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"Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit" - ein bürokratisches Manöver

Von Ute Reissner
16. Juni 2004

Die "Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit", die am 20. Juni 2004 in Berlin einen bundesweiten Kongress abhalten wird, ist ein unaufrichtiges Manöver, mit dem langjährige sozialdemokratische Funktionäre und einige ihrer linken Berater die wachsende Opposition der Bevölkerung gegen die SPD ersticken wollen.

Das Hauptanliegen der neuen Formation besteht darin, eine politisch-programmatische Abrechnung mit der Sozialdemokratie zu verhindern. Nachdem die SPD den Karren des Sozialreformismus gegen die Wand gefahren hat, ruft die Wahlalternative dazu auf, das Wrack in die Ausgangslage zurückzubringen, einzusteigen und mit Vollgas noch einmal denselben Kurs einzuschlagen.

Dabei glaubt sie offenbar, ungestraft über mehr als hundert Jahre Erfahrung mit der Sozialdemokratie hinweggehen zu können.

Wer sind die Initiatoren?

Die Initiatoren haben fast alle eine Jahrzehnte lange Laufbahn in der Sozialdemokratie oder deren gewerkschaftlichem Umfeld hinter sich. Sie entstammen zwei Gruppen, die unabhängig voneinander etwa zur gleichen Zeit, im März 2004 an die Öffentlichkeit traten. Beide reagierten auf die massiven Mitglieder- und Glaubwürdigkeitsverluste der regierenden SPD. Auf dem Kongress am 20. Juni möchten sie ihren Zusammenschluss besiegeln.

Die eine Gruppe, "Wahlalternative 2006", stammt aus dem linken Flügel der westdeutschen Sozialdemokratie, der in den 1990er Jahren Oskar Lafontaine nahe stand. Als SPD und Grüne nach ihrer Regierungsübernahme 1998 einen stramm rechten Kurs des Sozialabbaus einschlugen, traten einige dieser Sozialdemokraten der PDS bei. Nachdem diese aber bei den Wahlen 2002 aus dem Bundestag ausschied und durch ihre Regierungsbeteiligung in Berlin den letzten Rest an Glaubwürdigkeit verspielte, möchten sie das sinkende Schiff wieder verlassen - zumindest mit einem Bein.

Federführend ist hier Ralf Krämer, der mit einem in den Gewerkschaften kursierenden Positionspapier Anfang dieses Jahres die Diskussion um die "Wahlalternative 2006" anstieß. Krämer, Jahrgang 1960, ist als Sekretär beim Bundesvorstand der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di zuständig für den Bereich Wirtschaftspolitik. Er stammt ursprünglich aus Dortmund, war einst Juso-Vorsitzender des Landesverbandes Nordrhein-Westfalen und später Mitglied im dortigen SPD-Landesvorstand. 1999 trat er aus der SPD aus und 2001 in die PDS ein. Er ist Mitglied im Landesvorstand der PDS-nahen Rosa-Luxemburg-Stiftung NRW.

Eine weitere Führungsfigur der "Wahlalternative" hat einen ganz ähnlichen Hintergrund. Uwe Hiksch, Jahrgang 1964, wurde 1982 Mitglied der SPD, bekleidete zahlreiche Juso- und SPD-Ämter und war Mitglied im SPD-Landesvorstand Bayern. 1994 zog er in den Bundestag ein, 1998 gewann eroberte er ein Direktmandat in seinem Wahlkreis Coburg. 1999 trat er aus der SPD aus und schloss sich der bayerischen PDS an. Im Bundestag fungierte er als europapolitischer Sprecher der PDS-Fraktion. Im Herbst 2002, nach dem Verlust seines Abgeordnetenmandats, stieg er zum Bundesgeschäftsführer der PDS auf, wurde aber im Sommer 2003 wieder abgesetzt.

