Zur fundamentalen Kritik des scheinbar Unüberwindbaren
- Teil I einer Serie von Franz Schandl -
»Wer sich scheut, endlich zu sein, scheut sich zu existieren.«
Ludwig Feuerbach
Gottesbeweis und Afterdienst
Wider jedwede Ontologisierung des Himmels geht es in
der Folge um eine Historisierung des gesellschaftlichen
Formprinzips der Religion als ein bestimmender
Fetisch der zweiten Natur, der jedoch unter den Bedingungen von
Warenwirtschaft und Geld stets an Bedeutung
verlieren muß.
Vor der Aufklärung gestaltete sich die Kritik an
abendländischer Kirche und Religion innerhalb des Glaubens
(Wyclif, Hus, Luther, Zwingli, Calvin, Müntzer).
Doch diese reformatorischen Bewegungen wurden nach dem
Dreißigjährigen Krieg schwächer und schwächer. Die
Kirche wurde zusehends weniger von internen Spaltungen
und Abspaltungen bedroht, sondern von außen:
Kapital, Politik, Aufklärung machten ihr das Leben immer
schwerer, entzogen ihr eine Zugriffsmöglichkeit
nach der anderen. Unter der Soutane ist sie nackt.
Es war »die luftige, neumodische Welt, welche alles
zu Geld macht, weil sie viel Geld braucht«, schrieb Jeremias
Gotthelf vor über 150 Jahren. Der Schweizer Pfaffe
schrieb in seinem Roman mit dem bezeichnenden Titel »Geld
und Geist« eine durchaus beeindruckende Prosa über
die Zersetzung des Glaubens in Zeiten des sich
durchsetzenden Warenverkehrs. In sorgsamer Betulichkeit wurden die neuen
Untugenden angeklagt. Allein, es
sollte nichts
nutzen. Eine Schicht nach der anderen wurde zu jenem Geld hin emanzipiert oder
von jenem
unterworfen. Was in der Konkretion
dasselbe gewesen ist. Der neue allgemeine Götze war das Geld, und Gott
sah schlecht aus gegen ihn. Während an ersteren
alle glauben, weil eben danach handeln mußten, wurde es
erstmals möglich, sich des letzteren zu entledigen.
Produktionsstätten und Markt führten die Menschen
zueinander, rissen sie aus der ständischen Trägheit, befreiten
sie von der Scholle, ließen sie die Welt als
Möglichkeit und Prozeß erblicken. Daß die Frau zumindest ein Mensch
ist und die Erde rund, setzte sich auch in den
dumpfesten Ganglien durch. Zwangsweise. Momente positiver
Dialektik des Kapitals und seines Wertfetischs
gegenüber der Religion und ihrem Gottfetisch ließen sich zuhauf
finden und benennen. Der alten Welt ist in Summe
absolut nicht nachzutrauern, wenngleich im Detail auch
Positives verschüttet werden mußte.
Der himmlischen Personalisierung folgte die irdische
Versachlichung der Welt durch die Ware. Doch der alte
Fetisch war mehr als zählebig, er lebte in der
neuen Form und ihren Bewegungen weiter, obwohl er nur noch
einen schwachen Abglanz alter Absolutheit
darstellte. Mit der Zeit wurde es sogar vorstellbar, nicht an einen Gott
glauben zu müssen, ja man wurde nicht nur nicht
verbrannt, sondern sogar toleriert. »Cuius regio, eius religio«
erscheint in Zeiten der Meinungs- und
Glaubensfreiheit wie eine dunkle Groteske längst vergangener Tage.
Derweil, das ist keine vierhundert Jahre her.
Religion erfährt im Kapitalismus eine Wandlung hin
vom allgemeinen Mittler des Geschehens zu einem bloß
besonderen Surrogat. Die bürgerliche Religion
verstehen wir als einen transzendierten Fortbestand des alten
Überfetischs als Sonderfetisch, der der neuen
Wertform aber ganz entschieden unterworfen ist, so sehr er auch als
deren Korrektur und Linderung auftritt. Der
Bedeutungswandel von der allgemeinen Bedingung gesellschaftlicher
Kommunikation zur besonderen Form der Sublimation
kann hier aber nicht weiter reflektiert werden.
Die beginnende Religionskritik war sich ihrer
weitgehend unbewußt. Baruch de Spinoza etwa behauptete noch
allen Ernstes, daß es überhaupt unmöglich sei, die
Existenz Gottes zu bezweifeln. Doch diese Feststellung
widerlegt sich von selbst. Wenn Spinoza davon
spricht, daß das Nichtsein Gottes unmöglich denkbar wäre, hätte
er es gar nicht aussprechen können. Denn was nicht
denkbar ist, ist auch nicht sagbar. So hat Spinoza mit der
kategorischen Zurückweisung dieser unstellbaren
Frage, sie doch vorerst selbst stellen müssen. Die dezidierte
Verneinung macht diese Ketzerei nicht verzeihbarer.
