung in der
Chemie nicht zu massenhaften Neueinstellungen geführt habe (!), sei das
Instrument doch genutzt worden. Ich bin froh über jeden Langzeitarbeitslosen,
der so (!) in den Arbeitsmarkt integriert werden kann.« (Handelsblatt,
22.12.95).
Was in Zwickels »Bündnis für Arbeit« wirklich steckt, wird hier
deutlich ausgesprochen: nämlich nicht weniger als eine geradezu absurde
gewerkschaftliche Wende zum marktradikalen Neoliberalismus. Wirtschaftspolitisch
ist es die Wende vom Keynesianismus zum Monetarismus, von der Nachfragepolitik
(Deficit spending, Stärkung der Massenkaufkraft) zur Angebotspolitik
(Kostensenkung, Abbau der Binnenkaufkraft, Exportorientierung). Das ist das
Endstadium beim radikalen Abbau jeder systemkritischen Position: War die alte
Arbeiterbewegung noch mit staatssozialistischen Vorstellungen einerseits und
utopischen Überschußmomenten andererseits angetreten, so wurde diese Position in
den westlichen Ländern nach dem Zweiten Weltkrieg schon zum Keynesianismus
abgebaut, der sozusagen eine »schwache«, mit dem westlichen Kapitalismus
kompatible Version des sozialen Staatsinterventionismus vertrat. Damit einher
ging die »wissenschaftspolitische« Wende von der Marxschen Theorie zum platten
Popper-Positivismus in Sozialdemokratie und Gewerkschaften (in der BRD
eindeutiger und weitergehend als im übrigen Westeuropa). Jetzt ist die
Zwickel-Seilschaft dabei, zusammen mit den SPD-»Modernisierern« auch noch den
Keynesianismus über Bord zu werfen und damit den letzten Schritt hin zur
Totalakzeptanz der puren Marktwirtschaft zu tun.
Was das bedeutet, läßt sich
im Vergleich mit der Auseinandersetzung in Frankreich verdeutlichen. Die
Zwickel-Initiative kommt der Position von Alain Touraine nahe, freilich mit dem
Unterschied, daß es sich hier nicht um eine bloß publizistische Äußerung von
Intellektuellen, sondern um eine institutionelle Wende handelt. Die Position von
Bourdieu dagegen kann als eine noch-keynesianische verstanden werden. Das macht
auch die Berufung auf die nationalökonomische Kohärenz aus. Denn schon Keynes
war sehr deutlich bewußt, daß seine Theorie von staatlicher Regulation und
Intervention nur auf dem Boden einer kohärenten nationalökonomischen Basis
möglich sein konnte; er warnte daher sogar vor einer zu starken Ausdehnung des
Weltmarkts. Keynesianismus, Nationalökonomie und Sozialnationalismus gehören
logisch zusammen. Freilich ist auch der implizite sozialnationale Keynesianismus
der Bourdieu-Richtung kein Reformkeynesianismus »für alle« mehr, sondern bloß
noch ein defensiver Status-quo-Keynesianismus sozialnationaler
Schadensbegrenzung, der keine Veränderungsperspektive mehr hat und die bereits
Herausgefallenen nicht mehr integrieren kann.
Der gewerkschaftliche Übergang
zur neoliberalen Angebotspolitik bedeutet aber weit mehr als die bloß
ideologische Akzeptanz der Marktwirtschaft. Er beinhaltet vielmehr die
Akzeptanz, daß alle soziale Reproduktion, die nicht »regulär«
marktwirtschaftlich unter den neuen Bedingungen der Globalisierung rentabel
»erwirtschaftet« werden kann, schlicht entfallen muß. Obwohl der Terminus
»Bündnis für Arbeit« zumal in Deutschland stark nationalistische Untertöne hat
(er erinnert fast zwangsläufig an die nationalsozialistische »Arbeitsfront« und
»Volksgemeinschaft«), wie ja auch der französische Touraine-Appell
nationalistisch unterlegt ist, so kündigt die darin enthaltene Preisgabe von
Keynesianismus und Nachfragepolitik doch implizit die Geschäftsgrundlage des
bisherigen Sozialnationalismus auf.
Der neue monetaristische,
angebotspolitische Sozialnationalismus im Zeichen kapitalistischer
Globalisierung ist eigentlich schon keiner mehr oder er ist eher ein
Zweiklassen-Nationalismus. Nicht mehr nur die Verliererländer »draußen«, sondern
auch die sozialen Verlierermassen »drinnen« sollen auf das Niveau einer
marktwirtschaftlichen Hungerlohn-Realität heruntergedrückt werden. Das
Einschwenken auf die Kostensenkungs- und Export-Ideologie läuft darauf hinaus,
einen rein marktwirtschaftlichen und global konkurrenzfähigen
Erste-Klasse-Salonwagen für minoritäre Kernbelegschaften und daran angehängt die
Viehwaggons mit Billiglohn-Zwangsarbeit für die Verlierer auf die Reise schicken
zu wollen. Mit dazu passender neoliberaler Frechheit beeilen sich die
Zwickelisten, diese Horror-Perspektive als »Standortsicherung« und »Integration
der Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt« zu verkaufen, während der bloße Gedanke an
soziale Kämpfe selbst im beschränkten keynesianischen Sinne als angebliches
Schreckensbild »französischer Zustände« denunziert wird.
Was für den
Sozialabfall des kapitalistisch nicht mehr brauchbaren Menschenmaterials dann
noch übrigbleibt, gibt Klaus Lang, persönlicher Referent des IGM-Chefs Zwickel,
mit dem diskreten Charme des ultramodernen Sozialtechnikers zum besten, wenn er
sich in einer Zwischenbilanz über das »Bündnis für Arbeit« in
sozialdiplomatischen Verrenkungen übt: »Und bei der Arbeitslosenhilfe? Hier ist
die geplante Absenkung der Bemessungsgrundlage für die individuelle
Arbeitslosenhilfe von fünf auf drei Prozent zurückgenommen worden. Der
Regierungsentwurf, der eine Absenkung um fünf Prozent vorsah, war längst vor der
Bündnisinitiative beschlossen worden. Wo wäre ohne diese Initiative für die
Regierungskoalition der öffentliche Druck entstanden, ihre Absicht nicht voll
durchzuziehen? (!) Sicher auch kein berauschender Erfolg, aber ein kleiner
Schritt...« (in: Frankfurter Rundschau, 14.2.96). Ein derartiger Hohn auf
gewerkschaftliche Konfliktfähigkeit, der auch noch den Grad der Leistungskürzung
für die Ärmsten als Meßlatte des »Erfolgs« anlegt, ist sogar in der deutschen
Sozialgeschichte selten. Die Arbeitslosen werden einsehen müssen, daß sie
wahrscheinlich bei der Caritas noch besser aufgehoben sind als bei den
Gewerkschaften.
