Serie in der "Junge Welt", 28.12 - 2.1.99

   Zur fundamentalen Kritik des scheinbar Unüberwindbaren

    - Teil I einer Serie von Franz Schandl -

     »Wer sich scheut, endlich zu sein, scheut sich zu existieren.«

     Ludwig Feuerbach

     Gottesbeweis und Afterdienst

     Wider jedwede Ontologisierung des Himmels geht es in der Folge um eine Historisierung des gesellschaftlichen
     Formprinzips der Religion als ein bestimmender Fetisch der zweiten Natur, der jedoch unter den Bedingungen von
     Warenwirtschaft und Geld stets an Bedeutung verlieren muß.

     Vor der Aufklärung gestaltete sich die Kritik an abendländischer Kirche und Religion innerhalb des Glaubens
     (Wyclif, Hus, Luther, Zwingli, Calvin, Müntzer). Doch diese reformatorischen Bewegungen wurden nach dem
     Dreißigjährigen Krieg schwächer und schwächer. Die Kirche wurde zusehends weniger von internen Spaltungen
     und Abspaltungen bedroht, sondern von außen: Kapital, Politik, Aufklärung machten ihr das Leben immer
     schwerer, entzogen ihr eine Zugriffsmöglichkeit nach der anderen. Unter der Soutane ist sie nackt.

     Es war »die luftige, neumodische Welt, welche alles zu Geld macht, weil sie viel Geld braucht«, schrieb Jeremias
     Gotthelf vor über 150 Jahren. Der Schweizer Pfaffe schrieb in seinem Roman mit dem bezeichnenden Titel »Geld
     und Geist« eine durchaus beeindruckende Prosa über die Zersetzung des Glaubens in Zeiten des sich
     durchsetzenden Warenverkehrs. In sorgsamer Betulichkeit wurden die neuen Untugenden angeklagt. Allein, es
     sollte nichts nutzen. Eine Schicht nach der anderen wurde zu jenem Geld hin emanzipiert oder von jenem
     unterworfen. Was in der Konkretion dasselbe gewesen ist. Der neue allgemeine Götze war das Geld, und Gott
     sah schlecht aus gegen ihn. Während an ersteren alle glauben, weil eben danach handeln mußten, wurde es
     erstmals möglich, sich des letzteren zu entledigen.

     Produktionsstätten und Markt führten die Menschen zueinander, rissen sie aus der ständischen Trägheit, befreiten
     sie von der Scholle, ließen sie die Welt als Möglichkeit und Prozeß erblicken. Daß die Frau zumindest ein Mensch
     ist und die Erde rund, setzte sich auch in den dumpfesten Ganglien durch. Zwangsweise. Momente positiver
     Dialektik des Kapitals und seines Wertfetischs gegenüber der Religion und ihrem Gottfetisch ließen sich zuhauf
     finden und benennen. Der alten Welt ist in Summe absolut nicht nachzutrauern, wenngleich im Detail auch
     Positives verschüttet werden mußte.

     Der himmlischen Personalisierung folgte die irdische Versachlichung der Welt durch die Ware. Doch der alte
     Fetisch war mehr als zählebig, er lebte in der neuen Form und ihren Bewegungen weiter, obwohl er nur noch
     einen schwachen Abglanz alter Absolutheit darstellte. Mit der Zeit wurde es sogar vorstellbar, nicht an einen Gott
     glauben zu müssen, ja man wurde nicht nur nicht verbrannt, sondern sogar toleriert. »Cuius regio, eius religio«
     erscheint in Zeiten der Meinungs- und Glaubensfreiheit wie eine dunkle Groteske längst vergangener Tage.
     Derweil, das ist keine vierhundert Jahre her.

     Religion erfährt im Kapitalismus eine Wandlung hin vom allgemeinen Mittler des Geschehens zu einem bloß
     besonderen Surrogat. Die bürgerliche Religion verstehen wir als einen transzendierten Fortbestand des alten
     Überfetischs als Sonderfetisch, der der neuen Wertform aber ganz entschieden unterworfen ist, so sehr er auch als
     deren Korrektur und Linderung auftritt. Der Bedeutungswandel von der allgemeinen Bedingung gesellschaftlicher
     Kommunikation zur besonderen Form der Sublimation kann hier aber nicht weiter reflektiert werden.

     Die beginnende Religionskritik war sich ihrer weitgehend unbewußt. Baruch de Spinoza etwa behauptete noch
     allen Ernstes, daß es überhaupt unmöglich sei, die Existenz Gottes zu bezweifeln. Doch diese Feststellung
     widerlegt sich von selbst. Wenn Spinoza davon spricht, daß das Nichtsein Gottes unmöglich denkbar wäre, hätte
     er es gar nicht aussprechen können. Denn was nicht denkbar ist, ist auch nicht sagbar. So hat Spinoza mit der
     kategorischen Zurückweisung dieser unstellbaren Frage, sie doch vorerst selbst stellen müssen. Die dezidierte
     Verneinung macht diese Ketzerei nicht verzeihbarer. Eine Tür zur Aufklärung wird hier aufgestoßen, der
     gehuldigte Fetisch gerade durch Begründung und Beweis der Affirmation hinterfragt. Kein Wunder, daß die
     Kirche auf ihn nicht gut zu sprechen gewesen ist. Zuviel Nachfragerei, zuviel Denken geht in solcherlei
     Glaubensbekenntnis ein.