Eine Tür zur Aufklärung wird hier aufgestoßen, der
gehuldigte Fetisch gerade durch Begründung und Beweis der Affirmation
hinterfragt. Kein Wunder, daß die
Kirche auf ihn
nicht gut zu sprechen gewesen ist. Zuviel Nachfragerei, zuviel Denken geht in
solcherlei
Glaubensbekenntnis ein.
Schon der vorkritische Ansatz Kants, Gott beweisen
zu wollen, verdeutlicht die Krise des Glaubens. Denn Gott
ist vorausgesetzt, ewige Bedingung: Gott ist in der
christlichen Dogmatik das undiskutierbare Apriori. Noch
einmal: Wer beweisen will, zweifelt, ob er will
oder nicht, auch wenn er diese Zweifel ganz selbstverständlich
ausräumt. Spinoza, Kant oder auch Hegel wurden so
zu Religionskritikern wider Willen.
Nicht nur, wer sich von Gott ein Abbild macht,
sündigt, sondern auch jener, der das Unbegreifbare in Begriffe
fassen will. Der Versuch, Gott und die Vernunft der
Aufklärung zusammenzubringen, ist die nichterkannte
Vorstufe seiner Verflüchtigung.
Ein Grundproblem Kants war: Er dachte die Welt ohne
Gott, ohne freilich die Welt ohne Gott denken zu können:
»Religion ist (subjektiv betrachtet) das Erkenntnis
aller unserer Pflichten als göttliche Gebote«, schreibt er; oder:
»Ich nehme erstlich folgenden Satz, als einen
keines Beweises benötigten Grundsatz an: alles, was außer dem
guten Lebenswandel, der Mensch noch tun zu können
vermeint, um Gott wohlgefällig zu werden, ist bloßer
Religionswahn und Afterdienst Gottes.«
Wozu dann aber noch Gott? wäre die nächste Frage
gewesen, und die Kirche merkte sehr wohl, daß hier einer -
ohne es freilich subjektiv zu wollen - ihre
Prinzipien untergrub. Wer für die Freiheit der Andacht und gegen den
Tugendwahn eintrat, der war selbstredend
gefährlich. Was auf den vorkritischen Kant zutrifft, trifft also noch mehr
auf den Meister der »Kritiken« zu. »Schon der Titel
»Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« (1793)
setzt einen polemischen Anspruch und steht in
Fortsetzung der drei Kritiken, alle Gebiete des Wissens und auch
des Glaubens der Vernunft, der höchsten
menschlichen Instanz zu unterwerfen,« schreibt ein Biograph Kants.
Gott war ihm viel, doch die Vernunft war ihm alles.
Auf diese Subordination des Glaubens antwortete die
protestantische Kirche mit dem Einschreiten der
preußischen Zensurbehörde. Sogar an ein Publikationsverbot wurde gedacht. Auf
»Seiner Kösniglichen Majestät
Allergnädigsten
Spezialbefehl« teilte man dem hochangesehenen siebzigjährigen Philosophen
unverblümt wie
unverschämt mit, daß »widrigenfalls
Ihr Euch bei fortgesetzter Renitenz unfehlbar unangenehmer Verfügungen zu
gewärtigen habt«.
Das gemeine Extrem
Fetisch Religion: Teil II einer Serie von Franz Schandl
Für Hegel war Gott Erschaffer und Bezugspunkt der
Totalität. In seiner wegweisenden »Phänomenologie des
Geistes« (1806) heißt es: »Von allem, was ist, lag
die Bedeutung in dem Lichtfaden, durch den es an den Himmel
geknüpft war; an ihm, statt in dieser Gegenwart zu
verweilen, glitt der Blick über sie hinaus, zum göttlichen
Wesen, zu einer, wenn man so sagen kann,
jenseitigen Gegenwart hinauf.« »Das Wesen des Gottes aber ist die
Einheit des allgemeinen Daseins der Natur und des
selbstbewußten Geistes, der in seiner Wirklichkeit jenem
gegenüberstehend erscheint.«
Doch dort, wo Hegel die Götter (Plural!!!) als »das
freie Extrem der Allgemeinheit« bezeichnet, ist deren
menschliche Gemachtheit kaum zu überlesen. Die
Götter als zu Ende gedachter menschlicher Extremismus, besser
könnte man den Himmel nicht diskreditieren. Wo
immer sich die europäische Aufklärung über Gott hermachte,
blieb jener nicht ohne Schrammen. Sobald Gott nicht
mehr bloß erfahren und geglaubt, sondern gedacht und
erkannt werden sollte, wurde es für ihn brenzlig.
»Die wahrhafte Kritik der Kategorien und der
Vernunft ist gerade dies, das Erkennen über diesen Unterschied zu
verständigen und dasselbe abzuhalten, die
Bestimmungen und Verhältnisse des Endlichen auf Gott anzuwenden.«
Doch blättern wir in der »Logik« einige Seiten
zurück, schon fängt Hegel Gott in seinem System ein, wenn er
behauptet, »daß es nirgend im Himmel und auf Erden
etwas gebe, was nicht beides, Sein und Nichts, in sich
enthielte«.
