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Folgender Aufsatz ist die geringfügig überarbeitete Fassung des Beitrags
"Esoterik und die Linke. Oder: Warum Spiritualität eine völlig beliebige und keine emanzipatorische Größe ist"
in: AntiVisionen (Hg.): Schicksal und Herrschaft. Materialien zur Kritik der Esoterik-Bewegung, Hamburg 1999. Broschüre Din A4, 80 Seiten, nur erhältlich bei: rat - reihe antifaschistischer texte, c/o Schwarzmarkt, Kleiner Schäferkamp 46, 20357 Hamburg, 8 DM + Porto gegen Vorkasse in Briefmarken oder Scheine, ab 5 Ex. billiger.
Von Maria Wölflingseder
Seit Mitte der 80er Jahre haben sich - aus den USA kommend - esoterische, also vor allem spirituelle und biologistische Strömungen im deutschsprachigen Raum stark ausgebreitet. Seit den 90er Jahren nehmen sie auch in ehemaligen Ländern des sogenannten realen Sozialismus rapid zu. Wurde esoterisches Gedankengut anfangs von einzelnen Gruppierungen getragen, drang es nach und nach in alle gesellschaftlichen Bereiche ein: in Politik und Wissenschaft, in die Ökologiebewegung, ins Management, in die Großkirchen, in linke Wissenschaft und ins Denken eines Großteils der Bevölkerung. Umschlagplätze esoterischer Inhalte, die in der Verbreitung eine wichtige Rolle spielen sind Buchhandlungen, Volkshochschulen, Fernsehen und Radio; nicht nur in eigenen als solche gekennzeichneten Sendungen, sondern vielfach quer durch sämtliche Sendungen und Themengebiete.
Die Inhalte der Esoterik-Bewegung können zwar einerseits grob umrissen werden,- insbesondere wären nachstehende zu nennen. Andererseits ist Beliebigkeit eines der Hauptmerkmale dieser Bewegung. Im Rahmen Gläubigkeit, Biologismus, irrationale Welterklärungs- und -rettungsideologien wird also recht Unterschiedliches, ja Widersprüchliches vertreten.
1. Religion/Glaube/Spiritualität: Der Bezug auf eine höhere kosmische Ordnung, die die sogenannte "Ganzheitlichkeit" oder "Einheit" darstellt. Diese soll in der Gesellschaft verwirklicht werden.
2. Biologistisches Denken: Das sich Berufen auf die "Autorität der Natur", um daraus Ordnungen und Regeln gesellschaftlicher Kommunikation abzuleiten. Biologistisches Denken, genauso Glauben und Spiritualität werden oftmals als Wissenschaft ausgeben, mit ihr gleichgesetzt, bzw. als eine weitere - der wissenschaftlichen gleichberechtige - Erkenntnisebene bezeichnet.
3. Das Verkünden eines neuen Zeitalters, das einerseits durch eine neue kosmische Konstellation, andererseits durch einen Bewußtseinswandel der Menschen anbrechen wird. Der Begriff "New Age" wie auch das Warten auf die baldige Realisierung desselben sind in den letzten Jahren immer mehr in den Hintergrund getreten; nunmehr ist der Begriff Spiritualität zum Allheilmittel avanciert.
4. Frauen bzw. das weibliche Prinzip werden zum welt- und menschheitsrettenden Prinzip erhoben: Stichwort spiritueller Ökofeminismus. Es wird versucht, die jahrhundertelange Unterdrückung der Frau - zumindest auf der ideologischen Ebene - in ihr Gegenteil zu verkehren.
Die Esoterik-Bewegung stellt ein bedeutendes Massenphänomen dar. Es erstaunt, daß die Linke (alle, die sich als solche oder kritische emanzipatorische ZeitgenossInnen verstehen), insbesondere linke Wissenschaft, dieses Phänomen in ihren Analysen weitgehend ausgespart hat. Große Teile der Linken sind spätestens nach den gesellschaftlichen Umwälzungen von 1989 nahtlos zur Esoterik übergewechselt, und der Großteil der Restlinken hat sie rechts liegengelassen. Der Blick bürgerlicher und linker Esoterik-Kritik konzentriert sich meist - in dualistischem Gut-Böse-Denken - auf die Rechtslastigkeit der Esoterik. Daß Esoterik-Ideologie in Teilen der Linken verbreitet ist, inwieweit und warum Esoterik im Denken eines Großteils der Menschen verhaftet ist, wird kaum analysiert.
Die wenigen kritischen Arbeiten, die es zur Esoterik gibt, rekrutieren sich meist aus folgenden:
1. Solchen, die die "falsche" Esoterik oder den rechten Rand der Esoterik kritisieren, um der "richtigen, der guten" zum Durchbruch zu verhelfen. Dazu gehören sowohl bürgerliche als auch linke bzw. ehemals linke WissenschaftlerInnen, und allen voran die kirchlichen Esoterik-KritikerInnen. Letztere waren in den 80er Jahren die ersten, die sich mit der New-Age-Bewegung befaßten. Die Kritik der offiziellen Kirchen ergibt sich ja logisch aus ihrem Konkurrenzverhältnis zur Esoterik-Bewegung.
2. Solchen Arbeiten, in denen - auch von Linken - Esoterik in erster Linie zum Gegenstand moralischer Abqualifikation gemacht wird. Sie stellen der "bösen" Esoterik die "gute" Demokratie gegenüber. Sie stimmen ein in das allgemeine Klagen über Politikverdrossenheit und gesellschaftliche Regression. Eingehende Analyse der esoterischen Inhalte, der gesellschaftlichen Ursachen und Zusammenhänge interessiert wenig.
3. Solchen Arbeiten, die sich auf das Aufspüren von personellen und organisatorischen Verquickungen zwischen Esoterik und Rechtsextremismus beschränken. Denunziation steht hier meist im Vordergrund. Oftmals wird der Faschismusvorwurf erhoben.
Es stimmt zwar, daß in der Esoterik rassistische und antisemitische Inhalte weit verbreitet sind. Jedoch entspricht die Einschätzung ihrer gesellschaftlichen Bedeutung durch bürgerliche und linke KritikerInnen nicht mehr den veränderten Verhältnissen. Geschichte kann sich nicht wiederholen. Es ist verfehlt, die rechtsextremen Tendenzen der Esoterik-Bewegung mit jenen der Zwischenkriegszeit zu vergleichen, weil heute aufgrund der weiterentwickelten ökonomischen Verhältnisse keine Faschismusgefahr im historischen Sinne besteht. Die aktuelle Gefahr ist allerdings als wesentlich "hinterhältiger": Heute sind Rassismus und Demokratie längst keine Gegensätze mehr. Die Bedrohung geht nicht mehr hauptsächlich von Gruppierungen und Personen aus oder von den Zwängen eines faschistischen Staates, sondern von der Tatsache, daß die Zwänge durch den ökonomischen Druck immer mehr individualisiert und verinnerlicht werden. Deshalb entspricht es nicht der Realität, der "rechten Esoterik" die gute Demokratie entgegenzusetzen. Es wird fast allerorten übersehen, daß sich sowohl Esoterik als auch Rassismus bereits in der gesellschaftlichen Mitte, in Marktwirtschaft und Demokratie verwirklicht haben.1 Dieser Schieflage der allgemeinen Esoterik-Kritik soll mit diesem Beitrag abgeholfen werden.
