Robert Kurz
Marx 2000
Quelle: Weg und Ziel 2/99
Nach dem Untergang der Staatssozialismen hat der Kapitalismus die altbekannte
marxistische Metapher vom Totengräber umgedreht und für sich selber
beansprucht. Wenn aber der Marxschen Theorie zum wiederholten Male das Grab
geschaufelt wird, dann bringt die offizielle akademische Wissenschaft mit Sicherheit
den falschen Leichnam unter die Erde. Das Marxsche Werk stellt nämlich,
obwohl es von den staatssozialistischen bürokratischen Diktaturen für
legitimatorische Zwecke ausgeschlachtet wurde, seinem eigentlichen Gehalt nach
keine positive Theorie des "sozialistischen Aufbaus" dar, sondern
ganz im Gegenteil eine negative Krisentheorie des modernen warenproduzierenden
Systems. Das logische und analytische Bezugsfeld ist daher der entwicklungstheoretisch
extrapolierte, im Lichte seiner zukünftigen Krisenreife dargestellte Kapitalismus.
Die ideologische Instrumentalisierung für die Probleme einer "nachholenden
Modernisierung" an der kapitalistisch zurückgebliebenen Peripherie
des Weltmarkts (von der Oktoberrevolution bis zu den sogenannten Befreiungsbewegungen
der 3. Welt) hat diesen theoretischen Kern völlig verdunkelt. Dabei handelte
es sich freilich keineswegs um einen innertheoretischen "Irrtum",
sondern um den Gang der realen Geschichte: Das 20. Jahrhundert wurde ja in der
Tat nicht von der substantiellen Krise der kapitalistischen Produktionsweise
beherrscht, sondern von den Krisen der historischen Ungleichzeitigkeit, wie
sie aus dem globalen Gefälle von Kapitalkraft und Produktivität innerhalb
dieses Systems selbst hervorgingen. Wenn die historischen Nachzügler einen
verkürzten und verstümmelten Marx als legitimatorischen Ideologieträger
für sich reklamierten, um doch noch als eigenständige und satisfaktionsfähige
Teilhaber am bürgerlichen Universum des Weltmarkts firmieren zu können,
dann war das gewissermaßen ihr gutes Recht. Der Versuch mußte aber
notwendig scheitern an den Kriterien jener Systemlogik, die man durch staatliche
Moderation glaubte bändigen zu können.
Der Zusammenbruch staatlich geplanter Marktsysteme hat den westlichen Kapitalismus
mit sich allein gelassen: Er ist jetzt zum totalen, unipolaren, globalisierten
und "vergleichzeitigten" System geworden und hat keine Möglichkeit
mehr, sich an den veräußerlichten und zum vermeintlichen Gegensystem
aufgeblasenen Strukturen seiner eigenen historischen Ungleichzeitigkeit ideologisch
zu mästen. Denn die westliche Selbstlegitimation hatte ja ihrerseits immer
nur von den Defiziten der "nachholenden Modernisierung" gelebt, gemessen
am Entwicklungsstand der fortgeschrittensten kapitalistischen Länder (Warenkonsumideologie,
Menschenrechtskampagne etc.). Nunmehr muß sich der Kapitalismus an sich
selbst beweisen, und daran versagt er kläglich. Von Jahr zu Jahr wird es
unglaubwürdiger, das unaufhaltsam anschwellende Massenelend im Osten und
Süden als bloße "Erblast" der verblichenen Systeme zu verkaufen.
Vollends lächerlich wäre es, für die zunehmende Massenarmut und
soziale Degradation im Westen selbst jenen alten bösen Feind noch einmal
irgendwie verantwortlich machen zu wollen. Was jetzt geschieht, ist immer nur
Wirkung der wunderbaren und einzigen "Marktwirtschaft".
In dieser zwielichtigen gesellschaftlichen Situation gilt es keineswegs bloß,
Marx nicht zu vergessen, sondern ihn überhaupt erst zu entdecken und seine
Theorie mit neuen Augen zu lesen als Entwicklungs- und Krisentheorie des modernen
warenproduzierenden Systems (ein Begriff, der logisch den westlichen Kapitalismus
und die staatssozialistischen Systeme nachholender Modernisierung zusammenfaßt).
Eine solche Lesart der Marxschen Theorie "gegen den Strich" ihrer
geläufigen Interpretation erfordert freilich zweierlei. Nämlich erstens
ihre Historisierung, d.h. ihre Entstaubung von jenen Elementen, in denen Marx
selber noch innerhalb des Horizonts bürgerlicher Modernisierung dachte.
Zweitens aber ist es für eine solche Lesart erforderlich, die Marxsche
Theorie gewissermaßen umzupolen, sie also nicht mehr als positivistische
Darstellung der kapitalistischen Kategorien zu verstehen (die dann in der unaufgehobenen
Form bürgerlicher Subjektivität "bewältigt" werden
sollen), sondern umgekehrt als deren immanente radikale Kritik. Mit anderen
Worten: Es gilt die historisch bedingten Widersprüche in der Marxschen
Theorie zu erkennen und aufzuheben. Erst mit negativem statt positivem Vorzeichen
kann dieses Werk wieder zum theoretischen Sprengsatz werden.
Der Gehalt der Arbeitswertlehre
Der Begriff der "Arbeit" ist auf eine doppelte Weise konstitutiv für
alle modernen Gesellschaften: nämlich in einem ökonomisch-strukturellen
und in einem ethisch-moralischen Sinne. Die protestantische Arbeitsethik als
Säkularisierung des christlichen Leidensmasochismus wurde vom aufklärerischen
Liberalismus übernommen und ging als bürgerliches Erbe in den Marxismus
ein. Dasselbe geschah mit der Ökonomisierung der positiven protestantischen
Arbeitskategorie durch die Klassiker der bürgerlichen Volkswirtschaftslehre
und durch Marx in ihrem Gefolge. Dabei handelte es sich jedoch nicht um bloß
spekulative theoretische Setzungen, sondern um die theoretische Reflexion der
real sich entfaltenden kapitalistischen Produktionsweise. In diesem zunächst
gemeinsamen Verständnis erscheint die "Arbeit", also die Verausgabung
menschlicher Energie für die Zwecke gesellschaftlicher (Re)Produktion,
als die Substanz des ökonomischen Werts, der sich wiederum in der
Erscheinungform Geld (der ausgesonderten "allgemeinen Ware") darstellt:
Als Arbeitsgegenstände sind die Waren Wertgegenstände und haben Geldpreise.
