Mittwoch, März 16, 2005
Einladung zu einem ersten Treffen der Freunde der offenen Gesellschaft
Wir möchten hiermit alle Interessierten zu einem ersten unverbindlichen Zusammensitzen der Freunde der offenen Gesellschaft einladen. Was haben Sie sich darunter vorzustellen?
Wir sind eine bisher kleine Gruppe Liberaler, die sich seit dem 11. September 2001 Schritt für Schritt von linken Gewißheiten verabschiedet haben – und gemeinsam mit den sogenannten Antideutschen eine immer größer werdende (und schließlich unüberbrückbare) intellektuelle und emotionale Distanz zu all den vielen linken Strömungen aufgebaut haben, mit denen wir als Jugendliche sympathisiert hatten.
Wir sind die Lügen und intellektuellen Zumutungen der Linken leid: ihr Ressentiment gegen die moderne Gesellschaft und die individuelle Freiheit, ihr ständiges Wiederholen unbewiesener Tatsachenbehauptungen, ihre sozialpädagogisch anmutende Apologie des islamischen Terrors, ihr männerfeindlicher Antisexismus, ihr Bestreben, jedem Einzelnen Verhaltensvorschriften bis weit in die Intimsphäre hinein zu machen, ihre geistige Erstarrung in Floskeln und Jargon, ihre Moralisierung jedweder Diskussion, ihre rhetorischen Tricks, mit denen sie empirische Fragen in Gesinnungs- und Gesittungsfragen verwandeln und als Wahrheitskriterium nur gelten lassen, ob etwas „links“ ist, ihre bornierte Wissenschaftsfeindlichkeit, ihre rigide Ablehnung naturwissenschaftlicher und anthropologischer Erklärungsansätze für Gesellschaft und menschliches Verhalten und, bei den ganz Avancierten, ihre romantische Arbeitskritik – die Arbeit wollen sie abschaffen, aber natürlich weiterhin wie bisher konsumieren; fragt man sie, wie eine Industriegesellschaft nach der Abschaffung der Arbeit funktionieren soll, ist man schon Realpolitiker und kein Kritiker mehr, also nicht mehr links. Außerdem verstößt man mit einer solchen Frage gegen das „Bilderverbot“ – eine aus der Kritischen Theorie übernommene Denkfigur, die meist benutzt wird, um jeder Frage nach der Beschaffenheit jener Alternative zum Bestehenden auszuweichen. Kommunismus soll etwas anderes, und zwar etwas vollständig und unvorstellbar anderes als der Ostblocksozialismus sein; aber was genau, darf aufgrund des Bilderverbotes nicht gesagt werden. Konkrete Schritte dorthin sind zu unterlassen, weil Realpolitik. Was dieser Kommunismus sei, darf nur per Negation ausgesagt werden. Abgeschafft sein sollen die Arbeit, das Wertverhältnis, jegliche Depressionen und, je nach Geschmack, das bürgerliche Subjekt, die Klassen oder die heterosexistische Matrix.
Gleichzeitig wurde am realexistierenden Ostblocksozialismus lediglich kritisiert, daß er „den bürgerlichen Kategorien“ verhaftet geblieben und infolgedessen nicht kommunistisch genug gewesen sei. So konnten sämtliche Verbrechen der realsozialistischen Staaten bequem dem Verrat an der reinen Lehre zugerechnet und obendrein noch dem Kapitalismus aufs Konto gebucht werden. Der Gulag-Terror sei kapitalistische Modernisierung im Schnelldurchlauf gewesen, der Sowjetunion sei der Rüstungswettlauf von den Kalten Kriegern des Westens lediglich aufgezwungen worden usw. Und Stalin sei immerhin Antifaschist gewesen.
Wir mußten feststellen, daß dergestalt jegliche Kapitalismuskritik in Wirklichkeit eine Modernekritik war und früher oder später, trotz der subjektiv andersartigen Intentionen ihrer Träger, in Antiamerikanismus und Antisemitismus münden würde. Lang ist es her, daß wir dachten, die Linke habe den Antisemitismus einfach nur etwas vernachlässigt. Als wir einst begannen, uns (pflichtbewußt) für „die Struktur und Funktion des Antisemitismus“ zu interessieren, ahnten wir noch nicht, daß es um weit mehr gehen sollte als um eine einfache Ergänzung des Sündenregisters des Kapitals am Ende unserer Flugblätter. Triple Oppression (Rassismus, Sexismus, Ausbeutung) Plus hatten wir uns vorgestellt. Nach den Reden zu Umweltverschmutzung, Drittweltarmut und Militarismus ein paar Worte zur Judenfeindschaft – und wir wären wieder geborgen im linken Mutterschoß.
Gottseidank kam es anders. In der Auseinandersetzung mit dem, „was deutsch ist“ (Joachim Bruhn), also den Umständen, die den Holocaust möglich gemacht haben, schärften wir die Waffen der Kritik – und siehe da: niemand unter unseren alten Genossen durfte verschont werden. Die Linken gleich welcher Couleur hatten den Antisemitismus letztlich niemals verstehen können, weil dieser sich nicht gegen die Schwachen, sondern, wie jede linke Bewegung, mit Abscheu gegen die vermeintlich Starken, „gegen die Herrschenden“, richtet. Der Jude des Antisemiten steht für die Zerstörung der Gemeinschaftsmoral alter Kulturen durch das Geld und die Macht, durch den Luxus und die Begierde. Der Antisemitismus richtet sich nicht wie der Rassismus gegen (vermeintlich) weniger entwickelte Kulturen, sondern gegen die hoch entwickelte, vermeintlich nach Weltherrschaft strebende „jüdische“ Kultur des imperialistischen Liberalismus. Und er ist kein Haß auf die verlumpten unteren Schichten, sondern auf die Spekulanten und Wucherer, die Börsenhaie und die Oberen Zehntausend. Die dunkle Bedrohung kommt weder aus dem afrikanischen Urwald noch aus den verdreckten Proletarierspelunken, sondern aus den glitzernden Schluchten der großen Hure Manhattan. Antisemitismus entspringt eher einer Art Minderwertigkeitskomplex als einem elitären Überlegenheitsgefühl. Der Jude ist in den Augen des Antisemiten nicht dumm und zurückgeblieben, sondern raffiniert, gewitzt und arrogant.
Wer auch immer in Zukunft in unser Fadenkreuz geriet: Antiimperialisten, Feministinnen, Globalisierungsgegner oder Pazifisten – wir lernten sie als die Köpfe einer gigantischen Hydra zu begreifen: der Hydra des Antiliberalismus. Und jedesmal wenn wir diesem Monstrum einen dieser häßlichen Köpfe abgeschlagen hatten, oh Graus: da erhoben sich zwei Neue.
Streit und Konflikt verändern den Menschen. Und manchmal lernt er sogar dazu. Uns jedenfalls zwang diese Linke zu der Erkenntnis, daß man in der Kritik am Antiliberalismus nun einmal schlecht umhin kommt, die doch eigentlich verhaßte bürgerliche Zivilisation (bis dahin hatten wir von der Totalität der warenproduzierenden Gesellschaft, oder schlicht dem „falschen Ganzen“ gefaselt) zu verteidigen. Zumindest ihre Potentiale. Zumindest ihre Verheißungen. Zumindest irgendwie. Und so lernten wir nach und nach, den Westen zu lieben: anfangs noch verdruckst und zögerlich, aber nach den ersten Geistesblitzen mit zunehmender Begeisterung.
Die nächste Aufgabe war klar: Wir hatten zu erklären, warum wir als Kommunisten für den Liberalismus kämpfen, als Staatsfeinde für Israel, als Antikapitalisten für amerikanische Kriegseinsätze. Nicht ganz einfach. Zum Glück hatten wir inzwischen bei Großmeister Adorno die Dialektik gelernt. Kapitalismus (das schlugen wir den Linken gerne um die Ohren), das war durchaus: Glücksversprechen, Individualismus, Hedonismus.
„My Sex, my Drugs and my Rock’n’Roll are my fucking own business!” (Jane’s Addiction)
Aber dann war da ja noch, andererseits, leider, und niemals zu vergessen: die Selbstwidersprüchlichkeit des Systems, das Umschlagen der Aufklärung in ihr Gegenteil, der stets nur temporäre Aufschub der Barbarei, der Verfall des Gebrauchswerts. Jedes Glück im hier und jetzt blieb letztlich Lug und Trug, war bestenfalls Vorschein auf „das ganz Andere“. Und selbst der Antiliberalismus entsprang natürlich, die Dialektik macht alles möglich, dem Liberalismus[1]. Wir würden nicht nur weiterhin gegen Staat und Kapital kämpfen: Wir würden es konsequenter, radikaler und härter als jemals tun.
Nachdem wir also sämtliche Revolutionäre in unserem Umfeld als Reaktionäre entlarvt hatten, waren nun wir die eigentlichen Revolutionäre. Wir würden die freiheitlichen Gedanken der liberalen Schule aufnehmen und sie lobend und etwas herablassend zitieren. Und wir waren raffiniert dabei: Die Liberalen kämpften – ohne etwas davon zu wissen – für die Bedingungen der Möglichkeit des Kommunismus. Auch wenn das nicht gerade ihre Absicht war, würden sie uns eine Atempause verschaffen, um die knifflige Situation besser zu verstehen und die Weltrevolution neu zu planen.
Nachdem wir die Linken also nicht mehr leiden mochten, hatten wir neuen Lesestoff: die Neocons und den Hannes Stein, Popper und Hayek, Jean Améry und Imré Kertesz, Friedman und Pinker, Smith und Mill, Bureaucrash und „the objectivist school“. Wir glaubten, sie zu verschlingen, dabei verschlangen sie uns, und zwar mit Haut und Haaren. Die Argumente waren einfach und einleuchtend. Die Fakten sprachen eine allzu deutliche Sprache. K.O.-Sieg in der ersten Runde. Die rote Fahne verschwand in der Altkleidersammlung. All die langweiligen Dinge, die uns so seltsam an unseren Gemeinschaftskundeunterricht erinnerten (während dem wir unsere Tische mit Anarcho-As verschönert hatten), wir lernten sie zu schätzen: die Verfassung, die Gewaltenteilung, die freie Presse, die zivile Kontrolle der Gewaltorgane, die Angemessenheit der Strafe, die Unschuldsvermutung, der Säkularismus und natürlich die guten, alten Menschenrechte. Wir sahen ein, daß es für eine angemessene Theorie der Gesellschaft auf die Übereinstimmung der Aussagen mit den Tatsachen, auf Logik und nachvollziehbare Argumente, kurz: auf intellektuelle Redlichkeit und Verständlichkeit mehr ankommt als auf die größtmögliche Reizung des Nervensystems durch pathetische Bildersprache, raunende Bedeutungshuberei oder den Hipnessfaktor der jeweils neuesten Theoriemasche.