Damit ist aber Gott dem Irdischen gleichgesetzt, nur
mehr unterscheidbar im spezifischen Ensemble von Sein und
Nichtsein, nicht mehr wesensmäßig anders. Faktisch
demontiert Hegel hier seinen Gott. Folgesätze wie »Gott ist
und Gott ist nicht« bzw. »Gott ist Werden und
Vergehen« sind mit dem obligaten Gottesglauben, der, um
bestehen zu können, immer intransigent sein muß,
unvereinbar. Hegels Denken ist hier weiter als seine
Überzeugung. Dieser Widerspruch zwischen Bekennen
und Erkennen zieht sich übrigens durch das ganze Werk
Hegels.
Vor den Schlüssen der Dialektik rettet sich Hegel
gewöhnlich in die Metaphysik. Am Rande seiner eigenen
Philosophie erzittert er, dort, wo sie vor lauter
Konsequenzmacherei überzuborden droht, flüchtet er in ein
kategorisches Muß. »Substanzen aber müssen wir
haben, denn wir haben sie angenommen; es soll uns nicht alles
verschwinden, sondern etwas übrigbleiben; denn wir
haben ein solches Beharrliches, das wir Substanz nannten,
vorausgesetzt; dies Etwas muß also einfach sein.«
Der Materialist Ludwig Feuerbach war es dann, der
die klassische Religionskritik verkehrte und somit vollendete.
Er spitzte Hegels »freies Extrem« in seinem
Hauptwerk »Das Wesen des Christentums« (1841) noch zu: »Die
Religion ist die Entzweiung des Menschen mit sich
selbst: er setzt sich Gott als ein ihm entgegengesetztes Wesen
gegenüber. Gott ist nicht, was der Mensch ist - der
Mensch nicht, was Gott ist. Gott ist das unendliche, der
Mensch das endliche Wesen; Gott vollkommen, der
Mensch unvollkommen; Gott ewig, der Mensch zeitlich; Gott
allmächtig, der Mensch ohnmächtig; Gott heilig, der
Mensch sündhaft. Gott und Mensch sind Extreme.«
Doch diesen falschen Dualismus enttarnt Feuerbach.
Gott wird eindeutig und durchgehend als
menschengeschaffen erkannt, als das vom Menschen freigesetzte absolute Extrem:
»Das Bewußtsein Gottes ist
das Selbstbewußtsein des
Menschen, die Erkenntnis Gottes die Selbsterkenntnis des Menschen. Aus seinem
Gott
erkennst du den Menschen, und wiederum aus dem
Menschen seinen Gott; beides ist eins. Was dem Menschen
Gott ist, das ist sein Geist, seine Seele, und was
des Menschen Geist, seine Seele, sein Herz, das ist sein Gott;
Gott ist das offenbare Innere, das ausgesprochene
Selbst des Menschen.« Kurzum: »die Religion ist das erste und
zwar indirekte Selbstbewußtsein des Menschen.«
Im Prozeß der Vergesellschaftung, der auch stets
einer der Vergeistigung gewesen ist, sah der Mensch überall
Geister und erschuf sie nach seinem Abbilde.
Besonders bei den griechischen Göttern ist das augenfällig. Zeus
vögelte noch in der Gegend herum, illustrierte
dabei nichts anderes als den Traum des privilegierten freien Mannes
der griechischen Polis. Daß ihre Götter unfehlbar
sind, wäre den Griechen nie eingefallen, jene strotzten geradezu
vor konkreter Weltlichkeit. Die
Abstraktionsleistung hin zur Allmächtigkeit war der jüdisch-christlichen
Tradition
überlassen, wenn auch nicht vorbehalten.
Gott ist die Abstoßung des Menschen von ihm selbst
zu ihm hin. Mangels eigener Attraktion verliert er sich in der
Repulsion. Seine endliche Nichtigkeit übersetzt er
durch Transzendierung in unendliche Wichtigkeit. »Die Religion
ist eben die Anerkennung des Menschen auf einem
Umweg. Durch einen Mittler.« (Marx) Es ist der allgemeine
materielle und dadurch auch ideelle Mangel, der den
Menschen zu fetischistischen Formen der Kommunikation
zwingt: sei es der Tausch oder die Politik, das
Recht oder die Religion. Immer herrscht hier eine indirekte
Bezüglichkeit. Solange der Mensch Knecht seiner
Verhältnisse ist, sind diese Formen unbedingt notwendig, ja bis
zu einem gewissen Grad immer auch emanzipatorisch
zu deuten. Nichtsdestotrotz sind sie - ganz anders als sie
den Menschen in ihrer zeitlichen, örtlichen und
geistigen Beschränktheit erscheinen - eherne Gesetzlichkeiten des
Menschseins.