Esoterik ist neben Populismus und Nationalismus Folge unserer gesellschaftlichen Verhältnisse, Folge unserer marktwirtschaftlichen und rechtsstaatlichen Demokratie, und nicht - wie von Linken meist postuliert - ihr "böses" Gegenteil. Esoterik ist vielmehr eine Reaktion auf die Verhältnisse, in denen wir leben. Nicht Irrationalismus, rechtes Gedankengut oder der rechte Rand brechen in die gesellschaftliche Mitte ein, sie sind auch nicht Angriffe auf Vernunft, Freiheit und Aufklärung - wie stets beteuert wird -, sondern vielmehr eine Auswirkung der Verhältnisse in eben dieser gesellschaftlichen Mitte. Diese Verhältnisse sind wiederum das Resultat der Aufklärung. Rassismus und Nationalismus sind eine typische Form konformistischer Revolte. Gemeinsam mit Sexismus gehören sie zur Basisideologie des warenproduzierenden Systems.
Esoterische Ideologien sind in ihrer Absicht einerseits ebenfalls ein Aufbegehren gegen die kapitalistischen Verhältnisse mit all ihren Auswirkungen auf die Befindlichkeit des Individuums, andererseits ist ihre (vermeintliche) Alternative völlig rückwärtsgewandt - zurück zu Glauben und Religiosität, also zurück in voraufklärerische Zeiten. Tatsächlich ist Esoterik in ihrer Auswirkung aber die bloße Fortsetzung der Verhältnisse im Kapitalismus: Am deutlichsten ist das an zwei Merkmalen erkennbar: erstens am esoterischen Paradigma "Jeder sei für sein Glück und Leid selbst verantwortlich; alles, was dir geschieht, du alleine bist deines Glückes oder Unglückes Schmied." Dieses Paradigma wird auch oft mit jemandes Karma (das durch früheres Handeln bedingte gegenwärtige Schicksal) begründet. Hier wird ganz einfach die allgemeine Individualisierungstendenz in unserer Gesellschaft auf die Spitze getrieben.
Ein zweiter Punkt, der das Verhaftetsein in den gegebenen Verhältnissen aufzeigt, ist der Konsum- bzw. Geschäftsaspekt der Esoterik. Esoterik ist neben einer bestimmten Weltanschauung vor allem ein Konsumartikel, also eine warenförmige Religion. Der Markt an Büchern, Zeitschriften, Seminaren, Therapien, Reisen und zahllosen Gegenständen, denen verschiedene (magische) Wirkungen zugeschrieben werden, boomt mehr denn je. Während die katholische Kirche als eine staatsförmige Religion bezeichnet werden kann, sind die Charakteristika der Esoterik Warenförmigkeit und Beliebigkeit. Erstere korrespondiert mit der gesellschaftlichen Entwicklung, immer mehr in die Warenform "zu pressen"; zweitere mit dem "anything goes" in der Postmoderne. Esoterik ist die Postmoderne in der Religion.
Bezüglich des Entstehungshintergrunds der Esoterik-Bewegung darf auch nicht übersehen werden, daß die vielbejammerte Politikverdrossenheit auch emanzipatorischen Gehalt hat, weil Politik ja heute tatsächlich kaum mehr etwas bewirken kann; sie ist nur Anhängsel der Ökonomie. (Heute, wo es kaum mehr etwas zu verteilen gibt, wird das augenscheinlicher als etwa in den siebziger Jahren.) Ursache für die Esoterik-Bewegung ist also durchaus auch der Versuch, aus den menschenzerstörenden Zwängen auszubrechen. Dieser Versuch ist jedoch zum Scheitern verurteilt, weil er in eine bzw. in zwei falsche Richtungen läuft: Einerseits zurück in voraufklärerische Zeiten, in denen laut Esoterik die Welt noch in Ordnung, nämlich in göttlicher Ordnung war. Anderseits gibt es auch Tendenzen in der Esoterik, die einfach die kapitalistische Entwicklung fortschreiben und verstärken. Etwa indem behauptet wird, eine atomare Zerstörung der Erde diene der schnelleren Verwirklichung des Neuen Zeitalters, oder die Gentechnik diene der Schaffung des Neuen Menschen, oder die erhöhte Strahlung aufgrund des Ozonlochs diene des besseren geistigen Austauschs mit anderen Zivilisationen. Die aktuelle Interpretation von Cyborgs (cybernetic organism, künstliche Intelligenz) als neues revolutionäres Subjekt durch Linke ist letzterer Tendenz nicht unähnlich.
Auch das idealistische Unterfangen spiritueller Ökofeminismus kann nicht gelingen. Dieser läuft letztlich auf die Erhaltung und Versüßung der traditionellen Frauenrolle als "hauptamtliche Wärterin der psychosozialen Tankstelle" hinaus. (Klaus Ottomeyer)
Zusammengefaßt: Esoterische Ideologien sind rationale Irrationalität, also eine Reaktion auf die irrationale Rationalität unserer Verhältnisse. (Klaus Ottomeyer) (Vgl. dazu auch weiter unten: über die Aufklärung.) Auslösendes Moment mögen durchaus kapitalismuskritische Gefühle sein, jedoch gibt es in der Esoterik keinerlei fundierte Kapitalismusanalyse. Die Verhältnisse werden nicht durchschaut, und die Kritik, die vorhanden ist, wird sogleich zu einem Zurück vor die Aufklärung. Letztlich geht es um eine einzige große Sinn- und Trostveranstaltung, die aus einfachen Welterklärungsmustern und Rechtfertigungen von Unmenschlichkeit und Leid besteht. Das Ertragen von Widersprüchen, sowie offensive Gesellschaftskritik, die die kapitalistische Systemüberwindung zum Ziel hat, ist nicht Gegenstand der Esoterik. Ganz im Gegenteil: es handelt sich um hilflose kurzschlüssige Überreaktionen angesichts großer Unsicherheiten und Angst, denen jedes Individuum heute ausgesetzt ist.
Die große Sinnkrise, die die Entstehung der Esoterik-Bewegung bedingt, hat auch vor Linken nicht halt gemacht. Unter dem "kritischen Potential" - also unter Linken, Grünen, SozialdemokratInnen, Autonomen, Alternativen, linken WissenschaftlerInnen etc. - haben sich esoterische Inhalte genauso etabliert wie in allen anderen Gesellschaftsbereichen. "Anfällig" für esoterische Ideologien sind offensichtlich alle, die sich den gesellschaftlichen Verhältnisse nicht analytisch und kritisch nähern, sondern mittels Gläubigkeit und Moral eine bessere Welt verwirklichen wollen. Das kann auch der Glaube an Rationalität und Marktwirtschaft sein. Im Management und bei vielen WissenschaftlerInnen ist Esoterik besonders weit verbreitet. Hier vereinen sich herkömmlicher und moderner Glaube, Glaube an Spiritualität mit dem Glauben an Geld und Marktwirtschaft.