„And you wanna be heard – well, none of us understands a word.
And you wanna be free – then don’t you speak like a slave to me.” (The Black Crowes)
Das Licht der Utopie verlosch. Die revolutionäre Hoffnung starb. Nun fühlen wir uns etwas reifer – und etwas schlechter. Wir halten es für, gelinde gesagt, nicht besonders wahrscheinlich, daß irgendeine Art von Revolution das ewige Licht in unser irdisches Jammertal locken kann. Eher schon wird der Messias selbst unsere Gattung doch noch zu Liebe, Respekt und Mitmenschlichkeit erziehen – und die Revolution (die in Wirklichkeit auf einen globalen Bürgerkrieg mit zahllosen Toten hinauslaufen würde) wird gar nicht mehr nötig sein.
Und dennoch ist nicht alles andere Quark. Der Kampf geht weiter! Es gibt nichts zu beschönigen. Der Westen ist imperfekt. Nicht nur, weil es immer noch keine Gesellschaft gibt, von der sich sagen ließe, sie sei vollkommen liberalisiert. (Wenn es die gäbe, wären wir längst dort und würden uns weniger Sorgen machen.) Europa nicht. Amerika nicht. Australien nicht. Und – pardon! – auch Eretz Israel nicht. Nicht nur, daß es immer wieder Rückschritte gibt – Old Europes kalter Djihadismus ist nur das alarmierendste Beispiel –; in allen westlichen Gesellschaften breiten sich Tendenzen aus, die gegen die Freiheit gerichtet sind. Während die Deutschen auf ihren Sozialstaat schwören, der sie gegen sämtliche Lebensrisiken absichern und vor der Kälte eines „amerikanisierten“ Arbeitsmarktes schützen soll, ist es in den USA Mode, für jedes Scheitern, ja schon für jedes Mißbehagen und jeden Zigarettenqualm einen Schuldigen zu suchen, den man verklagen kann. Diese Opferhaltung ist indes schon lange über den Atlantik hinübergeschwappt. In der hysterisierten Debatte über sexuelle Gewalt wurde sie offenkundig, heute zeigt sie sich unter anderem in der Forcierung von Antidiskriminierungsrichtlinien oder in der Angst vor genmanipulierten Lebensmitteln, mit denen eine skrupellose Ernährungsindustrie um des Profitinteresses willen die Gesundheit der Bevölkerung zerstöre. Diese Haltung, sich als Opfer böser Mächte zu wähnen, verbunden mit allen Schikanen und Verboten der political correctness, mit denen die Suche nach Wahrheit um der Harmonie oder des „Respekts“ willen unterbunden werden soll, untergräbt die Freiheit der westlichen Gesellschaften schon von innen. Kein Wunder, daß diese den Moralisierungsbestrebungen islamischer und sonstiger Provenienz nichts rechtes entgegenzusetzen wissen.
Nicht nur, daß im Westen selbst immer mehr Apologeten seiner Feinde auf die Straßen gehen. Je weiter das autoritäre China wirtschaftlich erstarkt oder der Iran sein Atomprogramm vorantreibt, je mehr die Islamisten weltweit operationsfähig werden, desto lauter wird auch im Westen der Ruf nach unbedingtem Respekt vor konfuzianischen Tugenden oder islamischer Demut und nach Aufgabe des Universalitätsanspruches westlicher Werte. Und desto leiser werden die Forderungen nach internationaler Solidarität mit den Studenten, die auf dem Tiananmenplatz die Freiheitsstatue errichteten oder in Teheran das Star Spangled Banner schwenkten. Während sie wieder im Dunkel der Geschichte und im weniger metaphorischen Dunkel von Folterkammern verschwanden, demonstrierten ihre Kommilitonen in Berlin oder New York mit Hamas und Attac gegen Bush und Sharon.
Nicht nur, daß es sich nicht allein um die üblichen testosterongesteuerten jungen Männer vom linken Rand handelt, im ehemals souveränen Spanien werden die Appeaseniks an die Macht gebombt werden, Michael Moore die goldene Palme von Cannes erhält und Arafat seinen Friedensnobelpreis mit ins Grab nimmt.
Nein, (wir gestehen es gerne): selbst wenn all das nicht mehr wäre und all seine inneren und äußeren Feinde doch noch irgendwie in Berührung mit dem ihnen bisher unbekannt gebliebenen Phänomen namens Vernunft kämen – der Liberalismus würde auch in voller Blüte nicht die Last des Lebens von den Schultern der Menschen nehmen. Er kann es nicht. Der Westen ist schon deshalb imperfekt, weil der Liberalismus selbst, „strukturell“, aus seiner eigenen Logik heraus voller Probleme und Widersprüche steckt. Der Liberalismus ist die Krise in Permanenz. Er ist komplex, voraussetzungsreich, schwer vermittelbar, immer umstritten. Er bietet keine einfachen Lösungen. Aber eben dadurch entspricht er dem Menschen. Denn die menschliche Existenz war, ist und wird immer krisenhaft sein. Nationalsozialismus, Faschismus, religiöser Fundamentalismus und sozialistischer Totalitarismus haben, bei allen wichtigen Unterschieden, eine Gemeinsamkeit: Sie sind nicht bereit, das zu akzeptieren. Sie wollen einen neuen Menschen: vollkommen reinrassig, vollkommen heldenhaft, vollkommen aufopfernd, vollkommen edel, vollkommen schön, vollkommen vernünftig, ja, vollkommen moralisch, vollkommen heilig. Frei von Egoismus, frei von Gier, frei von Aggression, frei von Dummheit, frei von Ticks, frei von Unsicherheit, frei von Frust, frei von Faulheit, frei von Zufällen und frei von den Heimsuchungen der teuflischen Libido – so soll der Mensch bitte sein. (Ach was, sie bitten ja niemals: sie verleumden, beleidigen, töten und foltern.) Und immer kämpft das reine Licht gegen die reine Finsternis. Dazwischen gibt es nichts. Und immer kämpft es die letzte Schlacht. Darunter geht es nicht. Kein Fundamentalist, der sich mit Verkehrspolitik[2] oder den Schwankungen der Inflationsraten Kanadas im letzten Jahrzehnt beschäftigt.
Wir bekennen uns zur modernen Gesellschaft, die nun einmal keine kommunistische ist. Es gab bisher keinen Kommunismus, der nicht antiliberal, antiwestlich und antisemitisch war. Wir wissen nicht, was zu der Hoffnung berechtigt, es könnte dereinst einen solchen geben. Die gegenwärtige Gesellschaft halten wir nicht für die beste aller möglichen Welten. Wir verschließen nicht unsere Augen vor Hunger, Krieg und Ausbeutung. Jedoch bezweifeln wir sehr stark die Gültigkeit linker Erklärungen, allen voran jener, der Westen sei schuld an allem Elend der Welt, was doch letztlich immer auf die alte antiimperialistische Ausbeutungsthese hinausläuft. Wir anerkennen die Mitverantwortung des Westens für die globale Situation, lehnen es aber ab, für alles, was anderswo schief läuft, den Westen zu beschuldigen.[3] Vieles, was dem Westen immer angekreidet wurde (Kinderarbeit, Kolonialismus oder Sklaverei), ist dort längst Vergangenheit. Diese Phänomene waren geschichtlich Normalität. Einzigartig am Westen war gerade ihre Abschaffung. Als die Briten Sklaverei betrieben, tat es fast die gesamte Welt. Als sie begannen, für ihre Abschaffung zu kämpfen, mußten sie auch dafür immer wieder Militär in ferne Weltgegenden schicken. Auch das gehört zur Geschichte des Empires.
Wir wollen eine internationale Solidarität, die sich dafür einsetzt, jedem Menschen das zugänglich zu machen, was wir im Westen genießen: Wohlstand, Freiheit und die wie auch immer prekäre Möglichkeit, sein eigenes Glück unabhängig von Familienclan und Stammesverband in die Hand zu nehmen.
Als Liberale glauben wir durchaus an die Notwendigkeit der Moral, der Tugend, der Erziehung des Menschen. Wir glauben, daß zu einer glücklichen Beziehung wenigstens ein gewisses Maß an Verbindlichkeit gehört, daß wir auch im heftigsten Streit unsere Aggressionen dämpfen müssen, daß wir unser Radio etwas leiser drehen sollten, wenn unser Nachbar (den man im Treppenhaus höflich grüßen sollte) schlafen möchte. Und wir glauben, daß wir alle in der Verantwortung stehen, die Alten, Kranken und Elenden unter uns nach Kräften zu unterstützen und zu trösten.
Aber wir glauben, daß keine Regierung, keine Politik, keine Produktivkraft, keine Änderung der Produktionsverhältnisse, keine kollektive Massenbewegung, keine Umwälzung alles Bestehenden irgendwie Frieden, Freiheit, Wohlstand, Gerechtigkeit, Freude oder Freundlichkeit hervorzaubern oder erhalten kann, wenn die Menschen nicht die Bereitschaft dazu mitbringen. (Merci, Monsieur Sartre!)
Wo die freiwillige Kooperation fehlt, kann man nur die schlimmsten Schweinereien bestrafen. Mit Zwang kommt man nicht weiter. Und das ist gut so! Wir finden es weniger schlimm, wenn Jugendliche mit Drogenproblemen psychiatrisch behandelt werden müssen, als wenn sie, wie etwa in Thailand, fürs Kiffen hingerichtet werden. Wir sehen lieber junge Mädchen, die deprimiert darüber sind, daß ihr Freund weder so schön noch so lieb ist wie der Brad Pitt, als solche, die strahlen und tanzen, weil sie die Ehre haben, dem großen Kim Yong Il seine duftenden, roten Blumen vor die Stiefel zu legen.
Wir stellen uns gegen linken Weltschmerz und die Neigung, für jedes persönliche Unglück und Unbehagen „die Gesellschaft“, „den Kapitalismus“, „das Patriarchat“ oder welchen Popanz auch immer verantwortlich zu machen. Wenn Linke bei jeder Schwierigkeit, für die es keine sofortige Lösung gibt, über die Brutalität des Schweinesystems klagen, benehmen sie sich wie kleine Kinder, denen der Kosmos auseinanderbricht, wenn das Schokoladeneis herunterfällt.
Stattdessen plädieren wir für die Verantwortung jedes Einzelnen für sich selbst und eine Prise glücklichen Bewußtseins. Wir können nicht verstehen, warum die Leute nicht vor Glück auf der Straße tanzen, in einer relativ freiheitlichen, liberalen und demokratischen Gesellschaft zu leben und eine Freiheit zu genießen, die historisch und geographisch beispiellos ist und für die uns der Rest der Welt, sofern er noch nicht vom Ressentiment zerfressen ist, beneidet. Wir finden nicht, daß die mit dieser Freiheit einhergehenden Belastungen und Unsicherheiten, die ja nicht klein sind, ein zu hoher Preis sind.