     Schon der vorkritische Ansatz Kants, Gott beweisen zu wollen, verdeutlicht die Krise des Glaubens. Denn Gott
     ist vorausgesetzt, ewige Bedingung: Gott ist in der christlichen Dogmatik das undiskutierbare Apriori. Noch
     einmal: Wer beweisen will, zweifelt, ob er will oder nicht, auch wenn er diese Zweifel ganz selbstverständlich
     ausräumt. Spinoza, Kant oder auch Hegel wurden so zu Religionskritikern wider Willen.

     Nicht nur, wer sich von Gott ein Abbild macht, sündigt, sondern auch jener, der das Unbegreifbare in Begriffe
     fassen will. Der Versuch, Gott und die Vernunft der Aufklärung zusammenzubringen, ist die nichterkannte
     Vorstufe seiner Verflüchtigung.

     Ein Grundproblem Kants war: Er dachte die Welt ohne Gott, ohne freilich die Welt ohne Gott denken zu können:
     »Religion ist (subjektiv betrachtet) das Erkenntnis aller unserer Pflichten als göttliche Gebote«, schreibt er; oder:
     »Ich nehme erstlich folgenden Satz, als einen keines Beweises benötigten Grundsatz an: alles, was außer dem
     guten Lebenswandel, der Mensch noch tun zu können vermeint, um Gott wohlgefällig zu werden, ist bloßer
     Religionswahn und Afterdienst Gottes.«

     Wozu dann aber noch Gott? wäre die nächste Frage gewesen, und die Kirche merkte sehr wohl, daß hier einer -
     ohne es freilich subjektiv zu wollen - ihre Prinzipien untergrub. Wer für die Freiheit der Andacht und gegen den
     Tugendwahn eintrat, der war selbstredend gefährlich. Was auf den vorkritischen Kant zutrifft, trifft also noch mehr
     auf den Meister der »Kritiken« zu. »Schon der Titel »Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« (1793)
     setzt einen polemischen Anspruch und steht in Fortsetzung der drei Kritiken, alle Gebiete des Wissens und auch
     des Glaubens der Vernunft, der höchsten menschlichen Instanz zu unterwerfen,« schreibt ein Biograph Kants.
     Gott war ihm viel, doch die Vernunft war ihm alles.

     Auf diese Subordination des Glaubens antwortete die protestantische Kirche mit dem Einschreiten der
     preußischen Zensurbehörde. Sogar an ein Publikationsverbot wurde gedacht. Auf »Seiner Kösniglichen Majestät
     Allergnädigsten Spezialbefehl« teilte man dem hochangesehenen siebzigjährigen Philosophen unverblümt wie
     unverschämt mit, daß »widrigenfalls Ihr Euch bei fortgesetzter Renitenz unfehlbar unangenehmer Verfügungen zu
     gewärtigen habt«.
 

     Das gemeine Extrem

     Fetisch Religion: Teil II einer Serie von Franz Schandl

     Für Hegel war Gott Erschaffer und Bezugspunkt der Totalität. In seiner wegweisenden »Phänomenologie des
     Geistes« (1806) heißt es: »Von allem, was ist, lag die Bedeutung in dem Lichtfaden, durch den es an den Himmel
     geknüpft war; an ihm, statt in dieser Gegenwart zu verweilen, glitt der Blick über sie hinaus, zum göttlichen
     Wesen, zu einer, wenn man so sagen kann, jenseitigen Gegenwart hinauf.« »Das Wesen des Gottes aber ist die
     Einheit des allgemeinen Daseins der Natur und des selbstbewußten Geistes, der in seiner Wirklichkeit jenem
     gegenüberstehend erscheint.«

     Doch dort, wo Hegel die Götter (Plural!!!) als »das freie Extrem der Allgemeinheit« bezeichnet, ist deren
     menschliche Gemachtheit kaum zu überlesen. Die Götter als zu Ende gedachter menschlicher Extremismus, besser
     könnte man den Himmel nicht diskreditieren. Wo immer sich die europäische Aufklärung über Gott hermachte,
     blieb jener nicht ohne Schrammen. Sobald Gott nicht mehr bloß erfahren und geglaubt, sondern gedacht und
     erkannt werden sollte, wurde es für ihn brenzlig.

     »Die wahrhafte Kritik der Kategorien und der Vernunft ist gerade dies, das Erkennen über diesen Unterschied zu
     verständigen und dasselbe abzuhalten, die Bestimmungen und Verhältnisse des Endlichen auf Gott anzuwenden.«
     Doch blättern wir in der »Logik« einige Seiten zurück, schon fängt Hegel Gott in seinem System ein, wenn er
     behauptet, »daß es nirgend im Himmel und auf Erden etwas gebe, was nicht beides, Sein und Nichts, in sich
     enthielte«.