Für das Verständnis bürgerlicher Subjektivität ist dieser
Zusammenhang ein positiver und verinnerlichter. Und soweit Marx selber noch
modernisierungs-theoretisch argumentiert, erscheint diese Positivierung auch
bei ihm. In diesem Sinne erweist sich das Marxsche Werk als Abkömmling
der liberalen Ideologie und der klassischen Volkswirtschaftslehre, der zwar
einerseits diese Muttertheorie der Moderne tötet, andererseits aber selber
noch ihre Muttermale trägt. Gerade dieser positivistische Marx aber ist
der bekannte "exoterische" Arbeiterbewegungs- und Klassenkampf-Marx.
Die Redeweise vom Mehrwert als der Form einer "unbezahlten Mehrarbeit"
und die dadurch strukturell bestimmte "Ausbeutung" der Arbeiter durch
die Kapitalisten legt es nahe, irgendwie den "vollen Wert" für
die "Arbeiterklasse" zu reklamieren. Damit aber sind Wert und "Arbeit"
als Form- und Substanzkategorien der kapitalistischen Gesellschaft gleichzeitig
zu ontologischen, überhistorischen Existenzbedingungen positiviert.
Das Problem des gesellschaftlichen Widerspruchs löst sich so in subjektive
Willensverhältnisse auf, da ja die Strukturkategorien selbst als
neutrale, positive und ontologische zum stummen Apriori geworden sind: Es scheint
dann so, als wäre der Kapitalismus dadurch bestimmt, daß eine Klasse
von Herrschaftssubjekten eine andere, unterdrückte Klasse von Arbeitssubjekten
zu Nutz und Frommen der "herrschenden Klasse" schuften ließe,
um für letztere materielle Reichtümer und ein daraus zu ziehendes
Wohlergehen davonzutragen. Zwar unscharf und widersprüchlich in der Begrifflichkeit
und Darstellung, verweist die Tiefendimension der Marxschen Theorie jedoch auf
ein ganz anderes Verständnis. In dieser Lesart erscheint die "Arbeit"
plötzlich nicht mehr als positive, sondern als negative Substanz,
und der Wert demzufolge als die Form einer negativen Vergesellschaftung.
Die Arbeitssubstanz des Werts ist real und objektiv, aber nur innerhalb des
modernen warenproduzierenden Systems. In keiner anderen Produktions- und Lebensweise
hat jemals die praktische Tätigkeit der Gesellschaft im "Stoffwechselprozeß
mit der Natur" (Marx) den substantiellen Gehalt der gesellschaftlich-allgemeinen
(übergreifenden) Abstraktion "Arbeit" angenommen und in der Form
des Werts den gesamten Reproduktionsprozeß beherrscht.
In diesem System ist das Geld, die handgreifliche Erscheinungsform des Werts,
auf sich selbst rückgekoppelt. In der Verwertungsbewegung des Kapitals,
die aus Geld mehr Geld macht, wird es zum prozessierenden Selbstzweck. Wenn
aber die Substanz des Werts und damit des Geldes "Arbeit" ist, definiert
sich somit auch letztere als Selbstzweck: als auf sich selbst rückgekoppelte
permanente Entäußerung menschlicher Energie. Die systemische Rückkoppelung
macht die "Arbeit" erst zur "Arbeit" und das Geld erst zum
Geld, indem sich der mediale Charakter der "Arbeit" im "Stoffwechselprozeß
mit der Natur" und der mediale Charakter des Geldes im sozialen Stoffwechselprozeß
der Gesellschaft jeweils zum Zweck verkehrt, der den handelnden Subjekten immer
schon vorausgesetzt ist. Marx nennt diese paradoxe und irrationale Verselbständigung
des Mittels oder Mediums das "automatische Subjekt" der Moderne.
Weit davon entfernt, selber die Subjekte der ganzen Veranstaltung zu sein, erweisen
sich die Kapitaleigentümer ebenso wie die Manager als bloße Funktionäre
dieses "automatischen Subjekts" jenseits aller eigenen Zielsetzungen;
wobei übrigens die Gratifikationen für die sogenannten Herrschenden
im Verhältnis zum gigantischen Aufwand geradezu lächerlich wirken
und hinter den Luxuskonsum aller vormodernen Eliten weit zurückfallen,
ja sogar mit fortschreitender kapitalistischer Entwicklung immer dümmer
und dürftiger geworden sind. Zu diesem Verständnis der kapitalistischen
Produktions- und Lebensverhältnisse würde eigentlich viel besser der
Begriff der (objektivierten) "Vernutzung" des Arbeitsvermögens
passen als der Begriff der (subjektiv und soziologisch beschränkt aufgefaßten)
"Ausbeutung". Den Lohnarbeitern wird nicht ihr eigenes gesellschaftliches
Produkt unmittelbar vorenthalten, sondern vielmehr wird die gesellschaftliche
Reichtumsproduktion selber den systemischen Restriktionen eines monströsen
Selbstzwecks unterworfen.
Indem das verselbständigte Mittel ("Arbeit") oder Medium (Geld)
selbstbezüglich geworden ist, entsteht ein paradoxes "gesellschaftliches
Verhältnis der Sachen" (Marx), während die Menschen selber nicht
direkt aufeinander bezogen sind, sondern primär voneinander isoliert bleiben
und erst über die Werteigenschaft der Produkte sekundär vergesellschaftet
werden. Genau das ist es, was Marx den Fetischismus der Warenform genannt hat.
Der Einsatz der gesellschaftlichen Ressourcen geschieht nicht vermittels einer
bewußten gemeinschaftlichen Regulation im vorhinein durch gesellschaftliche
Institutionen, sondern vermittels einer blinden Verausgabung von Arbeitsenergie
für anonyme Mäkte, deren gesellschaftliches Zusammenstimmen sich ebenso
blind und objektiviert-systemgesetzlich erst im nachhinein und "hinter
dem Rücken" der beteiligten Subjekte erweisen kann, also niemals gewährleistet
ist (was bekanntlich Adam Smith mit dem Topos der "invisible hand"
gefeiert hat, obwohl die Friktionen einer derartigen blinden Vergesellschaftung
offensichtlich sind).