Daß die »Integration in den Arbeitsmarkt« (egal um welchen
Preis) zum höchsten aller Ziele verklärt wird, als könnten sich die Menschen
nichts Besseres mehr wünschen, das ist natürlich schon eine Spekulation mit dem
erbärmlich gewordenen Massenbewußtsein. Sicherlich ist es auch eine Reaktion auf
das tatsächliche Obsoletwerden des Keynesianismus. Denn die Politik des Deficit
spending ist ja tatsächlich gescheitert, und ihre Gratifikationen waren ja auch
nie mehr als der sozialnationalistische Bonus weniger kapitalistischer
Kernländer. Insofern ist auch eine Position wie die von Bourdieu unhaltbar, der
sich »contre la déstruction d'une civilisation« wendet und damit nichts als die
keynesianische Zivilisation des Nachkriegs-»Sozialkapitalismus« meint. Diese
keynesianische Zivilisation des Wohlfahrtsstaates und des »öffentlichen
Dienstes« geht in allen ihren Hochburgen zu Ende, in Frankreich und Deutschland
ebenso wie in Schweden. Das heißt aber nur, daß die Möglichkeiten einer sozial
akzeptablen Wirtschaftspolitik innerhalb des Marktsystems überhaupt ausgeschöpft
sind. Genau das aber wollen die Gewerkschaften mit ihrer angebots- und
kostensenkungs-politischen Flucht nach vorn nicht wahrhaben.
Die
Zwickel-Initiative überholt dabei sogar die programmatische Abrüstung der
Gewerkschaften, die erst im Herbst 1996 auf dem DGB-Kongreß in Dresden mit einem
bis zur Schamgrenze reduzierten Keynesianismus abgesegnet werden soll, der »auf
die Formulierung in sich geschlossener Alternativkonzepte verzichtet« (so der
1994 gestorbene frühere DGB-Vorsitzende Meyer in seiner Absage an das
DGB-Grundsatzprogramm von 1981). Im »Bündnis für Arbeit« ist aber nicht einmal
mehr die Spur eines Schamkeynesianismus zu entdecken. Von jetzt an kann sich der
DGB ein Programm und einen Kongreß überhaupt sparen (ein Beitrag zur
Kostensenkung?).
Auf einem ganz anderen Blatt steht es freilich, ob die
kapitalistischen Blütenträume der »Modernisierer« für eine Gewerkschaft
drastisch reduzierter sozialer Repräsentanz auch aufgehen und ob der
»Zwickel-Abschlag« (gewerkschaftlicher Volksmund) den Einstieg in ein
minoritäres Globalisierungs-Kartell tatsächlich ermöglicht. In Wirklichkeit ist
eine neoliberale Gewerkschaftspolitik ein Widerspruch in sich. Das Einschwenken
auf die Linie von angebotspolitischer Kostensenkung bedeutet die endgültige
Selbstaufgabe der Gewerkschaften, d.h. der mit der Preisgabe jeder Systemkritik
bereits eingehandelte Legitimationsverlust wird nun auch praktisch und im großen
Maßstab ratifiziert. Das suizidale Zwickel-Programm schützt auch die
Kernbelegschaften nicht, sondern läuft auf eine allgemeine Senkung des Lohn- und
Sozialniveaus hinaus. Denn es ist eine Illusion, daß die Preisgabe tariflicher
Löhne und Arbeitsbedingungen auf ein soziales Segment eingegrenzt werden könnte.
Die Akzeptanz von Einstiegslöhnen unter Tarif ist der Anfang vom Ende der
Tariflöhne überhaupt.
Auch im betrieblichen Mikrobereich zeigt sich an
konkreten Beispielen schon jetzt, daß das »Bündnis für Arbeit« von vornherein
auf einem Sozialmasochismus der Kernbelegschaften selbst beruht: »Ein eigenes
Bündnis für Arbeit praktiziert Mercedes-Benz jetzt gemeinsam mit dem Betriebsrat
im neuen Motorenwerk von Bad Cannstatt. Die Fabrik der Zukunft für 800 Millionen
Mark arbeitet mit modernster Technik rund um die Uhr, nach Bedarf auch samstags.
Selbst die sogenannte Steinkühler-Pause von fünf Minuten je Arbeitsstunde wollen
die 900 Beschäftigten opfern, wenn im September die Produktion anläuft. Außerdem
unterwerfen sie sich einem neuen Lohnsystem und arbeiten in Gruppen nach genauen
Vorgaben für Qualität und Produktivität« (Die Woche, 12.1.96). Die Hauptvokabeln
für die neuen Kernbelegschaften werden nicht Komfort und Hochlohn sein, sondern
»Opfer« und »Unterwerfung«, »Hochleistung« bis an die physischen und psychischen
Grenzen, individuelles und gruppenmäßiges Aushandeln ohne Rücksicht auf
Schwächere. Das »Privileg« individualisierter, »olympiareifer« Hochleistungs-
und Hochgeschwindigkeits-Arbeiter wird darin bestehen, auf hohem Niveau
erbarmungslos ausgequetscht zu werden, um mit 40 reif für die Psychiatrie oder
für die Leichenhalle zu sein. Gewerkschaften sind dabei völlig
überflüssig.
Abgesehen von den sozialen Standards und von der weiteren
Existenzberechtigung der Gewerkschaften steht aber auch die Frage, ob
Angebotspolitik und soziale Kostensenkung überhaupt als Systemrettungsprojekt
durchgehen können (laßt euch kollektiv kreuzigen für die Erlösung der
Marktwirtschaft). Ein Moment der Marxschen Krisentheorie, das auch von Rosa
Luxemburg wieder aufgegriffen wurde, war ja bekanntlich die strukturelle
Unterkonsumtion der Massen als Krisenfaktor des Kapitals selbst. Insbesondere
seit der fordistischen Ära eines flächendeckenden Vollkapitalismus mit
hochorganisierter Massenproduktion ist die Massenkaufkraft eine conditio sine
qua non für eine gelingende Akkumulation des Kapitals. Wird die Massenkaufkraft
durch Massenarbeitslosigkeit, Abbau der Sozialleistungen und Zurückfahren
öffentlicher Dienste bzw. staatlicher Investitionen radikal abgeschmolzen, dann
ist nicht nur die soziale Reproduktion, sondern auch die ökonomische Existenz-
und Funktionsfähigkeit des Kapitalismus selber grundsätzlich in Frage gestellt.
