Trotz aller Beteuerungen, daß der Erkenntnistheorie selbst durch ihre
"Reflexion auf das Bewußtsein und seine Formen" "ein Moment der
Täuschung innewohnt" 1) ist Adorno Erkenntnistheoretiker, wenn er die
Frage stellt, "ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit
zukomme" 2). Noch vor aller Antwort auf diese Frage setzt sich Adorno
mit ihr objektiv in die Nachfolge Kants und damit allen Einwänden aus,
die gegen die Kantische 'Kritik der reinen Vernunft' vorgebracht
wurden. Mit der Antwort, die Adorno auf die erkenntnistheoretische
Frage gibt, setzt er sich auch subjektiv in die Tradition Kants, dessen
"Block" zwischen dem erkennenden Subjekt und dem zu erkennenden Objekt
"ein Wahrheitsmoment" 3) habe. Als Kritiker der Objektivität des
Denkens ist Kant für Adorno eine Autorität. Eine kurze Darstellung der
Intention Kants sowie der Hegelschen Kritik daran, wird die Argumente
bieten, die gegen das erkenntnistheoretische Denken insgesamt
vorzubringen und insoweit auch für das Verständnis Adornos von
Bedeutung sind.
Gegen die in diesem Sinne behauptete Gemeinsamkeit von Adorno mit Kant
trifft der Einwand nicht, daß Adorno selbst die Erkenntnistheorie einer
"Metakritik" unterzogen habe, sich ihrer "Täuschung" und Aporien bewußt
sei, ja selbst die Hegelsche Kantkritik rezipiert und übernommen habe.
So sehr diese Hinweise stimmen mögen, zeigt doch allein der Umstand,
daß Adorno sich von seiner Kenntnisnahme der Kantkritik nicht dazu
bewegen ließ, auf die Frage nach der Objektivität des Denkens zu
verzichten, sondern daran festhielt, daß "der Philosophie ihr
Verhältnis zum Heterogenen geradezu thematisch ist" 4) eine
eigentümliche, dem Hegelschen Argument zuwiderlaufende Auffassung von
Kantkritik.
Mehr noch - in Teil 2 und Teil 3 dieses Kapitels wird versucht zu
zeigen, daß Adorno den erkenntnistheoretischen Zweifel gegenüber Kant
in einem entscheidenden Sinne radikalisiert und in seiner Metakritik
die Gewißheit des Denkens angreift, die es bei Kant immerhin noch gibt.
Es soll nachgewiesen werden, daß Adorno keinen neuen Beitrag zur Lösung
des von der Erkenntnistheorie besprochenen Problems leisten will,
sondern sein Ziel darin sieht, das Bewußtsein von der Aporie dieses
Denkens zu befördern und um der Aporie willen an ihm festzuhalten.
In der 'Vorrede zur zweiten Auflage' der 'Kritik der reinen Vernunft'
spricht Kant explizit den Grund seiner Untersuchung aus: Die Metaphysik
genügt dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit nicht. Kant ist soweit
Aufklärer und Parteigänger der Wissenschaft, daß er um ihretwillen ein
negatives Urteil über die Metaphysik fällt und nach Kriterien sucht,
denen das Denken genügen muß, um Allgemeinheit und Notwendigkeit
beanspruchen zu können:
"Der Metaphysik, ... ist das Schicksal bisher noch so günstig nicht
gewesen, daß sie den sicheren Gang einer Wissenschaft einzuschlagen
vermocht hätte; ... Denn in ihr gerät die Vernunft kontinuierlich ins
Stocken, selbst wenn sie diejenigen Gesetze, welche die gemeinste
Erfahrung bestätigt, (wie sie sich anmaßt) a priori einsehen will. In
ihr muß man unzählige Male den Weg zurück tun, weil man findet, daß er
dahin nicht führt, wo man hin will, und was die Einhelligkeit ihrer
Anhänger in Behauptungen betrifft, so ist sie noch so weit davon
entfernt, daß sie vielmehr ein Kampfplatz ist, der ganz eigentlich dazu
bestimmt zu sein scheint, seine Kräfte im Spielgefechte zu üben, auf
dem noch niemals irgendein Fechter sich auch den kleinsten Platz hat
erkämpfen und auf seinen Sieg einen dauerhaften Besitz gründen können.
Es ist also kein Zweifel, daß ihr Verfahren ein bloßes Herumtappen und,
was das Schlimmste ist, unter bloßen Begriffen gewesen sei." 5)
Auf den in der Metaphysik vorliegenden Verstoß gegen das
wissenschaftliche Denken wird Kant einerseits durch das endlose Suchen,
das nie zum Ziel führt, verwiesen, andererseits durch den in dieser
Disziplin herrschenden Pluralismus. Allerdings gelten ihm diese beiden
Phänomene nicht als Mangel an Wissenschaftlichkeit selber, sondern sie
indizieren lediglich den Mangel an objektivem, sicheren Wissen. 6) Kant
sucht, um "Metaphysik als Wissenschaft" möglich zu machen, nun das
Kriterium der Objektivität des Denkens. Allerdings kritisiert er dazu
die Gedanken der Metaphysiker nicht immanent, wie Hegel in seiner
Kritik der Gottesbeweise 7), sondern wählt gleich als Einstieg den
Vergleich mit den erfolgreichen Naturwissenschaften und der Mathematik.
Kein Wunder, daß Kant im Vergleich nun nicht mehr entdeckt, daß einmal
immanent stimmig gedacht wird, das andere Mal widersprüchlich. Auf den
Inhalt der Gedanken läßt er sich gar nicht ein und entdeckt nur, daß
sich Naturwissenschaften und Mathematik auf andere Gegenstände richten
als die Metaphysik. Aus dem Unterschied der Objekte des Denkens wird
nun die Differenz von zuverlässigem Denken und haltlosem Spekulieren
erschlossen. Kant meint, daß es seiner Prüfung des Denkens,
"... wenn sie zuvor ihr eigen Vermögen in Ansehung der Gegenstände, die
ihr in der Erfahrung vorkommen mögen, vollständig hat kennenlernen,
leicht werden muß, den Umfang und die Grenzen ihres über alle
Erfahrungsgrenzen versuchten Gebrauchs vollständig und sicher zu
bestimmen. " 8)
Diese Formulierung des Programms der Vernunftkritik zeichnet auch schon
ihre Durchführung vor: Kant formuliert über den Vergleich mit den
Naturwissenschaften das richtige und antidogmatische Prinzip der
Aufklärung, daß sich nur Wissenschaft nennen könne, was von der
Erfahrung ausgeht. Der Gebrauch des Erkenntnisvermögens in bezug auf
Gegenstände der Erfahrung steht außer Zweifel, und vor ihm hat sich der
überschießende Gebrauch des Erkenntnisvermögens zu verantworten. Wird
aber der Bezug, i.e. die Übereinstimmung mit Erfahrung das Kriterium
der Objektivität des Denkens, so bedeutet das nicht nur, daß damit die
Frage, ob Metaphysik als Wissenschaft möglich sei, negativ beantwortet
ist, sondern auch, daß die Leistungen der erfolgreichen Wissenschaften
einer neuen Interpretation bedürfen, da diese ja auch Gesetze
formulieren, Allgemeinheit und Notwendigkeit ihrer Objekte wissen, die
in der Erfahrung keineswegs gegeben sind. 9) Der Unterscheidung von
empirischem und transzendenten Vernunftgebrauch sowie der neuen
Interpretation der Wissenschaft einerseits und einer neuen
Statuszuweisung der alten unkritisierten metaphysischen Ideen
andererseits dient die 'Kritik der reinen Vernunft'. Denn seine
Ankündigung -
"... und es ist schon ein Verdienst um die Vernunft, diesen Weg wo
möglich ausfindig zu machen, sollte auch manches als vergeblich
aufgegeben werden müssen, was in dem ohne Überlegung vorgenommenen
Zweck enthalten war." 10) -
die Metaphysik aufzugeben, falls sie als Wissenschaft nicht möglich sein sollte, wollte Kant nicht wahrmachen.