(Auf den spirituellen Ökofeminismus, der ein umfassendes Ideologem darstellt, das bis weit in die linke Frauenbewegung hineinreicht bzw. zu dem viele linke Frauen übergewechselt sind, sei an dieser Stelle nicht eingegangen. Vgl. dazu meinen Buchbeitrag "Fetisch Weiblichkeit. Über die diffizilen Zusammenhänge zwischen spirituellem Ökofeminismus und rechter Ideologie"2.)
Um nur ein besonders anschauliches unter zahlreichen Beispielen zu nennen, das die im Folgenden beschriebenen esoterischen Inhalte in linker Wissenschaft verdeutlicht, sei auf das "Natursymposium" der Österreichischen Gesellschaft für Politikwissenschaft (14.-15.11.1997 in Wien) hingewiesen. Ein Arbeitskreis war ausschließlich esoterischen Inhalten gewidmet, in anderen waren sie ebenfalls stark vertreten. Renommierte PolitologInnen, die sich durchaus als links, kritisch und emanzipatorisch verstehen, huldigen der Esoterik in höchsten Tönen.3
Im Folgenden seien vier ideologische Merkmale, die bei linken EsoterikerInnen eine große Rolle spielen, analysiert und kritisiert: 1. Spiritualität/Religion, 2. Subjektcharakter der Natur, 3. Die fehlende Liebe, 4. Ganzheitlichkeit.
1. Spiritualität/Religion
Neuerdings verteidigen viele Linke Religion vehement, oder sie entdecken Spiritualität als (ihren) neuen Lebenssinn. Spiritualität ist in den letzten Jahren zu einem weitverbreiteten Allheilmittel avanciert. Sie fehlt in keinem Bereich - sei es bezüglich Geschlechterverhältnis und Sexualität, bezüglich Ökologie, oder Management, oder sei es in der Wissenschaft generell.
Religion und Spiritualität wird von vielen Linken ontologisch betrachtet, das heißt als etwas, das es immer geben wird, als anthropologische Konstante. Anstatt das Bedürfnis nach Religion und Spiritualität zu analysieren, setzen sie ihre Notwendigkeit voraus. Analyse des neuen religiösen und spirituellen Booms ist in ihren Augen eine generelles Warnen vor Religion. Das heißt, sie fühlen die Religion in ihrer Daseinsberechtigung bedroht.
Religion und Spiritualität sind jedoch in unserer Welt, in der die ökonomischen "verschleierten und verkehrten Verhältnisse" (Marx) auch vor dem Bewußtsein nicht halt machen, genauso ein notwendiges Mittel zur Alltagsbewältigung wie der sogenannte "Gesunde Menschenverstand" oder das "Alltagsbewußtsein": Also das "Sich-Einlassen" auf das System, in dem letztlich nur Geld zählt, in dem Konkurrenz und Ausbeutung von Mensch und Natur unausweichlich sind.
Religion und Spiritualität sind kein angeborenes Bedürfnis, wie immer mehr Linke behaupten. Sondern Religion und Spiritualität gehören genauso wie etwa auch Politik und Recht zu den fetischisierten (Fetisch = Zaubermittel) Kommunikationsformen, weil direktes Miteinander-in-Beziehung-treten - ohne Angst, ohne Konkurrenz, ohne Charaktermasken - noch nicht möglich ist.
Religion und Spiritualität sind weiters eine Hilfskonstruktion gegen die Hilflosigkeit der Erkenntnis, daß unser Dasein einmalig und einmal zu Ende ist. Religionen sind Wunschbilder gegen das Vergängliche. Der eigene Tod und das Nicht-mehr-Existieren sind für die meisten nicht vorstellbar und zu beängstigend. Jenseits- bzw. Wiedergeburtsvorstellungen dienen dazu, die "Gefahr" des Todes zu leugnen. Religionen scheinen ein angeborenes Bedürfnis zu sein, weil sie von den Menschen noch (bzw. in schlechten Zeiten wieder verstärkt) gebraucht werden. (Vgl. Franz Schandl, Fetisch Religion)
Ein wichtiger Aspekt, der heute gänzlich ignoriert wird, ist die psychoanalytische Erkenntnis, daß ein enger Zusammenhang zwischen Spiritualität, mystischen Einheits- und Ganzheitsphantasien einerseits und fehlendem sexuellen Lebensglück andererseits besteht. Auch C. G. Jung - in der Esoterik-Bewegung zu neuer breiter Rezeption gelangt - versuchte durch sein gesamtes Lebenswerk Sexualität und das Unbewußte zu resakralisieren. Wilhelm Reich hat die Grundlagen für mystisches Erleben deutlich als Angst vor der Sexuallust herausgearbeitet.
In den letzten Jahren haben sich viele Menschen von den offiziellen Großkirchen ab- und den esoterischen, spirituellen Ideologien zugewandt. Meist wird diese moderne Art von Religiosität als etwas "ganz anderes" als die herkömmliche Religion betrachtet, als etwas Emanzipatorisches, oder auch als etwas, das mit Linkssein kompatibel ist. Religion ist jedoch immer Religion und bleibt Religion. Religion erfüllt immer bestimmte Funktionen - wie Identitätsstiftung, Handlungsanleitungen für das Leben und das Spenden von Trost durch den Glauben an ein Weiterleben nach dem Tod. Deshalb ist das Gegenüberstellen von "guten" anerkannten Kirchen einerseits und "bösen" Sekten oder Esoterik andererseits fehl am Platz. Noch verquerer ist das Gegenüberstellen von "guter" linker emanzipatorischer Spiritualität einerseits und "böser" rechter andererseits. Der Knackpunkt ist nämlich, daß jede Religion, jede Kirche, jede Spiritualität letztlich mit beliebigen Inhalten füllbar ist; diese können gesellschaftspolitisch positiv oder negativ wirken, emanzipatorisch oder reaktionär - was historisch wie aktuell evident ist (vgl. etwa die Theologie der Befreiung).
Hauptfunktion jeder Religiosität und Spiritualität ist immerzu das Stiften von Sinn. Klaus Ottomeyer hat sehr anschaulich dargestellt, worum es geht: Die kapitalistische Ökonomie ist seit ihrer Entstehung ein notorischer Sinnfresser, weil es letztlich nur darum geht, "Geld zu machen" - egal womit, egal um welchen "Preis" (Stichwort: Naturzerstörung, Waffenproduktion, minderwertige, kurzlebige oder überhaupt sinnlose Produkte). Die kapitalistische Ökonomie "ist nicht nur ein arbeitskrafteinverleibender und umweltzerstörender, sondern auch ein sinnfressender Moloch. Eine Zeitlang konnte der alltägliche Sinnbedarf der unterworfenen Individuen noch aus übernommenen vorkapitalistischen Sinnsystemen, dem Christentum und der patriarchalischen Familie, befriedigt werden." (Klaus Ottomeyer) Diese Sinnsysteme können heute nicht mehr wirken. Nun versucht man es entweder mit exotischen - sprich interessanteren - Religionen, oder man will Kirche und Glaube demokratisieren - siehe z.B. Kirchenvolksbegehren.
