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Über das Gefühl und den Verstand

Generelles

Herz und Hirn, Gefühl und Verstand - das wird zunächst mal als Gegensatz verstanden, sowohl in Bereichen der Wissenschaft, aber erst recht bei Leuten, die sich weniger professional mit diesen Begrifflichkeiten befassen. Nicht gerade vorurteilsfrei werden jedem dieser beiden Pole vom Standpunkt des jeweils anderen Plus- und Minuspunkte zugesprochen. Dem "Gefühl" werden häufig Komplimente gemacht: "echt" bzw. "authentisch" soll es bei seiner Äußerung zugehen, darüberhinaus ist es so wunderbar "unmittelbar", sowie "menschlich" - das ist schon witzig, daß ausgerechnet die denkende Tätigkeit, das Bemühen des Verstandes, demzufolge dann als "unmenschlich" gelten soll - und bisweilen "wärmend" und "harmoniestiftend". Nicht zuletzt wird das Gefühl häufig als schlagendes Argument ins Feld geführt: "ich empfinde es eben so!". Hier wird das Fühlen so behandelt, als sei es etwas Unwidersprechliches, das man deshalb auch schon zu respektieren statt gegebenenfalls zu kritisieren hat; denn: hier ist Vorsicht geboten. auch Faschisten und andere demokratische Nationalisten empfinden ihren Haß gegen Ausländer, Linke und Sozialschmarotzer ganz tief, was die Sache wohl keineswegs besser macht.

Solcher Mißbrauch des Gefühls als Argumentersatz leuchtet genau denselben Menschen schwer ein, die andererseits dem Gefühl den Vorwurf fehlender Vernunft zu machen verstehen. Da handelt man sich schon mal leicht den Vorwurf der weltfremden Gefühlsduselei, der emtionalen Argumentation ein, wenn man sich über eine (bürgerliche) Unschönheit der Welt aufregt. Da muß man sich plötzlich sagen lassen, daß man es an der nötigen "vernünftigen Distanz" habe fehlen lassen, die dann nicht mehr "kalte Intelligenz" heißt. Umgekehrt müssen gewisse rational-geprägte Menschen sich auch schonmal anhören, daß ihr strategisches Vorgehen "kühl", irgendwie "inhuman" wirke.

Die Fähigkeit, Fühlen und Denken als zwei unterschiedliche Formen der Willensbetätigung richtig auseinanderzuhalten, ist weitgehend verloren gegangen und begründet sich durch eine Parteilichkeit, von der noch die Rede sein wird.

Im Einzelnen

Im Gefühl mißt das Individuum seine Lage an seinem Bedürfnis und empfindet Übereinstimmung oder Differenz von seinsollendem und vorliegendem Zustand als angenehm oder unangenehm. Mit Hegel: "Der fühlende Wille ist daher das Vergleichen seines von außen kommenden, unmittelbaren Bestimmtseins mit dem durch seine eigene Natur gesetzten Bestimmseins. Da das letztere die Bedeutung dessen hat, was sein soll, so macht der Wille an die Affektion die Forderng, mit jenem übereinzustimmen. Diese Übereinstimmung ist das Angenehme, die Nichtübereinstimmung das Unangenehme." (Enz. III § 472). Die Stärke des Gefühls ergibt sich aus dem Grad der Übereinstimmung bzw. der Größe der Differenz und aus der Beurteilung der Wichtigkeit des Zustands/Ereignisses. Die Expression der Empfindung ist partiell willentlich gesteuert und kann deshalb aus den verschiedensten Gründen unterschiedlich stark ausfallen. Die besonderen Arten des Gefühls – Freude, Ärger, Trauer, Angst, Furcht, Wut, Zuneigung, Liebe, Haß, Scham etc. – ergeben sich also aus den beiden Seiten des konkret angestellten Vergleichs, aus dem, was sich das Individuum als erwünschte Lage vorgenommen hat einerseits und der Bewertung der vorfindlichen Situation andererseits. Wer z.B. seine Lage als gefährlich einschätzt, wird Furcht empfinden. Scham empfindet ein moralisches Individuum, wenn es in seinem Tun eine Abweichung von der von diesem gebillligten gesellschaftlichen Norm entdeckt. Ist eine oder sind beide Seiten nicht klar definiert oder hat das Individuum Schwierigkeiten bei der Einschätzung der Situation stellt sich ein entsprechend indifferentes Gefühl ein, bspw. ein Gefühl der Ratlosigkeit, Verwirrtheit o.ä.