Hegels Kritik an den erkenntnistheoretischen Grundzügen der Kantischen
Philosophie soll hier nur in ihrem allgemeinsten Prinzip referiert
werden. Allerdings nämlich verdankt sich jede rationale Philosophie
seither diesen grundsätzlichen Einwänden Hegels gegen Kant; mit ihnen
hat Hegel Maßstäbe gesetzt für alle Philosophie, die nach seinem Diktum
Wissenschaft zu sein habe. Er kritisiert immanent. Daß Kant eben dies
unterlassen hat, ist der erste Einwand Hegels gegen die Vernunftkritik,
die die Wahrheit von Gedanken zu prüfen beabsichtigte und sich auf
diese Gedanken dann gar nicht einließ:
"Die kritische Philosophie unterwirft nun den Wert der in der
Metaphysik - übrigens auch in den anderen Wissenschaften und im
gewöhnlichen Vorstellen - gebrauchten Verstandesbegriffe zunächst der
Untersuchung. Diese Kritik geht jedoch nicht auf den Inhalt und das
bestimmte Verhältnis dieser Denkbestimmungen selbst ein, ..." 11)
Dadurch nun, daß nicht die bestimmten Begriffe der Metaphysik
kritisiert wurden, war eine Kritik von Fehlern vom Standpunkt des
Denkens aus nicht möglich; statt dessen bezog sich die kritische
Betrachtung auf das Verhältnis des Denkens zur Wirklichkeit überhaupt.
"Die kritische Philosophie machte es sich dagegen zur Aufgabe, zu
untersuchen, inwieweit überhaupt die Formen des Denkens fähig seien,
zur Erkenntnis der Wahrheit zu verhelfen." 12)
Allein die Thematisierung dieses Verhältnisse des Denkens zur
Wirklichkeit überhaupt ist nun aber schon ein Widerspruch in sich. 13)
Denn den archimedischen Punkt jenseits des eigenen Denkens, von dem aus
man das Denken, sein Objekt und ihr Verhältnis begutachten könnte, gibt
es nicht. Das Denken kann von einer prinzipiellen Inkongruenz seiner
Formen und der begriffenen Objekte nichts wissen, wenn es diese
Inkongruenz denn gäbe; umgekehrt verhält es sich: erst ein Denken, das
sich von sich unterscheidet, außer sich tritt und von da aus seinen
Inhalt als bloß den seinen ansieht, schafft die Differenz zwischen dem
Gedachten und dem Denken. 14) Hegel weist darauf hin, daß als
mangelhaft nur gewußt werden kann, worüber das Denken hinaus ist, daß
also das Denken nicht einen prinzipiellen Mangel von sich wissen kann:
"Es ist darum die größte Inkonsequenz, einerseits zuzugeben, daß der
Verstand nur Erscheinungen erkennt, und andererseits dies Erkennen a1s
etwas Abso1utes zu behaupten, indem man sagt: das Erkennen könne nicht
weiter, dies sei die natürliche, absolute Schranke des menschlichen
Wissens. Die natürlichen Dinge sind beschränkt, und nur natürliche
Dinge sind sie, insofern sie nichts von ihrer allgemeine Schranke
wissen, insofern ihre Bestimmtheit nur eine Schranke für uns ist, nicht
für sie . Als Schranke, Mangel wird etwas nur gewußt, ja empfunden,
indem man zugleich darüber hinaus ist." 15)
Der Widerspruch der erkenntnistheoretischen Überlegung zerlegt sich
hier nach zwei Seiten. Einerseits ist die Erkenntnis des
Erkenntnisvermögens selber schon Erkenntnis, obwohl doch ihre
Sicherheit erst durch die ausstehende Prüfung gestiftet werden soll.
Indem Kant sich unbefangen an die Untersuchung des Erkenntnisvermögens
macht, widerlegt er den Inhalt eben dieser Untersuchung, daß die
Tauglichkeit des Erkenntnisvermögens vor der Erkenntnis ausgemacht sein
müsse.
"Man soll das Erkenntnisvermögen erkennen, ehe man erkennt; es ist
dasselbe wie mit dem Schwimmenwollen, ehe man ins Wasser geht. Die
Untersuchung des Erkenntnisvermögens ist selbst erkennend, kann nicht
zu dem kommen, zu was es kommen will, weil es selbst dies ist - nicht
zu sich kommen, weil es bei sich ist." 16)
Andererseits liegt im obigen Widerspruch auch die Behauptung einer
prinzipiellen Differenz von Erkenntnis und Erkenntnis des
Erkenntnisvermögens 17). Wenn diese die Vorbedingung jener ist, dann
ist sie selbst eben noch nicht Erkenntnis.
"Vor der Wissenschaft aber schon über das Erkennen ins reine kommen
wollen, heißt verlangen, daß es außerhalb derselben erörtert werden
sollte; außerha1b der Wissenschaft läßt sich dies wenigstens nicht auf
wissenschaftliche Weise ... bewerkstelligen." 18)
Nach dieser Seite hin wird ernst gemacht mit dem Widerspruch, daß das
Denken einen Standpunkt außer sich einnehmen muß, um eine irgendwie
geartete Beschränktheit seiner selbst behaupten zu können. Der
archimedische Punkt außerhalb der Wissenschaft, dem die Wissenschaft
und ihre Gedanken unterworfen werden sollen, obwohl doch das Bewußtsein
von der Welt kein anderes Wissen hat als das, was Inhalt des
Bewußtseins ist, ist nun zu bestimmen. Kant will das Erkenntnisvermögen
bestimmen - und zwar vor aller Erfahrung und aller Wissenschaft als
Konstitutionsbedingung derselben. Freilich kann Kant gar nicht so
apriorisch sein, wie er meint, es sein zu können und zu müssen. Denn
man mag gerne meinen, man habe etwas Prinzipielleres in der Hand, wenn
man ein Vermögen, eine Fähigkeit bestimmt, als ihre bloß faktische
Äußerung; tatsächlich wird auch dem Erkenntnistheoretiker vom Vermögen
der Erkenntnis nur Kunde durch die Äußerung desselben, und mehr als die
Äußerung, deren Bestimmungen er dann als die Bedingung ihrer eigenen
Möglichkeit fixiert, kennt er nie. 19)
Eine transzendentale Bestimmung der Bedingungen der Möglichkeit von
Erkenntnis kann also nur die Darstellung einer theoretischen Tätigkeit
nach ihren abstrakten Momenten sein, die Kant eben für die adäquate
Äußerung eines vorausgesetzten Vermögens hält. Als solche Tätigkeit
gelten ihm die Naturwissenschaften und die Mathematik, so daß er die
Gedanken, die wegen der Beschaffenheit der Natur in den entsprechenden
Wissenschaften vorkommen, zu den Formen des Denkens schlechthin
erklärt. Tatsächlich ist die Kantische Vernunftkritik also ein
"Aufzeigen der Metaphysik, der allgemeinen Begriffe von der Natur; dies
ist sehr eingeschränkt, auf Materie und Bewegung. Es ist der Versuch zu
denken, d. h. die Gedankenbestimmungen aufzuzeigen, deren Produkt
solche Vorstellungen wie Materie seien." 20) Mit diesem Dogmatismus der
Kategorien der Naturwissenschaft hat Kant nicht nur die Gegenstände
innerer Zweckmäßigkeit aus dem Bereich der objektiven Erkenntnis
ausgeschlossen, er hat durch die Besprechung der Erkenntnis als der
Äußerung einer subjektiven Kraft, die sich in bezug auf die Wahrnehmung
betätige, auch den Kategorien der Naturwissenschaft ihre Objektivität
abgesprochen. Qualität der Erfahrungswissenschaft ist eben die
Erfahrung, und alles, was in der Wissenschaft an Denken angetroffen
wird, das in der Erfahrung noch nicht gegeben ist, ist damit
"subjektive Zutat".
