http://www.stadtrevue.de/index_archiv.php3?tid=562&bid=2&ausg=02/04 StadtRevue Köln Magazin | Archiv
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SR Archiv | Artikel in Ausgabe 02/04
Das Phantasma der Dienstleistung
Zukunft der Arbeit, Folge 6

Trotz zeitweilig erfolgreicher Modelle der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit ist das grundsätzliche Paradox nicht zu übersehen: In den Industrienationen macht der technologische Fortschritt immer mehr Arbeitsplätze überflüssig und ermöglicht eigentlich dadurch immer mehr selbstbestimmte Zeit. Trotzdem nimmt das Elend zu. Immer mehr Arbeitsplätze werden benötigt, weil sich nach herrschender Denkweise nicht anders Armut und Verelendung beheben lassen. Vor diesem Hintergrund rechtfertigt sich nahezu jede Unternehmung damit, dass sie angeblich Arbeitsplätze schafft. Was aber ist, wenn man unsere Arbeitsgesellschaft von außen betrachtet und die Grundlagen, auf denen dieses System der Arbeit aufbaut, in Frage stellt? Der Sozialwissenschaftler Christian Girschner antwortet im Interview mit Felix Klopotek auf die aktuelle Ideologie der Dienstleistungsgesellschaft. Allein der Ausbau des Dienstleistungssektors, so die weit verbreitete Annahme, können die strukturelle Arbeitslosigkeit bekämpfen. Was aber verbirgt sich hinter dem Begriff der Dienstleistung? Was hat das Ideal der Dienstleistungsgesellschaft mit dem herrschenden Neoliberalismus zu tun?


Illustration: metzgerei strzelecki

StadtRevue: In vielen Debatten über den »Standort Deutschland« ist die Rede davon, dass Deutschland überindustrialisiert sei. Was ist an dieser Behauptung dran?

Christian Girschner: In der Politik wird diese Frage gar nicht mehr gestellt, sondern als ein gegebener Sachverhalt vorausgesetzt. Die Wissenschaftler verwenden häufig die Überindustrialisierungsthese und belegen diese durch statistisches Material, dass nämlich der deutsche Industriesektor im internationalen Vergleich zu groß und der Dienstleistungssektor zu klein ausfällt. Allerdings gibt es für diese Behauptung keine wissenschaftlich haltbare Begründung. Zwei Gründe möchte ich dazu hervorheben: Bei der Überindustrialisierungsthese wird vorausgesetzt, dass wir auf dem Weg in die Dienstleistungsgesellschaft sind. Dies ist jedoch eine geschichtsphilosophische Spekulation über die stofflich-technische Entwicklung der Arbeitsteilung, welche man zwar »glauben«, aber nicht wissenschaftlich begründen kann. Um die These von der Überindustrialisierung zu »beweisen«, wird zum anderen der statistisch ausgewiesene Dienstleistungsanteil an der Gesamtproduktion in Deutschland gerne mit dem der USA verglichen, wo der Dienstleistungssektor statistisch wesentlich höher ausfällt. Jedoch ist dieser auf den ersten Blick bestechende Vergleich nicht haltbar, weil die statistischen Erhebungsgrundlagen zwischen Deutschland und der USA erheblich voneinander abweichen, weshalb hier Äpfel mit Birnen verglichen werden.

Liegt die Zukunft der Arbeit – vom Abbau der Arbeitslosigkeit bis zum Schaffen neuer Jobs – im Ausbau des Dienstleistungssektors?

In der Politik und Sozialwissenschaft wird dies einhellig bejaht. Wenn nun aber diese These ein statistischer und theoretischer Trugschluss ist, dann kann auch die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen durch den »Ausbau« des angeblich zu kleinen Dienstleistungssektors nicht gelingen.

Was versteht man für gewöhnlich, etwa in der aktuellen sozialwissenschaftlichen Debatte, unter einer Dienstleistung? Was für Berufsbilder sind damit verbunden?

Es ist schon immer das ungelöste Problem der Dienstleistungstheorie gewesen, genau zu erklären, welche Arbeiten als Dienstleistungen gelten. So gibt es bis heute keine wissenschaftlich haltbare und anerkannte Definition, weshalb die zahlreichen und unterschiedlichen Dienstleistungsbestimmungen unverbindlich nebeneinander existieren. Viele Wissenschaftler greifen allerdings gerne auf zwei Bestimmungen zurück. Danach gelten alle Arbeiten, die (a) immateriell sind oder (b) wo Produktion und Konsumtion zusammenfallen, als Dienstleistungen. Auf dieser Definitionsgrundlage gibt es ein breit gefächertes Feld von Berufsarten, welche als Dienstleistungen angesehen werden, z.B. das Versicherungswesen, Handel, Banken, Verwaltung, Reinigung, Gesundheitswesen, Hotel- und Gaststättengewerbe, Tourismus, Sicherheitsdienste, Verkehr.

Wie stichhaltig sind diese Definitionen?