Hinzu kommt Joachim Bischoff, Jahrgang 1944, Mitherausgeber der in Hamburg erscheinenden gewerkschaftsnahen Zeitschrift "Sozialismus". Auch er trat in den 1990er Jahren der PDS bei, gehörte mehrere Jahre lang deren Vorstand an und ist Mitglied ihrer Grundsatzkommission. Weitere Initiatoren der "Wahlalternative 2006" sind ein früherer Europa-Abgeordneter der Grünen, Frieder Wolf, sowie Axel Troost von der keynesianisch orientierten Gruppe "Alternative Wirtschaftspolitik" in Bremen sowie Sabine Lösing von Attac.

Die zweite Gruppe, "Initiative Arbeit und soziale Gerechtigkeit" (ASG), entstammt ebenfalls den Reihen der SPD. Ihr Sprecher, Thomas Händel, ist 1. Bevollmächtigter der IG-Metall-Verwaltungsstelle Fürth und seit 32 Jahren SPD-Mitglied. Ebenfalls beteiligt ist Anny Heike, die 2. Bevollmächtigte derselben Verwaltungsstelle. Hinzu kommen Peter Vetter, 1. Bevollmächtigter der IGM-Verwaltungsstelle Kempten (43 Jahre SPD), Klaus Ernst, 1. Bevollmächtigter der IGM-Verwaltungsstelle Schweinfurt (30 Jahre SPD), und Gerd Lobodda, 1. Bevollmächtigter der IGM-Verwaltungsstelle Nürnberg (38 Jahre SPD).

Lobodda war früher stellvertretender Aufsichtsratsvorsitzender des Elektronikkonzerns Grundig und hat eine lange Laufbahn im Betriebsrats- und Gewerkschaftsadel absolviert. Zur ASG gehören weiterhin Günther Schachner, 1. Bevollmächtiger der IGM-Verwaltungsstelle Weilheim (33 Jahre SPD) und Professor Dr. Herbert Schui von der Hochschule für Wirtschaft und Politik in Hamburg (40 Jahre SPD). Gegen die Mitglieder der ASG laufen Parteiordnungsverfahren der SPD.

Ausgangspunkt und Zielsetzung

Ausgangspunkt beider Gruppen der "Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit" war die Sorge über die Entfremdung immer breiterer Bevölkerungsschichten von der offiziellen Politik. "Wahlbeteiligung, Wahlergebnisse und Mitgliederbewegungen der Parteien zeigen, dass viele BürgerInnen sich von der Politik der Agenda 2010 betrogen fühlen, zugleich keine politische Alternative sehen und sich daher zur Haltung der politischen Abstinenz entscheiden", heißt es im ersten Aufruf der "Wahlalternative 2006" vom 15. März 2004. "Dies ist auch - aber nicht nur - ein wachsendes Problem für die engagierten Mitglieder in den Gewerkschaften."

Der Soziologieprofessor Arno Klönne, der das Projekt unterstützt, warnte ebenfalls: "Der Linken ist nicht damit geholfen, dass immer mehr Menschen sich aus jeder Teilnahme am formellen Politikbetrieb verabschieden." (sopos 4/2004)

Und in dem ersten Aufruf "Arbeit und soziale Gerechtigkeit" aus Bayern, der wenige Tage zuvor erschienen war, konnte man lesen: "Die vielen Austritte aus der SPD und die vielen Nichtwähler der vergangenen Wahlen aus dem sozialdemokratischen Spektrum zeigen: Viele Bürgerinnen und Bürger kehren der Politik den Rücken, fühlen sich von der SPD getäuscht, aber auch von keiner anderen Partei vertreten. Wir sehen darin eine Gefahr für die Stabilität unserer Demokratie."

Die Verlautbarungen der ASG-Gruppe illustrieren sehr deutlich, wie weit die SPD in den letzten Jahren nach rechts gerückt ist. "Die SPD hat sich von ihren Grundsätzen verabschiedet", heißt es in ihrem Aufruf. "Entgegen ihrer Wahlversprechen von 1998 und 2002, die sie als eine Alternative zur neoliberalen Politik der Vorgängerregierungen erscheinen ließen, hat sie sich zur Hauptakteurin des Sozialabbaus und der Umverteilung von unten nach oben entwickelt." Vorangegangen war eine lange Liste der Schandtaten der SPD in der Arbeitsmarkt-, Renten-, Gesundheits- und Bildungspolitik.