"Kant gibt nun sogleich von Haus aus zu, daß in der Wahrnehmung keine
Notwendigkeit und Allgemeinheit, nämlich in den äußeren Dingen selbst,
daß aber zugleich Notwendigkeit und Allgemeinheit doch vorhanden sind
in den Beispielen der Mathematik und Naturwissenschaft. Die Frage ist
nun: Wo sind sie zu finden? Daß wir die Allgemeinheit und
Notwendigkeit, als welches erst das Objektive ausmache, verlangen,
dieses Faktum läßt Kant stehen. Aber, sagt er dann gegen Hume, weil nun
Notwendigkeit und Allgemeinheit nicht in den äußeren Dingen ist, so
müssen sie a priori, d. h. in der Vernunft selbst liegen . . " 21)
"... so daß jene Allgemeinheit und Notwendigkeit doch zugleich nur eine
subjektive Bedingung des Erkennens ist, daß die Vernunft mit ihrer
Allgemeinheit und Notwendigkeit doch nicht zur Erkenntnis der Wahrheit
kommt." 21)
So zerlegt Kant jeden Gedanken "nach dem Gegensatz von Subjektivität
und Objektivität überhaupt" 23) nach objektivem Inhalt und subjektiver
Gedankenform, nach einzelnem Sinnesdatum und allgemeinem Gesetz, um
alles Denken, das über die Erfahrung hinausgeht, um sie zu erklären, zu
bloß subjektivem, wenn auch allen Menschen gemeinsamem Organisieren der
uns eben nur durch unsere Sinne und Kategorien gegebenen Erscheinungen
zu deklarieren. So ist die Skepsis in die Leistungsfähigkeit des
Denkens in der Tat der Dogmatismus der Gedankenformen der
Naturwissenschaft, genauer der Erfahrung. Die Kritik Kants kritisiert
die falschen Argumente, mit denen die alte Metaphysik über die
Erfahrung hinausging, gar nicht, sondern hält sie fest - unter neuer,
als bloß subjektiv festgelegter Bestimmung ihrer Geltung.
"Die Kantische Philosophie" verwirft das Richtige, auf das sie stößt,
nämlich die Untauglichkeit der Gedankenformen der Naturwissenschaft zur
Erkenntnis geistiger Gegenstände, "wieder als das Wahre, macht es zu
einem bloß subjektiven, weil sie einmal das endliche Erkennen als den
fixen letzten Standpunkt angenommen hat. Diese Philosophie hat der
Verstandesmetaphysik als einem objektiven Dogmatismus ein Ende gemacht,
in der Tat aber dieselbe nur in einen subjektiven Dogmatismus, d. i. in
ein Bewußtsein, in welchem dieselben endlich Verstandesbestimmungen
bestehen, übersetzt und die Frage nach dem, was an und für sich wahr
ist, aufgegeben." 24)
Zu diesem Verzicht auf die Wahrheit kommt Kant im Resultat seiner
Überlegung, in der er als Beurteiler der Erkenntnis sich von sich als
erkennenden Subjekt unterscheidet. Damit bestimmt er das, was später
"instrumentelles Denken" genannt worden ist. Indem der Denkende sein
Denken von sich unterscheidet und aus ihm heraustritt, um seine
Objektivität zu beurteilen, bestimmt er sich als ein Jenseits gegenüber
dem Inhalt seines Bewußtseins: Damit ist das Subjekt überhaupt nicht
mehr Subjekt der von ihm begriffenen Weit, sondern ein Abstraktum, das
leere "Ich der reinen Apperzeption". Zum anderen wird damit das gewußte
Objekt unterschieden von dem, was man über es weiß: Wie das Subjekt der
Erkenntnis ein leeres und jenseitiges wird, so auch das Objekt, das -
unterschieden vom Wissen über es - zum unerreichbaren "Ding an sich"
verflüchtigt wird. So wird schließlich und dies ist die instrumentelle
Vorstellung von Wissenschaft - die Erkenntnis, die ja nicht mehr das
Wissen der Dinge ist, zur bloß äußerlichen Mitte zweier inhaltsloser
Extreme, die niemals in Übereinstimmung miteinander gebracht werden
können, weil sie weder überhaupt einen noch zu überwindenden
Unterschied gegeneinander haben, noch dieser Unterschied, der ja bloß
ein gemeinter ist, den Grund abgeben könnte für einen Übergang. Das
Denken wird damit als ein Instrument vorgestellt, mit dem man sich die
Dinge für das eigene Bedürfnis zurechtbiegt, und das man zwischen sich
und das Objekt schiebt, wie den Hammer zwischen das Objekt der Arbeit
und die eigenen Gliedmaßen.
"Das Erkennen wird vorgestellt als ein Instrument, die Art und Weise,
wie wir uns der Wahrheit bemächtigen wollen; ehe man also an die
Wahrheit selbst gehen könne, müsse man zuerst die Natur, die Art des
Instruments erkennen. Es ist tätig, man müsse sehen, ob dies fähig sei,
das zu leisten, was gefordert wird - dem Gegenstand zu packen; man muß
wissen, was es an dem Gegenstand ändert, um diese Änderungen nicht mit
dem Bestimmungen des Gegenstands zu verwechseln. -
Es ist, als ob man mit Spießen und Stangen auf die Wahrheit losgehen könnte." 25)
Hegel bemerkt, daß dieser instrumentelle Begriff des Denkens das
Selbstbewußtsein eines Denkens ist, das sich die praktische Maxime der
Aufklärung zur theoretischen gemacht hat.