     Damit ist aber Gott dem Irdischen gleichgesetzt, nur mehr unterscheidbar im spezifischen Ensemble von Sein und
     Nichtsein, nicht mehr wesensmäßig anders. Faktisch demontiert Hegel hier seinen Gott. Folgesätze wie »Gott ist
     und Gott ist nicht« bzw. »Gott ist Werden und Vergehen« sind mit dem obligaten Gottesglauben, der, um
     bestehen zu können, immer intransigent sein muß, unvereinbar. Hegels Denken ist hier weiter als seine
     Überzeugung. Dieser Widerspruch zwischen Bekennen und Erkennen zieht sich übrigens durch das ganze Werk
     Hegels.

     Vor den Schlüssen der Dialektik rettet sich Hegel gewöhnlich in die Metaphysik. Am Rande seiner eigenen
     Philosophie erzittert er, dort, wo sie vor lauter Konsequenzmacherei überzuborden droht, flüchtet er in ein
     kategorisches Muß. »Substanzen aber müssen wir haben, denn wir haben sie angenommen; es soll uns nicht alles
     verschwinden, sondern etwas übrigbleiben; denn wir haben ein solches Beharrliches, das wir Substanz nannten,
     vorausgesetzt; dies Etwas muß also einfach sein.«

     Der Materialist Ludwig Feuerbach war es dann, der die klassische Religionskritik verkehrte und somit vollendete.
     Er spitzte Hegels »freies Extrem« in seinem Hauptwerk »Das Wesen des Christentums« (1841) noch zu: »Die
     Religion ist die Entzweiung des Menschen mit sich selbst: er setzt sich Gott als ein ihm entgegengesetztes Wesen
     gegenüber. Gott ist nicht, was der Mensch ist - der Mensch nicht, was Gott ist. Gott ist das unendliche, der
     Mensch das endliche Wesen; Gott vollkommen, der Mensch unvollkommen; Gott ewig, der Mensch zeitlich; Gott
     allmächtig, der Mensch ohnmächtig; Gott heilig, der Mensch sündhaft. Gott und Mensch sind Extreme.«

     Doch diesen falschen Dualismus enttarnt Feuerbach. Gott wird eindeutig und durchgehend als
     menschengeschaffen erkannt, als das vom Menschen freigesetzte absolute Extrem: »Das Bewußtsein Gottes ist
     das Selbstbewußtsein des Menschen, die Erkenntnis Gottes die Selbsterkenntnis des Menschen. Aus seinem Gott
     erkennst du den Menschen, und wiederum aus dem Menschen seinen Gott; beides ist eins. Was dem Menschen
     Gott ist, das ist sein Geist, seine Seele, und was des Menschen Geist, seine Seele, sein Herz, das ist sein Gott;
     Gott ist das offenbare Innere, das ausgesprochene Selbst des Menschen.« Kurzum: »die Religion ist das erste und
     zwar indirekte Selbstbewußtsein des Menschen.«

     Im Prozeß der Vergesellschaftung, der auch stets einer der Vergeistigung gewesen ist, sah der Mensch überall
     Geister und erschuf sie nach seinem Abbilde. Besonders bei den griechischen Göttern ist das augenfällig. Zeus
     vögelte noch in der Gegend herum, illustrierte dabei nichts anderes als den Traum des privilegierten freien Mannes
     der griechischen Polis. Daß ihre Götter unfehlbar sind, wäre den Griechen nie eingefallen, jene strotzten geradezu
     vor konkreter Weltlichkeit. Die Abstraktionsleistung hin zur Allmächtigkeit war der jüdisch-christlichen Tradition
     überlassen, wenn auch nicht vorbehalten.

     Gott ist die Abstoßung des Menschen von ihm selbst zu ihm hin. Mangels eigener Attraktion verliert er sich in der
     Repulsion. Seine endliche Nichtigkeit übersetzt er durch Transzendierung in unendliche Wichtigkeit. »Die Religion
     ist eben die Anerkennung des Menschen auf einem Umweg. Durch einen Mittler.« (Marx) Es ist der allgemeine
     materielle und dadurch auch ideelle Mangel, der den Menschen zu fetischistischen Formen der Kommunikation
     zwingt: sei es der Tausch oder die Politik, das Recht oder die Religion. Immer herrscht hier eine indirekte
     Bezüglichkeit. Solange der Mensch Knecht seiner Verhältnisse ist, sind diese Formen unbedingt notwendig, ja bis
     zu einem gewissen Grad immer auch emanzipatorisch zu deuten. Nichtsdestotrotz sind sie - ganz anders als sie
     den Menschen in ihrer zeitlichen, örtlichen und geistigen Beschränktheit erscheinen - eherne Gesetzlichkeiten des
     Menschseins.