Die Reaktion der Gewerkschafter auf diesen Verrat der SPD an ihrem früheren Reformprogramm ist der typische Reflex des Apparatschiks, der nichts mehr fürchtet, als dass ihm die Kontrolle über das Denken seiner Untergebenen entgleitet. Sie versuchen krampfhaft, die ideologische Einbindung der Arbeiter in die bestehenden Gesellschaftsstrukturen aufrecht zu erhalten - auch wenn Grundlagen, auf denen ihre materielle Einbindung basierte, weggebrochen sind.

" Nichtwählen und Rückzug in die innere Immigration ist nicht die Lösung", heißt es weiter (Hervorhebung im Original). "Gerade weil es durch den Kurswechsel der SPD keine relevante organisierte politische Gruppierung gibt, die einen Gegenpol zum neoliberalen Umbau unserer Gesellschaft darstellt, wollen wir uns politisch engagieren und für die Verteidigung dieses Sozialstaats arbeiten.

Wir treten für ein Bündnis mit allen politischen Kräften und Personen ein, die sich für die Erhaltung und den Ausbau des Sozialstaats und für ein sozial gerecht finanziertes Gemeinwesen einsetzen.

Aus diesem Bündnis könnte eine bei der nächsten Bundestagswahl wählbare soziale Alternative entstehen. Diese mögliche Entwicklung schließen wir ausdrücklich ein."

Dabei macht die ASG ganz deutlich, dass sie die SPD nicht schädigen möchte. Sie schiebt die Möglichkeit einer Parteigründung seit Monaten unaufhörlich vor sich her - erst wartete sie den SPD-Parteitag ab, dann die Europawahlen, nun vielleicht noch die Landtagswahlen in NRW nächstes Jahr - und kündigte mittlerweile an, vor dem Jahr 2005 sei nicht daran zu denken, und ob man 2006 zu den Wahlen antreten werde, hänge von den dann erkennbaren Erfolgsaussichten ab.

Auch im Aufruf "Für eine wahlpolitische Alternative 2006" wurde von Anfang an klargestellt, dass das Projekt eines alternativen Wahlbündnisses die SPD nicht angreifen, sondern lediglich unter Druck setzen sollte. Es sei "schon allein deshalb sinnvoll", heißt es, "um der weiteren Rechtsentwicklung der SPD eine Schranke zu setzen". Und an anderer Stelle: "Je katastrophaler der Wahlausgang für die SPD (und vielleicht auch Grüne) wird, desto größer werden dort innerparteilich die Chancen sein, die den kapitalorientierten Kurs der letzten Zeit bestimmenden Kräfte etwas zurückzudrängen und gegenüber CDU/CSU/FDP soziale Positionen wieder stärker zu betonen. Der von einer im Bundestag vertretenen sozialen Opposition ausgehende Druck wird das verstärken."

An keiner Stelle setzen sich die Initiatoren kritisch mit ihrer eigenen politischen Geschichte auseinander. Allein das muss selbst den unbedarftesten Beobachter misstrauisch stimmen. Wie soll man Leute Ernst nehmen, die im durchaus gereiften Alter etwas Neues aus dem Boden stampfen wollen, ohne über ihre Jahrzehnte lange politische Tätigkeit Rechenschaft abzulegen? Wie erklären Joachim Bischoff und Ralf Krämer ihr Engagement für die PDS und die Rechtsentwicklung dieser Partei? Welche Lehren zieht Thomas Händel aus der Entwicklung der SPD? Solche Fragen werden nicht gestellt.