"Das letzte Resultat der Kantischen Philosophie ist die Aufklärung; ...
so sahen wir das negative sich bewegende Denken, den absoluten Begriff
in Frankreich in seiner Macht und auch in der Aufklärung so nach
Deutschland übergehen, daß alles Ding, alle Existenz, alles Tun und
Lassen etwas Nützliches sein sollte, d.h. eben das Ansich aufgehoben
und nur für ein anderes sein sollte; und dasjenige, für welches alles
sein sollte, ist der Mensch, das Selbstbewußtsein, aber als alle
Menschen überhaupt. Das Bewußtsein über dies Tun, eine abstrakte Weise,
ist die Kantische Philosophie." 26)
Alles als Mittel für den Menschen zu betrachten, es zu nehmen als das,
was es für mich ist, und zwar im Bewußtsein des Unterschieds zu dem,
was es an sich ist, diese Sichtweise raubt den Dingen der Erkenntnis
ihre Identität. Da werden alle Gegenstände mit den Kategorien bestimmt,
die für die Natur angemessen sind, weil diese an sich Mittel ist, weil
sie keinen Zweck für sich hat. Alles erscheint unter diesen Kategorien
als Ursache für anderes oder Folge, die von anderem bewirkt ist; alles
als Bedingung, Kraft, Möglichkeit (oder eben das Gegenteil davon) in
Bezug auf anderes, eben auf den Nutzen. Was die Dinge an und für sich,
d.h. außerhalb des benützenden Bezugs des Menschen auf sie sind, kommt
bei dieser Betrachtungsweise gar nicht in das Blickfeld. Dabei wäre
dies notwendig - und zwar gerade für den praktischen Nutzen. Wird eine
Sache nämlich nicht mehr an und für sich betrachtet, sondern vorweg -
durch die instrumentelle Betrachtungsweise - als nützlich genommen, so
liegt in diesem Dogmatismus des Nutzens im Denken das gerade Gegenteil
von Nutzen in der Praxis. Ob ein Ding oder ein gesellschaftliches
Verhältnis nämlich nütz1ich ist, muß unbefangen, also durch die
Betrachtung einer Sache nach dem, was sie an sich ist, entschieden
werden, sonst wird alles - auch das Ding oder Verhältnis, wo der Mensch
nicht der Benutzer ist, sondern der Ausgenützte - als Mittel
betrachtet. 27)
Nicht der allgemeine Wahlspruch schon der antiken Aufklärung: 'homo
mensura'! ist also falsch - und daher einer Dialektik der Aufklärung
unterworfen - sondern sein Mißverständnis. Während er in der Praxis
immer richtig verstanden wurde, nämlich in dem Sinne, daß das Maß des
menschlichen Tun in seinem Zweck und das Maß der Mittel in der
Tauglichkeit für diesen zu liegen habe, wird er in der Wissenschaft zum
Fehler, nämlich zum Dogma, sobald in der Theorie das Maß der Praxis zur
Richtschnur wird. In der Theorie kann der berühmte 'homo mensura'-Satz
nur den richtigen Sinn haben, daß in ihr allein ihre Kriterien Geltung
haben sollten; und soweit Kant formell bleibt, vertritt er in diesen
Sinn die richtige Seite der Aufklärung:
"Der Standpunkt der Kantischen Philosophie ist, daß das Denken durch
sein Räsonnement dahin kam, sich in sich selbst als absolut und
konkret, als frei, Letztes zu erfassen. Es faßte sich als solches, daß
es in sich Alles in Allem sei. Für seine Autorität ist nichts Äußeres
Autorität; alle Autorität kann nur durch das Denken gelten." 28)
Adorno kann sich in seiner Kritik des "naiven", des "ungebrochenen
Denkens" auf alle Fehler von Kant berufen, freilich nicht auf seine
Leistung. Immerhin hatte Kant für Wissenschaftlichkeit in der
Behandlung der metaphysischen Gegenstände gesprochen, in einer Zeit, da
die Kritik der von Hegel "Verstandesmetaphysik" genannten
scholastischen Bestimmungen des Geistigen mittels Kategorien der Natur
(wie Ausdehnung, Dauer und Dinglichkeit) anstand. Adorno dagegen findet
eine richtige Naturwissenschaft und im Pluralismus der
Geisteswissenschaften wenigstens eine richtige Theorie der Gesellschaft
vor. Ohne sich aber auf diese einzulassen 29) kritisiert er das Denken
schlechthin, wobei er die Naturwissenschaft im Gegensatz zu Kant
durchaus in seinen Skeptizismus einschließt.
Er hat historisch nicht die Probleme Kants vor sich, wohl aber dessen
Leistung, sowie die Kritik Hegels daran. Adorno leistet sich in bezug
darauf - und zu welchem Zweck, wird noch zu zeigen sein - das Paradox,
das Selbstbewußtsein von Kants Fehler sein zu wollen und doch an ihm
festzuhalten. Er übernimmt von Hegel die Charakterisierung des
Instrumentalismus, gibt aber nicht zu, in der Kritik des
Instrumentalismus über ihn hinauszusein, sondern behauptet ihn selbst
gegen sein eigenes Bewußtsein als Notwendigkeit des Denkens. Während
Kant durch seine Bestimmung der Erfahrung als des Rechtsgrundes der
Wissenschaft dazu kam, jeden Gedanken "nach dem Gegensatz von
Objektivität und Subjektivität überhaupt" auseinanderzunehmen, beginnt
Adorno mit dieser Trennung und kommt nie über sie hinaus. Die
Argumente, die er dafür vorträgt, reproduzieren den damit verbundenen
Widerspruch und gleiten bisweilen ins Skurrile ab. 30)
Die allgemeinste Formulierung für die notwendige "Äußerlichkeit" des
Erkennens ist die oft formulierte Behauptung, "daß die Gegenstände in
ihrem Begriff nicht aufgehen." 31) Nun leben derartige Sätze von einem
Unterschied des Formellen und des Inhaltlichen im Denken; würden diese
beiden Seiten nicht unterschieden und in eins gesetzt, dann erschienen
derartige Sätze albern. Daß also ein formeller Unterschied zwischen dem
Denken und seinem Objekt besteht, daß ein Gedanke nie zum gedachten
Objekt wird, sollte keiner Erwähnung bedürfen. Auf der anderen Seite
besteht inhaltlich keine Differenz zwischen den Bestimmungen des
Objekts, die dieses wirklich charakterisieren, und den Bestimmungen,
die sich das Denken vom Objekt erarbeitet. Adorno aber betont
ausdrücklich, daß eine Theorie nicht der Gegenstand sei, den sie
erklärt.