In diesem Fetischismus einer Vergesellschaftung der toten Dinge statt der lebendigen
Menschen selbst, der das Wesen des "automatischen Subjekts" ausmacht,
stellt sich ein Verhältnis von Form und substantiellem Inhalt her, das
sowohl real als auch phantasmagorisch ist. Die konkrete menschliche Tätigkeit
in der Umformung der Naturstoffe bleibt ungesellschaftlich und partikular ("betriebswirtschaftlich"),
obwohl sie von vornherein nicht autark, sondern auf einen Zusammenhang allseitiger
und wechselseitiger Abhängigkeit ausgerichtet ist. Die erst sekundäre
Vergesellschaftung über den Markt macht zweierlei notwendig: Erstens wird
die produktive Tätigkeit jeder konkreten Bestimmung entkleidet, also abstraktifiziert
zur puren "Verausgabung von Nerv, Muskel, Hirn" (Marx) und erst dadurch
zur abstrakten "Arbeit", um die qualitativ verschiedenen Tätigkeiten
und Güter im Äquivalententausch kommensurabel zu machen; zweitens
erscheint diese abstraktifizierte Verausgabung von menschlich-gesellschaftlicher
Energie (in der durch den jeweiligen Produktivitätsstandard gültigen
Quantifizierung) nunmehr, obwohl sie als realer Prozeß bereits vergangen
ist, als gesellschaftliche Eigenschaft und Substanz der Produkte - die wiederum
durch die ausgesonderte "allgemeine Ware" des Geldes ihren Ausdruck
in der Form des Geldpreises erhält.
Weil jedoch das Geld als Geldkapital in der "Verwertung des Werts"
das übergreifende und selbstbezügliche Moment (und insofern auch den
Ausgangspunkt) darstellt, findet die konkrete Tätigkeit des produktiven
menschlichen Naturbezugs auch von vornherein nur im Hinblick (und für den
Selbstzweck) der in Werteigenschaft und Geld buchstäblich real gewordenen
Abstraktion statt: Der Verkehrung von Zweck und Mittel entspricht daher eine
Verkehrung des Konkreten und des Abstrakten; das Konkretum ist nur noch Ausdruck
des Abstraktums statt umgekehrt. Die sogenannte "konkrete Arbeit"
und das entsprechende Spektrum der "Gebrauchswerte" sind also nicht
die "gute", bedürfnisorientierte Seite des Systems, sondern selber
nur die konkrete Erscheinungsform einer Realabstraktion. Denn die konkrete Produktionstätigkeit
erscheint gesellschaftlich nur als "Träger" dieser Abstraktion.
Sie steht nicht für sich, sondern unterliegt dem Diktat der "Verwertung
des Werts". Die "konkrete Arbeit" bringt daher auch irrationale
und zerstörerische Resultate auf der Gebrauchswertseite hervor; und zwar
wider besseren Wissens aller Beteiligten, die dennoch an den Strukturzwang des
Systems gefesselt bleiben.
Phantasmagorisch dabei ist natürlich die Werteigenschaft der Produkte als
Träger verausgabter und abstraktifizierter "Arbeitssubstanz".
Denn erstens kann die produzierende Tätigkeit nicht real als abstrakte
Verausgabung menschlicher Energie von der stofflich-sinnlichen Gestalt der "konkreten
Arbeit" abgelöst werden. Dieser Vorgang findet nur im abstraktifizierenden
gesellschaftlichen Unbewußten als impliziter Automatismus statt, auch
wenn er im Geld reale dingliche Gestalt annimmt: Durch das Geld tritt der Gesellschaft
ihre eigene bewußtlose Abstraktion als verselbständigte, entfremdete
Macht gegenüber. Zweitens kann die produzierende Tätigkeit, da es
sich um einen lebendigen Prozeß handelt, auch nicht real als abstraktifizierter
"Stoff sui generis" in "geronnener" Form an den Produkten
festgehalten werden. Die sozial voneinander getrennten, erst im nachhinein über
die Produkte miteinander vermittelten Gesellschaftsmitglieder müssen also
ihre vergangene jeweilige "Arbeit" als Eigenschaft der Produkte halluzinieren
(und in der systemischen Rückkoppelung die jeweilige Produktionstätigkeit
unter diesem Aspekt ihrer abstrakten und halluzinatorischen Verdinglichung bereits
beginnen). Nur ein in den Kategorien des warenproduzierenden Systems
sozialisiertes Wesen wird die materiell nirgendwo dingfest zu machende halluzinierte
Wert- und Preiseigenschaft überhaupt wahrnehmen. Diese fetischistische
Halluzination ist aber dennoch keine willkürliche und zufällige: Die
gemäß dem jeweiligen Produktivitätsstandard gesellschaftlich
gültige Arbeitsmenge muß wirklich verausgabt worden sein. Der als
warenproduzierendes System in Erscheinung tretende kapitalistische Selbstzweck
gewinnt Festigkeit und Reproduktionsfähigkeit nur als gesellschaftlich-halluzinatorische
Verhältnisbeziehung von in der Vergangenheit jeweils real (in konkret-sinnlicher
Form) verausgabten Arbeitsquanta.
Die Marxsche Analyse der kapitalistischen Tiefenstruktur und des darin eingeschlossenen
Fetischismus, die den negativen Charakter der Arbeitssubstanz und ihrer Wertform
enthüllt, wurde vom Arbeiterbewegungs-Marxismus schamhaft ignoriert und
von der offiziellen Volkswirtschaftslehre als "philosophischer Quatsch"
abgetan. In ihrer Abwehr der Marxschen Theorie verwarf die akademische Wissenschaft
sogar die Lehre der bürgerlichen Klassiker von der aufgewendeten Arbeitsmenge
als Inhalt des ökonomischen Werts. Das herrschende Bewußtsein behielt
vom positiven Arbeitsbegriff nur die ethische repressive Sinngebung und Zwangsmoral
bei und wappnete sich so durch Ignoranz gegen die im Marxschen Fetischbegriff
lauernde Erkenntnis der eigenen irrationalen Konstitution. Die Volkswirtschaftslehre
verflachte zur Grenznutzentheorie oder subjektiven Wertlehre, die den Wertbegriff
völlig in der Erscheinung des Preises auflöst und den Preis wiederum
auf das rein subjektive Nutzenkalkül der (als solche apriorisch vorausgesetzten)
Marktteilnehmer zurückführt. Diese postklassische Theorie kann und
will eigentlich nichts mehr erklären, sondern nur noch die Kalküle
der Marktsubjekte in eine systemisch mathematisierte Darstellung bringen. In
den Gesellschaftswissenschaften tritt die Mathematik offensichtlich immer dann
auf den Plan, wenn der kritische Begriff verlorengegangen ist und die Deskription
des begriffslos gewordenen sozialen Zusammenhangs handhabbar gemacht werden
soll.