Stattdessen liegt das Schwergewicht der "Wahlalternative" darauf, von jeglicher Diskussion über die Ursachen für das Scheitern des Sozialreformismus abzulenken. Dabei wird ein unzutreffendes und willkürlich verzerrtes Bild der Realität gezeichnet, um ein aussichtsloses politisches Programm zu begründen: die Rückkehr zur Reformpolitik der frühen 1970er Jahre.

Eine knappe Zusammenfassung dieser Orientierung ist das Papier "Zu einigen Fragen und Einwänden", das am 22. April 2004 auf die bereits gemeinsam von ASG und "Wahlalternative 2006" bestrittene Website gestellt wurde. Es fasst in dankenswert knapper Form die grundlegenden Positionen zusammen, die auch in zahlreichen Interviews, Artikeln und Aufrufen ausgeführt werden. Die folgenden Zitate stammen alle aus diesem Papier.

"Die entscheidende Frage", heißt es darin, "ist nicht, ob eine politische Kraft den Kapitalismus abschaffen will, sondern welche Politik und Interessen sie hier und heute vertritt." Bereits im ersten Aufruf hatte die Wahlalternative in ähnlicher Manier geschrieben: "Es geht heute nicht um ‚Reform oder Revolution', sondern um sozialen Reformismus oder weiteren Vormarsch der neoliberalen Reaktion."

Diese Darstellung ist eine haarsträubende Verdrehung der tatsächlichen Verhältnisse. Wer nur ein bisschen weiter denkt, wird das erkennen. Weshalb hat die Sozialdemokratie aufgehört, "hier und heute" die Interessen der arbeitenden Bevölkerung zu vertreten? Der Grund liegt darin, dass ihre grundsätzliche Verteidigung des Kapitalismus nicht mehr mit sozialen Reformen vereinbar ist. Die Frage, "welche Politik und Interessen" eine Partei "hier und heute vertritt", hängt ganz unmittelbar davon ab, ob sie die Überwindung des Kapitalismus anstrebt oder nicht. Die Frage "Reform oder Revolution" ist daher die entscheidende programmatische Frage, mit der sich jeder auseinandersetzen muss, der eine ernsthafte Antwort auf das Scheitern der SPD sucht.

Dies wird von allen Beteiligten an der Wahlalternative heftig bestritten, insbesondere von der Bremer Gruppe Alternative Wirtschaftspolitik um Axel Troost, auf die sich beide Teilgruppen berufen. Sie propagiert die Rückkehr zur Reformpolitik der 1970er Jahre. Sie behauptet, dass die Globalisierung der Produktion unter kapitalistischen Bedingungen nicht zwangsläufig zu einer neoliberalen Wirtschafts- und Sozialpolitik führen müsse. Es gehe vielmehr darum, wie der von einer nationalen Volkswirtschaft erarbeitete Gewinn unter deren Mitgliedern verteilt werde. Das Problem liege nicht im Bereich der Produktion, sondern in dem der Verteilung, und die Lösung von daher in einer Rückkehr zur Keynesianischen Politik der unmittelbaren Nachkriegsjahre.

Dieses Auseinanderdividieren der Produktions- und der Verteilungssphäre hält einer genaueren Überprüfung nicht stand. Während diese Frage im Rahmen dieses Artikels nicht abgehandelt werden kann, muss man festhalten, dass die Globalisierung die nationalen politischen Institutionen in der Tat untergräbt. Die multinationalen Unternehmen, deren Budgets oftmals das Vielfache des Haushalts kleinerer Länder ausmachen, können den nationalen bürgerlichen Regierungen tatsächlich ihre Bedingungen diktieren. Diese Erfahrung, die Millionen Arbeiter tagtäglich am eigenen Leib machen, ist offenbar bei den Professoren der Linken noch nicht angekommen.