Durch die betriebswirtschaftliche Globalisierung wird dieses existentielle
Problem nicht beseitigt, sondern nur selber globalisiert; auf dieser Ebene wird
es mit verstärkter Wucht auf das Kapital zurückschlagen. Insofern ist der
monetaristische Neoliberalismus schon mittelfristig ein Selbstmordprogramm der
kapitalistischen Produktionsweise.
Genau dieses Problem bildete ja auch den
Kern der Theorie von Keynes und den Hintergrund für die Nachfragepolitik des
Deficit spending (ursprünglich unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise von
1929-33). Sicherlich war die keynesianische Theorie verkürzt, weil sie keine
Krisentheorie der kapitalistischen Produktionsweise, sondern von vornherein bloß
eine seichte Systemrettungs-Theorie war. Das gilt auch für den
Linkskeynesianismus mit zuweilen verschämten Anleihen bei Marx, wie er etwa in
der BRD durch die sogenannte Memorandum-Gruppe linker Professoren vertreten
wurde und lange Zeit auch in die gewerkschaftliche Argumentation Eingang fand.
Die mangelnde Massenkaufkraft wird hier in schönstem Positivismus als isoliertes
Phänomen betrachtet, das »politischer Regulation« und staatlicher Intervention
zugänglich sei. Letzten Endes wird an das Kapital appelliert, es möge doch
Mitleid mit sich selbst haben und die Stärkung der Massenkaufkraft als
Systemnotwendigkeit »politisch« anerkennen.
Bei Marx dagegen wird die
mangelnde Massenkaufkraft nicht als isoliertes, tarif- oder staatspolitisch
regulierbares Krisenphänomen, sondern als strukturelle, objektive innere
Schranke des Kapitalverhältnisses analysiert. Es handelt sich auch nicht um eine
bloß äußere Grenze der »Realisierung« des produzierten Mehrwerts auf dem Markt
(wie es bei Rosa Luxemburg erscheint), sondern um eine mangelnde Produktion von
ausreichendem Mehrwert selbst, die der Oberflächenerscheinung mangelnder
Massenkaufkraft zugrunde liegt. Die Fetischform »Wert«, die sowohl von der VWL
als auch von der Arbeiterbewegung positiv genommen wird, hat nichts mit der
produzierten stofflichen Gütermenge zu tun, sondern allein mit der darin
inkorporierten Masse abstrakter Arbeitsquanta auf der Höhe des jeweiligen
Rentabilitätsstandards. Das Kapital tendiert durch die konkurrenzvermittelte
Steigerung der Produktivität dazu, immer mehr stoffliche Produkte mit immer
weniger Arbeit zu erzeugen, während sein eigentlicher Zweck gerade die Anhäufung
von in Geld inkarnierten Arbeitsquanta ist. Es kommt also dazu, daß bei »zu
hoher« (vom Standpunkt der Verwertung aus) Produktivität das bereits
akkumulierte Kapital nicht mehr ausreichend rentabel reinvestiert werden kann
(»Überakkumulation«). Der Rückgang der Massenkaufkraft und der Staatseinnahmen
zeigt insofern nur den Rückgang der realen Wertproduktion an und ist an sich
keinerlei äußerer, »politischer« Regulation zugänglich, sondern markiert die
Systemgrenze selbst. Überakkumulation und Unterkonsumtion sind die beiden Seiten
derselben Medaille.
Die Theorie der Überakkumulationskrise wurde schon
innerhalb des Arbeiterbewegungs-Marxismus (etwa von Paul Mattick) gegen die
verkürzte, isolierte Unterkonsumtions-Argumentation der Linkskeynesianer zu
Recht ins Feld geführt. Freilich ließ Mattick zeitbedingt die Frage einer
absoluten historischen Akkumulationsgrenze noch offen, wie er auch (ebenso
zeitbedingt) die Frage der Systemaufhebung noch in den alten soziologischen
Terms des Klassenkampfs formulierte. Tatsächlich konnte in der Vergangenheit die
in den Krisen aufscheinende Systemgrenze immer wieder hinausgeschoben werden,
indem neue Felder der Verwertung abstrakter Arbeit auf immer höherem Niveau
erschlossen wurden; zuletzt bekanntlich im Nachkriegsboom des
Wirtschaftswunders. Die keynesianische Illusion konnte sich halten, nicht weil
der Keynesianismus funktionierte, sondern weil die Kapitalakkumulation von sich
aus genügend reale Wertproduktion abwarf, um das Deficit spending füttern zu
können (vgl. dazu den Artikel »Die Himmelfahrt des Geldes« in Krisis 16/17).
Seitdem durch das Ende des Fordismus und durch die mikroelektronische Revolution
die Krise der realen Wertproduktion auf neuer Stufenleiter zurückgekehrt und die
Überakkumulation des Kapitals nicht mehr eine bloß zyklische, sondern
strukturell geworden ist, hat sich auch die Unhaltbarkeit eines Programms für
die äußere, »politische« Stützung der gesellschaftlichen Kaufkraft erwiesen.
Gerade darin liegt ja das Scheitern des Keynesianismus in den kapitalistischen
Kernländern selbst.
Die angebotspolitische Kehrtwende kann aber die Krise nur
beschleunigen und verschärfen. Wie es scheint, werden nun die nicht mehr
hinauszuschiebenden historischen Grenzen der kapitalistischen Produktionsweise
erreicht. Die Zwickel-Gewerkschaften haben sich offenbar entschlossen, lieber
zusammen mit dem Kapitalismus aus Angst vor dem Tod Selbstmord zu begehen als
eine neue, andere Systemalternative zu entwickeln und soziale Gegenwehr zu
leisten. Die Politik der »radikalen Anpassung« ist naiv, weil es sich nur um die
Anpassung an den Untergang des Systems der Lohnarbeit selber handeln kann.
Dieser Untergang wird auch dann ratifiziert, wenn ihn die gesellschaftlichen
Institutionen nicht wahrhaben wollen. Daß es im Selbstlauf der Krise nur die
Kräfte der Barbarei, des Terrors und des Wahnsinns sein können, die das Urteil
des Systems über sich selber vollstrecken, versteht sich von
selbst.