Der Maßstab, an dem das Subjekt die Welt im Fühlen mißt, ist dabei ebensowenig ein reflektierter Gegenstand, wie die Beurteilung der Situation beides ist vorausgesetzt. Dabei können ganz zufällig gewählte Gesichtspunkte, die keinem Argument je standhalten würden ebenso zur Anwendung gelangen, wie andere, die auf einem fertigen Weltbild basieren. Die einen finden das Wetter furchtbar wichtig in ihrem Leben und es verhagelt ihnen ihre gute Laune bei einem Regen am Montagmorgen. Andere bekommen beim Anhören der Nationalhymne eine Gänsehaut, die sich dem absurden Urteil verdankt, sie wären in ihrer Nation glänzend aufgehoben.

Das Individuum bringt also seine, wie auch immer gewonnene Quintessenz seiner Einsichten über die Welt als Maßstab des Fühlens zur Anwendung, ohne sich die Gründe dafür jeweils neu vorlegen zu müssen: die Gefühle stellen sich automatisch ein und können deshalb vom Verstandesurteil abweichen: "Mein Herz sagt ja, mein Verstand nein!" (et vice versa). Die evtl. neu gewonnene Einsicht, daß z.B. Eifersucht und Neid Fehler sind, fällt nicht zusammen mit der Korrektur des gewohnheitsmäßig im Gefühlsurteil angelegten Maßstabs. Ertappt man sich also bei einer als falsch eingesehenen Reaktion, bei einem als wenig sinnvoll erkannten Verhalten, kommt man an einer Selbstkritik nicht vorbei. Häufiger bleibt es jedoch beim rumknabbern am schlechten Gewissen! Der Widerspruch, der im praktischen Gefühl liegt lautet also: Der Vergleich von sich mit der Welt wird ja wohl vom Individuum angestellt, weil es die praktische Übereinstimmung seiner objektiven Lage mit seinem Interesse will; zugleich verhält es sich im Fühlen aber passiv, es läßt sich von der vorausgesetzten Realität beeindrucken. Die vernünftige Auflösung des Widerspruchs besteht daher im Übergang zum Verstandesurteil. Wer sich bspw. über etwas ärgert, wird es rationellerweise nicht beim Ärgern, also beim bloßen Konstatieren einer Abweichung vom gewünschten Zustand belassen, sondern sich darauf besinnen, den Grund des Ärgers zu beseitigen.

Es könnte einem schließlich auch an ganz geläufigen Äußerungen, wie "Das habe ich rein gefühlsmäßig, unbewußt, aus dem Bauch heraus getan" oder "Ich kann eigentlich gar nicht sagen, warum ich mich so entschlossen habe" folgendes auffallen: Da hat ein mit einem Bewußtsein ausgestattetes Individuum sich dazu entschlossen, sich eben von seinem Gefühl leiten zu lassen, und kleinere wie größere Studien für überflüssig zu halten. So ein Mensch ist also keineswegs das Werkzeug einer geheimnisvollen Kraft namens Unterbewußtsein, das von den Gefühlen gänzlich determiniert würde! Wer das behauptet kann sich dann auch nicht mehr den Inhalten der Gefühle und Interessen zuwenden - man würde glatt feststellen, daß da vom Verstand zustandegebrachte Urteile (richtige und falsche!), im Bewußtsein verankerte Inhalte (richtige und falsche!!) zur Gewohnheit geworden sind und sich in unmittelbarer Form, ohne die erneute Anstrengung des Gedankens, betätigen! Die durchaus widersprüchlichen Handlungen, die ein mit einem Bewußtsein ausgestatteter Mensch zuwege bringt, können dennoch nicht der Subjektivität schlechthin, der Menschennatur als einem festen Bestandteil zugesprochen werden.

