Wie die freie Marktwirtschaft in New Orleans wieder einmal funktioniert hat
Die Analyse des GegenStandpunkt-Verlags in Radio Lora München vom 12. September 2005
Ohne die freie Marktwirtschaft hätte sich eine Orkan der Stärke 5 zwar nicht verhindern lassen, aber nur mit ihr konnte es zu diesem Ausmaß von Tod und Zerstörung an der US-Südküste kommen. Die zuständigen Organe der Staatsgewalt hatten nämlich ziemlich früh Informationen darüber, dass sich ein Hurrikan der Windstärke 5 auf die Küste von Louisiana zu bewegte. Und wie reagierten sie darauf? Als überzeugte Demokraten und Fans der zu diesem Herrschaftssystem passenden Wirtschaftsordnung setzten sie nicht nur voll auf die freie Marktwirtschaft, sondern diese auch im Umgang mit der Bevölkerung von New Orleans durch.
Sie forderten alle Einwohner zur Evakuierung ihrer Stadt auf. Gemäß den Regeln der freien Marktwirtschaft gingen sie davon aus, dass jeder seine Flucht privat und gemäß seinen Eigentumsverhältnissen in Sachen Geld und Transportmittel zu organisieren hat. Es ist ja gerade die Schönheit dieses Wirtschaftssystems, dass jedes Individuum aus seinem Privatinteresse heraus und ungehindert durch staatliche Planung für sich sorgen darf und dass daraus das Bestmögliche für die Gesellschaft resultieren soll. Also gab es in Louisiana keine "kollektivistische" oder gar "staatlich reglementierte" Evakuierung, wie das letztes Jahr vom "Zwangsregime" des Fidel Castro an 1,3 Mio. armen Kubanern durchgezogen worden ist, weswegen dieser Hurrikan mit der gleichen Windstärke keinen einzigen Toten und damit auch kaum Aufsehen in der freien Presse verursachte. In einer freien Marktwirtschaft kommt so etwas nicht vor. Da vermutete man schon am Tag nach dem Durchzug Katrinas, dass womöglich Hunderte von in der Stadt verbliebenen amerikanischen Bürgern ums Leben gekommen waren. 2 Tage nach dem Orkan stellte man fest, dass offensichtlich über 100.000 Leute trotz des Evakuationsaufrufs in der Staat geblieben waren. Viele hätten sich aus "Sturheit" oder schlichter "Borniertheit" geweigert, den gut gemeinten Appellen an ihre Privatinitiative zur marktwirtschaftlich organisierten Flucht Folge zu leisten.
Mittlerweile werden in den Reportagen der vor Ort eingetroffenen Journalisten ein paar Gründe nachgeliefert, warum eigenartigerweise fast ausschließlich arme Leute - darunter mehrheitlich schwarze Amerikaner - das Footballstadion und das Konferenzzentrum aufgesucht haben, um sich vor dem Orkan zu schützen. Sie hatten offensichtlich zu wenig Geld und deshalb keine geeigneten Transportmittel und vor allem schreckten sie vor der Perspektive zurück, ohne Geld und ohne alles Überlebensnotwendige ihre Behausungen zu verlassen. Wohin sollten sie sich denn flüchten ohne ausreichende Zahlungsmittel, ohne die man in der freien Marktwirtschaft auch ohne Starkwind ziemlich aufgeschmissen ist. Es ist nur systemimmanent, dass Habenichtse, die es in der freien Marktwirtschaft zu nichts bringen, auch bei Naturkatastrophen die Arschkarte ziehen! Sie zählen zu jenem Menschenschlag, ohne den die freie Marktwirtschaft nicht zu haben ist, obwohl sie persönlich von ihr nichts kriegen außer harter Arbeit, wenig Geld und einen permanenten Überlebenskampf nicht nur bei Überschwemmungsgefahr.