Roman Schweidlenka gemeinsam mit Eduard Gugenberger Autor zahlreicher vermeintlich esoterisch-kritischer Bücher, fordert sogar unumwunden "demokratische, solidarische, spirituelle Sinnhäuser", also eine Form moderner Kirche. Zweck und Inhalt von Spiritualität, von Religion, von Glauben bleibt jedoch immer derselbe - ob in altem oder modernisiertem Gewand.
Der aktuelle Boom an Sekten, Esoterik und Spiritualität ist jedoch keineswegs, wie immer beteuert, ein Zeichen neuen Aufschwungs von Religiosität, sondern vielmehr ein Zerfallsprodukt der offiziellen Kirchen wie auch von Religion an sich, quasi ein letztes Aufbäumen von Religiosität.
Geld und Warenförmigkeit sind längst die neue Religion. Daß Religion und Spiritualität längst dabei sind, "das Zeitliche zu segnen", weil sie historisch bereits überholt wurden, zeigt sich an der gesellschaftlichen Tatsache, daß der Stellenwert des Geldes bereits jenen Platz eingenommen hat, den früher die Religion hatte. Im Zuge der Aufklärung wurden alle äußeren Autoritäten - Religion, Naturanschauung, Staatsordnung etc. - der schonungslosen Kritik unterzogen. Alles sollte der Vernunft und der Rationalität unterworfen werden. Damit einher ging die Durchsetzung der Warenförmigkeit der Gesellschaft: wir sind alle KäuferInnen und/oder VerkäuferInnen von Waren - einschließlich der Ware Arbeitskraft. Dies ist im Gegensatz zum Feudalismus die herrschende gesellschaftliche Verkehrsform geworden, die alles durch und durch prägt. Das durchzusetzen hat übrigens auch eine Religion mitgeholfen - die protestantische. Der Religionsfetisch wurde mehr und mehr durch den Kapitalfetisch ersetzt. Der Prunk und Pomp sowie die Marien- und Jesusverehrung des Katholizismus, die stark Züge sublimierter Sexualität zeigt, wurden mehr und mehr abgelöst vom nüchternen protestantischen Arbeitsethos, dem Gelderwerb als Hauptquelle des Lustgewinns gilt. (Klaus Ottomeyer)
In den zahlreichen Esoterik-Seminaren, in denen der richtige spirituelle Umgang mit Geld gelehrt wird, bzw. verkündet wird, wie man mit dem richtigen Bewußtsein spielend reich wird, wird offensichtlich versucht, den Kapitalfetisch zu resakralisieren. Der systemimmanente Zwang, Geld verdienen zu müssen, um zu überleben, wird spirituell überhöht, anstatt kritisiert.
Und der immer stärker werdende Konsumethos - der systemimmanente Zwang, den Mehrwert zu realisieren - wird nicht in Frage gestellt, sondern in Form der käuflichen Ware Heilsangebot, die in schier unendlich vielen Ausführungen erhältlich ist, fortgeschrieben. Ein ökonomisch bedeutendes neues Marktsegment ist entstanden.
Aufklärung und Rationalität sind wiederum zu Irrationalität, Mythos und Zwang geworden. Nach und nach sind immer mehr Bereiche des Lebens in die Warenform gepreßt worden: die Freizeit wurde zur Freizeitindustrie; zwischenmenschliche Begegnung wurde mehr und mehr kommerzialisiert - Esoterik ist eine Form davon. Die Logik des Geldes, die Kapitalform, die auf dem Erwirtschaften von Profit basiert und somit auf der Ausbeutung von Mensch und Natur, hat alle anderen Kriterien - Lebensqualität, Solidarität, zwischenmenschliche Nähe, schonender Umgang mit Ressourcen (zum Beispiel in Form möglichst langlebiger Gebrauchsgegenstände) weitgehend zunichte gemacht. Die Rationalität ist ihrerseits zur Irrationalität geworden. Rationalität ursprünglich angetreten als Logos, der den Mythos überwindet, als Aufklärung, die den blinden Zwang von Vorurteil und Naturherrschaft beendet, erscheint heute selbst als Mythos, Vorurteil und Zwang, als ein lebensfeindlich gewordenes Denken. Die Beispiele liegen auf der Hand, von der bedrohten Ökosphäre bis hin zum Rüstungswahn. "In der Tat triumphiert der Irrationalismus, und zwar eben durch die Form unserer Arbeit erst heute. Wir wissen noch nicht einmal, daß wir nicht wissen, was wir als Arbeitende tun. Wenn das nicht Irrationalismus ist (und zwar nicht nur als philosophische Theorie, sondern als Zustand der Menschheit), dann weiß ich nicht, was das Wort bedeutet." Dieser Irrationalismus "verdankt - was geschichtlich einmalig ist - sein Bestehen dem Rationalismus selbst: nämlich den Naturwissenschaften, der Technik und der Arbeitsorganisation." (Günther Anders, Die atomare Bedrohung)
All diese Irrationalität, die höchst menschenunwürdige Verhältnisse mit sich bringt, wird aber nicht wie hinlänglich angenommen von den "bösen" Ausbeutern und Spekulanten verursacht. Ihre Ursache liegt also nicht im Unvermögen einzelner, sondern in der gesellschaftlichen Warenförmigkeit. Sie ist durch und durch systemimmanent. Die meisten Linken, Alternativen etc. meinen, wenn "alle nur wollen täten", oder wenn es entsprechende Gesetze gäbe, würden gerechte Verhältnisse schon durchsetzbar sein. Mitnichten. "Die Ohnmacht der Arbeiter ist nicht bloß eine Finte der Herrschenden, sondern logische Konsequenz der Industriegesellschaft." (Max Horkheimer/ Theodor A. Adorno: Dialektik der Aufklärung)
Höchst irrational ist vor allem auch die Tatsache, daß das nackte Überleben jedes Menschen an Geld gebunden ist. Die von der bürgerlichen Revolution geforderte Gleichheit wurde in der Demokratie somit gänzlich durchgesetzt. Ihre "große historische Leistung war, daß alle Menschen ohne ständische Schranken ein ,Selbst' werden konnten (freilich geschieht dies bis heute mit einem geschlechtlichen männlichen Vorbehalt); aber allmählich hat sich herausgestellt, daß diese ,Selbstwerdung' einen furchtbaren Preis hatte. An die Stelle der Unterwerfung unter den persönlichen ,Herrn' qua Geburt trat die Unterwerfung unter die unpersönliche und viel totalere Herrschaft des Geldes. Jeder hat das Recht, das zu sein, was die totale Warengesellschaft aus ihm gemacht hat. Jeder darf ,seine' Interessen vertreten, und sei es diejenigen ,als' Obdachloser (...). Demokratie ist die Freiheit zum Tode, jedenfalls für eine wachsende Mehrzahl der Menschheit." (Robert Kurz: Die Demokratie frißt ihre Kinder, in: Krisis (Hg.): Rosemaries Babies, Unkel/Rhein 1993)
Eine emanzipatorische Veränderung kann nur in einer Transformation von Aufklärung und Vernunft, in einer Transformation des kapitalistischen Systems - mitsamt ihren bürgerlichen Einrichtungen wie Demokratie, Recht, Marktwirtschaft etc. - bestehen. Sie muß in eine unbekannte Zukunft gerichtet sein und kann - schon aus historischen Gründen - nicht hinter die Aufklärung zu Religion und Spiritualität zurückführen.