"Denken ist dem eigenen Sinn nach Denken von etwas. Noch in der
logischen Abstraktionsform des Etwas, als eines Gemeinten oder
Geurteilten, die von sich aus kein Seiendes zu setzen behauptet, lebt
untilgbar dem Denken, das es tilgen möchte, dessen Nichtidentisches,
das, was nicht Denken ist, nach. Ratio wird irrational, wo sie das
vergißt, ihre Ergebnisse, die Abstraktionen, wider den Sinn von Denken
hypostasiert." 32)
Adorno meint hiermit Hegel zu treffen, aber er kritisiert nur sein
eigenes Mißverständnis. 33) Denn Hegel war sich erstens völlig sicher,
daß die Erkenntnis von der Erfahrung auszugehen habe, also ein
vorausgesetztes, gegebenes Ding zu erkennen habe, 34) und verwechselte
auch niemals den objektiven Inhalt des Gedankens mit dem Objekt, wenn
er betonte, daß erst in der Form des Gedankens, also im Hinausgehen
über die Zufälligkeit und Einzelheit der Erfahrung, die wahre Natur der
Dinge gewußt werde:
"Die ältere Metaphysik hatte in dieser Rücksicht einen höheren Begriff
von dem Denken, als in der neueren Zeit gang und gäb geworden ist. Jene
legte nämlich zugrunde, daß das, was durchs Denken von und an den
Dingen erkannt werde, das allein an ihnen wahrhaft Wahre sei, somit
nicht sie in ihrer Unmittelbarkeit, sondern sie erst in die Form des
Denkens erhoben, als Gedachte. Diese Metaphysik hielt somit dafür, daß
das Denken und die Bestimmungen des Denkens nicht ein den Gegenständen
Fremdes, sondern vielmehr deren Wesen sei, oder daß die Dinge und das
Denken derselben an und für sich übereinstimmen, daß das Denken in
seinen immanenten Bestimmungen und die wahrhafte Natur der Dinge ein
und derselbe Inhalt sei. " 35)
Zweitens beweist auch der von Adorno geltend gemachte Umstand, daß
Hegel mit falschen Argumenten die bürgerliche Gesellschaft als die
notwendige Organisation der Freiheit ansah, nicht eine "Tilgung des
Objekts" durch das Denken desselben, sondern eben ein falsches Argument
- das keineswegs Anlaß gibt, dem Denken, das "bewußtlos seinem
Bewegungsgesetz folgt" und sich nach Adorno eben dadurch "wider seinen
Sinn, das vom Gedanken Gedachte" 36) wendet, Einhalt zu gebieten und,
statt das Argument inhaltlich zu kritisieren, ihm vorzuwerfen, es habe
keinen Inhalt mehr, weil das Denken sich nunmehr selber zum Gegenstand
hat:
"Das Gebot seiner Autarkie verurteilt es zur Leere." "... unterm Gebot
ihres (der Philosophie; der Verf.) Sekuritätsprinzips (wird sie)
analytisch, potentiell zur Tautologie. " 37)
Allerdings beruht die nachdrückliche Betonung der formellen Differenz
von Denken und seinem Objekt, die Adorno bei Hegel verletzt sieht,
darauf, daß Adorno überhaupt und damit auch eine inhaltliche Differenz
einer Sache und ihres Begriffs behaupten möchte. Hieß es bei ihm
zunächst, daß die Sache in ihrem Begriff nicht aufgebe, war da also
noch die Erinnerung an die formelle Differenz möglich, so heißt es
später:
"Hybris ist, daß Identität sei, daß die Sache an sich ihrem Begriff entspreche." 38)
Hier ist sicherlich nicht mehr an die formelle Differenz von Denken und
Gegenstand gedacht, hier spricht Adorno wirklich den Widerspruch aus,
einer Sache widerspreche ihr Begriff. Er sagt aber nun nicht, daß der
Begriff, der da gegeben worden sei, nicht der der Sache sei, sondern
daß er sowohl der der Sache sei, also ihr entspreche, als auch ihr
zugleich nicht entspreche. Adorno behauptet, er wisse noch etwas von
der Sache, was in ihrem Begriff nicht gewußt wird, könne es aber nicht
sagen:
"Darin liegt bereits, daß in der Philosophie selbst, wenn sie nicht bei
dieser Paradoxie stehenbleiben will, das eigentlich nicht zu Sagende zu
sagen, das Moment des sich fortbewegenden, des weitertreibenden, des
sich entfaltenden Widerspruchs angelegt ist; und dieser Widerspruch
liegt in ihrem Impuls, in dem, was sie selbst will, nämlich mit dem
Begriff das Nichtbegriffliche zu treffen, mit der Sprache das nicht
durch Sprache zu Sagende zu sagen " 39)
Ironisch könnte man feststellen, daß Adorno hier den Charakter seines
"weitertreibenden Widerspruchs" schön zur Darstellung gebracht hat: Am
Ende ist die Leistung der Philosophie exakt die gleiche "Paradoxie",
bei der man am Anfang nicht "stehenbleiben" durfte. Der Fortschritt
dieser Art, der in der bloßen Wiederholung des Ausgangspunktes besteht,
ist freilich nötig angesichts dieses Gedankens. Adorno behauptet, etwas
von der Sache zu wissen, was nicht in Begriffe zu fassen sei; 40) er
darf es also auch nicht sagen können, denn könnte er es, dann hätte er
seinen Ausgangspunkt widerlegt; ließe er aber den Versuch, zu sagen was
nicht zusagen ist, dann hätte er im Sinne Hegels seinen Ausgangspunkt -
nämlich das Nichtige oder nichts zu sagen - für belanglos erklärt.
Adorno muß also eine andere Weise des erkennenden Bezugs zu den Dingen
behaupten als die Erkenntnis, auch wenn er selbst sagt:
"Denken vollends hütet eine Quellen, deren Frische es vom Denken befreite." 41)
Er nennt diese Quellen auch - und zwar unter den Namen einer
"unreglementierten Erfahrung", einer "kategorialen Anschauung", des
"somatischen Moments des Denkens", kurz des "Leidens" - davon unten.
Im Bereich des Denkens aber argumentiert er für die Nichtidentität von
Begriff und dem mit ihm Begriffenem wiederum mit dem Selbstbewußtsein
des kantischen Fehlers: Er betrachtet das Verhältnis von Subjekt und
Objekt der Erkenntnis explizit nicht inhaltlich, sondern formell; d.h.
"nach dem Gegensatz von Subjektivität und Objektivität überhaupt".
Während sich das Erkenntnissubjekt im Denken das Objekt bekannt macht,
sich insofern mit ihm identisch setzt, daß es seine Bestimmungen zum
Inhalt der Gedanken macht, sieht Adorno nur die Form des Verhältnisses.
In diesem gibt es - denn das ist der Begriff eines Verhältnisses - zwei
Extreme, die jedenfalls nicht von vornherein ein und dasselbe sind
(sonst wäre ein Verhältnis nämlich sinnlos wie das A = A der modernen
Logik). Andererseits gibt es in jedem Verhältnis, was es auch sei,
einen Punkt der Identität; denn ohne den Punkt der Berührung gäbe es
ebenfalls kein Verhältnis. Adorno hat nun eine Methode entwickelt, die
es ihm erlaubt, den Inhalt des Verhältnisses, das das Denken darstellt,
völlig zu ignorieren und endlos die Momente der Verschiedenheit gegen
die Identität, sowie die Pole gegeneinander und gegen das Verhältnis
auszuspielen. Er nennt dieses Verfahren "reziproke Kritik"; eine
Bezeichnung, die trifft, weil gegen jede Seite des Verhältnisses der
Standpunkt der jeweils anderen eingenommen wird.
"Reziproke Kritik von Allgemeinem und Besonderem, identifizierende
Akte, die darüber urteilen, ob der Begriff dem Befaßten Gerechtigkeit
widerfahren läßt, und ob das Besondere seinen Begriff auch erfüllt,
sind das Medium des Denkens der Nichtidentität von Besonderem und
Begriff." 42)
Auch mit dieser Charakterisierung ist Adorno sehr offen: Reziproke
Kritik ist das "Medium des Denkens der Nichtidentität", das es sich
dank der Wahl des geeigneten Mediums sehr leicht machen kann; es findet
immer nur, was es schon wußte: die Nichtidentität von Begriff und
Befaßtem, von Besonderem und Allgemeinem, was das erstgenannte
Verhältnis nur innerhalb der Denkbestimmungen ausspricht. Vom
Standpunkt des Besonderen ist das Allgemeine nichtidentisch, denn es
ist allgemein und nicht besonders. Vom Standpunkt des Allgemeinen aus
ist das Besondere natürlich nicht allgemein. Adorno würde das Urteil:
"Adorno ist ein Philosoph!" nicht daraufhin befragen, ob es stimmt -
denn dazu müßte man klären, was einen Philosophen auszeichnet, und dann
nachsehen, ob diese Bestimmungen auf Adorno zutreffen -; er gäbe zu
bedenken, ob die allgemeine Bestimmung 'Philosoph' nicht zu allgemein
für das Individuum Adorno sei, und ob das Individuum nicht zu besonders
für die Abstraktion 'Philosoph'. Während das Urteil noch eine richtige
oder falsche allgemeine Bestimmung, die gerade die Einzelheit 'Adorno'
charakterisiert, behauptet, kritisiert Adorno die Allgemeinheit als
Nicht-Besonderheit und vice versa. Er wendet die Pole des Verhältnisses
gegen den Inhalt desselben und beharrt damit gegen die
Erkenntnisleistung auf ihrem Ausgangspunkt: dem Subjekt, das die
Gesetze der Sache noch nicht kennt, sowie dem noch unbegriffenen Objekt.