Fetisch meint, daß die Menschen sich nicht selbst
sind, sondern eines Konstruktes bedürfen, um sinnvoll
miteinander in Beziehung treten zu können. Die
Anerkennung des Menschen erfolgt nicht direkt, sondern durch
objektiv aufoktroyierte wie subjektiv realisierte
Formen. Der Fetisch ist Folge der Dialektik materiellen Mangels
und geistiger Hilflosigkeit. Er kann somit nicht
einfach weggezaubert werden. Der Fetisch ist ein Surrogat. Er
erscheint deshalb ontologisch, weil er bisher noch
nicht entschieden durchbrochen werden konnte. Ein fetischfreier
Bezug bedeutet hingegen die direkte Anerkennung des
Du, des Anderen, eben nicht als gesellschaftliche Rolle
oder Charaktermaske.
Religion ist das Eingeständnis, daß der Mensch nicht
zu sich finden kann, sich außer sich setzen muß, um sich
anzuerkennen. Sie ist die verinnerlichte Kritik,
der jedoch die äußere Seite fehlt. Sie ist das stete
Zu-Kurz-Kommen. Beten statt Denken ist angesagt,
Erflehen statt Fordern. Leiden erschlägt die Aktivität, Demut
das Aufbegehren. Armut und Elend werden in einem
Jammern und Klagen zugedeckt, zur karitativen Frage, eben
nicht als soziales Problem behandelt. Oben und
Unten werden als selbstverständlich angesehen, was heißt:
gottgegeben und gottgewollt. Glauben meint das, was
Erkenntnis erstickt, Kirche das, was Kritik erdrückt.
Opium des Volkes
Fetisch Religion. Teil III einer Serie von Franz Schandl
Für den jungen Marx war die Kritik der Religion mit
Feuerbach »im wesentlichen beendigt«. Zusammenfassend
schreibt er in seiner Jugendschrift »Zur Kritik der
Hegelschen Rechtsphilosophie« (1843): »Der Mensch macht die
Religion, die Religion macht nicht den Menschen.
Und zwar ist die Religion das Selbstbewußtsein und das
Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder
noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat. Aber
der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt
hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des
Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die
Religion, ein verkehrtes Weltbewußtsein,
weil sie
eine verkehrte Welt sind. Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt,
ihr enzyklopädisches
Kompendium, ihre Logik in
populärer Form, ihr spiritualistischer Point-d'honneur, ihr Enthusiasmus, ihre
moralische Sanktion, ihre feierliche Ergänzung, ihr
allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund. Sie ist die
phantastische Verwirklichung des menschlichen
Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit
besitzt. Der Kampf gegen die Religion ist also
mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistige Aroma die
Religion ist. Das religiöse Elend ist in einem der
Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Prostestation
gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der
Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt,
wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist
das Opium des Volks.«
Marx schlußfolgert: »Die Aufhebung der Religion als
des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines
wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen
über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen
Zustand aufzugeben, der der Illusion bedarf. Die
Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales,
dessen Heiligenschein die Religion ist.« »Die
Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste
Wesen für den Menschen sei, also mit dem
kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der
Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein
verlassenes, ein verächtliches Wesen ist (...).«
Im »Kapital« notiert er dann: »Der religiöse
Widerschein der wirklichen Welt kann überhaupt nur verschwinden,
sobald die Verhältnisse des praktischen
Werkeltagslebens den Menschen tagtäglich durchsichtig vernünftige
Beziehungen zueinander und zur Natur darstellen.
Die Gestalt des gesellschaftlichen Lebensprozesses, streift nur
ihren mystischen Nebelschleier ab, sobald sie als
Produkt frei vergesellschafteter Menschen unter deren bewußter
planmäßiger Kontrolle steht. Dazu ist jedoch eine
materielle Grundlage der Gesellschaft erheischt oder eine Reihe
materieller Existenzbedingungen, welche selbst
wieder das naturwüchsige Produkt einer langen und qualvollen
Entwicklungsgeschichte sind.«
Volkstümlich zusammengefaßt wurde diese Sicht von
August Bebel in seinem 1874 erschienenen Buch
»Christentum und Sozialismus«. Eine seiner bekanntesten Formulierungen ist wohl
jene: »Christentum und
Sozialismus stehen sich
gegenüber wie Feuer und Wasser. Der sogenannte gute Kern im Christentum, den
sie,
aber ich nicht, darin finden, ist nicht
christlich, sondern allgemein menschlich, und was das Christentum eigentlich
bildet, der Lehren- und Dogmenkram, ist der
Menschheit feindlich.«
Lenin behandelte das Problem in seiner Schrift
»Sozialismus und Religion« aus dem Revolutionsjahr 1905.