Wir glauben durchaus, daß es einmal eine freie und gute Gesellschaft geben könnte. (Wir neigen sogar zu vorsichtigem Optimismus, was die weitere Entwicklung angeht. Vieles wird besser!) Aber wir wissen, daß es keinen einfachen Grund dafür gibt, daß es offensichtlich noch nicht soweit ist. Jede Verschwörungstheorie glaubt die Wurzel alles Bösen zu kennen: die Machenschaften der Geheimdienste, die bösen Absichten der wirklichen Drahtzieher in der Weltpolitik. Jede linke Theorie glaubt die Mechanismen der Unterdrückung vollkommen zu durchschauen: die Profitinteressen der herrschenden Eliten oder die Logik der Staatlichkeit. Und die Neomarxisten um die Bahamas oder die Initiative Sozialistisches Forum glauben, daß die Kritische Theorie ihnen die Formel, nach der die Welt verhext ward, in einer Flaschenpost geschickt hat: der Fetischismus der Ware, der Wert als gesellschaftliche Synthesis.[4]
Gegenüber all diesem Schwurbel würden wir sogar den ältesten Klassiker aller Erweckungsparolen bevorzugen: der Haß ist zu überwinden, die Liebe hat zu siegen. Das ist zwar trivial und langweilig, aber wenigstens richtig. Und das versteht selbst der Dalai Lama.
Ja, die Ziele des Liberalismus sind verglichen mit der endgültigen Abschaffung aller Menschheitsplagen ziemlich bescheiden. Zumindest was die nahe Zukunft angeht. Wir wünschen uns vieles anders. Wir pflegen aber eine gesunde Skepsis, das Verhalten der Menschen mit politischen Maßnahmen zu regulieren oder zu ändern. Der Staat sollte sich unserer Überzeugung nach darauf beschränken, einen liberalen Rahmen zu schaffen und für die Zukunft zu garantieren. Er muß das Individuum vor der Gewalt seiner unmittelbaren Mitmenschen (Mord, Vergewaltigung) oder illegitimer Kollektive (organisiertes Verbrechen, Volkszorn) schützen. Punkt. Nur wenn er dieser Aufgabe nicht nachkommt, hat der Bürger das Recht und die Pflicht, das Gewaltmonopol zu brechen. (Das Grundrecht auf Verteidigung ist zugleich ein Widerstandsrecht.) Im Zweifelsfalle würden wir lieber zuwenig als zuviel Staat riskieren. Aber paradoxerweise – wenns sein muß, gerne auch: dialektischerweise – braucht es den kontrollierten Staat, um den Menschen vor der Kontrolle des Staates zu schützen.
Wir sind der festen Überzeugung, daß nur das Individuum und nicht die Gruppe, der es angehört oder der es zugerechnet wird, Träger von Rechten ist. Daher halten wir nichts davon, sozialplanerisch in die Verhaltensweisen der Leute einzugreifen, etwa mittels Antidiskriminierungsgesetzen die Vertragsfreiheit auszuhebeln oder mithilfe von Quoten, Verordnungen und neuen Gesetzen „Geschlechtergerechtigkeit“ herzustellen, anstatt sich darauf zu beschränken, die einzelne und, ja, auch den einzelnen vor der Verletzung seiner Rechte zu schützen. Die Diskriminierung von Personen aufgrund von Eigenschaften, für die sie nichts können, ist zu bekämpfen, nicht die irgendwelcher wie auch immer definierter Opfergruppen, die sich rascher vermehren als man gucken kann, weil sie alle ihr Stückchen vom Opferkuchen abhaben wollen, bis als einziger nur noch der weiße, heterosexuelle, nichtbehinderte Mann übrigbleibt, dem es ja ohnehin recht geschieht, da er gleichsam die Verkörperung allen kapitalistischen Übels ist.
Wir glauben nicht, daß es die Aufgabe des Staates ist, eine moralische Gesellschaft durchzusetzen und den Bürgern vorzuschreiben, wie sie ihre Privatangelegenheiten untereinander zu regeln haben. (In diesem letztlich totalitären Bestreben unterscheiden sich die Autonomen nicht von der rotgrünen Bundesregierung, auch wenn jene keinen Zugriff auf die Staatsgewalt haben und diese auf Körperstrafen verzichtet.) Wenn Männer und Frauen etwa sich unterschiedlich verhalten und die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung noch nicht vollständig aufgehoben ist, so halten wir das nach der schon lange erfolgten Abschaffung sämtlicher frauendiskriminierenden Gesetze weitgehend für Privatangelegenheiten, die die Leute unter sich abmachen sollen – jedenfalls für kein staatlich zu lösendes Problem. (Wenn immer noch Frauen bestimmte Tätigkeiten bevorzugen und Männer andere, so steht das auf unserer Prioritätenliste gesellschaftlicher Probleme nicht sehr weit oben.)[5]
Dies – der Schutz des Individuums durch den Rechtsstaat – ist im Grunde schon alles. Aber das ist durchaus etwas. Und es ist keineswegs selbstverständlich. Historisch ist es jedenfalls eine Seltenheit. Jede weitere Veredelung des Menschen durch Wahrheit, Schönheit und Gerechtigkeit muß durch freie Diskussion, durch Aufklärung, Bildung, Erziehung und allerlei Formen von evolutionären Lernprozessen geschehen. Der Liberalismus ist das institutionalisierte Bilderverbot. Er verlangt nicht nur die Trennung von Staat und Religion, von Öffentlichkeit und Privatsphäre, von Phantasie und Ausführung einer Straftat, er verlangt die radikale Trennung von abstraktem Recht[6] und sämtlichen Fragen der Kultur, des Lebensstils, des Kunstgeschmacks, der philosophischen Einstellung, der sexuellen Vorlieben und so weiter. Wir können nicht verstehen, warum Leute die Schwarzwaldklinik schauen, aber solange wir unsere eigene Fernbedienung haben,[7] schwingen wir keine Mahnreden über das Ende der Kunst durch die Kulturindustrie. Wir finden es merkwürdig, wenn uns Leute erzählen, Jesus Christus sei der Sohn Gottes, aber bitte, solange sie deswegen keine Abtreibungsärzte angreifen, lassen wir sie reden. Wenn uns ein Globalisierungsgegner vollquatscht, daß ihm große Wolkenkratzer irgendwie unbehaglich sind, finden wir das peinlich, aber erst wenn der gleiche Typ einen Flugschein macht, schalten wir die Staatsmacht ein.
Die westlichen Gesellschaften sind zwar historisch aus dem Christentum entstanden und sind auch heute noch stark vom Christentum geprägt. Aber der Westen definiert sich auch dadurch nicht. Ein Atheist, ein Jude oder ein Buddhist kann Westler oder Antiwestler sein. Moslems sind heute in ihrer Mehrzahl mehr oder weniger radikale Antiwestler. Dennoch wird es selbst in dieser Religion eine kleine Minderheit an Liberalen geben.[8] (Was dem politischen Islam leider nichts von seiner aktuellen Gefährlichkeit nimmt.)
Die westlichen Gesellschaften sind zwar sehr stark von der gigantischen Medien- und Konsumindustrie des späten 20. Jahrhunderts geprägt worden. Aber sie sind auch nicht durch diese moderne Lebensform definiert. Wer gerne auf dem Land lebt, dreimal täglich Joga übt, lieber frische Ökomilch als Cola trinkt und buddhistische Walgesänge den Wutausbrüchen Eminems vorzieht, kann durchaus Westler sein. Solange er nicht den Unabomber unterstützt, gehen uns seine Marotten einen feuchten Kehricht an.
Weder eine bestimmte Religion, noch eine bestimmte Kultur bestimmen die Grundlage des Liberalismus. Es gibt nicht den Kulturkreis des Liberalismus und dann den asiatischen oder arabischen.[9] Ein buddhistischer Asiat kann ebenso Liberaler sein wie ein atheistischer Schwede. Entgegen allen gegenteiligen Gerüchten ist nur der Liberalismus multikulturell und nicht ethnozentrisch. In Tel Aviv kann man vom Muezzin geweckt werden, in Ramallah findet man sicher keine Synagoge (und sollte wohl auch besser nicht danach fragen).
Der Liberalismus respektiert Anhänger anderer Kulturen politisch nur dann nicht, wenn sie zur Gewalt gegen Fremde und Ungläubige rufen.[10] Da dies leider keine Seltenheit ist, ist es allerdings ebenso wichtig zu betonen, daß wir als Liberale dann durchaus sehr intolerant sein können. Im Gegensatz zu den meisten Europäern sind wir nicht der Ansicht, daß man mit NPD oder Hamas reden oder verhandeln kann. Man sollte sie einfach verbieten.
Grundlage des Liberalismus ist nicht die Bibel, sondern die constitution. Freiheit, nicht Rechtgläubigkeit, ist sein höchstes Gut. Denn nur die Freiheit ermöglicht es jedem Menschen, seine Bestimmung zu finden, sein Leben zu gestalten und auf eigene Art glücklich zu werden (aber sie garantiert es nicht; Glück läßt sich eben nicht durch eine Institution garantieren).
Wir finden es gut, wenn Menschen den Hegel studieren, weil sie die Vernunft wichtig finden. Wenn sie Donald Duck vorziehen, werden wir sie nicht als verblödet beschimpfen. Wir finden es gut, wenn viele Leute den Punks oder Junkies ihre Motz abkaufen oder ihnen Fahrscheine schenken. Wenn sie es nicht tun, empören wir uns nicht über unsere Ellbogengesellschaft. Es gefällt uns, wenn Frauen sich stundenlang schminken, weil sie gerne attraktiv sind. Wenn sie es nicht tun, küssen wir sie trotzdem.
Vernunft, Moral und Schönheit sind wichtige, erstrebenswerte Ziele. Aber die Freiheit ist das Entscheidende, die Bedingung jedes wirklichen Glücks. Der Liberalismus hat kein Bild vom Menschen. Er ist ist menschlich gerade in seiner Indifferenz und seiner Blindheit gegenüber dem Menschen. Im Zentrum der liberalen Gesellschaft befindet sich eine Leerstelle.
Der Liberalismus verlangt keine Unterwerfung unter irgendwelche Götzen. Und er fordert kein Bekenntnis – auch keines zum Liberalismus. Er ist die Grundlage der ersten und einzigen Gesellschaftsform, die selbst ihre schärfsten Kritiker reden und ihre ärgsten Gegner leben läßt.[11]Er hat die selbstkritischsten und lernfähigsten Gesellschaften der Welt hervorgebracht. Heute sind sie mitunter sogar übertrieben selbstkritisch. Ein Liberaler predigt den Menschen nicht, wie sie leben und denken sollen. Er weiß nur zwei allgemeine Wahrheiten über die Menschen: Sie alle sind verschieden. Und sie alle sind fehlerhaft. Und an diesen beiden Wahrheiten findet jede utopische Forderung ihre Grenze.