Diesen Standpunkt der prinzipiellen Äußerlichkeit von allgemeinen
Bestimmungen und dem einzelnen Gegenstand der Erkenntnis 34) teilt
Adorno wieder mit Kant, von dessen Philosophie Hegel sagt: "Zur
Bestimmung der Einzelheit bringt sie es nicht." 44)
Diese ihre Unfähigkeit, das Einzelne in seiner Notwendigkeit und damit
nach seiner Allgemeinheit zu bestimmen, hält die Kantische Philosophie
als Mangel allen Denkens fest, über den nicht hinauszugehen versucht
werden dürfe:
"Ich als Vernunft, Vorstellung, und draußen die Dinge; beide sind
schlechthin Andere gegeneinander, und das ist der letzte Standpunkt.
Das Tier bleibt nicht auf diesem Standpunkt stehen, bringt praktisch
die Einheit hervor." 45)
Zugleich aber geht Adorno in seiner Kritik des "abstrakt Allgemeinen"
entschieden Ober Kant hinaus und begibt sich erst mit diesem Schritt in
die für seine Philosophie charakteristische schier unauflösliche
Verwirrung. Er hat als Kategorie des Denkens, die das "abstrakt
Allgemeine" kennzeichnen soll, die der Identität gewählt und damit das
als problematisch angesehene Verhältnis von Denken und seinem Objekt im
Kantischen Sinne beschrieben, zugleich aber auch noch mehr behauptet.
Während Kant streng und konsequent daran festhielt, daß das Denken b1oß
subjektiv sei, sich also Aussagen über das Wesen der Dinge, das
"Ding-an-sich" verböten, argumentiert Adorno auf einmal mit der
Sicherheit der bloßen Subjektivität des Denkens über das Wesen der
Dinge - und verwendet "Identität" dabei in einem doppelten Sinne.
Identität heißt ja eigentlich nur, daß zwei von vornherein nicht
zusammenfallende Seiten ein und denselben Inha1t haben. Im Bezug auf
das Denken bedeutet dies, daß das Subjekt, dem das Erkenntnisobjekt vor
der Arbeit der Erkenntnis notwendigerweise ein noch unbekanntes ist,
dessen Bestimmungen das Subjekt also noch nicht weiß, sich die
Prädikate des Objekts erarbeitet und damit eine Identität der
objektiven Bestimmungen der Sache und des Inhalts seines Bewußtseins
schafft. Damit weiß das Subjekt dann - und das ist die zweite in diesem
Zusammenhang wichtige Bedeutung des Terminus - die Identität der Sache,
d.h. das, was sie insgesamt ausmacht, oder die Einheit ihrer
mannigfaltigen Eigenschaften. Adorno schließt nun von der Gewißheit
dessen, daß die Identität der Erkenntnis - also die zwischen
Erkenntnissubjekt und -objekt - nicht gegeben sei, darauf, daß die
Dinge in der Tat und jenseits des erkennenden Bezugs auf sie nicht mit
sich identisch seien, d.h. daß sie die eine und wesentliche Bestimmung
der Objekte, Bestimmtes und Einzelnes zu sein, gar nicht an sich hätten:
Die Nichtidentität des Denkens mit der Sache wird belegt mit dem Wissen
um falsche Wissenschaft und Philosophie, als ob ein Fehler nicht im
Gegenteil das Richtige unterstellen würde und niemals ein Argument für
die Unmöglichkeit objektiver Erkenntnis sein kann:
"nachdem Philosophie das Versprechen, sie sei eins mit der Wirklichkeit
... brach, ist sie genötigt, sich selber rücksichtslos zu kritisieren."
46)
Diese Kritik führt dazu, daß
"Der unnaive Gedanke weiß, wie wenig er ans Gedachte heranreicht... " 47)
Da nun Identität von Subjekt und Objekt in der Erkenntnis nur die sich
selbst überschätzende Leistung des menschlichen Denkens sei, meint er
die Identität der Sache mit sich se1bst als bloße Einbildung des
Subjekts
von der Sache subtrahieren zu dürfen:
"Reine Identität ist das vom Subjekt gesetzte, insofern von außen Herangebrachte." 48)
Er bemerkt weder, daß er hier von Identität in einem anderen Sinne
spricht, daß der Schluß von - nennen wir sie einmal so - "Identität 1"
auf "Identität 2" gar nicht möglich ist, noch daß er mit der Identität
der Sache mit sich, von der Kant immer ausging, weil sie tatsächlich
schon die Gewißheit der Wahrnehmung ist, hinter die das Denken nicht
zurückkann, ohne seine vollständige Haltlosigkeit darzutun, jeder
Aussage über Dinge den Boden entzieht; schließlich, entgeht ihm auch,
daß er mit der Behauptung über das Wesen der Dinge, genauer ihr
Unwesen, explizit gegen seine eigene erkenntnistheoretische Behauptung
über die Unmöglichkeit der "Identität 1" verstößt.