Der neoliberale Gesellschaftsumbau, den die "Wahlalternative" wortreich beklagt, liegt nicht im bösen Willen der SPD-Spitze begründet, sondern in objektiven Entwicklungen der kapitalistischen Weltwirtschaft, denen die einstige Reformpartei mit ihrer politischen Kehrtwende entspricht. Er kann nur bekämpft werden, wenn die Arbeiterklasse - von Krämer, Bischoff und Co. als die "vielen Betroffenen des neoliberalen Umbaus der Gesellschaft" bezeichnet - einen politischen Bruch mit dem Sozialreformismus der SPD vollzieht, sich von der zentnerschweren historischen Last dieser Partei befreit und zu einer marxistischen Politik zurückfindet, die sich die Abschaffung des Kapitalismus auf internationaler Ebene zum Ziel setzt.

Die Bilanz aus dem Sozialreformismus im 20. Jahrhunderts lautet, dass sich die Zähmung des Kapitalismus als unmöglich erwiesen hat. Die Sozialdemokratie hat den Fortbestand dieser Gesellschaftsordnung an jedem kritischen Wendepunkt gewährleistet, indem sie unter Verzicht auf soziale Reformen den reaktionärsten Kräften den Weg ebnete. Diese Lehren, die hier nur kurz genannt werden können, wurden mit der schrecklichen Erfahrung zweier Weltkriege erkauft. Sie müssen in breiten Schichten der arbeitenden Bevölkerung verankert werden, um nicht nur einen organisatorischen, sondern auch einen politischen Bruch mit der Sozialdemokratie zu vollziehen. Das ist die Grundlage für jede ernsthafte Gegenwehr, und für das Wiedererwachen einer echten revolutionären Bewegung.

Wer dies offen ausspricht, erfüllt die "Wahlalternative" mit hellem Entsetzen. Nicht einmal den Begriff "links" möchte sie noch benutzen. "Es geht weder um eine neue Linkspartei zwischen SPD und PDS noch links von der PDS, sondern um etwas Neues, Anderes und Breiteres... Es darf nicht darum gehen, möglichst radikale und weitgehende Beschlüsse gegen andere durchzusetzen, sondern anknüpfend an Diskussionen möglichst breit tragfähige und ausstrahlungsfähige Positionen zu formulieren. Wir haben keine besonderen Prinzipien aufzustellen, nach denen wir die Bewegung modeln wollen."

Letztere Formulierung, die Eingeweihte als Anlehnung an das Kommunistische Manifest erkennen, macht die Unterschiede zwischen einer marxistischen Politik und dem Unterfangen der "Wahlalternativen" besonders deutlich.

Unter der Überschrift "Proletarier und Kommunisten" schrieb Karl Marx im Kommunistischen Manifest von 1848: "Sie [die Kommunisten] stellen keine besonderen Prinzipien auf, wonach sie die proletarische Bewegung modeln wollen... Die theoretischen Sätze der Kommunisten beruhen keineswegs auf Ideen, auf Prinzipien, die von diesem oder jenem Weltverbesserer erfunden oder entdeckt sind. Sie sind nur allgemeine Ausdrücke tatsächlicher Verhältnisse eines existierenden Klassenkampfs, einer unter unsern Augen vor sich gehenden geschichtlichen Bewegung." (MEW Bd. 4, S. 474-475)

Dieses Verständnis ist das genaue Gegenteil des Ansatzes der "Wahlalternative", der darauf basiert, die Augen vor der realen historischen Entwicklung fest zu verschließen. Die Globalisierung, d. h. die umwälzendste Entwicklung der Produktivkräfte seit Beginn des 20. Jahrhunderts, wird für belanglos erklärt, und die Reaktion der Sozialdemokratie darauf als rein subjektiver Fehler ihrer Parteispitze aufgefasst, den man durch die Erzeugung von gesellschaftlichem Druck umkehren könne. Dass diese Annahme irrig ist, unterstreichen die Erfahrungen der letzten Jahre. Auf Druck von unten reagierten sämtliche sozialdemokratischen Parteien Europas nicht mit einer Links-, sondern stets nur mit einer verstärkten Rechtswendung.