Kann es eine Praxis radikaler Sozial- und Gesellschaftskritik
jenseits des alten Klassenkampfs geben?
Die Gefährlichkeit der
Entwicklung wird vielleicht von Teilen der Gewerkschaften ebenso gesehen wie von
den Resten der demoralisierten Linken. Aber diese Gefahr wird weiterhin nur in
den Kategorien der alten, obsolet gewordenen Systemkritik abgebildet, deren
»starke« Version der Staatssozialismus nachholender Modernisierung und deren
»schwache« Version der westliche Linkskeynesianismus mit einigen marxistischen
Schwanzfedern war. Es gibt eine erschreckende Unfähigkeit der alten
Systemkritik, sich selber zu transzendieren und den eigenen Anteil an der
untergehenden bürgerlichen Welt der Moderne aufzuarbeiten. Die Erkenntnis, daß
der »Bourgeois« in der gesellschaftlichen, totalisierten Warenform selber steckt
und nicht auf eine soziale Klasse beschränkt werden kann, wird nach wie vor
grundsätzlich verweigert. Sowohl in den Gewerkschaften als auch im Spektrum der
politischen Restlinken wird die immer matter ausfallende Kritik am
Neoliberalismus und an der zunehmend darauf einschwenkenden Anpassungspolitik
von Gewerkschaften, Sozialdemokratie und Grünen mit hoffnungsloser
Begriffsstutzigkeit von der alten »klassenkämpferischen« Position aus
formuliert, deren historische Implikationen grundsätzlich ausgeblendet
bleiben.
Die bei den Grünen bekannte Ausdifferenzierung in »Realos«
(kapitalistische Modernisierer) und »Fundis« (altklassenkämpferische
Steinzeitmarxisten) wiederholt sich in verschiedenen Konstellationen auch bei
den Gewerkschaften und in den sozialdemokratischen und (ex)kommunistischen
Parteien; nicht nur in Deutschland, sondern auch in Frankreich, Italien und
anderswo. In der IG Metall gibt es immer noch einen sogenannten
traditionalistischen Flügel mit Reminiszenzen an die alte Arbeiterbewegung (und
gegen allzu starke »Klassenversöhnung« gerichtet), der aber schon seit den
Zeiten des wegen Korruption zum Rücktritt gezwungenen Vorsitzenden Steinkühler
aufgerieben und zur Bedeutungslosigkeit verdammt worden ist. Ähnlich verhält es
sich mit der sogenannten Stamokap-Fraktion in der SPD (vor allem bei den
Jungsozialisten). In der PDS ist es die kleine »kommunistische Plattform«, die
den kapitalistischen Anpassungskurs der Parteispitze mit verschimmelten
DDR-Phrasen zu konterkarieren sucht (dazwischen gibt es noch, wenn dieser
Begriff aus der Geschichte der Arbeiterparteien erlaubt ist, eine Art
»zentristische« Gruppe, die sich »Marxistisches Forum« nennt). In Frankreich,
Italien, Portugal, Spanien etc. sind die altklassenkämpferischen,
altmarxistischen Spaltprodukte – der westeuropäischen Entwicklung in der
Nachkriegsgeschichte entsprechend – zwar größer als in Deutschland, aber ebenso
in der Rolle eines traditionalistischen Nachtrabs. Auch die brasilianische
Linkspartei PT hat in den letzten Jahren eine einschlägige Fraktionierung
durchgemacht, und auch hier ist der Altmarxismus auf der Verliererstraße.
So
durfte es nicht verwundern, daß der Pariser Dezember von der absaufenden
altklassenkämpferischen Linken nicht kritisch analysiert, sondern die Nachricht
bloß als Strohhalm ergriffen wurde. Man hoffte auf Fortsetzung des Altvertrauten
und Immergleichen durch die französischen Ereignisse. Dieser Johannistrieb des
Klassenkampfs mußte als Vorschein vermeintlicher neuer Potenz herhalten oder
wenigstens als alterstrotzige Erinnerung an vergangene Tatenkraft imaginiert
werden, damit man sich weiterhin um die Ratifizierung des Epochenbruchs und den
unausweichlichen Paradigmenwechsel radikaler Gesellschaftskritik herumdrücken
kann. Den Altmandarinen des klassenkämpferischen Linksradikalismus fiel daher
zum Pariser Dezember nichts als blanke Selbstbestätigung ein: »In diesen
Dezembertagen in Paris wird offenbar, daß es den Ideologen des Kapitals, die den
Klassenkampf feierlich für erledigt erklärt haben, ergeht wie der katholischen
Kirche mit ihrem Versuch, den Geschlechtstrieb abzuschaffen. Trotz religiöser
Soziallehre, trotz einer einst im Mai in Paris aufgebrochenen Bürgerjugend, die
so gerne egalitär-gerecht und trotzdem oben wäre, trotz allen Revisionisten: Der
Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit, zwischen gesellschaftlicher Produktion
und privater Aneignung bricht immer wieder auf« (Hermann L. Gremliza, Konkret
1/96).
Ist ja gut, ist ja rührend. Dennoch wird hier etwas verwechselt, was
zu verwechseln in den Zeiten der Arbeiterbewegung unvermeidlich und sogar
vorwärtstreibend war, jetzt aber sträflich geworden ist. Ich meine damit das
Verhältnis des unbezweifelbar »immer wieder aufbrechenden« Klassenkampfs (dessen
freilich ebenso unbezweifelbar stetig zunehmendes Schwächeln bei gleichzeitig
zunehmenden sozialen Krisen erklärungsbedürftig ist) zur Frage der
Systemalternative. Für den alten Marxismus, seine Mandarine und Mitläufer, war
und ist der »Klassenkampf« der Zentralbegriff von Gesellschaftskritik und
Systemtranszendenz. Deshalb sehen die Unverdrossenen in jeder Kritik des
Klassenkampfs die Option der katholischen Soziallehre durchschimmern, die
kleinbürgerliche Klassenversöhnung, die Abkehr von der radikalen
Gesellschaftskritik usw. Daß und warum dieser ganze Begriffsapparat heute so
verdammt altertümlich klingt, auf dieses Problem will man sich nicht einlassen,
obwohl es ganz offensichtlich keineswegs bloß zeitgeistkonjunktureller Natur
ist.