Daß der Preis nichts mit einer objektiven Wertsubstanz zu tun habe, sondern
in den subjektiven Nutzenschätzungen aufgehe, kann jedoch nur an Extremsituationen
außerhalb der implizit vorausgesetzten gesellschaftlichen Beziehungen
den Schein der Plausibilität gewinnen; so etwa beim berühmten "Glas
Wasser in der Wüste", dessen Grenznutzen nahezu ins Unendliche steigen
würde. Solche Beispiele sind jedoch unernsthaft, weil sie aus den alltäglichen
Vollzügen sozialökonomischer Handlungen und somit aus dem Gegenstandsbereich
der Volkswirtschaftslehre herausfallen. Innerhalb der realen Gesellschaftlichkeit
eines warenproduzierenden Systems dagegen ist der Erklärungswert der Grenznutzenschätzungen
von Gebrauchswerten gleich Null. Denn die Marktteilnehmer wägen zwar selbstverständlich
beim Kauf ihren subjektiven Nutzen und den dafür zu zahlenden Preis ab;
aber sie tun dies eben keineswegs voraussetzungslos, sondern unter objektivierten
Bedingungen, die ihnen aufgeherrscht sind und die bereits apriori und unreflektiert
in ihr Kalkül eingehen. Dabei verdreht die subjektive Wert- bzw. Preislehre
Ursache und Wirkung. Denn normalerweise steht ja ein Gut nur deshalb in größerer
Reichlichkeit zur Verfügung, weil die entsprechende Produktivität
erhöht, also die aufgewendete Arbeitsmenge pro Exemplar vermindert und
somit der objektive Wert der einzelnen Ware durch Verminderung seiner Arbeitssubstanz
gesenkt worden ist. Die subjektive Nutzenschätzung folgt also bestenfalls
nur dem Gang der gesellschaftlichen Produktivität bei der Verausgabung
von Arbeitssubstanz.
Die Empfindung des größeren oder geringeren Nutzens durch den Grad
der eigenen Bedürftigkeit reguliert jedoch keineswegs die Produktion der
Güter. Wenn etwa für eine große Masse von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern
die subjektive Nutzenschätzung von für sie unerreichbar gewordenen
Gütern steigt, so werden deswegen nicht etwa auch die Preise dieser Güter
steigen, sondern im Gegenteil eher fallen, weil die Nachfrage trotz steigender
Bedürftigkeit mangels Kaufkraft abgenommen hat. Es wäre ein bloßer
Zynismus, dieses Fallen der Preise (etwa in einem deflationären Schub)
darauf zurückzuführen, daß der Grenznutzen der Güter durch
Sättigung der entsprechenden Bedürfnisse eben abgenommen habe. Umgekehrt
wird die mangelnde Nachfrage aber auch nicht zu einem beliebigen Sinken der
Preise weit unter die durch den Produktivitätsstandard objektivierte Arbeitssubstanz
führen, sondern vielmehr zur Stillegung der Produktion trotz unbefriedigter
(sogar elementarer) Bedürfnisse und reichlicher Produktionspotenz.
Die Grenznutzenschule oder subjektive Wertlehre samt ihren diversen Fortentwicklungen
im 20. Jahrhundert ignoriert vollständig, daß die marktwirtschaftlich-kapitalistische
Gesellschaftsordnung nicht durch die Subjekte der Zirkulation, sondern durch
den irrationalen Selbstzweck der Produktion bestimmt wird. Die von Marx analysierte
kapitalistische Verkehrung von Zweck und Mittel erzwingt erstens, daß
die Menschen überhaupt nicht als Nachfrager auf den Warenmärkten erscheinen
können, bevor sie nicht im Namen des systemischen Selbstzwecks ihr eigenes
Fell auf den Arbeitsmärkten verscherbelt haben. Daraus folgt zweitens,
daß der Warenmarkt gerade nicht der Ort ist, an dem die Gebrauchswert-Nutzenschätzungen
unabhängig produzierender Subjekte aufeinander treffen. Vielmehr stellt
der Markt, der Ort der scheinhaften zirkulativen "Freiheit" des Kaufens
und Verkaufens, nichts anderes als die Sphäre der "Realisation des
Mehrwerts" dar, d.h. der Rückverwandlung der verausgabten Arbeitsquanta
in die Form des prozessierende Geldkapitals. Der Warenmarkt ist insofern nur
eine Durchlaufstufe des rastlos pulsierenden kapitalistischen Selbstzwecks und
weit davon entfernt, durch eine Summe subjektiver Nutzenschätzungen konstituiert
zu werden. Genau umgekehrt: diese Nutzenschätzungen können sich nur
im Rahmen der vorgegebenen kapitalistischen Systemgesetze bewegen. Der Begriff
des Nutzens selbst ist davon bestimmt und keineswegs vom Wohlbehagen und von
der Bedürfnisbefriedigung der Marktteilnehmer.
Der tendenzielle Fall der Profitrate und das Zusammenbruchsgesetz des Kapitals
Es ist leicht erkennbar, was die Ideologen der Volkswirtschaftslehre bei ihrer
Leugnung der objektiven Arbeitssubstanz umtreibt: Das Substanzproblem muß
entsorgt werden, weil dem Kapitalismus selber die Tendenz innewohnt, diese Substanz
überflüssig und obsolet zu machen, genau dadurch aber sich selbst
zu zerstören. Für ein Bewußtsein, das nur in den bürgerlichen
Formkategorien (der Zirkulation, des Warentauschs und seiner "Relationalitäten")
denken kann und will, muß deswegen die Form für sich allein übrigbleiben
und - mit welchen scheinemanzipatorischen Illusionen auch immer - verewigt werden,
während der substantielle Inhalt ideologisch entwirklicht wird, um die
Katastrophenpotenz seiner realen Entwirklichung und damit das unaufhaltsame
Obsoletwerden des Warentauschs und seiner Bewußtseinsformen nicht wahrhaben
zu müssen.