Adorno weiß nun also gewiß, daß die Dinge an sich keine Bestimmtheit
und Einheit aufweisen, daß dies vielmehr vom Denken an diese
hinprojiziert wird:
"Der Begriff an sich hypostasiert, vor allem Inhalt, seine eigene Form
gegenüber den Inhalten. Aber schon damit das Identitätsprinzip: daß ein
Sachverhalt an sich, als Festes, Beständiges sei, was lediglich
denk-praktisch postuliert wird. Identifizierendes Denken
vergegenständlicht durch die logische Identität des Begriffs." 49)
Jedoch meint er damit nicht eine besondere, etwa gar gegen das Denken
und seine Gesetze verstoßende Art des Denkens, sondern Denken überhaupt:
"der Schein von Identität wohnt jedoch dem Denken selber seiner puren Form nach inne." 50)
Also:
"Identität ist die Urform von Ideologie." 51) - und demnach Denken Ideologie:
"Ideologie dankt ihre Resistenzkraft gegen Aufklärung der Komplizität
mit dem identifizierenden Denken: mit Denken überhaupt." 52)
Als Erkenntnistheoretiker verhält sich Adorno außerordentlich
inkonsequent. Einerseits will er nur, wie Kant, den "Bruch von Subjekt
und Objekt, dem Subjekt unentrinnbar 52) ins Bewußtsein rufen, also
nicht das Denken selber, sondern nur das Selbstbewußtsein desselben,
also die Meinung, die von dessen Leistung herrscht, kritisieren und
ändern. Von Kants diesbezüglicher Leistung hat Hegel bemerkt, sie habe
den Gang der Wissenschaft nicht berührt, weder habe sie falsche
Argumente kritisiert und damit aus der Welt geschafft, noch habe sie
richtige verhindert: Bekenntnisse zu Kant und dazu, daß man
selbstverständlich nur von Erscheinungen und nicht von den Dingen an
sich wissen könne, seien den Vorwörtern vorbehalten geblieben, die
Theorien selbst blieben von Kant unberührt. 54) Darüber hinaus aber
weiß Adorno sehr wohl vom Wesen der Dinge, ist also selbst über den
"unentrinnbaren Bruch" erhaben, vergleicht dieses Wesen der Dinge mit
dem Wissen, das das Denken über sie zustande bringt, und kommt zu dem
Schluß, Denken selber, gleich welcher Richtung oder Methode, sei
Ideologie, treffe nicht das Wesen der Dinge, weil das Subjekt es mit
sich bekannt macht und dadurch mit sich selber identisch. Die Identität
der Dinge mit sich - dies, wie schon erwähnt, die abstrakteste
Formulierung von 'etwas' - erscheint ihm, weil nur der erkennende
Mensch diese Identität weiß, als Werk des Menschen; und weil er im Werk
des Menschen per se die Nichtidentität der Sache sieht, betrachtet er
alle Erkenntnis als äußerliche Subsumtion unter Allgemeinheiten, die
nicht diejenigen der Sache sind. Auch hier besteht der besondere Fehler
Adornos wieder darin, der an der Hegelschen Kantkritik geschulte und
dadurch der radikalere, konsequentere Kantianer zu sein: Während Kant
den Instrumentalismus predigte, um Wissenschaft von Spekulation
abzugrenzen, und Hegel sehr deutlich - nämlich durch die Wahl Zweier
Kapitel in der großen Logik - Teleologie, die praktische Setzung und
Durchsetzung von Zwecken gegenüber Mitteln, vom Erkennen unterschied,
setzt Adorno beides explizit gleich und hält dafür, daß es einerseits
auch gar nicht anders sein könne, daß andererseits dies aber gerade das
Verhängnis der Moderne sei, weshalb "losgelassene Rationalität
irrational" 55) werde und gebremst werden müsse. Die Differenz zwischen
der Teleologie und dem Erkennen besteht bei Hegel darin, daß sich das
Erkennen gegen das Objekt passiv verhält, daß es dessen allgemeine
Bestimmung ihm abgewinnt, bei der Teleologie dagegen das Subjekt sich
aktiv gegen das Objekt verhält und ihm eine allgemeine Bestimmung, die
nicht in ihm, sondern im Subjekt liegt, durch praktische Tätigkeit
aufherrscht; ein Mittel wird benutzt, wozu es dem Menschen beliebt -
sofern es dazu taugt - und daß es dabei vernichtet, verbraucht wird,
zeigt noch die Wahrheit des Zwecks. Durch eine Herleitung des Denkens
aus dem, was noch nicht Denken ist, setzt Adorno Teleologie und
Erkennen gleich und behauptet damit, daß allgemeine Bestimmungen
überhaupt äußerlich und damit Nützlichkeitsgesichtspunkte sein müßten:
mit dieser Gleichsetzung versucht Adorno zu zeigen, daß wie ein
Herrscher 56) seinen Sklaven, so "das Denken dem, woran es seine
Synthesen übt, Gewalt antut." 57)
Die systematische Darstellung eines erkannten Gegenstands, die sich
eben als Resultat der Forschung einstellt, so daß dann alle Momente der
Sache so zusammenpassen, daß es "aussehen mag, als habe man es mit
einer Konstruktion a priori zu tun", 58) erscheint Adorno, gerade weil
alles zu - für Adorno 'unter' - seinen abstrakten Begriff paßt, als der
"Geist gewordene Bauch". 59)
"Das System, in dem der souveräne Geist sich verklärt wähnte, hat seine
Urgeschichte im Vergeistigen, dem animalischen Leben der Gattung." 60)
So sehr es stimmt, daß der Mensch im biologischen Sinne zuerst gelebt
und seinen Bauch gefüllt hat und erst später zu denken begann, so wenig
fällt Adorno auf, daß gerade eine Urgeschichte im Vergeistigen über das
Geistige, das es ja noch gar nicht gewesen ist, nichts auszusagen
vermag. Aber Adorno will Gewalt, Bauch und Fressen als die Attribute
auch des heutigen Denkens bestimmen und nimmt dafür Argumente der
Psychologie zur Hand, die stets und ohne Schwierigkeiten dazu taugen,
alles, was der kultivierte Mensch tut und was der Wilde noch nicht
konnte, als eine "sublimierte Art" dessen darzustellen, was der Wilde
tat.
"Beim Fortschritt zur Humanität wird das rationalisiert durch Projektion.
Das animal rationale, das Appetit auf seinen Gegner hat, muß, bereits
glücklicher Besitzer eines Überichs, einen Grund finden. ... Das zu
fressende Lebewesen muß böse sein. Dies anthropologische Schema hat
sich sublimiert bis in die Erkenntnistheorie hinein. Im Idealismus - am
ausdrücklichsten bei Fichte - waltet bewußtlos die Ideologie, das
Nichtich, l'autrui, schließlich alles an Natur Mahnende sei
minderwertig, damit die Einheit des sich selbst erhaltenden Gedankens
getrost es verschlingen darf." 61)
Adornos Argumente für den instrumentellen, also die Objekte der
Erkenntnis vergewaltigenden Charakter des Denkens sind schlecht - sie
leben von dem falschen Vergleich von Theorie und Praxis, von der
Gleichsetzung des theoretischen und des praktischen "Sicheinverleibens"
einer Sache. 62) Aber es geht nicht nur darum, die Qualität und
Stringenz der Argumente zu prüfen; hierin hat Adorno dem Kritiker die
Arbeit ohnehin leicht gemacht. Es geht darum zu klären, was Adorno
meint was ihn wirklich bewegt, wenn er das Denken schlechthin zu einer
Untat gegen das Objekt erklärt.
Exkurs: Instrumentalismus in der Geisteswissenschaft
Als die Voraussetzung seiner Kritik des wissenschaftlichen Denkens muß
man Adorno zugestehen, daß er tatsächlich mit dem instrumentellen
Denken ausgiebig, wenn nicht ausschließlich konfrontiert war. So sehr
man aber auch einräumen mag, daß das instrumentelle Denken die
allgemeine Form der modernen Wissenschaft darstellt, so wenig ist damit
anerkannt, daß sie auch die notwendige Form desselben sei - mehr noch,
dem Hegelschen "Grenzen"-Argument von oben zufolge ist mit der
Erkenntnis des instrumentellen Charakters des Denkens es selber ja
überwunden.
Wie Max Horkheimer 63) hat Adorno zunächst einmal die klassische
Metaphysik im Auge, die instrumentell insofern verfährt, als sie
allgemeinste Subjekte (wie Gott, Weltgeist, Leben), Substanzen (Geist,
Materie) oder Zwecke (die moderne Form des Weltgeistes: Fortschritt) in
die Welt setzt und alle wirklichen Dinge und Ereignisse unter diese
Abstraktionen von den wirklichen Subjekten, Zwecken und Mächten
subsumiert. Mit dieser Subsumtion interpretiert sie dann alles
Wirkliche als "Erscheinung", "Emanation" oder einfach als Mittel der
"höheren Zwecke' und Subjekte. Damit bringt die Metaphysik, von welcher
Provenienz sie immer sei 64), Einheit (weil alles unter ein Prinzip
paßt) Harmonie (weil alles zusammenpaßt) und wenn schon nicht für die
wirklichen, dann für das gedachte abstrakte Subjekt Nutzen in die Welt
- sie legitimiert so die Wirklichkeit. Hier ist Adornos
Charakterisierung des Denkens berechtigt: hier werden wirklich
Phänomene unter ihnen fremde Abstraktionen, unter "abstrakt Allgemeines
subsumiert" 65) und wie die Formulierungen Adornos alle heißen.