     Fetisch meint, daß die Menschen sich nicht selbst sind, sondern eines Konstruktes bedürfen, um sinnvoll
     miteinander in Beziehung treten zu können. Die Anerkennung des Menschen erfolgt nicht direkt, sondern durch
     objektiv aufoktroyierte wie subjektiv realisierte Formen. Der Fetisch ist Folge der Dialektik materiellen Mangels
     und geistiger Hilflosigkeit. Er kann somit nicht einfach weggezaubert werden. Der Fetisch ist ein Surrogat. Er
     erscheint deshalb ontologisch, weil er bisher noch nicht entschieden durchbrochen werden konnte. Ein fetischfreier
     Bezug bedeutet hingegen die direkte Anerkennung des Du, des Anderen, eben nicht als gesellschaftliche Rolle
     oder Charaktermaske.

     Religion ist das Eingeständnis, daß der Mensch nicht zu sich finden kann, sich außer sich setzen muß, um sich
     anzuerkennen. Sie ist die verinnerlichte Kritik, der jedoch die äußere Seite fehlt. Sie ist das stete
     Zu-Kurz-Kommen. Beten statt Denken ist angesagt, Erflehen statt Fordern. Leiden erschlägt die Aktivität, Demut
     das Aufbegehren. Armut und Elend werden in einem Jammern und Klagen zugedeckt, zur karitativen Frage, eben
     nicht als soziales Problem behandelt. Oben und Unten werden als selbstverständlich angesehen, was heißt:
     gottgegeben und gottgewollt. Glauben meint das, was Erkenntnis erstickt, Kirche das, was Kritik erdrückt.
 
 

     Opium des Volkes

     Fetisch Religion. Teil III einer Serie von Franz Schandl

     Für den jungen Marx war die Kritik der Religion mit Feuerbach »im wesentlichen beendigt«. Zusammenfassend
     schreibt er in seiner Jugendschrift »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie« (1843): »Der Mensch macht die
     Religion, die Religion macht nicht den Menschen. Und zwar ist die Religion das Selbstbewußtsein und das
     Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben oder schon wieder verloren hat. Aber
     der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des
     Menschen, Staat, Sozietät. Dieser Staat, diese Sozietät produzieren die Religion, ein verkehrtes Weltbewußtsein,
     weil sie eine verkehrte Welt sind. Die Religion ist die allgemeine Theorie dieser Welt, ihr enzyklopädisches
     Kompendium, ihre Logik in populärer Form, ihr spiritualistischer Point-d'honneur, ihr Enthusiasmus, ihre
     moralische Sanktion, ihre feierliche Ergänzung, ihr allgemeiner Trost- und Rechtfertigungsgrund. Sie ist die
     phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens, weil das menschliche Wesen keine wahre Wirklichkeit
     besitzt. Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistige Aroma die
     Religion ist. Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Prostestation
     gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt,
     wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.«

     Marx schlußfolgert: »Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines
     wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen
     Zustand aufzugeben, der der Illusion bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales,
     dessen Heiligenschein die Religion ist.« »Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, daß der Mensch das höchste
     Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der
     Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist (...).«

     Im »Kapital« notiert er dann: »Der religiöse Widerschein der wirklichen Welt kann überhaupt nur verschwinden,
     sobald die Verhältnisse des praktischen Werkeltagslebens den Menschen tagtäglich durchsichtig vernünftige
     Beziehungen zueinander und zur Natur darstellen. Die Gestalt des gesellschaftlichen Lebensprozesses, streift nur
     ihren mystischen Nebelschleier ab, sobald sie als Produkt frei vergesellschafteter Menschen unter deren bewußter
     planmäßiger Kontrolle steht. Dazu ist jedoch eine materielle Grundlage der Gesellschaft erheischt oder eine Reihe
     materieller Existenzbedingungen, welche selbst wieder das naturwüchsige Produkt einer langen und qualvollen
     Entwicklungsgeschichte sind.«

     Volkstümlich zusammengefaßt wurde diese Sicht von August Bebel in seinem 1874 erschienenen Buch
     »Christentum und Sozialismus«. Eine seiner bekanntesten Formulierungen ist wohl jene: »Christentum und
     Sozialismus stehen sich gegenüber wie Feuer und Wasser. Der sogenannte gute Kern im Christentum, den sie,
     aber ich nicht, darin finden, ist nicht christlich, sondern allgemein menschlich, und was das Christentum eigentlich
     bildet, der Lehren- und Dogmenkram, ist der Menschheit feindlich.«