Es ist für den verstockten alten Linksradikalismus einfach nicht
nachvollziehbar, daß der Klassenkampf seinem Begriff nach in der bürgerlichen
Formhülle verbleiben muß, und daß es gerade deswegen eine emanzipatorische
Kritik des Klassenkampf-Paradigmas geben kann, die keineswegs bürgerlich und
»versöhnlerisch« ist. Dabei handelt es sich um ein Problem, das sich auf der
heutigen Höhe der kapitalistischen Entwicklung im Unterschied zu früher nicht
mehr ignorieren läßt und ebenso »immer wieder aufbricht« wie der Klassenkampf
selbst, diesen aber gleichzeitig immer blasser macht. Kapitalismus ist
bekanntlich vermittels der kybernetischen Rückkoppelung des »Werts« bzw. seiner
Erscheinungsform, des Geldes, als »Verwertung des Werts« eine Gesellschaft der
totalisierten Warenform. Der alte Marxismus und Linksradikalismus hat sich ganz
auf den Gegensatz der Funktionssubjekte innerhalb dieser Fetischform
konzentriert. Der »Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und
privater Aneignung« wurde also, wie oben bei Gremliza, auf der Folie des
Gegensatzes von »Kapital und Arbeit« im Sinne sozialer Klassen abgebildet. Die
»gesellschaftliche Produktion« erschien analog zur »Arbeiterklasse« und die
»private Aneignung« analog zur »Kapitalistenklasse«.
Damit aber wird das
gesellschaftliche Fetischverhältnis soziologistisch verkürzt (miß)verstanden.
Denn auch die »Ware Arbeitskraft« ist eine Ware, in deren Begriff die
»Privatheit« enthalten ist. Das bedeutet nichts anderes, als daß auch die
»Arbeiterklasse« in der Form des Geldlohns »privat aneignet«. Der bornierte alte
Marxismus empört sich bei einer solchen Aussage sofort reflexartig, daß doch die
einen nur die Reproduktionskosten ihres Lebens, die anderen dagegen die »Fülle
des Reichtums« aneignen. Schon rein immanent ist diese Betrachtungsweise schief.
Denn erstens eignet »das Kapital« (in der verkürzten Begrifflichkeit: die eine
Seite der Funktionssubjekte) nicht subjektiv oder persönlich die Masse des
abstrakten Reichtums an, sondern exekutiert und organisiert hauptsächlich dessen
stetige Rückverwandlung in den absurden Selbstzweck der »Verwertung des Werts«.
Und zweitens trägt auch die stoffliche Seite des privaten Reichtums der
»Besserverdienenden« ebenso wie der »Superreichen« das Signum des subjektlosen
kapitalistischen Selbstzwecks, d.h. dieser Reichtum der Reichen nimmt (zunehmend
mit fortschreitender Entwicklung des Kapitals) die Züge des Schwachsinns und der
Selbstdestruktion an, so daß er schon längst nicht mehr als das
verallgemeinerungswürdige Ziel in seinem Sosein emanzipatorisch akzeptiert
werden könnte.
Vor allem aber beweist der alte Marxismus mit seiner
Betrachtungsweise der »privaten Aneignung« unfreiwillig, daß er nur den
quantitativen Unterschied innerhalb der Warenform kennt, hinsichtlich des
eigentlichen Charakters der Privatheit aber völlig im Dunkeln tappt und schlicht
formblind ist. Wenn es nicht mehr allein um den quantitativen Unterschied der
Aneignungsmasse geht, sondern um die Formqualität der Aneignung, dann wird
sofort klar, daß der kapitalistische Grundwiderspruch von gesellschaftlicher
Produktion und privater Aneignung nicht identisch ist mit dem Klassengegensatz
der Funktionssubjekte innerhalb der Warenform. Vielmehr ist es der Widerspruch
von gesellschaftlichem Inhalt der stofflichen Produktion und privater Form der
gesellschaftlichen Subjekte bzw. ihrer Aneignungsweise insgesamt (unter
Einschluß der »Arbeiterklasse«), der das Kapitalverhältnis kennzeichnet. Somit
kann der Klassenkampf nur die immanente Formbewegung des Kapitalverhältnisses
sein, nicht aber die Bewegung zur Aufhebung des Kapitalverhältnisses.
Marx
konnte diese beiden Ebenen sozialer Emanzipationsbewegung noch kurzschlüssig in
eins setzen (obwohl dies von Anfang an begrifflich verschwommen blieb), weil die
relative Emanzipation innerhalb von Warenform und Lohnarbeit noch einen
geschichtlichen Horizont vor sich hatte. Jetzt ist das Kapitalverhältnis völlig
ausentwickelt bis an seine äußerste Grenze und wir haben es deswegen mit der
Krise des gemeinsamen Bezugssystems von »Kapital und Arbeit« zu tun. Erst
wenn man das begriffen hat, wird verständlich, warum die neue sozialökonomische
Krise zusammenfällt mit der Paralyse des alten Klassenkampfs. Es geht also nicht
um die »kleinbürgerliche Klassenversöhnung« innerhalb und auf dem Boden der
(gemeinsamen) totalen Warenform, sondern um die Kritik und Aufhebung dieser
gemeinsamen historisch-gesellschaftlichen Fetischform selber. Denn jetzt wird
unausweichlich deutlich, daß alle Erscheinungen der sozialen Degradation, der
Armut und Unterdrückung primär dieser Form der totalen Ware-Geld-Beziehung als
solcher und nicht der bloßen Subjektivität ihrer selber bornierten
Funktionsträger entstammen.
Wenn wir im Lichte dieser Einsicht die
Entwicklung der sozialen Bewegungen (einschließlich der Gewerkschaften) seit dem
Pariser Mai 68 noch einmal Revue passieren lassen, dann erweisen sich die
zunehmende Schwäche der letzten und hinterletzten Gefechte des Klassenkampfs und
der Verfall des (alten) kritischen Bewußtseins als Indizien für die Annäherung
an die historische Systemgrenze. Das ignorierte, mißverstandene oder
kulturalistisch verkürzte Programm der Situationisten gegen den
Warenfetischismus, das selber noch in den Terms des Klassenkampfs formuliert
wurde, aber inhaltlich bereits darüber hinausging, kann als eine historische
Scharnierstelle verstanden werden. Es ist heute nicht mehr möglich, unmittelbar
daran anzuknüpfen; aber es gilt, unter Einbeziehung einer Kritik und
historischen Bewertung dieser damals radikalsten Theorie zu einer neuen,
transformatorischen Formkritik der warenproduzierenden Moderne zu gelangen.