Der systemische Selbstwiderspruch, in dem der Kapitalismus seine eigene fetischistische
Substanz zerstört, wird gerade durch den hoch gepriesenen Konkurrenzmechanismus
gesetzt, der die kapitalistische Dynamik antreibt. Diese von der Vermittlung
über anonyme Märkte erzeugte Konkurrenz der partikularen betriebswirtschaftlichen
Marktteilnehmer erzwingt eine permanente Steigerung der Produktivität,
die auf die Dauer wiederum nur zu erreichen ist, indem menschliche Arbeitskraft
durch "wissenschaftlich-technische Agenzien" (Marx) ersetzt wird.
Das bedeutet, daß die einzelne Ware logischerweise immer weniger "wert"
ist, weil sie immer weniger "Arbeitssubstanz" darstellen kann. Somit
ist ein absoluter Endpunkt extrapolierbar, an dem die gesamte gesellschaftliche
Arbeitssubstanz auf eine derart geringe Quantität herabgesetzt wird, daß
die halluzinierte Werteigenschaft der Produkte real verfällt und ad absurdum
geführt wird.
Wenn sich die kapitalistische Produktionsweise trotz dieses logischen Selbstwiderspruchs
reproduzieren konnte, so nur durch ihre beständige Expansion: Je weniger
Wert alias Arbeitssubstanz die einzelne Ware darstellen konnte, desto mehr Waren
mußten produziert und verkauft werden. Solange sich die Menge der produzierten
Waren schneller ausdehnte als sich die Arbeits- oder Wertsubstanz der einzelnen
Ware verminderte, wurde der Systemzusammenbruch hinausgeschoben. Es galt also,
die Welt mit Waren zuzuschütten und die Menschen darauf zu konditionieren,
ihr Leben in der Form einer unaufhörlichen Warenproduktion und eines ständig
gesteigerten Warenkonsums zu organisieren. Innerhalb dieses Horizonts der kapitalistischen
Binnen- oder Durchsetzungsgeschichte konnte die Expansionsbewegung zwar krisenhafte
Stockungen erleben, aber sie kam immer wieder in Gang.
Auf genau dieser Ebene ist auch das berühmte Marxsche "Gesetz des
tendenziellen Falls der Profitrate" angesiedelt. Die Profitrate ist das
Verhältnis des betriebswirtschaftlichen Gewinns zu den gesamten Vorauskosten.
Am Ende des Reproduktionsprozesses eines Kapitals müssen die Vorauskosten
wieder eingespielt und außerdem ein Surplus erzielt worden sein. Die Vorauskosten
setzen sich nun aus zwei Bestandteilen zusammen: den Kosten für das Sachkapital
(Gebäude, Maschinen, Verarbeitungsmaterial) und den Kosten für die
Lohnarbeiter. Da sich der Wert der toten Materialbestandteile durch den Produktionsprozeß
an den Produkten nur unveränderlich reproduziert (die Wertsubstanz wird
gewissermaßen, in der Sprache der fetischistischen Halluzination ausgedrückt,
durch die Abnutzung der Materialien auf die Produkte "übertragen"),
kann der Surplus nur vom Anteil der lebendigen Arbeitskraft kommen, die über
ihre eigene Reproduktion hinaus zusätzliche Wertsubstanz schafft und so
den gesellschaftlichen Automaten füttert.
Wie sich nun wegen der Substitution von Arbeitskraft durch wissenschaftlich-technische
Aggregate die Wertsubstanz der einzelnen Ware vermindert, so fällt durch
denselben Prozeß logischerweise auch die Profitrate eines jeweiligen Geldkapitals
von bestimmter Größenordnung. Denn wenn sich der relative Anteil
der bloß reproduzierten und keine zusätzliche Surplus-Wertsubstanz
schöpfenden toten Materialbestandteile am eingesetzten Gesamtkapital ständig
vergrößert, während der relative Anteil der allein Surplus-Wertsubstanz
setzenden Arbeitskraft sich entsprechend vermindert, so muß notwendigerweise
auch der Gewinn im Verhältnis zum eingesetzten Gesamtkapital immer kleiner
werden. Mit anderen Worten: Um denselben Profit erzielen zu können, sind
immer größere Vorauskosten erforderlich.
Wie der Name schon sagt, ist dieser "tendenzielle Fall der Profitrate"
aber nur eine relative Größe, die deshalb keineswegs (wie oft fälschlich
angenommen wird) die absolute Grenze der kapitalistischen Produktionsweise markiert
und etwa das Argument dafür wäre. Das Fallen der Profitrate ist nur
die Art und Weise, wie der kapitalistische Selbstwiderspruch auch in der kompensierenden
Expansionsbewegung zum Ausdruck kommt. Wie die Verminderung der Wertsubstanz
an der einzelnen Ware dadurch kompensiert und überkompensiert wird, daß
sich die Produktion zusätzlicher Waren schneller ausdehnt und also trotzdem
insgesamt mehr Wertsubstanz "erzeugt" wird, ebenso wird durch denselben
Prozeß der Fall der Profitrate dadurch kompensiert und überkompensiert,
daß insgesamt mehr Geldkapital eingesetzt wird, als sich die Profitrate
des einzelnen, jeweiligen Geldkapitals vermindert. Die (relative) Profitrate
kann also fallen, während die (absolute) Profitmasse trotzdem steigt.
Dieser bloß relative Charakter des Falls der Profitrate zeigt sich auch
in den von Marx genannten "entgegenwirkenden Ursachen", deren wichtigste
die Verbilligung des sogenannten "konstanten Kapitals" (d.h. des toten
Sachkapitals) ist. Wenn die Steigerung der Produktivität bei der Produktion
von Produktionsmitteln (Investitionsgütern) größer ist als die
Produktivitätssteigerung insgesamt, dann verbilligen sich auch die Sachkapitalgüter
mehr als sich der Anteil der lebendigen Arbeitskraft pro Geldkapital vermindert;
der Fall der Profitrate kann also aufgehalten werden oder die Profitrate kann
sogar steigen, obwohl sich die "stofflich-technische Masse" des toten
Sachkapitals im Verhältnis zur rentabel einsetzbaren Arbeitskraft weiterhin
erhöht. Aber da sich die kapitalistischen Kategorien immer nur auf die
Realabstraktion der Wertsubstanz beziehen, kommt es auch allein auf deren Größenverhältnisse
an. Kann also die schnellere Verbilligung des Sachkapitals den Fall der Profitrate
stoppen, so ist sie doch gleichzeitig absolut gesehen Bestandteil der Verminderung
der Wertsubstanz pro Ware, da diese ja bei der Steigerung der Produktivität
in der Produktion von Investitionsgütern ebenso gültig ist wie in
der Produktion von Konsumgütern.