     Lenin behandelte das Problem in seiner Schrift »Sozialismus und Religion« aus dem Revolutionsjahr 1905.
     Einerseits war für ihn klar: »Wir fordern, daß die Religion dem Staat gegenüber Privatsache sei, können sie aber
     keineswegs unserer eigenen Partei gegenüber als Privatsache betrachten«. Andererseits legte er aber Wert auf
     eine bestimmte Untergewichtung des Antiklerikalismus, denn »die wissenschaftliche Weltanschauung werden wir
     immer propagieren, und die Inkonsequenz irgendwelcher >Christen< müssen wir bekämpfen, das bedeutet aber
     durchaus nicht, daß man die religiöse Frage an die erste Stelle rücken soll, die ihr keineswegs zukommt, daß man
     eine Zersplitterung der Kräfte des wirklich revolutionären, des ökonomischen und politischen Kampfes um
     drittrangige Meinungen oder Hirngespinste willen zulassen soll, die rasch jede politische Bedeutung verlieren und
     durch den ganzen Gang der ökonomischen Entwicklung bald in die Rumpelkammer geworfen werden.« Der
     antireligiöse Kampf war so mit Bestimmtheit, aber keineswegs missionarisch zu führen.

     Von besonderer Wichtigkeit war die Frage dazumals auch gewesen, weil die erste russische Revolution eine stark
     populistisch-religiöse Schlagseite hatte, an ihrer Spitze stand in den ersten Tagen der Pope Gapon, der sich
     übrigens später als zaristischer Spitzel entpuppte und von einem sozialrevolutionären Kommando hingerichtet
     wurde.

     Vergessen werden darf auch nicht, daß es selbst in der bolschewistischen Partei in den Jahren der anschließenden
     Reaktion religiöse Stimmungen gab, etwa das Gottbildnertum, das Religion und Sozialismus zu versöhnen
     versuchte, bzw. in letzterem eine erstere sah. Lunatscharski, dessen Hauptexponent, nannte die Sozialdemokratie
     »eine große religiöse Macht«, der es um die »Schaffung einer Religion der Arbeit« geht. Die Marxsche Theorie
     huldigte jedenfalls keinem primitiven oder rigorosem Atheismus, Motto: Nur kein Opium! Ihre Kritik ist keine
     bloße Negation, sondern betont die historische, aber somit auch zeitlich begrenzte Notwendigkeit religiösen
     Bewußtseins. Der Kommunismus war ihr weder Religion noch Antireligion, sondern jenseits der Religion. Sie
     propagierte keinen Sozialismus, der einer Kirche glich. Genau das passierte aber durch die Regression des
     Sozialismus von der Theorie zur Ideologie.

     Man lese etwa nur die Schriften des nicht zu unterschätzenden Arbeiteragitators Joseph Dietzgen. Dessen Werk
     strotzt nur so vor religiöser Sprache und religiösem Gleichnis. In seinem Buch »Über den Glauben der
     >Ungläubigen<« (1880) wird ihm der Sozialismus (ähnlich wie später Lunatscharski) zum »Evangelium der
     Gegenwart«: »Bewußte, planmäßige Organisation der sozialen Arbeit nennt sich der ersehnte Heiland der neueren
     Zeit.« Ja, Dietzgen wird noch deutlicher: »Das Bewußtsein, einem höheren Regiment untertan zu sein, teilen wir
     mit der Religion aller Götter und Zeiten, wir teilen es mit dem Götzendienst und mit dem Gottesdienst. Das
     Grundelement und Wesen, worin aller Glaube lebt und webt, erkennen wir demütiglich. Nur ist unsere Art, unsere
     Form ein wenig verschieden. (...) Wenn diese demütige Erkenntnis Religion ist, dann haben wir allerdings, ich
     behaupte es mit Wärme, eine warme Religion.«

     Es ist schon interessant, in welcher Traditionslinie sich hier plötzlich der Sozialismus wiederfindet. Er wurde zum
     Glaubensbekenntnis, zur Religion des Industriezeitalters. Vom Nichtreligiösen führte der Weg zum
     Andersreligiösen. Der sozialdemokratischen Praxis war Dietzgen näher als Marx. Die Kritik an Religion und
     Kirche ließ nach in dem Maße, indem die Sozialdemokratie sich selbst sakralisierte.

     Der gläubige Popanz, den die Arbeiterbewegung mit sich herumgeschleppt hat, braucht den Vergleich mit der
     Kirche nicht zu scheuen: Das Proletariat wurde zum auserwählten Volk, die Arbeit zum Heilland, die Partei zur
     Kirche, der Sozialismus zum Evangelium, die klassenlose Gesellschaft zum Paradies.
 
 

     Reimmunisierung des Glaubens

     Fetisch Religion. Teil 4 einer Serie von Franz Schandl

     Es waren die österreichischen Sozialdemokraten der Zwischenkriegszeit, die ganz bewußt entscheidende Schritte
     Richtung Religion vorexerzierten. An ihnen läßt sich die Abwendung vom klassischen Standpunkt sehr plastisch
     zeigen. Oder wie Wilhelm Ellenbogen es beim Linzer Programmparteitag der SDAP 1926 ausdrückte: »Wir sind
     mit Marx, und das war sein Grundgedanke, dagegen - daß die Religion mißbraucht wird als Opium für das Volk.«

     Die Austromarxisten fielen in ihrer Religionsbetrachtung nicht nur hinter Marx zurück, sondern teilweise auch
     hinter Kant. Möglicherweise sogar am konsequentesten in der europäischen Arbeiterbewegung betrieben sie die
     Reontologisierung und somit Reimmunisierung der Religion. Denn wenn diese - wie sie unisono von rechts bis
     links unterstellten - eine Existenzbedingung der Menschheit darstellt, dann ist deren fundamentale Kritik sinnlos,
     nutzlos und zwecklos.