Diese und ähnlich konstruierte Dienstleistungsdefinitionen stellen willkürliche Erklärungsansätze dar. Dies entspringt daraus, dass man die Dienstleistungsarbeit allein nach einem stofflich-technischen Kriterium bestimmen will. Da aber ein solch verbindliches Kriterium in der komplex gewordenen und sich beständig verändernden Arbeitswelt nicht aufzufinden ist, wird es auch niemals auf dieser Grundlage eine wissenschaftlich haltbare und anerkannte Bestimmung von Dienstleistungen geben. Eine Konsequenz dieses Zugriffs auf die Arbeitswelt ist, dass die Ökonomen beständig mit einem ungelösten Einordnungs- und Abgrenzungsproblem zu kämpfen haben: Welche Arbeit gehört gemäß des ausgewählten technischen Definitionskriteriums noch zum Dienstleistungssektor? Daraus entspringt zudem ein statistisch ungeklärtes Erfassungsproblem. Freilich wird in den meisten Studien über Dienstleistungen von diesen Problemen abgesehen, indem man sie schlichtweg übergeht.

Gehen wir mal von praktischen Beispielen aus – Tätigkeiten , die alle zu den Dienstleistungen gezählt werden und sich doch deutlich von der industriellen Arbeit unterscheiden. Beispielsweise die Putzfrau, die in meinem Treppenhaus wischt; der Frisör, der mir die Haare schneidet; das Unternehmen, das den Vertrieb der StadtRevue organisiert? Wie sind diese Arbeiten einzuordnen? Was spricht dafür, dass es sich nicht um Dienstleistungen handelt?

Was macht diese völlig verschiedenen Arbeiten in stofflich-technischer Sicht zu Dienstleistungen, d.h., was haben diese gemeinsam? Nehmen wir die Dienstleistungsdefinition (a) – »immaterielle Arbeit«: Kann man davon sprechen, dass diese Arbeiten alle immateriell sind? Aber wie bestimmt man, was immaterielle Arbeit ist? Oder Definition (b): Fallen bei all diesen vermeintlich geglaubten Dienstleistungsarbeiten Produktion und Verbrauch wirklich zusammen? Wie lässt sich das in stofflich-technischer Hinsicht zweifelsfrei bestimmen? Man entgeht diesen ungelösten Fragen, wenn man im Gegensatz zu den vorherrschenden Dienstleistungsbestimmungen eine gesellschaftliche Dienstleistungsdefinition verwendet. Letztere fragt danach, in welch einem sozio-ökonomischen Zusammenhang die Arbeit ausgeübt wird. Das Vertriebsunternehmen für die StadtRevue ist danach kein Dienstleistungsunternehmen, sondern ein Bestandteil der kapitalistischen Produktion.

Wenn man Dienstleistungen nur in einem sozio-ökonomischen Zusammenhang genau fassen kann, was kommt dann dabei heraus? Was ist also eine Dienstleistung?

Entscheidend ist, welche soziale Qualität die Dienstleistung innerhalb der kapitalistischen Arbeitsteilung annimmt. Dienstleistungen wären nach der von mir vertretenen gesellschaftlichen Definition alle Arbeiten, welche aus dem Einkommen bezahlt werden: Das für die Entlohnung der beschäftigten Dienstleistungsarbeiter aufgewendete Geld fungiert daher für den Einkommensbesitzer nicht als Vorschuss für die Produktion von Waren, um es zu vermehren und als Kapital zu verwerten. Es dient nur dazu, um besondere Arbeitsleistungen privat anzueignen. Aus diesem Grund gehören die so bestimmten Dienstleistungen nicht der kapitalistischen Warenproduktion an und leisten auch keinen Beitrag zum ökonomischen Wachstum, sondern müssen aus diesem alimentiert werden. Konkret: Eine Putzfrau leistet Dienstleistungsarbeit, wenn sie in einem Haushalt eines vermögenden Einkommensbesitzers arbeitet. Arbeitet die Putzfrau dagegen für ein Reinigungsunternehmen, um Büros eines anderen Unternehmens zu säubern, dann handelt es sich nicht mehr um eine Dienstleistung, sondern um ein Bestandteil der kapitalistischen Warenproduktion, die den Zweck hat, das vom Putz-Firmeneigentümer vorgeschossene Geld zu vergrößern. Auf der Grundlage dieser Definition zeigt sich, dass es sich bei dem stets behaupteten Weg in die Dienstleistungsgesellschaft um eine technische Fiktion handelt. Denn hier wird die technisch-stoffliche Entwicklung einseitig zum Antriebsmotor der Ökonomie erhoben. Von den Wissenschaftlern wird deswegen immer wieder nur die technologische Oberfläche der Gesellschaft betrachtet, um sie anschließend in verschiedene Sektoren willkürlich zu unterteilen. Es wird aber nicht die hinter dieser technisch-stofflichen Oberfläche liegende gesellschaftliche Antriebskraft untersucht, die den ökonomischen Zweck der verschiedenen Arbeiten bestimmt und dabei die Produktion beständig umwälzt und erweitert, dadurch neue Produktionszweige hervorbringt, welche wiederum die technisch wahrgenommene Welt für die Menschen verändert.