Der Liberalismus ist vernünftig, jeder versteht ihn. Er ist das Einfache, das schwer zu machen ist.
Der Liberalismus – und nur der Liberalismus! – ist das Lager der Freiheit.
Um etwas genauer zu verstehen, wie die Freiheit im einzelnen zu erkämpfen und zu verteidigen ist, wie wir also dem Kategorischen Imperativ von Kant, Marx und Adorno (der in Wirklichkeit einer ist!) gerecht werden können, werden wir viel diskutieren müssen. Über die Geschichte, die Gegenwart und die Zukunft des Liberalismus. Über das Verhältnis zu Marxismus und Anarchismus, zur Tradition und zur Moderne, zu Demokratie und Wissenschaft. Und über die Bekämpfung seiner schlimmsten Feinde: der Faschisten, der Stalinisten, der Islamisten (oder wie sich die Antisemiten jeweils nennen). Über die Methoden seiner Durchsetzung, die Ausübung der Gewalt und ihre Kontrolle.
Es fällt uns nicht ein, alles über den Haufen zu werfen, was wir als Linke gelernt und vertreten haben: Jedem nationalen Sentiment stehen wir fern, wir verurteilen das Bestreben der Deutschen, sich als die wahren Opfer des Zweiten Weltkriegs zu inszenieren, wir sind dezidiert proisraelisch und halten die USA keineswegs für den größten aller Schurkenstaaten. Opferkult, Gruppendenken und Verschwörungstheorien lehnen wir ab, kommen sie nun von linker oder konservativer Seite. Kommunitarismus und Kulturrelativismus lehnen wir ebenso ab wie Nationalismus und family values. Immer noch halten wir den NATO-Krieg gegen Jugoslawien nicht für gerechtfertigt, und nach wie vor sind wir für weitgehend offene Grenzen und gegen die Abschiebung von sogenannten Haßpredigern (die man vielmehr wie gewöhnliche deutsche Nazis behandeln sollte). Zu diskutieren wäre, wie wir als Liberale die Verbrechen, die von demokratischen Staaten begangen werden, von der deutschen Asyl- bzw. Abschiebepolitik bis zur Todesstrafe in den USA, angemessen kritisieren können.
Bei Konflikten zwischen Demokratie und Liberalismus werden wir klar Position beziehen. Menschenrechte müssen nicht selten auch gegen Mehrheiten durchgesetzt werden. Der Vernichtungsantisemitismus war 1933 in Deutschland und 2002 in Palästina mehrheitsfähig. Liberale müssen durchaus bereit sein, unter bestimmten Umständen auch bekennende Antidemokraten zu sein.
Und natürlich werden wir insbesondere um einen ganz widerlichen, besonders fetten Brocken nicht herumkommen: Was sagt der Liberalismus zu den Problemen, die sich aus der Notwendigkeit der materiellen Reproduktion der Gesellschaft ergeben? Nur soviel voraus: Wir halten den politischen Liberalismus und den wirtschaftlichen Liberalismus für zwei paar Schuhe. Jedenfalls mißtrauen wir auch jenen Heilslehren, die sich von einem völlig deregulierten Markt nun wiederum alles versprechen und den Staat am liebsten ganz abschaffen würden. Mit den Libertären und Anarchokapitalisten etwa haben wir, auch wenn wir gewisse Sympathien in einigen Punkten nicht verhehlen können, schon deswegen nichts am Hut, weil wir die Notwendigkeit eines liberalen Rechtsstaates einsehen. Wenn selbst Milton Friedman ein garantiertes staatliches Grundeinkommen für jeden Bürger befürwortet hat, sehen wir nicht ein, uns päpstlicher als der Papst zu gebärden. Über die Vorteile und Nachteile des freien Marktes diskutieren wir gerne. Wichtig ist uns das gemeinsame Ziel, möglichst viel Wohlstand für möglichst alle Menschen durch möglichst angenehme Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen, zu erreichen. Wir halten das gelinde gesagt für keine leichte Aufgabe. Warum etwa, wenn durch steigende Produktivität eine Verkürzung der Arbeitszeiten möglich ist, derzeit in Westeuropa immer weniger Leute bezahlte Arbeit verrichten, diese aber dafür immer mehr und länger arbeiten müssen, halten wir nicht nur für eine interessante Frage, sondern auch für einen zu ändernden Sachverhalt. Moralische Verurteilungen von Faulpelzen finden wir widerlich und durchaus antiliberal. Wenn es den reichen westlichen Gesellschaften immer noch nicht gelungen ist, die Armut vollständig abzuschaffen, ist das schon skandalös genug. Es ist nicht einzusehen, daß sich die Leute dann auch noch Beschimpfungen und Spott von Wohlstandschauvinisten und Arbeitsfanatikern anhören müssen.
Über die Vorteile und Nachteile liberaler Staatlichkeit diskutieren wir auch, aber weniger gerne. Wer den liberalen Staat abschaffen möchte, den betrachten wir politisch als Feind – wie edel seine Motivation auch immer sein mag. (Und sollten wir im Verlauf der Diskussion zu dem Schluß kommen, daß politischer und wirtschaftlicher Liberalismus doch untrennbar zusammengehören, dann werden wir nicht umhin kommen, auch den wirtschaftlichen Liberalismus zu verteidigen.)
Wer also Lust hat, mit uns zu diskutieren oder für die Zukunft gemeinsame Veranstaltungen zu planen, ist uns allerherzlichst willkommen.
E pluribus Unum!
Berlin, März 2005
PS: Falls wir doch jemandem unter Ihnen die Spritze mit dem betäubenden Gift des Kommunismus geraubt haben sollten, empfehlen wir den American Tune von Simon and Garfunkel als schmerzlinderndes Surrogat im akuten Entzug.
Many's the time I've been mistaken, and many times confused Yes and I've often felt forsaken, and certainly misused Ah but I'm alright, I'm alright, I'm just weary thru my bones Still you don't expect to be bright and bon-vivant So far away from home, so far away from home And I don't know a soul who's not been battered I don't have a friend who feels at ease I don't know a dream that's not been shattered or driven to its knees But it's alright, it's alright, for we live so well, so long Still, when I think of the road we're travelling on I wonder what's gone wrong, I can't help it I wonder what's gone wrong And I dreamed I was dying, I dreamed that my soul rose unexpectedly And looking back down at me, smiled reassuringly And I dreamed I was flying, and high up above my eyes could clearly see The statue of liberty, sailing away to sea, and I dreamed I was flying But we come on a ship they called Mayflower We come on a ship that sailed the moon We come in the ages' most uncertain hours and sing an American tune And it's alright, oh it's alright, it's alright, you can be forever blessed Still tomorrow's gonna be another working day and I'm trying to get some rest That's all I'm trying, to get some rest
Wer Interesse an einem Diskussionstreffen hat, melde sich bei uns:
Freunde der offenen Gesellschaft: michael.holmes@gmx.net oder brands-haide@gmx.de
[1] Es ist im übrigen eine der übelsten Denunziationen der offenen Gesellschaft, ihr vorzuwerfen, daß sie Feinde hat. Strukturell ist sie durchaus der These verwandt, die Juden würden durch ihr Verhalten den Antisemitismus hervorrufen.
[2] Außer natürlich Franz Schandl.
[3] Im Protektionismus und der Subventionierung unproduktiv gewordener Wirtschaftszweige liegt der heutige Anteil des Westens am Elend der sogenannten Dritten Welt, nicht in der „Ausbeutung“.
[4] Wobei wir großen Wert darauf legen, zu betonen, daß wir unseren antideutschen Ex-Genossen noch unendlich viel näher stehen als jenen Linken, die nun unvermeidlich feixen werden, sie hätten es ja immer gewußt, daß die Antideutschen dereinst vom rechten linken Glauben abfallen und sich zu ungeschminkten Apologeten der bürgerlichen Gesellschaft wandeln würden. Wir wissen zu gut, was wir ihnen, den Antideutschen, bei denen wir gleichsam in die Lehre gegangen sind, geistig zu verdanken haben; an einem symbolischen Vatermord haben wir kein Interesse.
[5] Die Unterdrückung von Frauen ist in vielen Teilen der Welt immer noch ein riesiges Problem, aber nun wirklich nicht in den westlichen Demokratien. Wer die Unterschiede zwischen Frankreich und Saudi-Arabien als unerheblich abtut, verharmlost nicht nur die offene Barbarei, sondern verkennt außerdem, daß nichts auf der Welt die Gleichheit der Geschlechter so sehr befördert hat wie der westliche Liberalismus.
[6] Übrigens teilen wir die These Alfred Sohn-Rethels, daß historisch das abstrakte Recht wie das abstrakte Denken zusammen mit der Warenwirtschaft und der Wertabstraktion entstanden sind; wir würden nur gerne wissen, wieso diese unglaubliche zivilisatorische Leistung im antiken Griechenland und später in der europäischen Renaissance gegen das Wertverhältnis sprechen soll.
[7] Wir bevorzugen „Sex and the city“ und „24“, machen daraus aber ebensowenig ein allgemeines Gesetz.
[8] Bezeichnenderweise werden die wenigen Intellektuellen, die sich zugleich als Liberale und als gläubige Moslems definieren, wie zum Beispiel Bassam Tibi oder Seyran Ates, von autochthon-deutschen Linken gerne als Rassisten diffamiert und diejenigen, die mit dem Islam ihrer Eltern überhaupt nichts mehr anzufangen wissen, von Hobby-Orientalisten und sonstigen Hilfsmorgenländern als Assimili-Alis verhöhnt.
[9] Diesen Fehler machen sowohl Huntington und Fallaci als auch ihre antiwestlichen Kritiker.
[10] Genau wie im zwischenmenschlichen Bereich ist Respekt kein Geburtsrecht, sondern will verdient sein. Und es gilt zu Recht als kindisch und unhöflich, wenn jemand jede Kritik als Angriff auf seine persönliche Ehre wertet.
[11] Der Antiamerikaner und Antiliberale Noam Chomsky hat einen Lehrstuhl am MIT und fühlt sich von der Medienindustrie verfolgt, nur weil er sich, etwa von der NY Times, Kritik gefallen lassen muß. Unter dem von ihm schöngeredeten Regime der Roten Khmer wäre er als Wissenschaftler geköpft worden. In israelischen Kinos werden selbst unter Beschuß palästinensische Filme gezeigt, in denen Selbstmordattentäter glorifiziert werden, nur wird eben nicht so frenetisch Beifall geklatscht wie auf der Berlinale.