Einerseits war für ihn klar: »Wir fordern, daß die
Religion dem Staat gegenüber Privatsache sei, können sie aber
keineswegs unserer eigenen Partei gegenüber als
Privatsache betrachten«. Andererseits legte er aber Wert auf
eine bestimmte Untergewichtung des
Antiklerikalismus, denn »die wissenschaftliche Weltanschauung werden wir
immer propagieren, und die Inkonsequenz
irgendwelcher >Christen< müssen wir bekämpfen, das bedeutet aber
durchaus nicht, daß man die religiöse Frage an die
erste Stelle rücken soll, die ihr keineswegs zukommt, daß man
eine Zersplitterung der Kräfte des wirklich
revolutionären, des ökonomischen und politischen Kampfes um
drittrangige Meinungen oder Hirngespinste willen
zulassen soll, die rasch jede politische Bedeutung verlieren und
durch den ganzen Gang der ökonomischen Entwicklung
bald in die Rumpelkammer geworfen werden.« Der
antireligiöse Kampf war so mit Bestimmtheit, aber keineswegs missionarisch zu
führen.
Von besonderer Wichtigkeit war die Frage dazumals
auch gewesen, weil die erste russische Revolution eine stark
populistisch-religiöse Schlagseite hatte, an ihrer
Spitze stand in den ersten Tagen der Pope Gapon, der sich
übrigens später als zaristischer Spitzel entpuppte
und von einem sozialrevolutionären Kommando hingerichtet
wurde.
Vergessen werden darf auch nicht, daß es selbst in
der bolschewistischen Partei in den Jahren der anschließenden
Reaktion religiöse Stimmungen gab, etwa das
Gottbildnertum, das Religion und Sozialismus zu versöhnen
versuchte, bzw. in letzterem eine erstere sah.
Lunatscharski, dessen Hauptexponent, nannte die Sozialdemokratie
»eine große religiöse Macht«, der es um die
»Schaffung einer Religion der Arbeit« geht. Die Marxsche Theorie
huldigte jedenfalls keinem primitiven oder
rigorosem Atheismus, Motto: Nur kein Opium! Ihre Kritik ist keine
bloße Negation, sondern betont die historische,
aber somit auch zeitlich begrenzte Notwendigkeit religiösen
Bewußtseins. Der Kommunismus war ihr weder Religion
noch Antireligion, sondern jenseits der Religion. Sie
propagierte keinen Sozialismus, der einer Kirche
glich. Genau das passierte aber durch die Regression des
Sozialismus von der Theorie zur Ideologie.
Man lese etwa nur die Schriften des nicht zu
unterschätzenden Arbeiteragitators Joseph Dietzgen. Dessen Werk
strotzt nur so vor religiöser Sprache und
religiösem Gleichnis. In seinem Buch »Über den Glauben der
>Ungläubigen<« (1880) wird ihm der
Sozialismus (ähnlich wie später Lunatscharski) zum »Evangelium der
Gegenwart«: »Bewußte, planmäßige Organisation der
sozialen Arbeit nennt sich der ersehnte Heiland der neueren
Zeit.« Ja, Dietzgen wird noch deutlicher: »Das
Bewußtsein, einem höheren Regiment untertan zu sein, teilen wir
mit der Religion aller Götter und Zeiten, wir
teilen es mit dem Götzendienst und mit dem Gottesdienst. Das
Grundelement und Wesen, worin aller Glaube lebt und
webt, erkennen wir demütiglich. Nur ist unsere Art, unsere
Form ein wenig verschieden. (...) Wenn diese
demütige Erkenntnis Religion ist, dann haben wir allerdings, ich
behaupte es mit Wärme, eine warme Religion.«
Es ist schon interessant, in welcher Traditionslinie
sich hier plötzlich der Sozialismus wiederfindet. Er wurde zum
Glaubensbekenntnis, zur Religion des
Industriezeitalters. Vom Nichtreligiösen führte der Weg zum
Andersreligiösen. Der sozialdemokratischen Praxis
war Dietzgen näher als Marx. Die Kritik an Religion und
Kirche ließ nach in dem Maße, indem die
Sozialdemokratie sich selbst sakralisierte.
Der gläubige Popanz, den die Arbeiterbewegung mit
sich herumgeschleppt hat, braucht den Vergleich mit der
Kirche nicht zu scheuen: Das Proletariat wurde zum
auserwählten Volk, die Arbeit zum Heilland, die Partei zur
Kirche, der Sozialismus zum Evangelium, die
klassenlose Gesellschaft zum Paradies.
Reimmunisierung des Glaubens
Fetisch Religion. Teil 4 einer Serie von Franz Schandl
Es waren die österreichischen Sozialdemokraten der
Zwischenkriegszeit, die ganz bewußt entscheidende Schritte
Richtung Religion vorexerzierten. An ihnen läßt
sich die Abwendung vom klassischen Standpunkt sehr plastisch
zeigen. Oder wie Wilhelm Ellenbogen es beim Linzer
Programmparteitag der SDAP 1926 ausdrückte: »Wir sind
mit Marx, und das war sein Grundgedanke, dagegen -
daß die Religion mißbraucht wird als Opium für das Volk.«
Die Austromarxisten fielen in ihrer
Religionsbetrachtung nicht nur hinter Marx zurück, sondern teilweise auch
hinter Kant. Möglicherweise sogar am
konsequentesten in der europäischen Arbeiterbewegung betrieben sie die
Reontologisierung und somit Reimmunisierung der
Religion. Denn wenn diese - wie sie unisono von rechts bis
links unterstellten - eine Existenzbedingung der
Menschheit darstellt, dann ist deren fundamentale Kritik sinnlos,
nutzlos und zwecklos.