Solange der Klassenkampfbegriff nur in irgendwelchen weich gewordenen Versionen
weitergeschleppt wird, köchelt die etatistische Orientierung als
Grundmißverständnis des gesamten alten »Sozialismus« in den lernunfähigen
Verliererfraktionen der Gewerkschaften, der Sozialdemokratie, der Kommunisten
und der Grünen weiter; und auch in den Köpfen der Gremliza, Trampert/Ebermann
usw. dürfte man selbst bei Tiefenbohrungen nichts anderes finden. Bei den
historischen Vorbildern, also den ehemaligen oder noch amtierenden Regimes
nachholender bürgerlicher Modernisierung, wird diese Perspektive immer
finsterer. Nach Jurij Masljukow, seines Zeichens Vorsitzender der russischen
Duma für Wirtschaftsfragen und KP-Funktionär, kann »der Staat
Wirtschaftsbetriebe durchaus effektiv führen«: »Rußlands Kommunistische Partei
fordert Änderungen in der Privatisierungspolitik, den stärkeren Schutz des
Binnenmarktes und staatliche Kontrolle über die Ressourcen des Landes«
(Handelsblatt, 15.3.96).
Die merkantilistischen Uraltrezepte der
marktwirtschaftlichen Vorzeit werden immer wieder aufgewärmt, jetzt aber im
Kontext einer offen kapitalistischen Orientierung und deren von jeder
marktkritischen Phraseologie gereinigten nationalistischen Flankierung. In der
VR China ist der Staatssozialismus nachholender Modernisierung bereits zu einem
barbarischen Regime mutiert, das eine allgemeine blutige Zuchthausverwaltung mit
einer radikal neoliberalen Entfesselung des Marktes verbindet und sich
bösartigerweise immer noch »sozialistisch« nennt. Kuba, das Land der karibischen
Lieblingsrevolution des alten Linksradikalismus, will nach den Worten seines
Wirtschaftsministers José Rodríguez ebenfalls in diese Fußstapfen treten: »Es
geht uns um Effizienz und um noch mehr Effizienz... Wir haben uns natürlich das
Ende der sozialistischen Systeme in Osteuropa, aber auch die Krisen in
Lateinamerika angesehen. Wir meinen, daß wir einen Mittelweg einschlagen müssen:
mehr oder weniger wie China« (Wirtschaftswoche 11/96).
Einige Reste der
westlichen Altlinksradikalen setzen ihren kubanischen Revolutionstourismus und
ihre unreflektierte Kuba-Solidarität immer noch fort, als wäre nichts gewesen;
sie können sich damit nur noch blamieren. Es ist sicher immer noch richtig,
gegen die Embargo-Politik der USA einzutreten, aber das hat nichts mehr mit der
Verteidigung einer historischen Alternative zu tun. Die Verweigerungshaltung der
Altlinksradikalen gegenüber dem Ansinnen, den Charakter all dieser Regimes
ebenso wie die eigene Orientierung daran theoretisch aufzuarbeiten und
historisch neu zu bewerten, diskreditiert alles, was sie noch an verschwommener
Kapitalismuskritik absondern. Nicht besser steht es mit den linksreformerischen
Strömungen mehr oder weniger akademischer Provenienz (die in der BRD etwa durch
Zeitschriften wie Prokla, Argument, links etc. repräsentiert werden). Diese
versuchen sich zwar stärker von der alten »Klassenmetaphysik« und vom alten
Linksetatismus zu entfernen, aber nur, um dieselbe Befangenheit in der modernen
bürgerlichen Form und ihren Funktionskategorien mit einer lediglich etwas
anderen Akzentsetzung zu reproduzieren.
An die Stelle einer formkritischen
Transformation des Klassenbegriffs soll eine »Klassentheorie auf der Höhe der
Zeit« (links Nr. 310/11, März/April 96) treten, die von jeder ökonomiekritischen
Fundierung abgelöst und rein demokratisch-politizistisch legitimiert ist, um
sich auf die »politisch-kulturelle Produktion von Sozialstruktur« (Heinz
Steinert) weitab vom Schuß der radikalen Markt- und Wertformkritik zu
kaprizieren. Je mehr diese Art der Restlinken scheinbar die Kritik der
politischen Ökonomie einklagt, desto weniger löst sie selber diese Forderung ein
und desto politizistischer und soziologistischer wird sie; und zwar deswegen,
weil sie sich vor der radikalen Formkritik ebenso fürchtet wie der
vorsintflutliche etatistische Linksradikalismus. Bezeichnend dafür ist das
Untersuchungsprogramm »Klassen 96«, das die ganze theoretische und praktische
Misere auf den Punkt bringt: »Antagonistische Interessenlagen und Strukturzwänge
kapitalistischer Reproduktion beherrschen das politische Alltagsgeschäft. Damit
wird auch die Botschaft vom Ende der Klassengesellschaft als das erkennbar, was
sie immer schon war: eine voreilige Verallgemeinerung, die an der Oberfläche des
Geschehens bleibt... Daß Strukturprinzipien des Kapitalismus so deutlich zu Tage
treten, ist keiner wie immer gearteten (!) Logik des Kapitals geschuldet.
Vielmehr ist es vor allem auch (!) Resultat einer politischen Strategie, nämlich
der neoliberalen Zerschlagung institutioneller Regulierungsformen, durch die der
Klassenkompromiß bislang abgesichert wurde« (links, a.a.O.).
Pejorativ wird
hier einerseits die Theorie und Kritik der basalen Logik des Kapitals
ausgeblendet bzw. in die Nebensätze verbannt. Gleichzeitig soll andererseits die
gegenwärtige Krise und soziale Degradation nicht einer historischen Entwicklung
und dem Erreichen einer historischen Grenze dieser basalen Logik selber
entspringen, sondern unhistorisch sollen es nur die »immer schon« außerhalb
jeder strukturellen Entwicklung gesetzten »Strukturprinzipien des Kapitalismus«
sein, die aufgrund einer rein »politischen Strategie« des Neoliberalismus nun
wieder einmal deutlicher hervortreten. Kapitalistische Geschichte findet also
nicht wesentlich strukturell und sozialökonomisch, sondern lediglich in
politischen, soziokulturellen und ideologischen Wechsellagen vor dem Hintergrund
von geschichtslosen »Strukturprinzipien« statt, die fast schon ontologisch
gesehen und daher auch nicht einer konkreten Radikalkritik unterzogen werden.