Was in den Krisen geschieht, ist eben gerade nicht ein irgendwie verstärkter
Fall der relativen Profitrate, sondern der Fall der absoluten Profitmasse, d.h.
die kompensierende Expansionsbewegung kommt zum Stehen und damit die Produktion
überhaupt in einem großen, gesellschaftlichen Ausmaß. An diesen
Krisen ist ihrerseits nur soviel relativ, als sie zeitlich beschränkt sind,
also sich nur auf eine bestimmte Konstellation der noch nicht abgeschlossenen
kapitalistischen Entwicklung beziehen. Marx sah als abstrakte Möglichkeit
(und in den "Grundrissen" als logischen Endpunkt) eine ausweglose
Konstellation voraus, in der die kompensierende Expansionsbewegung nicht mehr
in Gang kommen kann, die absolute Profitmasse ins Bodenlose fällt und die
Mehrheit der Bevölkerung "außer Kurs gesetzt wird", weil
die zugrunde liegende Produktion von "Wertsubstanz" durch den erreichten
Grad der Verwissenschaftlichung (und damit der Substitution von Arbeitskraft
durch technische Aggregate) nicht mehr in einem gesellschaftlich nennenswerten
Ausmaß möglich ist.
Der Verfall der Wertsubstanz wird dann endgültig und irreversibel aus einem
relativen (Fall der Profitrate) in einen absoluten (Fall der Profitmasse) Status
überführt; sichtbar an der massenhaften Stillegung der Produktion
und einer dauerhaften Massenarbeitslosigkeit. Unter Beibehaltung der kapitalistischen
Formbeziehungen von allgemeinem Warentausch, Arbeitsmarkt und "Geldverdienen"
würde dann die absurde Situation entstehen, daß die Gesellschaft
verelendet, obwohl alle materiellen Faktoren der Reichtumsproduktion in einem
sogar überreichlichen Ausmaß zur Verfügung stehen.
Genau in diese Absurdität führt die dritte industrielle Revolution
der Mikroelektronik heute mit Riesenschritten real hinein. Was Marx nur als
abstrakte, in weiter Ferne liegende "Endlogik" in dürren Worten
erfaßte, erscheint in der gesellschaftlichen Wirklichkeit durch die neuen
Potentiale der Rationalisierung und Automatisierung, die nach einer langen Inkubationszeit
(die ersten Debatten in dieser Hinsicht fanden schon in den 50er und 60er Jahren
statt) zu greifen beginnen, obwohl sie noch lange nicht ausgeschöpft sind.
Die strukturelle Massenarbeitslosigkeit (andere einschlägige Phänomene
sind Billiglohn, Sozialhilfe, Müllhaldenproduktion und verwandte Elendsformen)
zeigt an, daß die kompensierende historische Expansionsbewegung des Kapitals
zum Stillstand kommt.
Wenn dieser Stillstand zunächst nur auf der sozialen Ebene und nicht als
Zusammenbruch der absoluten Profitmasse erscheint, also die Illusion einer Kapitalakkumulation
ohne entsprechende Arbeitssubstanz erzeugt wird, so aus dem einfachen Grund,
weil die auf der realökonomischen Ebene (der Erzeugung und dem Verkauf
von Gütern) nicht mehr weiterlaufende erweiterte Reproduktion der Wert-
oder Arbeitssubstanz durch das Kreditsystem und die Entkoppelung der spekulativen
Finanzmärkte für einen gewissen Zeitraum simuliert wird. Der Kredit
(d.h. die Masse der im Bankensystem gesammelten und für Produktions- oder
Konsumzwecke gegen Zins ausgeliehenen Spargelder der Gesellschaft) ist zwar
eine ganz normale kapitalistische Erscheinung, die aber mit zunehmender Geschwindigkeit
der kapitalistischen Expansionsbewegung an Bedeutung gewonnen hat: Es handelt
sich um einen Zugriff auf zukünftige Geldeinkommen (also auch auf zukünftige
Verausgabung von Arbeitskraft und zukünftige Bildung von Wertsubstanz),
um den gegenwärtigen Betrieb am Laufen zu halten. Darin deutet sich schon
seit Beginn des 20. Jahrhunderts die heute hautnah herangerückte innere
Grenze des Verwertungsprozesses an, ebenso wie in der "Entsubstantialisierung"
des Geldes durch die Entkoppelung von der realen Wertsubstanz des Goldes seit
dem 1. Weltkrieg.
Die kompensierende Expansion und damit die ständige Erweiterung der Profitmasse
bei in der Regel fallender Profitrate konnte dennoch fortgesetzt werden, solange
die entsprechenden Geldeinkommen in der Zukunft wirklich auf der Basis realer
Wertsubstanz (einschließlich der Bedienung der Zinsen) nachfolgten. Je
mehr dies aber inzwischen die dritte industrielle Revolution verunmöglicht,
desto stärker und massenhafter wird die Flucht in den Kredit, desto abrupter
und tiefer muß dann aber auch der Absturz in die allgemeine Finanzkrise
sein, wenn die reale Wertsubstanz nicht mehr nachfolgt. Der kreditfinanzierte
Staatskonsum ist an diese Grenze der simulativen Reproduktion bereits weltweit
herangekommen; aber auch der kreditfinanzierte private Massenkonsum und die
Plünderung der Sparguthaben, Erbschaften usw. für Konsumzwecke, die
Auflösung stiller Reserven bei den Unternehmen, das stetige Sinken der
Eigenkapitalquote und vor allem die Kreation von "fiktivem Kapital"
durch das beispiellose Abheben der Aktienkurse (im Verhältnis zum realökonomischen
Wachstum) zeigen, daß das simulierte Weiterlaufen der kapitalistischen
Expansion seinen äußersten Grenzbereich zu erreichen beginnt.