2. Subjektcharakter der Natur
Viele linke WissenschaftlerInnen vertreten nunmehr die einst typische These der Esoterik, die Erde sei ein lebendiges Wesen. Man stützt sich auf die Gaia-Hypothese von James Lovelock, auf die autopoietische Ansätze von Maturana und Varela oder auf die Theorie von den morphogenetischen Feldern von Rupert Shaldrake.
Der Natur wird Subjektcharakter zugeschrieben. Wozu dient eine "Verlebendigung" der Erde? Aus den einschlägigen Arbeiten geht hervor, daß die These von der lebendigen Natur - wird sie nun als eine Tatsache, eine Annahme oder eine Metapher angesehen - dazu diene, um die bedrohte Natur als schützenswert zu erachten. So verwundert es auch nicht, wenn der Erde oftmals menschliche Züge - also die Fähigkeit des Denkens und des Leidens - zugeschrieben werden. Um drohende ökologische Katastrophen zu vermeiden, müsse die sogenannte "natürliche Ordnung" befolgt werden.
Mit der These vom Subjektcharakter der Natur begibt man sich auf gefährliches Glatteis. Sie birgt alle Gefahren des Biologismus. Wenn die Natur oder der Kosmos vermeintliche Handlungsanleitungen liefern, kann in diese - vom Menschen klarerweise - alles und jedes hineininterpretiert werden. Natur ist jedoch frei von Denken. Sie ist das, "was aus sich entsteht und in sich vergeht." "Sie bleibt bei sich. Sie hat kein Ziel, das nicht auch Anfang ist." Der Mensch ist über die Natur hinausgegangen. Er ist "Teil und Gegenteil der Natur". (Franz Schandl)
Es gibt keinen Grund, die prinzipielle Unterscheidung zwischen Natur, Pflanzen und Tieren einerseits und dem Menschen und der Gesellschaft andererseits aufzugeben. Dasselbe gilt auch für Maschinen: Cyborgs, Tieren und Pflanzen die gleichen Rechte und dieselbe Subjekthaftigkeit wie dem Menschen zuzuschreiben ist Humbug. Noch größerer Humbug ist zu glauben, damit menschenwürdige, herrschaftsfreie, egalitäre Verhältnisse schaffen zu können. Der Psychologe Klaus Ottomeyer spricht von einem "Wegreden von Verzweiflung" angesichts des Optimismus der EsoterikerInnen einerseits und der tatsächlichen ökologischen Probleme andererseits.
Die Überwindung des Kapitalismus mit all seinen mensch- und naturausbeutenden und -zerstörerischen Auswirkungen ist und bleibt eine Frage der Produktionsverhältnisse, eine Frage des Wertverhältnisses, eine Frage der Warenförmigkeit unserer Gesellschaft.
3. Die fehlende Liebe
Eine ganz neue Entwicklung ist das Benennen "der fehlenden Liebe" als Hauptursache für unmenschliche Verhältnisse. Hierbei werden Folgen mit Ursachen verwechselt. Etwas, das nur in menschgerechten Verhältnissen gedeihen kann - etwa Liebe -, wird als Hoffnung, besser gesagt, als Fetisch, als Zaubermittel gegen alles Böse in der Welt gehandelt; ähnlich wie auch Spiritualität oder das weibliche Prinzip. Zitate wie folgende zeugen schlicht von magischem Denken und von der Art und Weise, wie gesellschaftliche Veränderung gedacht wird: Mittels Liebe werden "Ziele wie Macht, Reichtum, Konsum oder Ablenkung an Bedeutung verlieren". Mittels Liebe und dem Sich-Verbundenfühlen mit der Natur werden "die Kategorien und die Welt des Herrschaftsdenkens verlassen werden." (Volkmar Lauber, vgl. Fußnote 2; ein Beispiel unter vielen von linken WissenschaftlerInnen) Der Papst könnte es nicht besser formulieren. Gesellschaftliche Veränderung wird als Angelegenheit des persönlichen Bemühens betrachtet; die subjektiven Möglichkeiten werden völlig überschätzt. Die beschriebenen gegebenen ökonomischen Verhältnisse - denen niemand entkommen kann - untergraben jegliche Solidarität und Liebe.
"Das Geld- und Arbeitssubjekt muß flexibel sein, es hat jederzeit sein Leben bedingungslos auf die optimale Verwertung seines Humankapitals auszurichten. Diese Bedingungen erfüllt das Individuum umso besser, je weiter sich der soziale Zusammenhang ausdünnt, in dem es lebt. Dem totalen Markt entspricht das vollisolierte und vollidiotisierte Individuum, das nur dem Geldverdienen verpflichtet ist und das den Luxus, sich jenseits der Welt der Zahlungen auf andere und anderes verbindlich einzulassen, völlig aufgegeben hat.
Selbst die Kleinfamilie, ursprünglich das Vehikel der warenförmigen Totalvergesellschaftung durch Entsozialisierung, wird zum Ballast und droht selber dem Vormarsch des einsamen homo oeconomicus zum Opfer zu fallen." (Ernst Lohoff: Thesen zur Dialektik von Mangel und Überfluß, in: "Weg und Ziel" 3/1998)
4. Ganzheitlichkeit
Eine der weitverbreitetsten Esoterik-Ideologien - auch in linker Wissenschaft - ist die der Ganzheitlichkeit. Die Widersprüche, die Zerrissenheit, die Angst, die Einsamkeit, denen das moderne Individuum heute ausgesetzt ist, sollen "ganzheitlich" geheilt werden. Unsere gesamte Produktionssphäre ist höchst entfremdet, arbeitsteilig und hierarchisch organisiert; und darüber hinaus geht es nicht darum, das zu produzieren, was sinnvoll und nützlich ist, sondern darum, "Geld zu machen". Im Dienstleistungs- und Informationsbereich verhält es sich genauso. Und als MarktteilnehmerInnen unter der Herrschaft der Ware und des Geldes und unter dem Druck der Konkurrenz müssen KäuferInnen und VerkäuferInnen einander überlisten. Die Überlistung erfordert einen "liebenswürdigen" Schein in wechselseitigem Verhalten, Schmeicheln und Einfühlung. Die Rollenhaftigkeit des Verhaltens wird tendenziell gespürt und allseits unterstellt.
Aus der ökonomischen Situation, die den Menschen durch und durch prägt, entsteht für das Individuum der Widerspruch, daß es total vergesellschaftet und gleichzeitig total vereinzelt ist. Vergesellschaftet ist der Mensch dadurch, da sich niemand aussuchen kann, ob er mit oder ohne Geld leben will. Alle bürgerlich zugesicherten Freiheiten und Gleichheiten reichen nur so weit das Geld reicht. Vereinzelt ist das Individuum, weil es nicht möglich ist, gemeinschaftlich und solidarisch zu handeln, sondern um seine Grundbedürfnisse zu befriedigen, das heißt, um Geld zu erwerben, ist jede/r gezwungen, KonkurrentIn aller anderen zu sein.