Der "Süddeutschen Zeitung" vom 9. September fällt jetzt ausgerechnet in ihrem Wirtschaftsteil, wo ansonsten immer von den weltweit überlegenen Wachstumszahlen des US-Kapitals die Rede ist, auf, dass "die Zahl der Armen in den USA ... im vierten Jahr in Folge gestiegen ist - auf 37 Mio. Menschen" und dass gerade in New Orleans 1 Fünftel der Bevölkerung weniger als 10.000 $ im Jahr verdient. Kein Wunder, dass in den 27.000 Familien, die offiziell unter der amtlich festgesetzten "Armutsgrenze" leben müssen, viele kein Geld oder kein Auto hatten, um rechtzeitig zu flüchten. In der freien Marktwirtschaft bedienen die schönen Produkte von Ford, GM und Chrysler halt nicht den Bedarf nach Fluchtfahrzeugen aus Katastrophengebieten, sondern ausschließlich zahlungsfähige Bedürfnisse! Und Zahlungsfähigkeit ist das Letzte, worüber der pauperisierte Bevölkerungsanteil in New Orleans verfügt. Wenn die Bewohner der Armenviertel vor dem Sturm überhaupt über Arbeitsplätze verfügten, dann über welche für wenig Lohn bei viel Dreckarbeit im Dienstleistungsgewerbe, im Tourismus und der umliegenden Landwirtschaft. Die Lebensnotwendigkeiten des American Way of Life verlangen von solchen Leuten oftmals gleich mehrere Billigjobs auf einmal, also Müllabfuhr am Morgen und Hamburger einwickeln in der "Freizeit". Zudem hat die Bush-Regierung zwecks Förderung des freien Marktes zügig jede Menge Sozialleistungen gekürzt oder gestrichen und dafür die Gebühren für Dienstleistungen kräftig angehoben, weil es den Markt stärkt - sprich: neue Profitgelegenheiten für Kapitalanleger schafft -, wenn selbst die Krankenhäuser dem Rentabilitätsprinzip unterworfen werden. Deswegen fährt mancher aus Geldnot zu marktwirtschaftlichen Reaktionsweisen gezwungene Südstaatenamerikaner bei Zahnausfall nach Mexiko und reagiert auf die fortschreitende Privatisierung bisheriger öffentlicher Dienstleistungen dadurch, dass er sie nicht mehr in Anspruch nimmt.
Und von noch einer anderen Seite deckte Katrina eine schönes Stück freier Marktwirtschaft auf: Wegen der von ihren Apologeten immer wieder eingeforderten Zurückführung der "Staatsquote" aufs Notwendigste, damit die Unternehmen des freien Marktes weniger Steuern zahlen müssen und demzufolge mehr investieren, wurden im letzten Jahr die Gelder des für Deichsicherheit zuständigen Ingenieurkorps von New Orleans um 44 % gekürzt und die nach dem letzten katastrophalen Hurrikan gemachten Pläne einer Aufstockung der Deiche endgültig aufgegeben. Ferner erlaubten die zuständigen Behörden die Trockenlegung von Teilen des Stausseesystems entlang der Küste des Golfs von Mexiko, um Neuland für Investitionen in Immobilien zu schaffen. Diese Anlagen dienten als Auffangbecken für Sturmfluten aus dem offenen Meer und sollten Überschwemmungen bewohnter Gebiete verhindern. Gemäß den Gesetzen der freien Marktwirtschaft ermöglichte es der Staat Unternehmer und Spekulanten ihrem privaten Interesse nach Gewinn weitgehend rücksichtslos gegen mögliche negative Auswirkungen auf die Natur nachzugehen. Es passt also wunderbar zur freien Marktwirtschaft, wenn Bush bei der Werbung um politische Zustimmung, in der allein der Erfolg zählt und nicht die Wahrheit, beim Überfliegen des Überschwemmungsgebiets der Nation live im Fernsehen dreist vorlügen kann, eine "Katastrophe in diesem Ausmaß" habe niemand vorhersehen können, ohne dass er Gefahr läuft, von seinen Volksvertretern mit einem Impeachment politisch abgeschossen zu werden.
In den ersten Tagen nach dem Deichbruch hielt sich die Bush-Administration auch bei der Hilfe für die Opfer noch strikt an die Regeln der freien Marktwirtschaft. Deren Verfechter fordern nämlich, dass die Hilfe für die weniger Erfolgreichen in diesem System nicht hauptseitig vom Staat kommen soll, weil das die "Eigeninitiative" lähme. In besonders tragischen Fällen ist dann vor allem die Privatinitiative der nicht betroffenen Staatsbürger zum Spenden verlangt. Der Präsident ließ dafür seinen Vater George ohne W und dessen Nachfolger als Oberamerikaner, Bill Clinton, im Fernsehen zum Betteln auftreten. Und überließ das Sammeln von Spenden ansonsten dem Geschäftssinn der nationalen Fernsehgesellschaften, die in ihrem Konkurrenzkampf um Marktanteile schon wissen, was bei einer Naturkatastrophe im eigenen Land Quote bringt: Sie boten die Unterhaltungskünstler der Nation zu Benefizkonzerten auf, in der die - mit einer Ausnahme - taten, was sie in solchen Notfällen immer tun: ihre Hits singen und die von den TV-Redaktionen vorformulierten Mitleidstexte brav vom Teleprompter ablesen, damit das Publikum gerührt die Spendenkonten fülle und gar nicht erst auf die Idee komme zu fragen, warum sich in God's own freier Marktwirtschaft derlei Naturkatastrophen für die von ihr Getroffenen immer zu ganz anderen Katastrophen auswachsen.