Besteht ein Zusammenhang zwischen den florierenden Dienstleistungs-Ideologien und der neoliberalen Politikoffensive, wie sie sich in der Ausweitung von Niedriglohnsektoren und dem Abbau von ArbeitnehmerInnenrechten manifestiert?

In den Anfängen der Dienstleistungstheorie ging man noch von positiven und emanzipatorischen Effekten aus, die die Expansion des Dienstleistungssektors hervorbringen würde: schwere körperliche und monotone Arbeiten nehmen ab, Arbeitszeiten reduzieren sich, die immateriellen Bedürfnisse triumphieren über die materiellen. Von diesen Annahmen spricht heute keiner mehr. Stattdessen hat sich mit der anhaltenden Massenarbeitslosigkeit der sozialwissenschaftliche Trend herausgebildet, der nur noch einen Aspekt thematisiert: dass nämlich die im industriellen Sektor wegfallenden Arbeitsplätze durch einen wachsenden Dienstleistungssektor kompensiert werden müssen. Allerdings ist dies bislang nicht eingetreten. Die Arbeitslosigkeit ist nicht wesentlich geringer geworden. Statt nun die offensichtlich fehlerhafte Theorie über die Dienstleistungsexpansion zu überdenken, vertreten zahlreiche Wissenschaftler die Auffassung, dass gesellschaftliche Hindernisse den prognostizierten Wandel versperren. Ein zentrales Hindernis wird in den angeblich zu hohen Löhnen und Sozialleistungen gesehen. Denn es wird davon ausgegangen, dass die meisten Dienstleistungsarbeiten arbeitsintensiv und deswegen lohnintensiv sind. Daraus entsprang diese neoliberale Doktrin: Je niedriger die Löhne sind und je mehr die Menschen durch den Wegfall von Sozialleistungen gezwungen werden, jede Arbeit anzunehmen, desto mehr neue Arbeitsplätze entstehen im Dienstleistungssektor. Nach dieser Auffassung sollen über diesen Weg zwischen vier oder fünf Millionen neue Arbeitsplätze entstehen. Haushaltshilfen, Dienstboten, Schuh- und Fensterputzer, Tütenpacker, Fahrstuhlführer, Autowäscher – das sollen die neuen Arbeitsplätze des Dienstleistungssektors sein. Bislang ist diese neoliberale Strategie, soweit man sie umgesetzt hat, kläglich gescheitert. Das hatte zur Folge, dass die neoliberalen Forderungen nach Niedriglöhnen und Sozialabbau radikalisiert wurden. Schröders Agenda 2010 ist eine solche.

Gibt es Strategien, oder besser ausgedrückt: gesellschaftliche Kämpfe gegen diese Dienstleistungs-Ideologien und der mit ihnen verbundenen neoliberalen Politikoffensive? Was ist in diesem Zusammenhang von den Gewerkschaften zu erwarten?

Bislang sehe ich nur einen geringen und schlecht organisierten Widerstand gegen Niedriglöhne und Sozialabbau. Die Vorstellung von der kommenden Dienstleistungsgesellschaft wird bislang von keiner politischen Kraft als neoliberale Fiktion verworfen. Zudem gibt es nur noch eine Unternehmerpartei mit zwei Flügeln im Bundestag. Die rot-grüne Regierungsdemagogie und die in diesem neoliberalen Fahrwasser schwimmenden, kaum protestierenden Gewerkschaften lassen derzeit keinen Platz mehr für Ideen von einer anderen Wirtschafts- und Sozialpolitik. Abgestützt wird dies durch eine überwiegend konzerngesteuerte Öffentlichkeit. Gemeinsam ist man sich darin einig: den Wohlfahrtsstaat für die Konzerne und Reichen auszubauen, während die sozialen Sicherungssysteme für die Lohnabhängigen abgebaut oder zerschlagen werden müssen.

Wie sähen denn Kämpfe aus, die wirksamer wären? Was müssten sie zum Ziel haben?

Es wäre viel gewonnen, wenn es den Kritikern der neoliberalen Offensive gelingen würde, eine Gegenöffentlichkeit herzustellen, wo die unwissenschaftlichen, ideologischen und sozial unheilvollen Grundzüge der als segensreich angepriesenen Dienstleistungsgesellschaft angeprangert werden. Dies wäre eine wichtige Grundlage, um den Widerstand gegen die neoliberale Politik wirkungsvoll zu verbreitern.

Dieses Interview wurde über E-Mail geführt.

Zur Person
Christian Girschner, 1965 geboren, ist Sozialwissenschaftler und unterrichtet an der Universität Bremen. Kürzlich ist sein Buch »Die Dienstleistungsgesellschaft. Zur Kritik einer fixen Idee« erschienen (140 Seiten, 14 Euro, Papy Rossa Verlag Köln).

Ältere Texte der Serie Zukunft der Arbeit können in unserem Internet-Archiv nachgelesen werden.

Felix Klopotek

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