Die Frage nach den objektiven Ursachen für diese Entwicklung und die daraus folgenden massiven Mitglieder- und Stimmenverluste der SPD stellt die "Wahlalternative" nicht. Das ist kein Zufall, denn nur auf dieser Grundlage kann sie versuchen, die Opposition derjenigen, die sich von der SPD abwenden, auf dem niedrigst möglichen politischen Niveau zu halten. Einer offenen Diskussion stellt sie eine "gemeinsame politische Praxis" entgegen, die zunächst dazu beitragen soll, "gesellschaftliche Kräfteverhältnisse zugunsten der abhängig Arbeitenden und sozial Benachteiligten zu verschieben".

"Es geht darum", heißt es in dem bereits oben zitierten Papier, "die vorherrschende sozial reaktionäre und aggressive Entwicklung des Kapitalismus aufzuhalten und eine andere Politik und Entwicklungsrichtung durchzusetzen. Voraussetzung dafür sind veränderte gesellschaftliche Kräfteverhältnisse, die auch neue soziale Kompromisse ermöglichen. Die Geschichte hat gezeigt, dass dies im Rahmen kapitalistischer Verhältnisse möglich, aber zugleich immer begrenzt und gefährdet ist. Grundsätzliche Kritik des Kapitalismus und Diskussionen über Möglichkeiten seiner Überwindung haben ihren Platz im Rahmen einer sozialen Alternative, sollen aber nicht die gemeinsame politische Praxis behindern."

Man müsse, heißt es etwas weiter unten, die Entfremdung der unterschiedlichsten Bevölkerungsteile von den offiziellen Parteien aufgreifen, "ohne die Leute mit verbalradikalen Parolen oder unpassenden Diskussionsbeiträgen über die (Un-)Reformierbarkeit des Kapitalismus abzuschrecken."

Dieses Thema wird unermüdlich variiert. Alles kann die Wahlalternative vertragen, nur keinen "Verbalradikalismus" oder "Linkssektierertum", worunter sie das Eintreten für eine marxistische Politik versteht.

Das Zugeständnis, man dürfe abseits im stillen Kämmerlein über Möglichkeiten zur Überwindung des Kapitalismus diskutieren, ist eine verklausulierte Einladung an alle Verteidiger der Sozialdemokratie auf der Linken, sich an dem neuen Projekt zu beteiligen. Und diese lassen sich auch nicht lange bitten, wie die World Socialist Web Site exemplarisch in einem Artikel über die Gruppe "Linksruck" nachweisen wird.

Die Argumentationslinie der Wahlalternative verläuft folgendermaßen: Zunächst müsse der Einfluss der neoliberalen Politik zurückgedrängt werden, indem Menschen für ihre unmittelbaren Belange mobilisiert werden. Um hierbei niemanden zu verschrecken, müsse die Diskussion über die Abschaffung des Kapitalismus zurückgestellt werden, letztere sei vorderhand ohnehin nicht möglich und spiele praktisch keine Rolle. Durch die Mobilisierung einer größeren Anzahl Menschen werde dann das gesellschaftliche Kräfteverhältnis zu Ungunsten der Neoliberalen und zugunsten der "sozialen Alternative" verändert, sodass zusätzlicher Spielraum entstehe, in dem wieder eine Politik des sozialen Ausgleichs und der Kompromisse möglich werde.

Dieser Gedankengang basiert auf falschen, illusionären Annahmen. Eine Politik, die sich darauf stützt, wird das Gegenteil ihrer proklamierten Ziele erreichen, und zwar aus folgendem Grund. Die Ursache für das "ungünstige gesellschaftliche Kräfteverhältnis" und die "Vorherrschaft des Neoliberalismus", um diese Ausdrucksweise zu verwenden, liegt nicht in der mangelnden Mobilisierung der einfachen Bevölkerung und schon gar nicht daran, dass sie sich nicht über ihre sozialen Belange bewusst wäre. Im Gegenteil, gerade in den letzten Jahren haben die Massendemonstrationen gegen den Irakkrieg und gegen Sozialabbau weltweit ein hohes Maß an Engagement und Kampfbereitschaft erkennen lassen.