Ein weiterer zentraler Widerspruch, der sich für das Individuum aus der gesellschaftlichen Verfaßtheit ergibt, ist, daß es total mächtig und gleichzeitig total ohnmächtig ist.
Ernst Lohoff: "Die Außenwelt verkommt zum toten Material, das zur Unterwerfung und käuflichen Aneignung bereitsteht. In den Grenzen seines Budgets bzw. im Rahmen seiner Kreditwürdigkeit sind ihm alle gesellschaftlichen Ressourcen untertan." Das heißt, im Prinzip ist alles käuflich. Die potentielle Allmacht des Menschen steht aber im eklatanten Widerspruch zum tiefgehenden Gefühl des Ausgeliefertseins. Für den Menschen ist es nicht möglich, die ihn umgebende gesellschaftliche Realität mitzugestalten. Diese erscheint als übermächtig und fremd. Das Individuum kann zwar aus dem vorhandenen Warensortiment auswählen, aber nichts mitgestalten. "Es weiß sich einer anonymen Macht ausgesetzt, die sich auf Schritt und Tritt seinem Zugriff entzieht." (Ernst Lohoff)
"Der Hunger nach ,Echtheit' und Ganzheit von zwischenmenschlichen Beziehungen aber ist geblieben. Das Bedürfnis nach einer nicht vorgespielten Identität wird seinerseits zum bestverkäuflichen Artikel, womit die Spirale von vorne beginnt. In diese permanente Sinn- und Identitätskrise der Marktwirtschaft fügt sich das New-Age-Angebot als blinder Nutznießer ein, solange nicht die Grundlagen in der Verkehrsform der Warenbesitzer selbst thematisiert werden. Sinn geht seit Jahren besser als Sex." (Ottomeyer)
Ganzheitlichkeit heißt das umfassende Allheilmittel, offenbar genauso wirksam wie Spiritualität. Ganzheitlichkeit soll all diese gesellschaftlichen Tatsachen wegzaubern, Sinn und Heil stiften; Erlösung im Diesseits par excellence.
Nach philosophischen und historischen Hintergründen fragt niemand. Das würde die ersehnte Harmonie stören. Mit eisener Konsequenz wird auf jegliches Definieren, Herleiten oder Hinterfragen dieses Begriffs verzichtet. Er wird auch von Linken weitgehend in stiller Übereinstimmung mit der Verwendung in der Esoterik gebraucht. Diese stellt einen eindeutigen Rekurs auf lebensphilosophische Denkmuster und konservative Kultur- und Zivilisationskritik dar. Ausgangspunkt ganzheitlicher Ansätze ist "eine rational unerklärbare schlechthin ‚daseiende' Ganzheit, deren ,Urgründe' wissenschaftlich nicht zu erhellen, sondern nur durch das Leben selber zu erfahren seien". (Monika Leske: Philosophen im Dritten Reich, Berlin 1990) Von Intuition ist in diesem Zusammenhang oft die Rede, als eine "selbstverständliche Kategorie menschlicher Wahrnehmung", der nicht nur im Gefühlsbereich zu folgen sei, sondern auch in der Wissenschaft. Vor allem auch "die Liebe", "das Weibliche" oder die Spiritualität sollen nunmehr zu wissenschaftlichen Kategorien, bzw. in die Wissenschaft integriert werden. Wie im Biologismus versucht wird, das Ideologische wissenschaftlich zu stylen, so wird auch versucht, den Begriff "Ganzheitlichkeit" zu verwissenschaftlichen. Wie kein anderer hat C. G. Jung mit seiner Archetypenlehre, in der der Seelenkern "die Sphäre der Ganzheit, des unverdorbenen Sinns" darstellt, dazu beigetragen, "Seelenanalyse und Weltanschauung zu vereinen", und den "Anspruch auf Wissenschaftlichkeit und den Durst nach Sinn gleichermaßen zu befriedigen" (Christoph Türcke).
Auch Linke machen sich nicht die Mühe einer Begriffsanalyse. Christoph Türcke ist einer der wenigen, der eine (wert-)kritische Analyse des Ganzheitsbegriffs im Sinne Jungs bzw. der Esoterik, der auch von vielen Linken übernommen wurde, erarbeitet hat. "Jungs Lehre krankt an der Zivilisation, deren Dekadenz sie heilen will. Und sie leidet nicht an ihrer Krankheit. Sie richtet sich gemütlich ein in der Welt, aus der sie hinauszuführen meint. Ihr Programm der Ganzheitlichkeit, das den Menschen zu seinem Ursprung zurückbringen soll, steht an der Spitze des Fortschritts: in tiefem Einklang mit der totalitären Tendenz der warenproduzierenden Gesellschaft, Dinge und Menschen als Objekte von Kauf und Verkauf bis zur Indifferenz einander anzugleichen und zur ‚irrationalen Vereinigung der Gegensätze' (Jung) zu zwingen. Die Archetypen sind denn auch keine archaischen Urbilder, sondern moderne Wunschbilder. Sie versprechen sichere Seelenführung, wenn man sie nur gewähren läßt, geben religiösen Sinn, ohne auf eine bestimmte Religion zu verpflichten, bieten eine in sich gerundete Weltanschauung, ohne sich metaphysisch festzulegen." (Türcke) Ganzheitlichkeit ist genauso wie Spiritualität oder biologistisches Denken mit jedem beliebigen Inhalt füllbar. Das Ziel ist, "einen Sinn überhaupt - welchen Inhalts auch immer" zu stiften, den "der moderne Mensch braucht, um es in der pluralistischen, auf keinen vernünftigen Endzweck ausgerichteten Gesellschaft auszuhalten". "Ein solches Überhaupt leistet, was keine starre Konfession vermag: Es erhält ebenso stabil wie flexibel, ebenso selbständig wie autoritär fixierbar." (Türcke)
Ganzheitlichkeit ist wie die Warenform selbst ein abstraktes Prinzip. Während ersteres jedoch ein Wunschbild ist, ist letzteres bittere Realität. "Dies Bedürfnis zur religiösen Urgegebenheit verklären und sich zum Instrument seiner Befriedigung machen, statt an ihm das halbherzige Unbehagen in der Kultur zu studieren, das sich schon mit Placebos beruhigen läßt und des geistvollen Opiums großer Theologie gar nicht mehr bedarf, jene lauwarme Erlösungssehnsucht, die eine andere Welt als die, über die sie klagt, gar nicht mehr ernstlich will - das heißt der Psychoanalyse (und der Gesellschaftskritik, M.W.) die Möglichkeit abschneiden, die seelische Verfassung der Gegenwart als Resultat der warenproduzierenden Gesellschaft zu begreifen, die der Ware Arbeitskraft nicht nur den Sinn ihres Daseins vorenthält, sondern auch den Wunsch nach einem Zustand, wo es anders wäre, verblassen läßt." (Türcke)
Ein Grund für das Massenphänomen Esoterik liegt auch in der Tatsache begründet, daß die Linke heute wenig gesellschaftliche Relevanz hat. Sie zeigt keine emanzipatorischen Perspektiven auf, sondern ist in historisch Überfälligem verhaftet. Es greift viel zu kurz, Kapitalismus als Klassen- und Interessensgegensatz anstatt als warenförmige gesellschaftliche Totalität zu verstehen, in der die sozialen Beziehungen der Menschen nur verdinglichte sein können. Anstatt der defensiven Haltung der Linken sind radikale Analyse, offensive Kritik und systemüberwindende Perspektiven vonnöten. Der kapitalistische Nerv muß getroffen werden - also Wert, Ware, Geld, Lohnarbeit, Staat, Recht, Politik, Nation und Demokratie. Aufklärung und Demokratie sind keineswegs das Ende emanzipatorischer Entwicklung, sondern historische Gegebenheiten, über die hinausgedacht werden muß. Sie können aus historischen Gründen nicht mehr einer Emanzipation dienen. Am deutlichsten wird dies am Beispiel der Lohnarbeit: Vollbeschäftigung wird es aus historischen Gründen nicht mehr geben. Daß die Existenzberechtigung eines Menschen nicht mehr an Lohnarbeit gebunden sein kann, wird bereits vielfach erkannt. Die Erkenntnis aber, daß es menschenwürdige Verhältnisse nur jenseits der heute alles beherrschenden Logik des Geldes geben kann, ist noch lahmgelegt.