Die groteske Illusion einer unendlich weiterprozessierenden Form ohne substantiellen
Inhalt konnte in der gegenwärtig noch andauernden Epoche des "Kasinokapitalismus"
und des "Lebens auf Pump" nur den Anschein der Haltbarkeit gewinnen,
weil sich der Zusammenbruch des abgehobenen, substanzlosen Finanzüberbaus
erst nach einer gewissen Inkubationszeit realisiert: Die Laufzeiten des Kreditsystems
bewegen sich zwischen einem Tag am kurzen und mehreren Jahren oder Jahrzehnten
am langen Ende, außerdem kann vorübergehend auch noch einmal "umgeschuldet"
werden; und die Blase der scheinbar beliebig sich blähenden Aktienwerte
bedarf eines äußeren Anlasses, um ihr unvermeidliches Platzen zu
erleben. In dem Maße aber, wie sich die anstehende "Entwertung des
Werts" realisiert, wird auch der fetischistische Selbstzweck der ganzen
Produktionsweise für alle enthüllt - und damit sowohl das theoretische
Denken als auch der Alltagsverstand in den "relationalen" Beziehungsformen
des allumfassenden Warentauschs historisch lächerlich gemacht.
Utopie und Planwirtschaft
Keineswegs zufällig hatte die positivistische historische Arbeiterbewegung
ihre Begehrlichkeit nicht auf die Befreiung der Reichtumsproduktion von der
restriktiven und in ihren Wirkungen absurden "Arbeit" und ihrer Wertform
gerichtet, sondern im Gegenteil auf die vermeintliche "Befreiung"
der fetischistischen Substanz selbst ("Befreiung der Arbeit") und
auf die eigene "gerechte Beteiligung" an den Erträgen der irrationalen
Verausgabung menschlicher Energie. Eben dadurch wurde diese große soziale
Bewegung unfreiwillig selber zum Promotor der kapitalistischen Produktionsweise,
indem sie gegen die bornierten Repräsentanten des unentwickelten Kapitalverhältnisses
die Voraussetzungen für dessen Verallgemeinerung durchkämpfte. Der
Marxsche "Klassenkampf" entpuppte sich so als die immanente Bewegungsform
des Kapitalismus selbst und nicht als seine transzendierende Aufhebungsbewegung,
wie Marx gemeint hatte.
Die Arbeiterbewegung machte sich dabei zum Subjekt und gleichzeitig zum Idioten
des modernen warenfetischistischen Systems. Zusammen mit der abstrakten Arbeitssubstanz
und der allgemeinen Wertform der gesellschaftlichen Reproduktion positivierte
sie alle Strukturkategorien der kapitalistischen Gesellschaft, machte sie sich
zu eigen und blies sie zu ontologischen menschlichen Existenzbedingungen auf:
Ebenso wie Arbeitsmarkt, Geldlohn und Warentausch wurden so Staatsapparat (abstrakte
Menschenverwaltung), Nation und Nationalökonomie, Betriebswirtschaft und
Geheimpolizei, blutsverwandtschaftliche Kleinfamilie und Automobilisierung etc.
übernommen und mit "sozialistischen" Vorzeichen versehen. Figuren
wie Blair, Schröder, Clement oder auf der anderen Seite der Welt Gorbatschow,
Jelzin u.Co. stellen nichts anderes als das Endstadium dieses historischen Mißverständnisses
dar. Aus dieser systemimmanenten Perspektive durfte natürlich die Krise
auf keinen Fall bis zu einem absoluten, ausweglosen Verfall der substantiellen
Produktion von "Wert" ausgeweitet werden, weil sonst das ganze Konstrukt
des positivistischen Selbstverständnisses hinfällig gewesen wäre.
Die arbeiterbewegte Ideologie war geradezu naiv optimistisch im Hinblick auf
die Erhaltung der Arbeitssubstanz, die auch noch den Sozialismus in eine unabsehbare
Zukunft tragen sollte.
Es konnte nicht ausbleiben, daß sich dieses verkürzte Verständnis
des Kapitalismus auch auf die Vorstellungen über eine nachkapitalistische
Gesellschaft auswirkte. Marx selber hat nur an wenigen Stellen zu erkennen gegeben,
daß mit der Aufhebung des gesellschaftlichen Fetischismus Arbeitssubstanz
und Wertform gemeinsam verschwinden müssen. Ansonsten beharrt er ziemlich
durchgängig auf einer substantiellen Ontologie der "Arbeit" auch
und gerade im Sozialismus, der gegenüber die Aufhebung der Fetischform
in einem von ihm anvisierten "Verein freier Menschen" reichlich dunkel
bleibt. Indem die Arbeiterbewegung vollends als Modernisierungs-Agentur in die
gesellschaftliche Form-Unbewußtheit zurücksank, blieb für den
Sozialismus nur noch die Vorstellung einer staatlichen Planung der gesellschaftlichen
Arbeitsquanta übrig. Die postulierte gesellschaftliche Planung "im
vorhinein" bezog sich daher paradoxerweise auf die Fetisch-Kategorien einer
Vergesellschaftung "im nachhinein". Eben deswegen mußte sie
auch von einer modernen Staatsbürokratie übernommen werden. Per definitionem
ist aber der Staatsapparat in der Marxschen Theorie als ein von der Gesellschaft
getrennter Sonderkörper bestimmt, der somit nicht als Institution der bewußten
gesellschaftlichen Selbstverständigung fungieren kann, sondern immer nur
als Agentur der äußerlichen Menschenverwaltung im Namen des vorausgesetzten
kapitalistischen Selbstzwecks.
Sowohl das programmatische Sozialismusverständnis der westlichen Sozialdemokratie
als auch die reale Praxis des östlichen Staatssozialismus waren in diesem
Sinne schlechte "Arbeitsutopien", also aus dem paradoxen Modernisierungsprozeß
entlaufene paradoxe Erscheinungen eines "Nirgendlandes", in dem der
unaufgehobene Fetischismus von Selbstzweck-Arbeitssubstanz und Wertform im "proletarischen
Sonnenstaat" nicht allein die Befreiung von den absurden kapitalistischen
Restriktionen der Reichtumsproduktion, sondern gleich eine Art paradiesischen
Endzustand der Geschichte herbeiführen sollte. Die metaphysische Überhöhung
des Zwecks resultierte notwendig aus der Ahnung des Selbstbetrugs, die in dieser
arbeitsutopischen Vorstellungswelt immer mitschwingen mußte. Soweit versucht
wurde, dieses "Nirgendland" zu "realisieren", konnte dieses
Unterfangen entweder nur staatsterroristische Formen annehmen und mußte
letzten Endes scheitern, oder es führte (wie im Fall der westlichen Sozialdemokratie)
direkt zur Integration in den bestehenden kapitalistischen Staats- und Verwaltungsapparat.