Wir sind eine bisher kleine Gruppe Liberaler, die sich seit dem 11. September 2001 Schritt für Schritt von linken Gewißheiten verabschiedet haben – und gemeinsam mit den sogenannten Antideutschen eine immer größer werdende (und schließlich unüberbrückbare) intellektuelle und emotionale Distanz zu all den vielen linken Strömungen aufgebaut haben, mit denen wir als Jugendliche sympathisiert hatten.
Wir sind die Lügen und intellektuellen Zumutungen der Linken leid: ihr Ressentiment gegen die moderne Gesellschaft und die individuelle Freiheit, ihr ständiges Wiederholen unbewiesener Tatsachenbehauptungen, ihre sozialpädagogisch anmutende Apologie des islamischen Terrors, ihr männerfeindlicher Antisexismus, ihr Bestreben, jedem Einzelnen Verhaltensvorschriften bis weit in die Intimsphäre hinein zu machen, ihre geistige Erstarrung in Floskeln und Jargon, ihre Moralisierung jedweder Diskussion, ihre rhetorischen Tricks, mit denen sie empirische Fragen in Gesinnungs- und Gesittungsfragen verwandeln und als Wahrheitskriterium nur gelten lassen, ob etwas „links“ ist, ihre bornierte Wissenschaftsfeindlichkeit, ihre rigide Ablehnung naturwissenschaftlicher und anthropologischer Erklärungsansätze für Gesellschaft und menschliches Verhalten und, bei den ganz Avancierten, ihre romantische Arbeitskritik – die Arbeit wollen sie abschaffen, aber natürlich weiterhin wie bisher konsumieren; fragt man sie, wie eine Industriegesellschaft nach der Abschaffung der Arbeit funktionieren soll, ist man schon Realpolitiker und kein Kritiker mehr, also nicht mehr links. Außerdem verstößt man mit einer solchen Frage gegen das „Bilderverbot“ – eine aus der Kritischen Theorie übernommene Denkfigur, die meist benutzt wird, um jeder Frage nach der Beschaffenheit jener Alternative zum Bestehenden auszuweichen. Kommunismus soll etwas anderes, und zwar etwas vollständig und unvorstellbar anderes als der Ostblocksozialismus sein; aber was genau, darf aufgrund des Bilderverbotes nicht gesagt werden. Konkrete Schritte dorthin sind zu unterlassen, weil Realpolitik. Was dieser Kommunismus sei, darf nur per Negation ausgesagt werden. Abgeschafft sein sollen die Arbeit, das Wertverhältnis, jegliche Depressionen und, je nach Geschmack, das bürgerliche Subjekt, die Klassen oder die heterosexistische Matrix.
Gleichzeitig wurde am realexistierenden Ostblocksozialismus lediglich kritisiert, daß er „den bürgerlichen Kategorien“ verhaftet geblieben und infolgedessen nicht kommunistisch genug gewesen sei. So konnten sämtliche Verbrechen der realsozialistischen Staaten bequem dem Verrat an der reinen Lehre zugerechnet und obendrein noch dem Kapitalismus aufs Konto gebucht werden. Der Gulag-Terror sei kapitalistische Modernisierung im Schnelldurchlauf gewesen, der Sowjetunion sei der Rüstungswettlauf von den Kalten Kriegern des Westens lediglich aufgezwungen worden usw. Und Stalin sei immerhin Antifaschist gewesen.
Wir mußten feststellen, daß dergestalt jegliche Kapitalismuskritik in Wirklichkeit eine Modernekritik war und früher oder später, trotz der subjektiv andersartigen Intentionen ihrer Träger, in Antiamerikanismus und Antisemitismus münden würde. Lang ist es her, daß wir dachten, die Linke habe den Antisemitismus einfach nur etwas vernachlässigt. Als wir einst begannen, uns (pflichtbewußt) für „die Struktur und Funktion des Antisemitismus“ zu interessieren, ahnten wir noch nicht, daß es um weit mehr gehen sollte als um eine einfache Ergänzung des Sündenregisters des Kapitals am Ende unserer Flugblätter. Triple Oppression (Rassismus, Sexismus, Ausbeutung) Plus hatten wir uns vorgestellt. Nach den Reden zu Umweltverschmutzung, Drittweltarmut und Militarismus ein paar Worte zur Judenfeindschaft – und wir wären wieder geborgen im linken Mutterschoß.
Gottseidank kam es anders. In der Auseinandersetzung mit dem, „was deutsch ist“ (Joachim Bruhn), also den Umständen, die den Holocaust möglich gemacht haben, schärften wir die Waffen der Kritik – und siehe da: niemand unter unseren alten Genossen durfte verschont werden. Die Linken gleich welcher Couleur hatten den Antisemitismus letztlich niemals verstehen können, weil dieser sich nicht gegen die Schwachen, sondern, wie jede linke Bewegung, mit Abscheu gegen die vermeintlich Starken, „gegen die Herrschenden“, richtet. Der Jude des Antisemiten steht für die Zerstörung der Gemeinschaftsmoral alter Kulturen durch das Geld und die Macht, durch den Luxus und die Begierde. Der Antisemitismus richtet sich nicht wie der Rassismus gegen (vermeintlich) weniger entwickelte Kulturen, sondern gegen die hoch entwickelte, vermeintlich nach Weltherrschaft strebende „jüdische“ Kultur des imperialistischen Liberalismus. Und er ist kein Haß auf die verlumpten unteren Schichten, sondern auf die Spekulanten und Wucherer, die Börsenhaie und die Oberen Zehntausend. Die dunkle Bedrohung kommt weder aus dem afrikanischen Urwald noch aus den verdreckten Proletarierspelunken, sondern aus den glitzernden Schluchten der großen Hure Manhattan. Antisemitismus entspringt eher einer Art Minderwertigkeitskomplex als einem elitären Überlegenheitsgefühl. Der Jude ist in den Augen des Antisemiten nicht dumm und zurückgeblieben, sondern raffiniert, gewitzt und arrogant.
Wer auch immer in Zukunft in unser Fadenkreuz geriet: Antiimperialisten, Feministinnen, Globalisierungsgegner oder Pazifisten – wir lernten sie als die Köpfe einer gigantischen Hydra zu begreifen: der Hydra des Antiliberalismus. Und jedesmal wenn wir diesem Monstrum einen dieser häßlichen Köpfe abgeschlagen hatten, oh Graus: da erhoben sich zwei Neue.
Streit und Konflikt verändern den Menschen. Und manchmal lernt er sogar dazu. Uns jedenfalls zwang diese Linke zu der Erkenntnis, daß man in der Kritik am Antiliberalismus nun einmal schlecht umhin kommt, die doch eigentlich verhaßte bürgerliche Zivilisation (bis dahin hatten wir von der Totalität der warenproduzierenden Gesellschaft, oder schlicht dem „falschen Ganzen“ gefaselt) zu verteidigen. Zumindest ihre Potentiale. Zumindest ihre Verheißungen. Zumindest irgendwie. Und so lernten wir nach und nach, den Westen zu lieben: anfangs noch verdruckst und zögerlich, aber nach den ersten Geistesblitzen mit zunehmender Begeisterung.
Die nächste Aufgabe war klar: Wir hatten zu erklären, warum wir als Kommunisten für den Liberalismus kämpfen, als Staatsfeinde für Israel, als Antikapitalisten für amerikanische Kriegseinsätze. Nicht ganz einfach. Zum Glück hatten wir inzwischen bei Großmeister Adorno die Dialektik gelernt. Kapitalismus (das schlugen wir den Linken gerne um die Ohren), das war durchaus: Glücksversprechen, Individualismus, Hedonismus.
„My Sex, my Drugs and my Rock’n’Roll are my fucking own business!” (Jane’s Addiction)
Aber dann war da ja noch, andererseits, leider, und niemals zu vergessen: die Selbstwidersprüchlichkeit des Systems, das Umschlagen der Aufklärung in ihr Gegenteil, der stets nur temporäre Aufschub der Barbarei, der Verfall des Gebrauchswerts. Jedes Glück im hier und jetzt blieb letztlich Lug und Trug, war bestenfalls Vorschein auf „das ganz Andere“. Und selbst der Antiliberalismus entsprang natürlich, die Dialektik macht alles möglich, dem Liberalismus[1]. Wir würden nicht nur weiterhin gegen Staat und Kapital kämpfen: Wir würden es konsequenter, radikaler und härter als jemals tun.
Nachdem wir also sämtliche Revolutionäre in unserem Umfeld als Reaktionäre entlarvt hatten, waren nun wir die eigentlichen Revolutionäre. Wir würden die freiheitlichen Gedanken der liberalen Schule aufnehmen und sie lobend und etwas herablassend zitieren. Und wir waren raffiniert dabei: Die Liberalen kämpften – ohne etwas davon zu wissen – für die Bedingungen der Möglichkeit des Kommunismus. Auch wenn das nicht gerade ihre Absicht war, würden sie uns eine Atempause verschaffen, um die knifflige Situation besser zu verstehen und die Weltrevolution neu zu planen.
Nachdem wir die Linken also nicht mehr leiden mochten, hatten wir neuen Lesestoff: die Neocons und den Hannes Stein, Popper und Hayek, Jean Améry und Imré Kertesz, Friedman und Pinker, Smith und Mill, Bureaucrash und „the objectivist school“. Wir glaubten, sie zu verschlingen, dabei verschlangen sie uns, und zwar mit Haut und Haaren. Die Argumente waren einfach und einleuchtend. Die Fakten sprachen eine allzu deutliche Sprache. K.O.-Sieg in der ersten Runde. Die rote Fahne verschwand in der Altkleidersammlung. All die langweiligen Dinge, die uns so seltsam an unseren Gemeinschaftskundeunterricht erinnerten (während dem wir unsere Tische mit Anarcho-As verschönert hatten), wir lernten sie zu schätzen: die Verfassung, die Gewaltenteilung, die freie Presse, die zivile Kontrolle der Gewaltorgane, die Angemessenheit der Strafe, die Unschuldsvermutung, der Säkularismus und natürlich die guten, alten Menschenrechte. Wir sahen ein, daß es für eine angemessene Theorie der Gesellschaft auf die Übereinstimmung der Aussagen mit den Tatsachen, auf Logik und nachvollziehbare Argumente, kurz: auf intellektuelle Redlichkeit und Verständlichkeit mehr ankommt als auf die größtmögliche Reizung des Nervensystems durch pathetische Bildersprache, raunende Bedeutungshuberei oder den Hipnessfaktor der jeweils neuesten Theoriemasche.
„And you wanna be heard – well, none of us understands a word.