Glaubt der Oberlehrer- und Sozialarbeiter-Sozialismus allen Ernstes, es könnte
unter den Bedingungen der mikroelektronischen Revolution und des Kapitals als
Weltverhältnis nach der fordistischen Krise eine neue »institutionelle
Regulierungsform des Klassenkompromisses« geben, die überhaupt nur
nationalstaatlich und nationalökonomisch zu denken ist?
Zwar formuliert
Joachim Hirsch, einer der Protagonisten dieses Milieus restlinker Theorie,
durchaus eine Art kulturrevolutionäres und lebensweltlich bestimmtes
Kritikprogramm, das mit Walter Benjamin darauf hinauslaufen soll, »dieser
Maschinerie in die Räder zu greifen, sie anzuhalten, Schluß zu machen,
aufzuhören mit dem alltagspraktischen Mitmachen – und sei es noch so kritisch
reflektiert. Es gilt, sich von der alten sozialistischen Vorstellung eines
besseren Industriekapitalismus zu verabschieden und zu realisieren, daß
Befreiung weder eine bestimmte andere Gesellschaft noch die wie immer geartete
Modernisierung der bestehenden Verhältnisse, sondern nur die Schaffung der
Bedingungen heißen kann, die es möglich machen, das eigene gesellschaftliche
Leben frei zu gestalten« (links, a.a.O.). Das klingt gut und vielversprechend,
und es könnte der Ansatz für eine weitreichende solidarische Diskussion zur
Erneuerung der radikalen Gesellschaftskritik sein. Leider bleibt diese
Programmformulierung jedoch bei näherem Zusehen formationskritisch völlig leer
bzw. die Formationskritik bezieht sich (der sogenannten Regulationstheorie
folgend) lediglich auf die jeweilige Form der »politischen Regulation«, die
womöglich durch eine andere abgelöst werden soll, ohne daß auch nur ein
Ankratzen der totalisierten Warenform als Thema erkennbar wäre.
Damit
verfällt auch Hirsch der ausweglosen Alternative zwischen Skylla und Charybdis,
zwischen Markt und Staat. Im modernen warenproduzierenden System kann die
repressive Form des Staates immer nur durch die Freiheit des Marktes
konterkariert werden, die aber nur die Freiheit des Geldes und niemals die
»freie Gestaltung des eigenen gesellschaftlichen Lebens« ist. Der zynische
Freiheitsbegriff des Liberalismus verweist also die Menschen darauf, sich als
Konkurrenzmonaden selbständig zu machen, betriebswirtschaftlich bzw.
individualberuflich zu reüssieren usw. und dabei immer unter dem Joch des Geldes
durchzukriechen. Eine solidarische Gesellschaft frei vereinbarter Produktions-
und Lebensverhältnisse ist als Gesellschaft von Warenproduzenten per
definitionem unmöglich. Soziale Emanzipation kann nur noch Freiheit von der
Marktwirtschaft sein. Indem Hirsch diesen formkritischen Kern sozialer
Emanzipation heute nicht denken will, bleibt seine Kritik des
»alltagspraktischen Mitmachens« hohl. Jeder, der »sein Geld verdient«, muß immer
schon alltagspraktisch mitmachen, und dieses Mitmachen endet genau dort, wo das
Geldverdienen aufhört. Da er diese Grenze nicht markiert, landet Hirsch bei den
alten Formeln der »Politik«, unter Verdrängung der Tatsache, daß dies per se
eine etatistische Orientierung ist. Denn jede Politik ist ihrem Begriff nach
immer schon staatsbezogen.
Selbst wenn man zugesteht, daß es so etwas wie
eine Transformationsperiode geben muß, in der sich ein neuer Ansatz von
nicht-warenförmiger Selbstorganisation mit den weiterexistierenden Momenten
warenförmiger Reproduktion, Konflikten um Geld und damit auch der sogenannten
Politik (kritisch) vermitteln muß, so gilt es doch erst einmal, überhaupt einen
solchen neuen Ansatz sozialer Emanzipation zu formulieren, auf die Beine zu
stellen und explizit in seiner anti-ökonomischen und anti-politischen
Eigenqualität deutlich zu machen, statt die Frage der radikalen Kritik und der
Emanzipation im unverbindlichen metaphorischen Bereich zu belassen und ansonsten
in den alten Real- und Begriffskategorien von Markt und Politik weiterzudenken
und weiterzuagieren.
Auch wenn also jede wirkliche soziale Bewegung, auch die
radikalste, und damit auch eine völlig neue Bewegung über die totalisierte
Warenform hinaus in irgendeiner Form etwas Ähnliches wie eine »Dialektik von
Reform und Revolution« entwickeln muß, freilich mit einer ganz anderen, jetzt
erstmals das bürgerliche Universum der Moderne verlassenden Zielsetzung, so
bedarf es doch zunächst des neuen radikalkritischen Ziels und eines
entsprechenden konfliktträchtigen Impetus, bevor man das reformerische Moment
daran benennen kann (wenn dieser Begriff überhaupt noch zutreffend ist). Das
bedeutet als unabdingbaren kategorischen Imperativ hier und heute die (auch
emotionale) Verweigerung des kapitalistischen Leistungs- und Erfolgswahns, die
historische »Arbeitsverweigerung« (und darin eingeschlossen die Kritik eines
Leistungs- und Arbeitsquanten-Sozialismus, dessen Idee heute hinter den Stand
der Produktivkräfte zurückfällt). Es gilt überhaupt (vielleicht ebenso wie die
Situationisten auch Herbert Marcuse kritisch historisierend), eine Kultur
der Verweigerung zu entwickeln; und soweit z.B. Joachim Hirsch
ähnliches formuliert, ist ihm zuzustimmen, freilich auch die von ihm (bisher)
nicht gezogene ökonomie- und politikkritische Konsequenz zu ziehen.
Es kann
nicht ausbleiben, daß das neue historische Ziel einer Aufhebung von »Arbeit«,
Warenform, Geld, Markt und Staat auf die dumpfe Ablehnung des gesamten
herrschenden Bewußtseins stoßen muß; bei den protestantischen
Arbeitsfetischisten jeglicher Couleur sowieso aus prinzipiellen Gründen, bei den
Scheinpragmatikern aus Gründen der angeblichen Unrealisierbarkeit. Gerade weil
aber der Kampf um einen »gerechten Lohn für ein gerechtes Tagewerk« keinerlei
historische Entwicklungsperspektive mehr hat, steht jetzt endlich die
historische Konkretisierung der Marxschen Gegenparole auf der Tagesordnung:
»Nieder mit der Lohnarbeit!«. Das System der »Arbeitsplätze«, d.h. der
Verwandlung von »Arbeit« in Geld ist grundsätzlich anzugreifen, statt zu der
steinerweichenden Elendsdebatte um die »Schaffung von Arbeitsplätzen« ein
jämmerliches Konzept-Scherflein beizutragen.