Für Otto Bauer, der jahrelang der führende Kopf der
Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) gewesen ist,
war klar: »Als Partei dürfen wir keinen Glauben,
auch nicht die Ungläubigkeit vertreten, jedes Bekenntnis muß uns
heilig sein.« Religion wird anthropologisiert: »Die
ursprüngliche Wurzel der Religion ist die Furcht der Menschen
vor unverstandenen, unbeherrschten Naturgewalten:
vor der Krankheit, vor dem Tode, vor dem Geheimnis des
nächtlichen Urwaldes, vor Blitz und Donnerschlag.«
Für ihn sind »Kirche und Religion nicht identisch«.
Am weitesten ging in dieser Frage ausgerechnet Max
Adler vom linken Parteiflügel. (Anfang der dreißiger Jahre
sollte er übrigens der deutschen SAP von Seydewitz
und Rosenfeld aufs engste verbunden sein). Für ihn war
Religion eine eherne Konstante. Gott ist
schlichtweg im Menschsein angelegt. »Nun sehen wir, daß dieser Begriff
auch in dem bis jetzt behandelten bloß
theoretischen Sinne durchaus dem apriorischen Charakter unseres
Bewußtseins entstammt und zwar seiner
Erkenntnisseite nämlich dem Bereich der vor aller Erfahrung bestehenden
(...).« Die Menschen wollen die Seele nach ihrem
Tod nicht »im Nichts der absoluten Vernichtung sehen«.
»Historisch ist aller Religion charakteristisch die
Beziehung auf irgend eine hö‹here Ordnung der Welt, die über
der erkannten empirischen Ordnung steht und dieser
als ihr eigentlicher Sinn und Wert entgegentritt, auf welcher
sich daher der religiöse Mensch ausgerichtet sieht
als sein wahres Heil und unvergängliches Interesse. Ob diese
Ordnung als eine göttliche gedacht wird oder nicht,
ist nicht wesentlich.«
Auffällig an dieser Betrachtungsweise ist, daß stets
von konkreten Menschen und spezifischen Denkformen auf die
Menschen und ihre allgemeinen Bewußtseinsformen
geschlossen wird. Adler abstrahiert vom Konkreten, ohne
dessen Zusammenhang in seiner Analyse zu
berücksichtigen. Sein Mensch ist so. Der gesunde Menschenverstand
kommt hier in idealistischem Kleid zu seinem
obligaten Recht. Auch wenn der hier mehrfach zitierte Artikel ȟber
den kritischen Begriff der Religion« (1915) heißt,
Religionskritik ist etwas anderes.
Der Sinn des Lebens liegt für Adler stets in einer
übergeordneten Sache (Gott, Sozialismus etc.), d. h. er liegt
außerhalb des Lebens selbst. Der Fetischismus wird
hier zur anthropologischen Konstante des Menschseins
schlechthin aufgebauscht. Sobald wir nach dem Sinn
des Lebens suchen, »sobald wir nur anfangen, uns aus dem
Banne eines gedankenlosen Dahinlebens oder eines
gedankenabschneidenden Positivismus zu erheben,« landen
wir automatisch bei der Religion.
Adler singt geradezu ein Hohelied auf die Religion
und ihre soziale Kraft. Sie ist ihm Imperativ menschlicher
Existenz: »Gott und Unsterblichkeit sind nicht so
sehr notwendige Denk- als notwendige Willensresultate. (...) Die
Ideen von Gott und Unsterblichkeit besagen also
nicht, daß es etwas derartiges gibt, sondern nur, daß wir als
Wesen (...) nicht anders können, als beider
Existenz zu wollen.« Die Religion sei dazu da, »das individuelle Dasein
zu erwärmen und lebensfähig zu machen«.
Adler und Bauer erklären die Religion ungleich Marx
aus allgemein menschlichen Bedingungen, nicht aus
besonderen historischen Verhältnissen. Sie differenzieren kaum, entdecken keine
qualitativen Brüche, sondern
generalisieren und
positivieren Religion zur existentiellen Prämisse des Daseins schlechthin. Sie
ist somit nicht mehr
eine bestimmte Form
fetischistischer Kommunikation, sie ist den Menschen wesenstypischer geistiger
oder
geistlicher Inhalt.