     Für Otto Bauer, der jahrelang der führende Kopf der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) gewesen ist,
     war klar: »Als Partei dürfen wir keinen Glauben, auch nicht die Ungläubigkeit vertreten, jedes Bekenntnis muß uns
     heilig sein.« Religion wird anthropologisiert: »Die ursprüngliche Wurzel der Religion ist die Furcht der Menschen
     vor unverstandenen, unbeherrschten Naturgewalten: vor der Krankheit, vor dem Tode, vor dem Geheimnis des
     nächtlichen Urwaldes, vor Blitz und Donnerschlag.« Für ihn sind »Kirche und Religion nicht identisch«.

     Am weitesten ging in dieser Frage ausgerechnet Max Adler vom linken Parteiflügel. (Anfang der dreißiger Jahre
     sollte er übrigens der deutschen SAP von Seydewitz und Rosenfeld aufs engste verbunden sein). Für ihn war
     Religion eine eherne Konstante. Gott ist schlichtweg im Menschsein angelegt. »Nun sehen wir, daß dieser Begriff
     auch in dem bis jetzt behandelten bloß theoretischen Sinne durchaus dem apriorischen Charakter unseres
     Bewußtseins entstammt und zwar seiner Erkenntnisseite nämlich dem Bereich der vor aller Erfahrung bestehenden
     (...).« Die Menschen wollen die Seele nach ihrem Tod nicht »im Nichts der absoluten Vernichtung sehen«.
     »Historisch ist aller Religion charakteristisch die Beziehung auf irgend eine hö‹here Ordnung der Welt, die über
     der erkannten empirischen Ordnung steht und dieser als ihr eigentlicher Sinn und Wert entgegentritt, auf welcher
     sich daher der religiöse Mensch ausgerichtet sieht als sein wahres Heil und unvergängliches Interesse. Ob diese
     Ordnung als eine göttliche gedacht wird oder nicht, ist nicht wesentlich.«

     Auffällig an dieser Betrachtungsweise ist, daß stets von konkreten Menschen und spezifischen Denkformen auf die
     Menschen und ihre allgemeinen Bewußtseinsformen geschlossen wird. Adler abstrahiert vom Konkreten, ohne
     dessen Zusammenhang in seiner Analyse zu berücksichtigen. Sein Mensch ist so. Der gesunde Menschenverstand
     kommt hier in idealistischem Kleid zu seinem obligaten Recht. Auch wenn der hier mehrfach zitierte Artikel »über
     den kritischen Begriff der Religion« (1915) heißt, Religionskritik ist etwas anderes.

     Der Sinn des Lebens liegt für Adler stets in einer übergeordneten Sache (Gott, Sozialismus etc.), d. h. er liegt
     außerhalb des Lebens selbst. Der Fetischismus wird hier zur anthropologischen Konstante des Menschseins
     schlechthin aufgebauscht. Sobald wir nach dem Sinn des Lebens suchen, »sobald wir nur anfangen, uns aus dem
     Banne eines gedankenlosen Dahinlebens oder eines gedankenabschneidenden Positivismus zu erheben,« landen
     wir automatisch bei der Religion.

     Adler singt geradezu ein Hohelied auf die Religion und ihre soziale Kraft. Sie ist ihm Imperativ menschlicher
     Existenz: »Gott und Unsterblichkeit sind nicht so sehr notwendige Denk- als notwendige Willensresultate. (...) Die
     Ideen von Gott und Unsterblichkeit besagen also nicht, daß es etwas derartiges gibt, sondern nur, daß wir als
     Wesen (...) nicht anders können, als beider Existenz zu wollen.« Die Religion sei dazu da, »das individuelle Dasein
     zu erwärmen und lebensfähig zu machen«.

     Adler und Bauer erklären die Religion ungleich Marx aus allgemein menschlichen Bedingungen, nicht aus
     besonderen historischen Verhältnissen. Sie differenzieren kaum, entdecken keine qualitativen Brüche, sondern
     generalisieren und positivieren Religion zur existentiellen Prämisse des Daseins schlechthin. Sie ist somit nicht mehr
     eine bestimmte Form fetischistischer Kommunikation, sie ist den Menschen wesenstypischer geistiger oder
     geistlicher Inhalt.