Diese Perspektive bedeutet
keineswegs, das Terrain der »immer wieder aufbrechenden« immanenten
(warenförmigen) Interessengegensätze kampflos preiszugeben. Aus diesem
bürgerlichen, kapitalistisch formbestimmten Gegensatz kann aber eben kein
transformatorisches Ziel, kein Programm einer anderen Produktions- und
Lebensweise mehr entwickelt werden. Der Kampf um Geld, Lohn, Sozialstaat etc.
ist also ein historisches Auslaufmodell, das aber als solches auch besetzt
werden muß. Es steht nicht mehr für sich, sondern ist als flankierendes,
taktisches Moment für ein ganz anderes Ziel und Programm zu verstehen, d.h. für
eine nicht-warenförmige Reproduktion jenseits von Markt und Staat. Der
hoffnungslose Abstieg der Gewerkschaften in den vergangenen Jahren zeigt uns,
daß der bloß systemkonforme Konflikt nur noch in die Selbstaufgabe münden kann,
weil es Ziel und Strategie nicht mehr gibt, eine »Taktik« für sich allein ohne
strategisch-systemkritischen Bezug aber nicht möglich ist. Indem zusammen mit
einer neuen Zielbestimmung radikaler Gesellschaftskritik auch wieder ein
strategischer Bezug sozialer Bewegung möglich wird, kann überhaupt erst der
(flankierende) warenförmig-immanente soziale Interessenkampf erneute
Durchschlagskraft gewinnen.
Erst Menschen, die sich ein Ziel jenseits der
Lohnarbeit gesetzt und darin lebensweltliche Möglichkeiten gefunden haben,
können auch mit härteren Bandagen soziale Gratifikationen in der alten Form
einfordern (etwa nach dem Motto: »Euer Weltmarkt ist uns scheißegal«). Der
entscheidende Unterschied zum alten Klassenkampf wäre, daß die warenförmig
immanente Auseinandersetzung nicht mehr formspezifisch mit dem Ziel sozialer
Emanzipation zusammengeschlosen ist, sondern der Bruch mit der bürgerlichen Form
der Moderne in den Zielsetzungen selbst erscheint.
Die sozialen Akteure in
diesem Kontext können kein »Klassensubjekt« mehr sein, überhaupt kein apriorisch
konstituiertes und damit warenförmiges Subjekt, sondern nur eine sich selbst
konstituierende soziale Emanzipationsbewegung. Eine solche Bewegung wird nicht
mehr die Form einer politischen Partei annehmen, sondern die eines
Verbundsystems sozialer Initiativen auf verschiedenen Ebenen, deren gemeinsamer
Nenner nicht nur die Gesellschaftskritik an Markt und Staat, sondern auch
jeweils ein praktisches, lebensweltliches Moment der Entkoppelung von Markt,
Geld und Staat ist: für das gegenwärtige Normalbewußtsein nur deswegen auf
Anhieb so schwer vorstellbar, weil alle Kompetenzen der sozialen Kooperation und
der Reproduktion des Lebens (mit Ausnahme der »abgespaltenen« weiblichen
Tätigkeitsbereiche) auf Kapital und Staat übergegangen sind. Es sind weniger
technische oder ökonomische Realisationsprobleme, die sich dem Gedanken einer
Entkoppelung von Lebens- und Reproduktionsbereichen heute entgegenstellen, als
vielmehr die verinnerlichte Warenform des Subjekts.
Gelingt es, die
Perspektive einer Entkoppelungsbewegung von Markt und Staat in erreichbaren
Teilbereichen sozialer Reproduktion gesellschaftlich zu entwickeln, dann gewinnt
auch die Frage der Arbeitszeitverkürzung auf dem Boden der Warenform eine neue
Plausibilität. Auch ohne Lohnausgleich enthält ja die Arbeitszeitverkürzung oder
Teilzeitarbeit ein Moment der Gratifikation (im krassen Unterschied zum
Billiglohn oder untertariflichen Lohn eines zweiten Arbeitsmarktes): nämlich
einen Zugewinn an disponibler Zeit. Erscheint aber diese Gratifikation in einem
flächendeckenden System der Abhängigkeit vom Geld als sinnlos, so kann sie bei
einem gleichzeitigen Aufbau nicht-warenförmiger Elemente der sozialen
Reproduktion durchaus attraktiv werden. Eine gewerkschaftliche Opposition hätte
gerade in diesem Kontext (vermittelt mit einer neuen lebensweltlichen
Orientierung) ihre Aufgabe statt in einer bloßen Anklammerung an die alte
warenförmige Klassenkampf-Ideologie.
In der Geschichte seit 1968 (eigentlich
schon seit dem Zweiten Weltkrieg) sind kritische Theorie der Gesellschaft,
soziale Bewegungen und Gegenkultur immer weiter auseinandergefallen bis zur
völligen Paralyse der Gesellschaftskritik, bei gleichzeitig zunehmender
Reproduktionskrise der bürgerlichen Gesellschaft. Erst die Transformation und
Reformulierung der Gesellschaftskritik jenseits des Warenfetischismus wird eine
Reintegration und neue Durchschlagskraft möglich machen. Sicherlich kann diese
Erneuerung der Kritik heute nicht unvermittelt an das gewerkschaftliche,
warenförmig fixierte Massenbewußtsein herangetragen werden. Aber unter der
Oberfläche der herrschenden Institutionen (Parteien, Gewerkschaften,
Universitäten, Kirchen) könnte die Entfaltung eines Diskurses über das
»Unmögliche« dennoch möglich sein. Zu viele müssen heute innerhalb der Apparate
selber über die Klinge springen, als daß sich nicht Träger und Vermittler eines
solchen Diskurses finden lassen sollten. Wir brauchen keine wehmütige Erinnerung
an die absteigende Linie der letzten Gefechte des alten Klassenkampfs seit dem
Pariser Mai mehr, wenn wir anfangen können, uns auf das erste Gefecht eines ganz
anderen Mai vorzubereiten.