And you wanna be free – then don’t you speak like a slave to me.” (The Black Crowes)
Das Licht der Utopie verlosch. Die revolutionäre Hoffnung starb. Nun fühlen wir uns etwas reifer – und etwas schlechter. Wir halten es für, gelinde gesagt, nicht besonders wahrscheinlich, daß irgendeine Art von Revolution das ewige Licht in unser irdisches Jammertal locken kann. Eher schon wird der Messias selbst unsere Gattung doch noch zu Liebe, Respekt und Mitmenschlichkeit erziehen – und die Revolution (die in Wirklichkeit auf einen globalen Bürgerkrieg mit zahllosen Toten hinauslaufen würde) wird gar nicht mehr nötig sein.
Und dennoch ist nicht alles andere Quark. Der Kampf geht weiter! Es gibt nichts zu beschönigen. Der Westen ist imperfekt. Nicht nur, weil es immer noch keine Gesellschaft gibt, von der sich sagen ließe, sie sei vollkommen liberalisiert. (Wenn es die gäbe, wären wir längst dort und würden uns weniger Sorgen machen.) Europa nicht. Amerika nicht. Australien nicht. Und – pardon! – auch Eretz Israel nicht. Nicht nur, daß es immer wieder Rückschritte gibt – Old Europes kalter Djihadismus ist nur das alarmierendste Beispiel –; in allen westlichen Gesellschaften breiten sich Tendenzen aus, die gegen die Freiheit gerichtet sind. Während die Deutschen auf ihren Sozialstaat schwören, der sie gegen sämtliche Lebensrisiken absichern und vor der Kälte eines „amerikanisierten“ Arbeitsmarktes schützen soll, ist es in den USA Mode, für jedes Scheitern, ja schon für jedes Mißbehagen und jeden Zigarettenqualm einen Schuldigen zu suchen, den man verklagen kann. Diese Opferhaltung ist indes schon lange über den Atlantik hinübergeschwappt. In der hysterisierten Debatte über sexuelle Gewalt wurde sie offenkundig, heute zeigt sie sich unter anderem in der Forcierung von Antidiskriminierungsrichtlinien oder in der Angst vor genmanipulierten Lebensmitteln, mit denen eine skrupellose Ernährungsindustrie um des Profitinteresses willen die Gesundheit der Bevölkerung zerstöre. Diese Haltung, sich als Opfer böser Mächte zu wähnen, verbunden mit allen Schikanen und Verboten der political correctness, mit denen die Suche nach Wahrheit um der Harmonie oder des „Respekts“ willen unterbunden werden soll, untergräbt die Freiheit der westlichen Gesellschaften schon von innen. Kein Wunder, daß diese den Moralisierungsbestrebungen islamischer und sonstiger Provenienz nichts rechtes entgegenzusetzen wissen.
Nicht nur, daß im Westen selbst immer mehr Apologeten seiner Feinde auf die Straßen gehen. Je weiter das autoritäre China wirtschaftlich erstarkt oder der Iran sein Atomprogramm vorantreibt, je mehr die Islamisten weltweit operationsfähig werden, desto lauter wird auch im Westen der Ruf nach unbedingtem Respekt vor konfuzianischen Tugenden oder islamischer Demut und nach Aufgabe des Universalitätsanspruches westlicher Werte. Und desto leiser werden die Forderungen nach internationaler Solidarität mit den Studenten, die auf dem Tiananmenplatz die Freiheitsstatue errichteten oder in Teheran das Star Spangled Banner schwenkten. Während sie wieder im Dunkel der Geschichte und im weniger metaphorischen Dunkel von Folterkammern verschwanden, demonstrierten ihre Kommilitonen in Berlin oder New York mit Hamas und Attac gegen Bush und Sharon.
Nicht nur, daß es sich nicht allein um die üblichen testosterongesteuerten jungen Männer vom linken Rand handelt, im ehemals souveränen Spanien werden die Appeaseniks an die Macht gebombt werden, Michael Moore die goldene Palme von Cannes erhält und Arafat seinen Friedensnobelpreis mit ins Grab nimmt.
Nein, (wir gestehen es gerne): selbst wenn all das nicht mehr wäre und all seine inneren und äußeren Feinde doch noch irgendwie in Berührung mit dem ihnen bisher unbekannt gebliebenen Phänomen namens Vernunft kämen – der Liberalismus würde auch in voller Blüte nicht die Last des Lebens von den Schultern der Menschen nehmen. Er kann es nicht. Der Westen ist schon deshalb imperfekt, weil der Liberalismus selbst, „strukturell“, aus seiner eigenen Logik heraus voller Probleme und Widersprüche steckt. Der Liberalismus ist die Krise in Permanenz. Er ist komplex, voraussetzungsreich, schwer vermittelbar, immer umstritten. Er bietet keine einfachen Lösungen. Aber eben dadurch entspricht er dem Menschen. Denn die menschliche Existenz war, ist und wird immer krisenhaft sein. Nationalsozialismus, Faschismus, religiöser Fundamentalismus und sozialistischer Totalitarismus haben, bei allen wichtigen Unterschieden, eine Gemeinsamkeit: Sie sind nicht bereit, das zu akzeptieren. Sie wollen einen neuen Menschen: vollkommen reinrassig, vollkommen heldenhaft, vollkommen aufopfernd, vollkommen edel, vollkommen schön, vollkommen vernünftig, ja, vollkommen moralisch, vollkommen heilig. Frei von Egoismus, frei von Gier, frei von Aggression, frei von Dummheit, frei von Ticks, frei von Unsicherheit, frei von Frust, frei von Faulheit, frei von Zufällen und frei von den Heimsuchungen der teuflischen Libido – so soll der Mensch bitte sein. (Ach was, sie bitten ja niemals: sie verleumden, beleidigen, töten und foltern.) Und immer kämpft das reine Licht gegen die reine Finsternis. Dazwischen gibt es nichts. Und immer kämpft es die letzte Schlacht. Darunter geht es nicht. Kein Fundamentalist, der sich mit Verkehrspolitik[2] oder den Schwankungen der Inflationsraten Kanadas im letzten Jahrzehnt beschäftigt.
Wir bekennen uns zur modernen Gesellschaft, die nun einmal keine kommunistische ist. Es gab bisher keinen Kommunismus, der nicht antiliberal, antiwestlich und antisemitisch war. Wir wissen nicht, was zu der Hoffnung berechtigt, es könnte dereinst einen solchen geben. Die gegenwärtige Gesellschaft halten wir nicht für die beste aller möglichen Welten. Wir verschließen nicht unsere Augen vor Hunger, Krieg und Ausbeutung. Jedoch bezweifeln wir sehr stark die Gültigkeit linker Erklärungen, allen voran jener, der Westen sei schuld an allem Elend der Welt, was doch letztlich immer auf die alte antiimperialistische Ausbeutungsthese hinausläuft. Wir anerkennen die Mitverantwortung des Westens für die globale Situation, lehnen es aber ab, für alles, was anderswo schief läuft, den Westen zu beschuldigen.[3] Vieles, was dem Westen immer angekreidet wurde (Kinderarbeit, Kolonialismus oder Sklaverei), ist dort längst Vergangenheit. Diese Phänomene waren geschichtlich Normalität. Einzigartig am Westen war gerade ihre Abschaffung. Als die Briten Sklaverei betrieben, tat es fast die gesamte Welt. Als sie begannen, für ihre Abschaffung zu kämpfen, mußten sie auch dafür immer wieder Militär in ferne Weltgegenden schicken. Auch das gehört zur Geschichte des Empires.
Wir wollen eine internationale Solidarität, die sich dafür einsetzt, jedem Menschen das zugänglich zu machen, was wir im Westen genießen: Wohlstand, Freiheit und die wie auch immer prekäre Möglichkeit, sein eigenes Glück unabhängig von Familienclan und Stammesverband in die Hand zu nehmen.
Als Liberale glauben wir durchaus an die Notwendigkeit der Moral, der Tugend, der Erziehung des Menschen. Wir glauben, daß zu einer glücklichen Beziehung wenigstens ein gewisses Maß an Verbindlichkeit gehört, daß wir auch im heftigsten Streit unsere Aggressionen dämpfen müssen, daß wir unser Radio etwas leiser drehen sollten, wenn unser Nachbar (den man im Treppenhaus höflich grüßen sollte) schlafen möchte. Und wir glauben, daß wir alle in der Verantwortung stehen, die Alten, Kranken und Elenden unter uns nach Kräften zu unterstützen und zu trösten.
Aber wir glauben, daß keine Regierung, keine Politik, keine Produktivkraft, keine Änderung der Produktionsverhältnisse, keine kollektive Massenbewegung, keine Umwälzung alles Bestehenden irgendwie Frieden, Freiheit, Wohlstand, Gerechtigkeit, Freude oder Freundlichkeit hervorzaubern oder erhalten kann, wenn die Menschen nicht die Bereitschaft dazu mitbringen. (Merci, Monsieur Sartre!)
Wo die freiwillige Kooperation fehlt, kann man nur die schlimmsten Schweinereien bestrafen. Mit Zwang kommt man nicht weiter. Und das ist gut so! Wir finden es weniger schlimm, wenn Jugendliche mit Drogenproblemen psychiatrisch behandelt werden müssen, als wenn sie, wie etwa in Thailand, fürs Kiffen hingerichtet werden. Wir sehen lieber junge Mädchen, die deprimiert darüber sind, daß ihr Freund weder so schön noch so lieb ist wie der Brad Pitt, als solche, die strahlen und tanzen, weil sie die Ehre haben, dem großen Kim Yong Il seine duftenden, roten Blumen vor die Stiefel zu legen.
Wir stellen uns gegen linken Weltschmerz und die Neigung, für jedes persönliche Unglück und Unbehagen „die Gesellschaft“, „den Kapitalismus“, „das Patriarchat“ oder welchen Popanz auch immer verantwortlich zu machen. Wenn Linke bei jeder Schwierigkeit, für die es keine sofortige Lösung gibt, über die Brutalität des Schweinesystems klagen, benehmen sie sich wie kleine Kinder, denen der Kosmos auseinanderbricht, wenn das Schokoladeneis herunterfällt.
Stattdessen plädieren wir für die Verantwortung jedes Einzelnen für sich selbst und eine Prise glücklichen Bewußtseins. Wir können nicht verstehen, warum die Leute nicht vor Glück auf der Straße tanzen, in einer relativ freiheitlichen, liberalen und demokratischen Gesellschaft zu leben und eine Freiheit zu genießen, die historisch und geographisch beispiellos ist und für die uns der Rest der Welt, sofern er noch nicht vom Ressentiment zerfressen ist, beneidet. Wir finden nicht, daß die mit dieser Freiheit einhergehenden Belastungen und Unsicherheiten, die ja nicht klein sind, ein zu hoher Preis sind.