Was die soziale Opposition bisher daran hindert, sich weiter zu entwickeln und das "Kräfteverhältnis" tatsächlich zu ändern, ist fehlende Klarheit über den Charakter der weltweiten Krise des Kapitalismus und über dessen Konsequenzen. Was der Arbeiterklasse fehlt, ist das Bewusstsein über die Unvereinbarkeit ihrer Interessen mit der Aufrechterhaltung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung.

Das Konzept der Wahlalternative läuft darauf hinaus, gerade diese Erkenntnis im Namen der "gemeinsamen Aktivität" zu blockieren und damit die SPD, und sei es von außen, nochmals zu stützen. Sie verbaut der Bewegung nach links, die sich in der Arbeiterklasse und breiten Schichten der Gesellschaft abzeichnet, den Weg zu einer politischen Entwicklung und Entfaltung. Die Logik dieses Bemühens führt dazu, dass sich letztlich auch die viel beschworenen "gemeinsamen Aktivitäten" in einem schwamm- und schlammigen Auffangbecken totlaufen.

Wenn man diese Zusammenhänge durchdenkt, dann verwundert es nicht mehr, dass die Wahlalternative nicht an die einfache arbeitende Bevölkerung als solche appelliert, sondern sich versteht als "verbindender Zusammenhang von Personen..., die primär in Gewerkschaften und anderen Interessenvertretungen, Bewegungen, Organisationen und sozialen, politischen, wissenschaftlichen und kulturellen Initiativen und Projekten aktiv sind".

Es ist eine Formation für die Mittler des sozialen Kompromisses, die mit der Abkopplung der Sozialdemokratie von ihrer einstigen Basis nicht nur ihre politische Rolle, sondern zum Teil auch ihre Pöstchen und Einkommensquellen zu verlieren drohen. Bei genauerem Hinsehen könnte sich die angebliche Mobilisierung für "veränderte gesellschaftliche Kräfteverhältnisse, die auch neue soziale Kompromisse ermöglichen" bisweilen als die Sehnsucht gestrandeter Funktionäre nach einer Rückkehr an die Futtertröge des etablierten Politikbetriebs erweisen. Könnte das jemand merken? Vielleicht nicht, wenn er sich gleich in "Aktivitäten" stürzt, anstatt Klarheit über grundsätzliche Fragen zu suchen.

In diesem Zusammenhang ist aufschlussreich, wie sich der oben genannte ver.di-Sekretär Ralf Krämer, einer der Initiatoren der Wahlalternative, vor genau einem Jahr äußerte. In einem Beitrag vom Mai / Juni 2003 zur Debatte innerhalb seiner Partei, der PDS, verwahrte er sich gegen die Beteiligung der PDS an der Regierung des Berliner Senats. Sie habe mit ihrer rigorosen Sparpolitik den Rubikon überschritten. Dabei macht er allerdings deutlich, dass seine Opposition nicht grundsätzlicher Natur ist:

"Als Gewerkschafter und ehemaliger linker Sozialdemokrat kann ich nur sagen: Ich habe keinerlei Neigung zu Opposition aus Prinzip. Ich bin völlig dafür, um Mehrheiten und Regierungsverantwortung im Kapitalismus zu kämpfen, selbstverständlich auch in Koalition mit anderen Parteien, um so an sozialistischen Zielen orientierte Gestaltung voranzubringen und Herrschaftspositionen des Kapitals zurück zu drängen." ("Was für eine Partei braucht die sozialistische und gewerkschaftliche Linke", veröffentlicht auf der Website der Rosa-Luxemburg-Stiftung)

Diese Orientierung ist identisch mit den Ansprüchen aus der Anfangszeit der Grünen. Falls die "Wahlalternative" überhaupt bis zum Stadium der Parteigründung heranreift, wird sie in kürzester Zeit den selben Weg wie diese gehen: Sie wird ihre jetzt noch proklamierten bescheidenen Reformziele aufgeben und sich direkt oder indirekt an sozialen Angriffe auf die Bevölkerung beteiligen.



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