     So gesehen ist natürlich nicht nur eine Rücksichtnahme auf religiöse Gefühle notwendig oder ein Kompromiß mit
     religiösen Anschauungen sinnvoll, nein: so gesehen gilt es, die Religion direkt zu unterstützen. Die kritische Sicht
     des Glaubens verwandelt sich in eine positive. Daß dieser Weg konsequent beschritten wurde, zeigen auch die
     programmatischen Dokumente von SPÖ oder SPD nach 1945. So heißt es im »Wiener Programm« der
     österreichischen Sozialdemokraten aus dem Jahre 1958: »Sozialismus und Christentum als Religion der
     Nächstenliebe sind miteinander durchaus vereinbar.«

     Man hatte also nicht nur Frieden geschlossen, man war zum Bündnis übergegangen. Im Gegensatz etwa zur DDR
     wurde die laufende Entchristianisierung in der Bundesrepublik oder in Österreich nicht zuletzt durch die
     Sozialdemokratie subjektiv gebremst. Sie blieb somit hinter ihren historischen Möglichkeiten zurück.


     Allerletzte Sekten

     Fetisch Religion: 5. und letzter Teil der Serie von Franz Schandl

     Der Zerfall der abendländischen Kirchen und Religionen ist weit fortgeschritten. Er ist nicht mehr umkehrbar. Das,
     was Kirche in Vorzeiten großgemacht hat, wurde in der Zwischenzeit durch die Herrschaft des Geldes ziemlich
     niedergemacht. Von einem Basisprinzip der Gesellschaft ist die Religion zu einer bloßen Sinnstiftungsvariante unter
     vielen abgestiegen. Austauschbar wie alles, was unter die Herrschaft des Werts gerät. Nachdem das Geld Gott
     endgültig abgelöst hat, ist es für ihn schwierig geworden, zu bestehen. Darin liegt der eigentliche Grund der Krise
     der Kirche.

     Der Mythos, ein ganz besonderer Verein zu sein, der ist längst dahin. Heute konkurrieren auch die Großkirchen
     am Markt der Warensortimente und Glückssurrogate als beliebige Markenartikel unter vielen. Der
     Traditionalismus ist die zähe Kraft, der viele Menschen dort verharren läßt, wenngleich sich die meisten um nichts
     mehr kümmern, was von dort kommt. Nur bei Taufe, Heirat und Tod soll halt ein Priester da sein, weil es sich so
     gehört.

     Was kann die Kirche also tun? - Eine weitere Demokratisierung ist mehr als problematisch, untergräbt sie doch
     den Glauben durch die jeweilige Stimmung. Wenn der ehemalige Herausgeber des österreichischen
     Wochenmagazins »profil« Hubertus Czernin fragt: »Wird der Klerus jetzt endlich begreifen, daß die Grundsätze
     der demokratischen Gesellschaft auch innerhalb der Kirche gelten müssen?« dann ist das eine ausgesprochen
     dumme Frage.

     Kirche ist Autorität und Hierarchie, nicht Demokratie. Ihre historische Kraft liegt nicht in der Mitbestimmung,
     sondern im Gehorsam. Es sind also gerade die Reformer, die das Fundament in frommer Bewußtlosigkeit
     unterminieren, da haben die Reaktionäre schon recht.

     Eine geschwisterliche Kirche ist ein Widerspruch in sich. Wenn die Kirche sich also diesen modernen Strömungen
     gänzlich ausliefert, dann führt das nicht, wie die internen Kritiker meinen, zu einer neuen Renaissance, sondern
     beschleunigt das Erodieren ihrer Restbestände. Wozu denn dann überhaupt? ist die sich sofort aufdrängende
     Frage. Man kann Gott nicht durch Göttin ersetzen, abwählen, rotieren lassen etc. Nicht einmal mit dem Papst geht
     das, soll dieser nicht Petrus II. heißen. Die demokratische Kirche ist ein hölzernes Eisen. Langfristig gesehen ist
     die Säkularisierung der Tod der Kirche. Dito freilich auch die Nichtsäkularisierung. Was natürlich ein Dilemma ist.

     Eines sei jedenfalls allen Demokratisierern der Kirche ins Stammbuch geschrieben: Kirche, das ist
     festgeschriebener Ewigkeitsanspruch, verknüpft mit der Unabänderlichkeit der Satzung. Man vergleiche etwa nur
     die in der deuteronomischen Gesetzessammlung grundgelegte Junktimierung. Wer Kirche anders auffaßt, als die
     Kirche die Kirche auffaßt, faßt etwas anderes auf.

     Der vielgescholtene reaktionäre österreichische Bischof Kurt Krenn unterscheidet sich von anderen
     Kirchenfürsten darin, daß er die gängige Vereinnahmungsvariante der Mitglieder durch eine Austreibungsvariante
     sowohl der Renitenten als auch der Mitläufer ersetzen will. Krenn will die Kirche abspecken. Sie soll werden eine
     schlagkräftige Truppe von Kreuzrittern Gottes und seiner Stellvertreter. Und niemand möge sich einbilden, die
     Kirche bestehe aus lauter liberalisierten Demokraten. Krenn will die Kirche »gesundschrumpfen«, befreien vom
     weltlichen Ballast der Karteileichen. Dazu ist ihm jedes Mittel recht. Es soll wieder gehorcht werden. Und doch ist
     das ein Rudern gegen die Zeit: Polnische Sitten sind in den westeuropäischen Großkirchen nicht mehr
     durchzusetzen. Da mag man sich noch so oft bekreuzigen.