Wir glauben durchaus, daß es einmal eine freie und gute Gesellschaft geben könnte. (Wir neigen sogar zu vorsichtigem Optimismus, was die weitere Entwicklung angeht. Vieles wird besser!) Aber wir wissen, daß es keinen einfachen Grund dafür gibt, daß es offensichtlich noch nicht soweit ist. Jede Verschwörungstheorie glaubt die Wurzel alles Bösen zu kennen: die Machenschaften der Geheimdienste, die bösen Absichten der wirklichen Drahtzieher in der Weltpolitik. Jede linke Theorie glaubt die Mechanismen der Unterdrückung vollkommen zu durchschauen: die Profitinteressen der herrschenden Eliten oder die Logik der Staatlichkeit. Und die Neomarxisten um die Bahamas oder die Initiative Sozialistisches Forum glauben, daß die Kritische Theorie ihnen die Formel, nach der die Welt verhext ward, in einer Flaschenpost geschickt hat: der Fetischismus der Ware, der Wert als gesellschaftliche Synthesis.[4]
Gegenüber all diesem Schwurbel würden wir sogar den ältesten Klassiker aller Erweckungsparolen bevorzugen: der Haß ist zu überwinden, die Liebe hat zu siegen. Das ist zwar trivial und langweilig, aber wenigstens richtig. Und das versteht selbst der Dalai Lama.
Ja, die Ziele des Liberalismus sind verglichen mit der endgültigen Abschaffung aller Menschheitsplagen ziemlich bescheiden. Zumindest was die nahe Zukunft angeht. Wir wünschen uns vieles anders. Wir pflegen aber eine gesunde Skepsis, das Verhalten der Menschen mit politischen Maßnahmen zu regulieren oder zu ändern. Der Staat sollte sich unserer Überzeugung nach darauf beschränken, einen liberalen Rahmen zu schaffen und für die Zukunft zu garantieren. Er muß das Individuum vor der Gewalt seiner unmittelbaren Mitmenschen (Mord, Vergewaltigung) oder illegitimer Kollektive (organisiertes Verbrechen, Volkszorn) schützen. Punkt. Nur wenn er dieser Aufgabe nicht nachkommt, hat der Bürger das Recht und die Pflicht, das Gewaltmonopol zu brechen. (Das Grundrecht auf Verteidigung ist zugleich ein Widerstandsrecht.) Im Zweifelsfalle würden wir lieber zuwenig als zuviel Staat riskieren. Aber paradoxerweise – wenns sein muß, gerne auch: dialektischerweise – braucht es den kontrollierten Staat, um den Menschen vor der Kontrolle des Staates zu schützen.
Wir sind der festen Überzeugung, daß nur das Individuum und nicht die Gruppe, der es angehört oder der es zugerechnet wird, Träger von Rechten ist. Daher halten wir nichts davon, sozialplanerisch in die Verhaltensweisen der Leute einzugreifen, etwa mittels Antidiskriminierungsgesetzen die Vertragsfreiheit auszuhebeln oder mithilfe von Quoten, Verordnungen und neuen Gesetzen „Geschlechtergerechtigkeit“ herzustellen, anstatt sich darauf zu beschränken, die einzelne und, ja, auch den einzelnen vor der Verletzung seiner Rechte zu schützen. Die Diskriminierung von Personen aufgrund von Eigenschaften, für die sie nichts können, ist zu bekämpfen, nicht die irgendwelcher wie auch immer definierter Opfergruppen, die sich rascher vermehren als man gucken kann, weil sie alle ihr Stückchen vom Opferkuchen abhaben wollen, bis als einziger nur noch der weiße, heterosexuelle, nichtbehinderte Mann übrigbleibt, dem es ja ohnehin recht geschieht, da er gleichsam die Verkörperung allen kapitalistischen Übels ist.
Wir glauben nicht, daß es die Aufgabe des Staates ist, eine moralische Gesellschaft durchzusetzen und den Bürgern vorzuschreiben, wie sie ihre Privatangelegenheiten untereinander zu regeln haben. (In diesem letztlich totalitären Bestreben unterscheiden sich die Autonomen nicht von der rotgrünen Bundesregierung, auch wenn jene keinen Zugriff auf die Staatsgewalt haben und diese auf Körperstrafen verzichtet.) Wenn Männer und Frauen etwa sich unterschiedlich verhalten und die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung noch nicht vollständig aufgehoben ist, so halten wir das nach der schon lange erfolgten Abschaffung sämtlicher frauendiskriminierenden Gesetze weitgehend für Privatangelegenheiten, die die Leute unter sich abmachen sollen – jedenfalls für kein staatlich zu lösendes Problem. (Wenn immer noch Frauen bestimmte Tätigkeiten bevorzugen und Männer andere, so steht das auf unserer Prioritätenliste gesellschaftlicher Probleme nicht sehr weit oben.)[5]
Dies – der Schutz des Individuums durch den Rechtsstaat – ist im Grunde schon alles. Aber das ist durchaus etwas. Und es ist keineswegs selbstverständlich. Historisch ist es jedenfalls eine Seltenheit. Jede weitere Veredelung des Menschen durch Wahrheit, Schönheit und Gerechtigkeit muß durch freie Diskussion, durch Aufklärung, Bildung, Erziehung und allerlei Formen von evolutionären Lernprozessen geschehen. Der Liberalismus ist das institutionalisierte Bilderverbot. Er verlangt nicht nur die Trennung von Staat und Religion, von Öffentlichkeit und Privatsphäre, von Phantasie und Ausführung einer Straftat, er verlangt die radikale Trennung von abstraktem Recht[6] und sämtlichen Fragen der Kultur, des Lebensstils, des Kunstgeschmacks, der philosophischen Einstellung, der sexuellen Vorlieben und so weiter. Wir können nicht verstehen, warum Leute die Schwarzwaldklinik schauen, aber solange wir unsere eigene Fernbedienung haben,[7] schwingen wir keine Mahnreden über das Ende der Kunst durch die Kulturindustrie. Wir finden es merkwürdig, wenn uns Leute erzählen, Jesus Christus sei der Sohn Gottes, aber bitte, solange sie deswegen keine Abtreibungsärzte angreifen, lassen wir sie reden. Wenn uns ein Globalisierungsgegner vollquatscht, daß ihm große Wolkenkratzer irgendwie unbehaglich sind, finden wir das peinlich, aber erst wenn der gleiche Typ einen Flugschein macht, schalten wir die Staatsmacht ein.
Die westlichen Gesellschaften sind zwar historisch aus dem Christentum entstanden und sind auch heute noch stark vom Christentum geprägt. Aber der Westen definiert sich auch dadurch nicht. Ein Atheist, ein Jude oder ein Buddhist kann Westler oder Antiwestler sein. Moslems sind heute in ihrer Mehrzahl mehr oder weniger radikale Antiwestler. Dennoch wird es selbst in dieser Religion eine kleine Minderheit an Liberalen geben.[8] (Was dem politischen Islam leider nichts von seiner aktuellen Gefährlichkeit nimmt.)
Die westlichen Gesellschaften sind zwar sehr stark von der gigantischen Medien- und Konsumindustrie des späten 20. Jahrhunderts geprägt worden. Aber sie sind auch nicht durch diese moderne Lebensform definiert. Wer gerne auf dem Land lebt, dreimal täglich Joga übt, lieber frische Ökomilch als Cola trinkt und buddhistische Walgesänge den Wutausbrüchen Eminems vorzieht, kann durchaus Westler sein. Solange er nicht den Unabomber unterstützt, gehen uns seine Marotten einen feuchten Kehricht an.
Weder eine bestimmte Religion, noch eine bestimmte Kultur bestimmen die Grundlage des Liberalismus. Es gibt nicht den Kulturkreis des Liberalismus und dann den asiatischen oder arabischen.[9] Ein buddhistischer Asiat kann ebenso Liberaler sein wie ein atheistischer Schwede. Entgegen allen gegenteiligen Gerüchten ist nur der Liberalismus multikulturell und nicht ethnozentrisch. In Tel Aviv kann man vom Muezzin geweckt werden, in Ramallah findet man sicher keine Synagoge (und sollte wohl auch besser nicht danach fragen).
Der Liberalismus respektiert Anhänger anderer Kulturen politisch nur dann nicht, wenn sie zur Gewalt gegen Fremde und Ungläubige rufen.[10] Da dies leider keine Seltenheit ist, ist es allerdings ebenso wichtig zu betonen, daß wir als Liberale dann durchaus sehr intolerant sein können. Im Gegensatz zu den meisten Europäern sind wir nicht der Ansicht, daß man mit NPD oder Hamas reden oder verhandeln kann. Man sollte sie einfach verbieten.
Grundlage des Liberalismus ist nicht die Bibel, sondern die constitution. Freiheit, nicht Rechtgläubigkeit, ist sein höchstes Gut. Denn nur die Freiheit ermöglicht es jedem Menschen, seine Bestimmung zu finden, sein Leben zu gestalten und auf eigene Art glücklich zu werden (aber sie garantiert es nicht; Glück läßt sich eben nicht durch eine Institution garantieren).
Wir finden es gut, wenn Menschen den Hegel studieren, weil sie die Vernunft wichtig finden. Wenn sie Donald Duck vorziehen, werden wir sie nicht als verblödet beschimpfen. Wir finden es gut, wenn viele Leute den Punks oder Junkies ihre Motz abkaufen oder ihnen Fahrscheine schenken. Wenn sie es nicht tun, empören wir uns nicht über unsere Ellbogengesellschaft. Es gefällt uns, wenn Frauen sich stundenlang schminken, weil sie gerne attraktiv sind. Wenn sie es nicht tun, küssen wir sie trotzdem.
Vernunft, Moral und Schönheit sind wichtige, erstrebenswerte Ziele. Aber die Freiheit ist das Entscheidende, die Bedingung jedes wirklichen Glücks. Der Liberalismus hat kein Bild vom Menschen. Er ist ist menschlich gerade in seiner Indifferenz und seiner Blindheit gegenüber dem Menschen. Im Zentrum der liberalen Gesellschaft befindet sich eine Leerstelle.
Der Liberalismus verlangt keine Unterwerfung unter irgendwelche Götzen. Und er fordert kein Bekenntnis – auch keines zum Liberalismus. Er ist die Grundlage der ersten und einzigen Gesellschaftsform, die selbst ihre schärfsten Kritiker reden und ihre ärgsten Gegner leben läßt.[11]Er hat die selbstkritischsten und lernfähigsten Gesellschaften der Welt hervorgebracht. Heute sind sie mitunter sogar übertrieben selbstkritisch. Ein Liberaler predigt den Menschen nicht, wie sie leben und denken sollen. Er weiß nur zwei allgemeine Wahrheiten über die Menschen: Sie alle sind verschieden. Und sie alle sind fehlerhaft. Und an diesen beiden Wahrheiten findet jede utopische Forderung ihre Grenze.