So gesehen ist natürlich nicht nur eine
Rücksichtnahme auf religiöse Gefühle notwendig oder ein Kompromiß mit
religiösen Anschauungen sinnvoll, nein: so gesehen
gilt es, die Religion direkt zu unterstützen. Die kritische Sicht
des Glaubens verwandelt sich in eine positive. Daß
dieser Weg konsequent beschritten wurde, zeigen auch die
programmatischen Dokumente von SPÖ oder SPD nach
1945. So heißt es im »Wiener Programm« der
österreichischen Sozialdemokraten aus dem Jahre 1958: »Sozialismus und
Christentum als Religion der
Nächstenliebe sind
miteinander durchaus vereinbar.«
Man hatte also nicht nur Frieden geschlossen, man
war zum Bündnis übergegangen. Im Gegensatz etwa zur DDR
wurde die laufende Entchristianisierung in der
Bundesrepublik oder in Österreich nicht zuletzt durch die
Sozialdemokratie subjektiv gebremst. Sie blieb
somit hinter ihren historischen Möglichkeiten zurück.
Allerletzte Sekten
Fetisch Religion: 5. und letzter Teil der Serie von Franz Schandl
Der Zerfall der abendländischen Kirchen und
Religionen ist weit fortgeschritten. Er ist nicht mehr umkehrbar. Das,
was Kirche in Vorzeiten großgemacht hat, wurde in
der Zwischenzeit durch die Herrschaft des Geldes ziemlich
niedergemacht. Von einem Basisprinzip der
Gesellschaft ist die Religion zu einer bloßen Sinnstiftungsvariante unter
vielen abgestiegen. Austauschbar wie alles, was
unter die Herrschaft des Werts gerät. Nachdem das Geld Gott
endgültig abgelöst hat, ist es für ihn schwierig
geworden, zu bestehen. Darin liegt der eigentliche Grund der Krise
der Kirche.
Der Mythos, ein ganz besonderer Verein zu sein, der
ist längst dahin. Heute konkurrieren auch die Großkirchen
am Markt der Warensortimente und Glückssurrogate
als beliebige Markenartikel unter vielen. Der
Traditionalismus ist die zähe Kraft, der viele Menschen dort verharren läßt,
wenngleich sich die meisten um nichts
mehr kümmern,
was von dort kommt. Nur bei Taufe, Heirat und Tod soll halt ein Priester da
sein, weil es sich so
gehört.
Was kann die Kirche also tun? - Eine weitere
Demokratisierung ist mehr als problematisch, untergräbt sie doch
den Glauben durch die jeweilige Stimmung. Wenn der
ehemalige Herausgeber des österreichischen
Wochenmagazins »profil« Hubertus Czernin fragt: »Wird der Klerus jetzt endlich
begreifen, daß die Grundsätze
der demokratischen
Gesellschaft auch innerhalb der Kirche gelten müssen?« dann ist das eine
ausgesprochen
dumme Frage.
Kirche ist Autorität und Hierarchie, nicht
Demokratie. Ihre historische Kraft liegt nicht in der Mitbestimmung,
sondern im Gehorsam. Es sind also gerade die
Reformer, die das Fundament in frommer Bewußtlosigkeit
unterminieren, da haben die Reaktionäre schon
recht.
Eine geschwisterliche Kirche ist ein Widerspruch in
sich. Wenn die Kirche sich also diesen modernen Strömungen
gänzlich ausliefert, dann führt das nicht, wie die
internen Kritiker meinen, zu einer neuen Renaissance, sondern
beschleunigt das Erodieren ihrer Restbestände. Wozu
denn dann überhaupt? ist die sich sofort aufdrängende
Frage. Man kann Gott nicht durch Göttin ersetzen,
abwählen, rotieren lassen etc. Nicht einmal mit dem Papst geht
das, soll dieser nicht Petrus II. heißen. Die
demokratische Kirche ist ein hölzernes Eisen. Langfristig gesehen ist
die Säkularisierung der Tod der Kirche. Dito
freilich auch die Nichtsäkularisierung. Was natürlich ein Dilemma ist.
Eines sei jedenfalls allen Demokratisierern der
Kirche ins Stammbuch geschrieben: Kirche, das ist
festgeschriebener Ewigkeitsanspruch, verknüpft mit der Unabänderlichkeit der
Satzung. Man vergleiche etwa nur
die in der
deuteronomischen Gesetzessammlung grundgelegte Junktimierung. Wer Kirche anders
auffaßt, als die
Kirche die Kirche auffaßt, faßt
etwas anderes auf.
Der vielgescholtene reaktionäre österreichische
Bischof Kurt Krenn unterscheidet sich von anderen
Kirchenfürsten darin, daß er die gängige Vereinnahmungsvariante der Mitglieder
durch eine Austreibungsvariante
sowohl der
Renitenten als auch der Mitläufer ersetzen will. Krenn will die Kirche
abspecken. Sie soll werden eine
schlagkräftige
Truppe von Kreuzrittern Gottes und seiner Stellvertreter. Und niemand möge sich
einbilden, die
Kirche bestehe aus lauter
liberalisierten Demokraten. Krenn will die Kirche »gesundschrumpfen«, befreien
vom
weltlichen Ballast der Karteileichen. Dazu ist
ihm jedes Mittel recht. Es soll wieder gehorcht werden. Und doch ist
das ein Rudern gegen die Zeit: Polnische Sitten
sind in den westeuropäischen Großkirchen nicht mehr
durchzusetzen. Da mag man sich noch so oft bekreuzigen.