Wer vorhat seine Lebensumstände seinen Interessen gemäß zu machen, sollte sich dabei allerdings nicht von seinem Gefühl leiten lassen. Wenn nämlich die richtige Abhilfe gefragt ist, dann bedarf das der Loslösung von der Befangenheit im vergleichenden Urteil zugunsten einer objektiven Prüfung der beiden Seiten des Vergleichs. Zur Klärung der Frage, warum ein ärgerlicher Zustand herrscht, damit man weiß, wie man diesen ändern kann, trägt das Gefühlsurteil, daß er vom Ideal abweicht nicht eben viel bei. Nebenbei ist zu bemerken, daß einige moderne Zeitgenossen ihre Kritikfähigkeit soweit verloren haben, daß sie alles und jeden nur noch daran messen, wie sie sich dabei fühlen: "Mir paßt das nicht!", so lautet die entsprechend inhaltslose Kritik, die jeglicher Objektivität beraubt ist und in der die Welt behandelt wird, als sei sie für einen höchstpersönlich eingerichtet worden!

Was vielen so gut am Fühlen gefällt könnte man so formulieren: im Fühlen macht man sich gerade nicht zum analysierenden Subjekt seiner Lebensumstände; in der Bestimmung Fühlen sein ein Nicht-Begreifen der Welt wird eine postive Eigenart des Gefühls ausgemacht, denn im Willen zum Begreifen der Realität wird die Absicht vermutet, sie nach eigenem Bilde zu formen. Im nächsten Schritt wird das mit Egoismus übersetzt und der ist bekanntlich für so ziemlich alle Übel dieser Welt verantwortlich;

Umgekehrt existiert auch das perfide Lob des Verstandes: "Sei doch vernünftig!", "Was regst du dich so auf?", "Reagier doch nicht so emotional!"; allerdings sind diese Sprüche gerade nicht als Aufforderung zu verstehen, für die von einem vertretene Sache die Vernunft zu bemühen; sie sind vielmehr als Ordnungsruf zu verstehen, der stets ergeht, wenn jemand sein Interesse zum Maß aller Dinge macht. Diese Vorwürfe richten sich deshalb auch gegen rein argumentative Äußerungen: Als die Friedensbewegung noch Einwände gegen das (Wett)Rüsten anzuführen wußte, haben sie sich die Kritik eingefangen, daß "Angst ein schlechter Ratgeber ist"! Man solle sich nicht "künstlich auregen" und "vernünftig" die Anpassung an unumstößliche Realitäten zu seiner Richtschnur machen. Einerseits wird das Gefühl gelobt, weil es angeblich eine Sphäre der Zweckfreiheit darstellt; andererseits fällt den Laudatoren des Gefühls hier ein Mangel desselben auf: Der Maßstab, der ein Gefühl hervorbringt, kann nämlich ganz subjektiv gewählt werden (warum sollte das nicht das Wohlergehen der Arbeiterklasse oder der Frauen sein???) und beinhaltet so die Möglichkeit der Inkongruenz von gewünschter Lage und Realität. Das eine so festgestellte Abweichung zur Kritik führt, wissen insbesondere die Apologeten des herrschenden Systems ziemlich genau. So ergibt sich ein Verdacht: es scheint, man soll sich seine Maßstäbe sowohl für das Fühlen wie auch für das Urteilen bei den maßgeblichen Instanzen abholen. Mal ist man "bloß gefühlsgeleitet" und verwirkt damit sein Recht auf Einmischung, dann wieder wird die "Vernunft" dafür geschätzt, daß sie die Zügel für die eigene "subjektive Willkür" darstellen.

Noch mal zur Klarstellung: Allgemein kann ein Gegensatz nur überwunden werden, wenn entweder eine Seite des Gegensatzes, oder der Gegenstand an sich, die Quelle, aus der sich die beiden Pole des Gegensatzes speisen vernichtet/aufgelöst wird. Sobald man es also mit fühlenden und zugleich denkenden Subjekten zu tun hat, müßte man schon das Subjekt um die Ecke bringen, um den hier zur Verhandlung stehenden, lediglich unterstellten "Gegensatz" zu überwinden.

Fazit

Die Argumente, die in dieser Gesellschaft über das Gefühl und den Verstand kursieren, stellen ihr kein gutes Zeugnis aus: In beiden Fällen wird die freie Stellung eines Subjekts angeprangert, das die Welt an den eigenen Interessen mißt und den Standpunkt zu ihr vom Ergebnis dieser Prüfung abhängig macht.


contradictio - 2006