Als sich nach 3 Tagen eine Hunger- und Seuchenkatastrophe nach der Flutkatastrophe abzeichnete, weil immer noch keine Hilfe in New Orleans eingetroffen war, entschloss sich die Regierung zum Handeln. Aus den staatlich eingerichteten Auffanglagern, in denen die Überlebenden dahinvegetierten, drohten demokratisch verantwortete Konzentrationslager zu werden, und der Mischung aus ohnmächtiger Eigentumsverletzung wegen Überlebenskampf und verbrecherischem Ausnutzen einer Notlage begegnete die Staatsgewalt mit "entschlossenem Handeln". Gemäß dem Grundgesetz der freien Marktwirtschaft, dass der Schutz des Eigentums an erster Stelle bei allem staatlichen Handeln zu stehen hat, kamen noch vor allen Nahrungsmitteln, Medikamenten und Bekleidung die Nationalgarde und Kampfeinheiten der Armee in die Stadt, um erst einmal für das Wichtigste im bürgerlichen Leben zu sorgen: Ruhe und Ordnung, auf Amerikanisch law & order! Dann kam es doch noch zu einer kleinen Verletzung marktwirtschaftlicher Ideale: Ausgerechnet Leute, die es geschafft hatten, in ihren Häusern und auf ihren Habseligkeiten Sturm und Flut zu überleben, werden jetzt zwangsevakuiert, weil die demokratische Staatsgewalt ihren "Notstand" konstatierte und jetzt zu ihrem vornehmsten "Argument" griff, der Gewalt.
Während in den Wirtschaftsteilen der Gazetten schon wieder die Frage im Vordergrund steht, wie sich Katrina marktwirtschaftlich auswirken wird - "Einbruch" bei der Konjunktur oder "Wachstumsschub" durch Wiederaufbau - werden in den vorderen Seiten die üblichen Fragen nach der "politischen Verantwortung" breitgetreten:
- in den USA selbstkritisch als Gewissenserforschung der Weltmacht Nr. 1, ob es nicht eine "Schande für die Nation" ist, dass sie in Windeseile weltweit Soldaten zum Losschlagen abkommandieren kann, um "Gefahr" vom amerikanischen Homeland abzuwehren, und dann "zuschauen muss", wie hinter den Bayous des Mississippi eine ganze uramerikanische Stadt samt Teilen der Einwohnerschaft absäuft.
- In Deutschland werden dieselben Fragen selbstverständlich in allen Tonarten eines vom hl. Petrus bestätigten nationalen Antiamerikanismus aufgeworfen und beantwortet: Da sieht man's wieder, "unilateral" alles auf der Welt kurz & klein hauen, auch wenn es "uns" nicht passt, und dann beim Hochwassermanagement alles vergeigen. Und überhaupt, die armen Neger! 140 Jahre nach Abschaffung der Sklaverei regieren in Washington immer noch unverbesserliche Rassisten ...
Wer die Fragen nach den Ursachen der Katastrophe so stellt und beantwortet, will nichts davon wissen, warum in unserer bekanntlich mit Abstand besten aller möglichen Produktionsweisen bei Naturkatastrophen sich regelmäßig hinterher herausstellt, dass die begrenzte Berechenbarkeit von Naturphänomen bloß die eine Seite des Ereignisses ist. Zur wirklichen Katastrophe kommt es ja erst durch die systemimmanente Gleichgültigkeit des Geschäfts und der es fördernden Staatsgewalt gegen die ziemlich berechenbaren Auswirkungen der Tsunamis und Katrinas auf das menschliche Inventar der Marktwirtschaft. Das wird hinterher von der Öffentlichkeit bejammert und die politische Opposition wirft den Verantwortlichen "Versagen" vor. Darüber und damit muss das Geschäft weitergehen, bis es wieder auf gut Amerikanisch heißt: business as usual.