     Es ist nicht heraußen, ob Krenns Szenario nicht zumindest mittelfristig die günstigere Positionierung darstellt. Denn
     eines weiß der St. Pöltener Bischof: Abspaltungen sind heute ausgeschlossen. Selbst die Altkatholiken, der letzte
     bedeutende Abgang, konnten sich nie über den Charakter einer Sekte erheben. Noch schlechter erginge es den
     neuen katholischen Protestanten. Ohne Rom sind sie nackt. Das wissen auch die Kritiker. Die Römische Kirche
     kann sich gar nicht mehr spalten, weil sie die innere Kraft dazu gar nicht mehr aufzubringen imstande ist. So torkelt
     sie halt vor sich hin, in Österreich gerät sie in den letzten Wochen sogar schon kräftig ins Wanken.

     Was Katholiken und Protestanten nicht mehr bieten können, diese allerletzte Wahrheit und Gewißheit (im
     permanenten Arrangement mit Geld und Demokratie wurde ihnen das gründlich ausgetrieben), das ist nun
     scheinbar das Kennzeichen der Sekten geworden. In einer Welt, in der immer alles schneller fließt, ist die Suche
     nach dem Halt notwendig, dieser aber immer seltener in positivistischer Sachlichkeit zu finden. Da nun auch der
     Sozialismus als konkreter und abstrakter Vorgriff vorerst einmal als Alternative ausgeschieden ist, wird der
     Rückgriff auf Versatzstücke abendländischer Kultur bzw. der Zugriff auf außereuropäische oder vorzeitliche
     Muster (z. B. indianische oder keltische Mythen) etc. immer stärker und erfolgreicher. An irgend etwas muß
     schließlich geglaubt werden. Das Revival inszeniert sich allerdings als galoppierende Farce.

     Die vielen Sekten und neuen transzendentalen Sinnsuchereien sind ebensowenig ein Kennzeichen eines
     nochmaligen Aufstiegs der Religion, sondern verdeutlichen deren endgültigen Niedergang. Wo der Glauben wie
     die Unterhose gewechselt werden kann, ist es schlecht um ihn bestellt, so sehr manche Granatsplitter auch
     leuchten. Die Obskuranz und Destruktivität dieser Gruppierungen ist oft kaum noch zu überbieten, nur ihre
     konkrete gesamtgesellschaftliche Isoliertheit schützt vor Pogromen, Verbrennungen und massenhaften
     Gewaltausbrüchen. Auf kleinem Raum finden sie ja heute schon statt.

     Noch nie waren die geistigen Opiate so zahlreich wie heute, nur verbreiten sie in Summe kein Aroma mehr,
     sondern einen bestialischen Gestank. Die Religion fault ab. Da helfen kein Wojtila, kein Fortschrittspapst, keine
     betenden Schwestern, keine Rohrstaberln, aber auch keine Fernsehprediger. Was für den Katholizismus gilt, gilt
     ebenso für die Protestanten. Und auch islamische Fundamentalisten werden da nichts mehr zurückdrehen, sie
     erinnern vielmehr an Methoden der frühen Neuzeit, besitzen aber die Zwangsmittel und Waffen der Moderne, was
     schlimm genug ist. Daß diese Zerfallserscheinungen möglicherweise neue Konflikte verstärken oder gar auslösen,
     ist zu befürchten. Nicht das Zurückdrehen ist das Problem, sondern das mögliche Durchdrehen.

     Die Geister, die man einst beschwor, wird man so schnell nicht los. Und - es sei auch zugegeben - sie stecken in
     unseren Köpfen und Gliedern, sind uns zweite Haut geworden; jeder Mensch kennt Momente der
     Glaubensanfälligkeit und Zuckungen des Aberglaubens. Dem Fetisch kann man nicht so einfach entlaufen, auch
     wenn man ihn durchschaut hat, von seiner einstigen Ausstrahlung nur noch ein matter Abglanz da ist.

     Auch wenn es an der gesellschaftlichen Oberfläche gegenteilige Zeitströmungen geben kann, gilt: Seit der
     bürgerlichen Aufklärung geht es mit der Kirche zu Ende. Die Verfügungsmacht über die Menschen ist ihr
     weitgehend abhanden gekommen, von den Zwangsmitteln ganz zu schweigen. Auch wenn sie noch kräftig nervt
     und unzählige Menschen Opfer ihrer verqueren Vorurteile werden, sie bewegt sich auf dünnem Eis. Institutionen,
     die durch Jahrhunderte geworden sind, verschwinden zwar nicht von einem Tag auf den anderen, doch ihr
     »geistiges Aroma« (Marx) verzieht sich.


 


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