Das bereits angesprochene verdinglichte und verblendete Bewußtsein und die geringe Bereitschaft/Fähigkeit, die Verhältnisse zu durchschauen, ergibt sich aus der Notwendigkeit, in diesem falschen Leben zu überleben und zurechtzukommen. Wir müssen uns weitgehend anpassen, um nicht unter die Räder des Systems zu kommen. Die Ventile, Ersatzbefriedigungen, Rettungshalme und Fluchtmechanismen aus dieser verkehrten Welt sind zahlreich und vielfältig.
Der Knackpunkt ist folgender: Die Aufgabe von Spiritualität und Religion ist zu beruhigen, zu trösten, Sinn zu liefern, wo keiner ist. Die Alternative dazu kann nur sein, radikale Analyse und Kritik voranzutreiben, aufzurütteln und zu verunsichern, zu versuchen, die herrschende Logik durchschaubar zu machen. Dazu ist es sicher auch notwendig, diese erkannte verkehrte Welt auszuhalten.
Was den privaten Bereich anbelangt, ist es jedoch viel schwieriger, zwischenmenschliche Zusammenhänge über Kritik und Analyse herzustellen denn über Religion und Spiritualität; all die Rituale dienen ja vor allem dazu, Gemeinsamkeit und Gemeinschaft zu schaffen. Wogegen nicht per se etwas einzuwenden ist, aber letztlich geraten Rituale zum Selbstzweck und verhindern, daß die Menschen über sich selbst reflektieren.
Theorie und Praxis können nicht ident sein
Im Zug der 68er-Revolte, als die Revolution vor der Tür zu stehen schien, wurde das Paradigma verkündet, Theorie und Praxis hätten ident zu sein, bzw. hätten zueinander zu kommen. Es stimmt, daß sich jede Theorie auf eine gesellschaftliche Praxis hin zu orientieren hat. Aber die Praxis hinkt immer (bis menschenwürdige Verhältnisse durchgesetzt sind) meilenweit hinter Theorie und Erkenntnis her.
Praxis kann daher immer nur soetwas wie Feuerwehr und Notlösung sein. Etwa zu glauben - mit welchen Mitteln auch immer -, innerhalb dieses Systems menschenwürdige Verhältnisse herstellen zu können, verfehlt die Realität gänzlich. Was aber nicht heißt, gar nichts "tun" zu sollen. Man muß sich aber immerzu über den Stellenwert dieses Tun bewußt sein - und dieser kann nur der einer Feuerwehr sein. Im (zwischen)menschlichen Bereich verhält es sich genauso: Daß es Authentizität oder "echte" Gefühlsäußerungen gäben könne, ist nichts als Illusion.
Was der Linken aber gut täte, wäre, all das zwischenmenschliche Dilemma, dem keine/r entkommt, zu reflektieren und sich ganz bewußt auf "alternative (Not)Lösungen" einzulassen. Alternativ meint, dem herrschenden schweigenden Pragmatismus bezüglich zwischenmenschlicher (Nicht)Kommunikation Reflexionen und bewußte Entscheidungen entgegenzusetzen, denn nach der Umgangsform der siebziger Jahre, die oft den Charakter exhibitionistischen und voyeuristischen Seelenstriptease' hatte, ist Kommunikation zwischen Menschen heute mehr denn je von Angst voreinander geprägt. Authentizität, Offenheit, Nähe und Geborgenheit werden vom alle Menschen durchdringenden Konkurrenzprinzip und dem "liebenswürdigen" Schein untergraben. Aufmerksamkeit und Feinfühligkeit werden durch glänzende Fassaden ersetzt, die beeindrucken und beweisen müssen - daß ich besser bin als du.
All die das triste Dasein erträglicher machenden Fluchtmittel - sei es Esoterik, Spiritualität, schnelle Autos oder Konsumrausch - sollen nicht moralisch abgekanzelt werden. Es ist vielmehr notwendig, sie zu reflektieren, um zu wissen, was damit kompensiert wird, anstatt sie zu einer einlullenden Trostideologie und zu einer Ersatzrealität werden zu lassen.
All das ebenfalls in die theoretische Reflexion einzubeziehen stünde in der Linken dringend an. Offenheit, Sinnlichkeit, Solidarität (moralisch) einzufordern, ist jedoch müßig. Wir sollten aber genau hinsehen und eruieren, wie wir trotz Verdinglichung, Konkurrenz etc. einander wieder näherkommen können. Das Private ist insofern politisch, als es durch und durch systembedingt ist, und als es von gesellschaftlicher Bedeutung ist, wie das Private lebbar ist. Das Bedürfnis, nach der Thematisierung privater Fragestellungen ist ein authentisch progressives Anliegen; in aktueller linker Diskussion kommt es dabei allerdings oft zu Verkürzungen, in dem einfach die Aufhebung der Trennung von Privatem und Politischem eingeklagt wird.
Der Glaube eint Linke, EsoterikerInnen und "Wissenschaftsgläubige"
Die meisten Linken, auch solche, die überhaupt nichts mit Esoterik am Hut haben, sowie "wissenschaftsgläubige" Rationalisten sind weitgehend genauso dem Glauben verhaftet wie EsoterikerInnen und Spirituelle. Linke glauben an die Möglichkeit von menschenwürdigem Dasein innerhalb des Kapitalismus, wenn - wie sie betonen - "alle nur wollen täten". Oder sie glauben an die Durchsetzbarkeit von "Gerechtigkeit" per Gesetz. Sie glauben, menschenwürdige Verhältnisse wären eine Frage des subjektiven Wollens, eine Frage des Bewußtseins der Menschen. Sie erkennen nicht, daß diesem subjektiven Wollen die objektiven ökonomischen Verhältnisse entgegenstehen. Sie erkennen nicht, daß Ausbeutung von Mensch und Natur dem Kapitalismus immanent ist und immer immanent sein wird.