Es ist nicht heraußen, ob Krenns Szenario nicht
zumindest mittelfristig die günstigere Positionierung darstellt. Denn
eines weiß der St. Pöltener Bischof: Abspaltungen
sind heute ausgeschlossen. Selbst die Altkatholiken, der letzte
bedeutende Abgang, konnten sich nie über den
Charakter einer Sekte erheben. Noch schlechter erginge es den
neuen katholischen Protestanten. Ohne Rom sind sie
nackt. Das wissen auch die Kritiker. Die Römische Kirche
kann sich gar nicht mehr spalten, weil sie die
innere Kraft dazu gar nicht mehr aufzubringen imstande ist. So torkelt
sie halt vor sich hin, in Österreich gerät sie in
den letzten Wochen sogar schon kräftig ins Wanken.
Was Katholiken und Protestanten nicht mehr bieten
können, diese allerletzte Wahrheit und Gewißheit (im
permanenten Arrangement mit Geld und Demokratie
wurde ihnen das gründlich ausgetrieben), das ist nun
scheinbar das Kennzeichen der Sekten geworden. In
einer Welt, in der immer alles schneller fließt, ist die Suche
nach dem Halt notwendig, dieser aber immer seltener
in positivistischer Sachlichkeit zu finden. Da nun auch der
Sozialismus als konkreter und abstrakter Vorgriff
vorerst einmal als Alternative ausgeschieden ist, wird der
Rückgriff auf Versatzstücke abendländischer Kultur
bzw. der Zugriff auf außereuropäische oder vorzeitliche
Muster (z. B. indianische oder keltische Mythen)
etc. immer stärker und erfolgreicher. An irgend etwas muß
schließlich geglaubt werden. Das Revival inszeniert
sich allerdings als galoppierende Farce.
Die vielen Sekten und neuen transzendentalen
Sinnsuchereien sind ebensowenig ein Kennzeichen eines
nochmaligen Aufstiegs der Religion, sondern
verdeutlichen deren endgültigen Niedergang. Wo der Glauben wie
die Unterhose gewechselt werden kann, ist es
schlecht um ihn bestellt, so sehr manche Granatsplitter auch
leuchten. Die Obskuranz und Destruktivität dieser
Gruppierungen ist oft kaum noch zu überbieten, nur ihre
konkrete gesamtgesellschaftliche Isoliertheit
schützt vor Pogromen, Verbrennungen und massenhaften
Gewaltausbrüchen. Auf kleinem Raum finden sie ja
heute schon statt.
Noch nie waren die geistigen Opiate so zahlreich wie
heute, nur verbreiten sie in Summe kein Aroma mehr,
sondern einen bestialischen Gestank. Die Religion fault ab. Da helfen kein
Wojtila, kein Fortschrittspapst, keine
betenden
Schwestern, keine Rohrstaberln, aber auch keine Fernsehprediger. Was für den
Katholizismus gilt, gilt
ebenso für die
Protestanten. Und auch islamische Fundamentalisten werden da nichts mehr
zurückdrehen, sie
erinnern vielmehr an Methoden der
frühen Neuzeit, besitzen aber die Zwangsmittel und Waffen der Moderne, was
schlimm genug ist. Daß diese Zerfallserscheinungen
möglicherweise neue Konflikte verstärken oder gar auslösen,
ist zu befürchten. Nicht das Zurückdrehen ist das
Problem, sondern das mögliche Durchdrehen.
Die Geister, die man einst beschwor, wird man so
schnell nicht los. Und - es sei auch zugegeben - sie stecken in
unseren Köpfen und Gliedern, sind uns zweite Haut
geworden; jeder Mensch kennt Momente der
Glaubensanfälligkeit und Zuckungen des Aberglaubens. Dem Fetisch kann man nicht
so einfach entlaufen, auch
wenn man ihn durchschaut
hat, von seiner einstigen Ausstrahlung nur noch ein matter Abglanz da ist.
Auch wenn es an der gesellschaftlichen Oberfläche
gegenteilige Zeitströmungen geben kann, gilt: Seit der
bürgerlichen Aufklärung geht es mit der Kirche zu
Ende. Die Verfügungsmacht über die Menschen ist ihr
weitgehend abhanden gekommen, von den Zwangsmitteln ganz zu schweigen. Auch wenn
sie noch kräftig nervt
und unzählige Menschen Opfer
ihrer verqueren Vorurteile werden, sie bewegt sich auf dünnem Eis.
Institutionen,
die durch Jahrhunderte geworden
sind, verschwinden zwar nicht von einem Tag auf den anderen, doch ihr
»geistiges Aroma« (Marx) verzieht sich.