Gerade die scheinbar radikalsten Ideen in dieser Geschichte blieben befangen
in den Erscheinungen der kapitalistischen Oberfläche und konnten so auch
nur die zugrunde liegenden oder den jeweils anderen Pol bildenden Kategorien
derselben negativen Vergesellschaftung verabsolutieren; aber nur deswegen, weil
sie eben in Wirklichkeit nicht radikal genug waren. Vor allem die unvermittelte
Idee einer "Abschaffung des Geldes" als vereinzelt auftretender Oberflächen-Radikalismus
konnte so nur als Zerstörung eines vermittelnden Moments im Kontext der
unaufgehobenen fetischistischen Substanzbewegung auftreten, die dann einzig
als unmittelbarer Staatsterrorismus zu bewerkstelligen war. Das vielbeschworene
terroristische Regime eines Pol Pot ist in diesem Sinne viel eher als Irrläufer
einer "nachholenden" Modernisierungs-Diktatur zu begreifen denn als
gescheiterter Aufhebungsversuch des warenproduzierenden Systems. Eine emanzipatorische
"Abschaffung des Geldes" wäre nur zu haben zusammen mit einer
Abschaffung der Arbeitssubstanz, ihrer Wertform und des dazugehörigen,
der Gesellschaft äußerlichen Staatsapparats. Es ist gerade nicht
der "esoterische", fetischismus-kritische Marx, der sich in Pol Pot
gewissermaßen realisiert hätte und deshalb mit allen Zeichen des
Entsetzens zu verwerfen wäre. Dieser Marx ist es ja im Gegenteil gerade,
für den die Aufhebung der Warenform (und damit des Geldes als Selbstzweck-Medium)
nicht nur identisch mit einem Obsoletwerden der abstrakten "Arbeit",
sondern auch mit einer "Zurücknahme des Staates in die Gesellschaft"
ist. Die Marxsche Theorie in ihrer nicht-positivistischen Lesart bestimmt das
Geld und den Staat gleichermaßen als die beiden Pole der negativen abstrakten
Allgemeinheit in einer Gesellschaft, die ihrer selbst nicht bewußt
und mächtig ist, weil sich in ihrer Reproduktion Zweck und Mittel, Abstraktum
und Konkretum verkehrt haben.
Wenn statt einer emanzipatorischen Aufhebung der negativen Totalität der
Staat gegen das Geld verabsolutierend ausgespielt werden soll, muß dieser
Versuch ebenso die soziale und moralische Katastrophe gebären wie die umgekehrte
Verabsolutierung des Geldes gegenüber der staatlichen Regulation. Es ist
aber gerade der gegenwärtige neoliberale Konsens der globalen Eliten, der
genau diesen zu Pol Pot spiegelbildlichen Versuch unternimmt. Bürokratische
Zwangsarbeit für Sozialhilfeempfänger oder Restriktionen der medizinischen
Versorgung und Skinhead-Überfälle auf Behindertenheime sind ebenso
"Pol-Pot-Spurenelemente" in der westlich-demokratischen Gesellschaft
wie der grassierende pragmatistische Haß gegen die intellektuelle Reflexion.
Es ist die Wut des subjektlos entfesselten Geldes, die mit zunehmender Ausweglosigkeit
der arbeitsgesellschaftlichen Krise das liberaldemokratische westliche Regime
letzten Endes ebenso in die Errichtung von Schädelstätten zu treiben
droht wie jenes verwilderte totale Staatsregime in Ostasien.
Die gegenwärtig in Europa grassierende schwache keynesianische Nostalgie
kann die historische Drohung nicht auf den Begriff bringen, weil sie selber
nur der matte Abglanz eines matten Abglanzes des selber ursprünglich schon
matten positivistischen Arbeitsmarxismus ist; dennoch ahnt sie die Drohung und
möchte deshalb die beiden Pole negativer Vergesellschaftung auf dem fast
schon flehentlich beschworenen Boden der Arbeitssubstanz wieder ins Gleichgewicht
bringen. Aber wenn diese Substanz irreversibel verfällt und deshalb Geld
und Staat als Pole der abstrakten Allgemeinheit die gesellschaftliche Reproduktion
nicht mehr tragen können, hat es auch keinen Zweck mehr, nach "Bündnissen
für Arbeit" und einer "Rückkehr der staatlichen Regulation"
zu rufen.
Was unausweichlich historisch ansteht, ist eine Negation der negativen Vergesellschaftung
selbst, also die Befreiung der Reichtumsproduktion von den Restriktionen des
modernen warenproduzierenden Systems. Unter den Bedingungen der 3. industriellen
Revolution ist dabei die Planung von "Arbeitsquanta" ebenso obsolet
und unsinnig geworden wie die Verteilung nach "Leistungsquanta" der
einzelnen Verausgabungs-Individuen abstraktifizierter Energie (also dem wirklichen
oder angeblichen Anteil an der gesellschaftlichen Substanzmasse). Der Vergesellschaftungsgrad
hat eine derartige Höhe erreicht, daß die individuelle "Leistung"
weder zurechenbar noch von entscheidendem Gewicht ist. Vielmehr geht es um die
vernünftige Handhabung der wissenschaftlich-technischen Aggregate und deren
planmäßigen Einsatz. Eine bewußte gesellschaftliche Selbstverständigung
in diesem Sinne ist weder in der Fetischform des Werts möglich noch vermittels
eines staatsbürokratischen Apparats, sondern nur jenseits von Markt und
Staat durch die Entscheidung über den Ressourcenfluß "im vorhinein"
und unter Beteiligung aller Gesellschaftsmitglieder. Der gesellschaftliche Zeitfonds
dafür ist durch die Produktivkraftentwicklung längst überreichlich
vorhanden, kann aber unter den Bedingungen des warenproduzierenden Systems ebenfalls
nur in negativer Form als "Massenarbeitslosigkeit" erscheinen.
Der Marxsche Kommunismus ist und bleibt für die kapitalistische Produktionsweise
das Gespenst radikaler Kritik. Solange jedoch die Marxsche Theorie weiterhin
in der alten, obsolet gewordenen Lesart des positiven Arbeitsmarxismus verstanden
wird, ist dieses Gespenst zur Harmlosigkeit verurteilt. Das objektivierte Zusammenbruchsgesetz
der fetischistischen Substanz erfüllt sich auch ohne Kritik, dann freilich
auch ohne Hoffnung.