Auch alle Affirmatiker der Warenförmigkeit oder der wissenschaftlichen Rationalität spiegeln Gläubigkeit wider. Der Wert des Geldes existiert ja außer wegen des Gewaltmonopols des Staates auch, weil alle daran "glauben".
Die Wissenschaften können in unserem System ebenfalls nur die allgemeine Verblendung und Fetschisierung widerspiegeln (z.B. Soziologismus etc.) bzw. alle Ismen zeigen nur Mißstände auf (z.B. Feminismus).
Ziel können daher nur Analyse, Kritik sowie die Transformation von Demokratie, Rationalität, Wissenschaft und Ismen sein. Der Glaube, mit Spiritualität, mit einer neuen Welt-Ethik, mit Liebe oder Cyborgs menschliche Verhältnisse "nachhaltig" zu etablieren, gehört ins Reich der Mythen. Da Glaubensinhalte leicht gewechselt werden können, braucht es nicht zu verwundern, wenn ehemalige Linke heute der Marktwirtschaft huldigen, oder wenn viele ehemalige dogmatische Linke nunmehr zur Esoterik "konvertiert" sind. Ein Glaubensinhalt wurde einfach durch einen anderen ersetzt.
Anmerkungen
1 Rassismus ist die logische Zuspitzung von Demokratie und Marktwirtschaft. Das beste Beispiel dafür ist die Diskussion um die Sterbehilfe. Wurde von den Nazis das "Höherzüchten" der eigenen "Rasse" als staatliches Programm durchgesetzt, wird heute die sozialdarwinistische Selektion demokratisch neu organisiert: jeder sein eigener Staat. Es wird dem einzelnen überlassen - dem einzelnen Behinderten oder der zukünftigen Mutter eines möglicherweise behinderten Kindes oder dem einzelnen unheilbar Kranken - zu erkennen, daß es sich bei ihm selbst oder ihrem Kind um "unwertes" Leben handelt. Im Sinne des zu realisierenden Werts der Ware Arbeitskraft handelt es sich tatsächlich um unwertes Leben - nichts anderes zählt ja als der Wert. Die Vernichtung des "Wert-losen" wird nicht mehr autoritär durchgesetzt, sondern sollte von jedem einzelnen Betroffenen bejaht werden. Weiters: Nation und Staat sind per se rassistisch: Sie sind dazu da, um andere auszuschließen. Die Konsequenz, mit der Rassismus durchgesetzt wird, hängt von den je aktuellen ökonomischen Bedingungen ab. Es ist daher kein Zufall, daß der Kulminationspunkt des Rassismus mit der größten Krise in der Geschichte der Verwertung des Werts zusammenfällt. (Vgl. Gerhard Scheit: Der Führertyp der demokratischen Volksgemeinschaft, in "Weg und Ziel" 4/1998)
2 Maria Wölflingseder: Fetisch Weiblichkeit. Über die diffizilen Zusammenhänge zwischen spirituellem Ökofeminismus und rechter Ideologie, in: Renate Bitzan (Hg.): Rechte Frauen, Berlin 1997.
3 Vgl. Volkmar Lauber: Beherrschung oder Achtung: Grundhaltungen zur äußeren und inneren Natur; Margarete Maurer: Zum Politischen im Naturbezug der naturwissenschaftlichen Laborpraxis. Für eine Politik der Koproduktivität und des Dialogs; beide Beiträge in: "Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft" 2/1996 (Wien). Weiters: Die Referatsmanuskripte des Natursymposiums (14. und 15.11.1997 in Wien) insbesonders von Elisabeth List (Natur ist, was uns Leben läßt), Kathleen Höll (Das Organismus/Umwelt-Feld-Konzept in der Gestalttherapie), Eckhard Kanzow (Eine Aufforderung zum Tanz. Nachhaltigkeit - matrizentrische Werte - Natur - Leben), Elena Franzini (Die Natur als Lehrerin. Die innerer Natur des Menschen in Analogie zur Natur der Außenwelt).
Zitierte Literatur, bei der im Text die Quelle nicht genauer ausgewiesen ist:
*Franz Schandl: Fetisch Religion. Zur fundamentalen Kritik des scheinbar Unüberwindbaren, in: "Weg und Ziel" 5/1996, Wien. *Klaus Ottomeyer: New Age - verdiente Strafe für die Sünden der akademischen Psychologie, in: Eduard Gugenberger/ Roman Schweidlenka (Hg.): Mißbrauchte Sehnsüchte? Wien 1992. * Ernst Lohoff: Früchtchen des Zorns. Neonazismus und Subjektivität, in: Krisis (Hg.): Rosemaries Babies, Unkel/Rhein 1993. * Christoph Türcke: Denker der Zukunft. C. G. Jungs Archetypenlehre, in: Christoph Türcke: Gewalt und Tabu, Lüneburg 1992.
Ergänzende Literatur zu:
Rechtsextremismus/Haider:
Gerhard Scheit: Der Führertyp der demokratischen Volksgemeinschaft; Franz Schandl: Politisches Marodieren. Phänomenologie und Charakter der Haider-Bewegung; beide Beiträge in "Weg und Ziel" 4/1998.
Ökofeminismus:
Maria Wölflingseder: Fetisch Weiblichkeit. Über die diffizilen Zusammenhänge zwischen spirituellem Ökofeminismus und rechter Ideologie, in: Renate Bitzan (Hg.): Rechte Frauen, Berlin 1997. Gesellschaftliche Hintergründe der Esoterik/ Verfaßtheit des Individuums in der Gesellschaft, die zu Esoterik und Spiritualität führt: Maria Wölflingseder: Die Spirituellen, die aus der Kälte kamen, in: El Awadalla: Heimliches Wissen - unheimliche Macht. Sekten, Kulte, Esoterik und der rechte Rand, Wien/Bozen 1997.
Biologismus:
Maria Wölflingseder: Biologismus - "Natur als Politik". New Age und Neue Rechte als Vorreiter einer (wieder) etablierten Ideologie. In: Gero Fischer / Maria Wölflingseder (Hg.): Biologismus - Rassismus - Nationalismus. Rechte Ideologien im Vormarsch, Wien 1995. Maria Wölflingseder: Die Spirituellen, die aus der Kälte kamen, in: El Awadalla: Heimliches Wissen - unheimliche Macht. Sekten, Kulte, Esoterik und der rechte Rand, Wien/Bozen 1997. Maria WÖLFLINGSEDER, Dr. phil., hat Pädagogik und Psychologie studiert, seit Mitte der achtziger Jahre Arbeitsschwerpunkt: Esoterik- und Biologismus-Kritik; von 1991 bis 2000 Redaktionskoordinatorin der Zeitschrift "Weg und Ziel"; sie lebt in Wien.