Der Liberalismus ist vernünftig, jeder versteht ihn. Er ist das Einfache, das schwer zu machen ist.
Der Liberalismus – und nur der Liberalismus! – ist das Lager der Freiheit.
Um etwas genauer zu verstehen, wie die Freiheit im einzelnen zu erkämpfen und zu verteidigen ist, wie wir also dem Kategorischen Imperativ von Kant, Marx und Adorno (der in Wirklichkeit einer ist!) gerecht werden können, werden wir viel diskutieren müssen. Über die Geschichte, die Gegenwart und die Zukunft des Liberalismus. Über das Verhältnis zu Marxismus und Anarchismus, zur Tradition und zur Moderne, zu Demokratie und Wissenschaft. Und über die Bekämpfung seiner schlimmsten Feinde: der Faschisten, der Stalinisten, der Islamisten (oder wie sich die Antisemiten jeweils nennen). Über die Methoden seiner Durchsetzung, die Ausübung der Gewalt und ihre Kontrolle.
Es fällt uns nicht ein, alles über den Haufen zu werfen, was wir als Linke gelernt und vertreten haben: Jedem nationalen Sentiment stehen wir fern, wir verurteilen das Bestreben der Deutschen, sich als die wahren Opfer des Zweiten Weltkriegs zu inszenieren, wir sind dezidiert proisraelisch und halten die USA keineswegs für den größten aller Schurkenstaaten. Opferkult, Gruppendenken und Verschwörungstheorien lehnen wir ab, kommen sie nun von linker oder konservativer Seite. Kommunitarismus und Kulturrelativismus lehnen wir ebenso ab wie Nationalismus und family values. Immer noch halten wir den NATO-Krieg gegen Jugoslawien nicht für gerechtfertigt, und nach wie vor sind wir für weitgehend offene Grenzen und gegen die Abschiebung von sogenannten Haßpredigern (die man vielmehr wie gewöhnliche deutsche Nazis behandeln sollte). Zu diskutieren wäre, wie wir als Liberale die Verbrechen, die von demokratischen Staaten begangen werden, von der deutschen Asyl- bzw. Abschiebepolitik bis zur Todesstrafe in den USA, angemessen kritisieren können.
Bei Konflikten zwischen Demokratie und Liberalismus werden wir klar Position beziehen. Menschenrechte müssen nicht selten auch gegen Mehrheiten durchgesetzt werden. Der Vernichtungsantisemitismus war 1933 in Deutschland und 2002 in Palästina mehrheitsfähig. Liberale müssen durchaus bereit sein, unter bestimmten Umständen auch bekennende Antidemokraten zu sein.
Und natürlich werden wir insbesondere um einen ganz widerlichen, besonders fetten Brocken nicht herumkommen: Was sagt der Liberalismus zu den Problemen, die sich aus der Notwendigkeit der materiellen Reproduktion der Gesellschaft ergeben? Nur soviel voraus: Wir halten den politischen Liberalismus und den wirtschaftlichen Liberalismus für zwei paar Schuhe. Jedenfalls mißtrauen wir auch jenen Heilslehren, die sich von einem völlig deregulierten Markt nun wiederum alles versprechen und den Staat am liebsten ganz abschaffen würden. Mit den Libertären und Anarchokapitalisten etwa haben wir, auch wenn wir gewisse Sympathien in einigen Punkten nicht verhehlen können, schon deswegen nichts am Hut, weil wir die Notwendigkeit eines liberalen Rechtsstaates einsehen. Wenn selbst Milton Friedman ein garantiertes staatliches Grundeinkommen für jeden Bürger befürwortet hat, sehen wir nicht ein, uns päpstlicher als der Papst zu gebärden. Über die Vorteile und Nachteile des freien Marktes diskutieren wir gerne. Wichtig ist uns das gemeinsame Ziel, möglichst viel Wohlstand für möglichst alle Menschen durch möglichst angenehme Arbeitszeiten und Arbeitsbedingungen, zu erreichen. Wir halten das gelinde gesagt für keine leichte Aufgabe. Warum etwa, wenn durch steigende Produktivität eine Verkürzung der Arbeitszeiten möglich ist, derzeit in Westeuropa immer weniger Leute bezahlte Arbeit verrichten, diese aber dafür immer mehr und länger arbeiten müssen, halten wir nicht nur für eine interessante Frage, sondern auch für einen zu ändernden Sachverhalt. Moralische Verurteilungen von Faulpelzen finden wir widerlich und durchaus antiliberal. Wenn es den reichen westlichen Gesellschaften immer noch nicht gelungen ist, die Armut vollständig abzuschaffen, ist das schon skandalös genug. Es ist nicht einzusehen, daß sich die Leute dann auch noch Beschimpfungen und Spott von Wohlstandschauvinisten und Arbeitsfanatikern anhören müssen.
Über die Vorteile und Nachteile liberaler Staatlichkeit diskutieren wir auch, aber weniger gerne. Wer den liberalen Staat abschaffen möchte, den betrachten wir politisch als Feind – wie edel seine Motivation auch immer sein mag. (Und sollten wir im Verlauf der Diskussion zu dem Schluß kommen, daß politischer und wirtschaftlicher Liberalismus doch untrennbar zusammengehören, dann werden wir nicht umhin kommen, auch den wirtschaftlichen Liberalismus zu verteidigen.)
Wer also Lust hat, mit uns zu diskutieren oder für die Zukunft gemeinsame Veranstaltungen zu planen, ist uns allerherzlichst willkommen.
E pluribus Unum!
Berlin, März 2005
PS: Falls wir doch jemandem unter Ihnen die Spritze mit dem betäubenden Gift des Kommunismus geraubt haben sollten, empfehlen wir den American Tune von Simon and Garfunkel als schmerzlinderndes Surrogat im akuten Entzug.
Many's the time I've been mistaken, and many times confused Yes and I've often felt forsaken, and certainly misused Ah but I'm alright, I'm alright, I'm just weary thru my bones Still you don't expect to be bright and bon-vivant So far away from home, so far away from home And I don't know a soul who's not been battered I don't have a friend who feels at ease I don't know a dream that's not been shattered or driven to its knees But it's alright, it's alright, for we live so well, so long Still, when I think of the road we're travelling on I wonder what's gone wrong, I can't help it I wonder what's gone wrong And I dreamed I was dying, I dreamed that my soul rose unexpectedly And looking back down at me, smiled reassuringly And I dreamed I was flying, and high up above my eyes could clearly see The statue of liberty, sailing away to sea, and I dreamed I was flying But we come on a ship they called Mayflower We come on a ship that sailed the moon We come in the ages' most uncertain hours and sing an American tune And it's alright, oh it's alright, it's alright, you can be forever blessed Still tomorrow's gonna be another working day and I'm trying to get some rest That's all I'm trying, to get some rest
Wer Interesse an einem Diskussionstreffen hat, melde sich bei uns:
Freunde der offenen Gesellschaft: michael.holmes@gmx.net oder brands-haide@gmx.de
[1] Es ist im übrigen eine der übelsten Denunziationen der offenen Gesellschaft, ihr vorzuwerfen, daß sie Feinde hat. Strukturell ist sie durchaus der These verwandt, die Juden würden durch ihr Verhalten den Antisemitismus hervorrufen.
[2] Außer natürlich Franz Schandl.
[3] Im Protektionismus und der Subventionierung unproduktiv gewordener Wirtschaftszweige liegt der heutige Anteil des Westens am Elend der sogenannten Dritten Welt, nicht in der „Ausbeutung“.
[4] Wobei wir großen Wert darauf legen, zu betonen, daß wir unseren antideutschen Ex-Genossen noch unendlich viel näher stehen als jenen Linken, die nun unvermeidlich feixen werden, sie hätten es ja immer gewußt, daß die Antideutschen dereinst vom rechten linken Glauben abfallen und sich zu ungeschminkten Apologeten der bürgerlichen Gesellschaft wandeln würden. Wir wissen zu gut, was wir ihnen, den Antideutschen, bei denen wir gleichsam in die Lehre gegangen sind, geistig zu verdanken haben; an einem symbolischen Vatermord haben wir kein Interesse.
[5] Die Unterdrückung von Frauen ist in vielen Teilen der Welt immer noch ein riesiges Problem, aber nun wirklich nicht in den westlichen Demokratien. Wer die Unterschiede zwischen Frankreich und Saudi-Arabien als unerheblich abtut, verharmlost nicht nur die offene Barbarei, sondern verkennt außerdem, daß nichts auf der Welt die Gleichheit der Geschlechter so sehr befördert hat wie der westliche Liberalismus.
[6] Übrigens teilen wir die These Alfred Sohn-Rethels, daß historisch das abstrakte Recht wie das abstrakte Denken zusammen mit der Warenwirtschaft und der Wertabstraktion entstanden sind; wir würden nur gerne wissen, wieso diese unglaubliche zivilisatorische Leistung im antiken Griechenland und später in der europäischen Renaissance gegen das Wertverhältnis sprechen soll.
[7] Wir bevorzugen „Sex and the city“ und „24“, machen daraus aber ebensowenig ein allgemeines Gesetz.
[8] Bezeichnenderweise werden die wenigen Intellektuellen, die sich zugleich als Liberale und als gläubige Moslems definieren, wie zum Beispiel Bassam Tibi oder Seyran Ates, von autochthon-deutschen Linken gerne als Rassisten diffamiert und diejenigen, die mit dem Islam ihrer Eltern überhaupt nichts mehr anzufangen wissen, von Hobby-Orientalisten und sonstigen Hilfsmorgenländern als Assimili-Alis verhöhnt.
[9] Diesen Fehler machen sowohl Huntington und Fallaci als auch ihre antiwestlichen Kritiker.
[10] Genau wie im zwischenmenschlichen Bereich ist Respekt kein Geburtsrecht, sondern will verdient sein. Und es gilt zu Recht als kindisch und unhöflich, wenn jemand jede Kritik als Angriff auf seine persönliche Ehre wertet.
[11] Der Antiamerikaner und Antiliberale Noam Chomsky hat einen Lehrstuhl am MIT und fühlt sich von der Medienindustrie verfolgt, nur weil er sich, etwa von der NY Times, Kritik gefallen lassen muß. Unter dem von ihm schöngeredeten Regime der Roten Khmer wäre er als Wissenschaftler geköpft worden. In israelischen Kinos werden selbst unter Beschuß palästinensische Filme gezeigt, in denen Selbstmordattentäter glorifiziert werden, nur wird eben nicht so frenetisch Beifall geklatscht wie auf der Berlinale.