Freilich ist der Metaphysik - wie jeder anderen Theorie - nicht einfach
ihre Absicht - mag sie auch die einer "Versöhnung des zerrissenen
Weltzustands im Bewußtsein" sein - und auch nicht schlicht ihr Resultat
- die Vorspiegelung, die Welt sei gerade als Werkzeug höherer Zwecke in
Ordnung - vorzuwerfen, sondern ihr Argument: der Vorwurf der
äußerlichen Allgemeinheit will nachgewiesen sein. Dieser Nachweis
bestünde etwa darin, daß der Inhalt dieser Abstraktionen untersucht
würde, dann fände man heraus, daß sie so universal gewählt sein müssen,
daß alles unter sie paßt, weil nichts mehr durch sie charakterisiert
wird. 66) Jenseitig sind diese ausgedachten Substanzen und Subjekte
darin gegen alle wirklichen und deshalb auch wirkungslos gegen diese -
nichtig. Adorno aber macht kaum Absätze dazu, dieses Verfahren der
Metaphysik einer Analyse zu unterziehen - hätte er es gemacht, dann
wäre er nicht darauf gekommen, diese Fehler mit dem Denken schlechthin
zu verwechseln. So weniger sich mit den immanenten Argumenten der
Philosophiekollegen beschäftigt, so wenig tut er es mit den
geisteswissenschaftlichen Einzeldisziplinen, die zurecht als Erben der
Philosophie - und zwar in ihrem Fehler - gelten dürfen. Auch sie
betrachten alles als Mittel des Menschen - auch den Krieg oder das
Zuchthaus. Sie konstruieren Zwecke, die nicht diejenigen der jeweiligen
Institutionen sind, als deren mehr oder weniger geglückte Realisierung
sie dann aber diese Institutionen betrachten. Bei diesem, schon oben
eingeführten Dogmatismus des Nutzens kommen dann natürlich lauter neue
nützliche Momente der Dinge zum Vorschein. Wenn die Soziologie z.B.
unsere kapitalistische Wirtschaftsform als eine Gesellschaft bestimmt,
dann subsumiert sie, anstatt, wie es sich für die Wissenschaft gehört,
das noch zu bestimmende Subjekt des Satzes durch das Prädikat näher zu
charakterisieren, das zu bestimmende Subjekt unter das noch
unbestimmtere Abstraktum desselben. Anstatt also eine Definition mit
"genus proximum" und "differentia specifica" zu geben, präsentiert sie
das "genus proximum" als spezifische Besonderheit. Die Fortentwicklung
des Urteils findet dann bei soziologischen Untersuchungen auch nicht
auf der Seite des bestimmteren Satzsubjekts statt (i.e. Bestimmung des
'kapitalistischen'), sondern auf der Seite des unbestimmteren Prädikats
67): Gesellschaft ist ein System, in dem alles Funktionen für alles
andere übernimmt. Kurzum, die Definitionen der Gesellschaft sind
zumeist wissenschaftliche Fassungen der schon im Altertum bekannten
Fabel des Mennenius Agrippa von dem Magen und den Gliedern. Die
Gesellschaft ist also nützlich mit allem, was sie dem Individuum
abverlangt, weil es sie gibt und dem Individuum die Einsamkeit erspart:
Sie ist das Mittel der Verhinderung ihrer Abwesenheit 68). Gleiche
instrumentelle Urteile fällen Ökonomen über ihren Gegenstand, wenn sie
das Geld als Mittel zur Verhinderung der Schwierigkeiten des
Naturaltauschs bestimmen. 69) Der Vergleich ist nämlich fiktiv: Der
wirkliche Naturaltausch war, wie sein Name schon sagt, einer, der Geld
weder gekannt, noch gebraucht hat; 70) der Naturaltausch des Ökonomen
dagegen ist die Imagination einer Geld- und Warenwirtschaft ohne das,
was sie dazu macht, ohne Geld - diese würde ohne Geld natürlich nicht
funktionieren. So bleibt anstatt einer objektiven Bestimmung dessen,
was Geld ist, als einziges Urteil ste1en, daß es gebraucht wird:
'Gott-sei-dank' gibt es Geld. Endlos wäre die Reihe der instrumentellen
und darin nicht objektiven Urteile der Einzelwissenschaften
fortzusetzen: Literatur wird als mögliches und problematisches Mittel,
"etwas zu bewegen", besprochen - als ob sie das sollte - die Sprache
als Mittel der Kommunikation 71) gut befunden und als Mittel des
Denkens ungenau usf.
Alle diese Fehler bemerkt Adorno, aber nicht als Fehler! Er vielmehr
hält diese parteiischem Betrachtungen für ein normales Funktionieren
des wissenschaftlichen Denkens, dem er als solchem und nicht als einem
falschen den Vorwurf des Instrumentalismus macht.
Mit dieser schwierigen, kritischen Stellung gegen das Denken stellt
Adorno dem Leser zwei Fragen: Wenn er falsche, weil den Standpunkt der
Nützlichkeit ins Denken hineinnehmende Theorien für normal und dem
Denken notwendig erachtet; zweitens aber eben diese notwendige Form des
Denkens für instrumentell, also doch irgendwie falsch hält; dann fragt
sich einmal, was denn eigentlich der Maßstab dieser Kritik sein soll,
an dem sich das Denken, wie es notwendig eben ist, kritisiert. Zweitens
fragt sich, was denn dann in einem anderen Sinne wahr sein soll.
Die erste Frage beantwortet sich über eine Rekapitulation: Adorno hatte
keinen einzigen Denkfehler des "instrumentellen" Denkens nachgewiesen
und doch behauptet, es sei nicht objektiv, unvoreingenommen, sondern
instrumentell. Am Denken kann er dieses Urteil also nicht festmachen.
Gleichwohl weiß er das Denken als "spirituell gewordene
Naturbeherrschung", durch welche dem Objekt der Erkenntnis "durch
dessen Zurüstung zum Objekt (etwas) verloren ging" 72). Was er am
Denken nicht entdecken kann, das merkt er am Resultat desselben: In ihm
liegen die Dinge als Mittel der praktischen Benutzung vor. Freilich
bedeutet das etwas ganz verschiedenes in den Natur- und den
Geisteswissenschaften. Während nämlich in den Geisteswissenschaften ein
Zweck, als dessen Mittel die Dinge dann interpretiert werden, erfunden
wird, der also in der Praxis nicht existiert, ist die erkannte Natur an
und für sich Mittel. Während also in der Geisteswissenschaft ein
illusorischer Materialismus gepflegt wird, der alles unabhän9ig von
seinen wirklichen Bestimmungen a1s Mittel ansieht und damit gerade die
objektive Beurteilung, ob etwas Mittel ist oder nicht, verhindert
erscheint bei der Natur "die theoretische Erkenntnis ihrer
selbständigen Gesetze ... selbst nur als List, um sie dem menschlichen
Bedürfnissen zu unterwerfen". Erst durch objektive Erkenntnis wird die
Natur, was sie an sich schon immer ist: "rein Gegenstand für den
Menschen, rein Sache der Nützlichkeit" 73). Für die praktische
"Beherrschung" hat dies die Konsequenz, daß die richtige
Naturwissenschaft wirklich Grundlage der Naturbeherrschung ist, der
diese dann auch praktisch keine Gewalt antut, weil man einer Sache, die
keinen eigenen Zweck hat, beliebige ihr ebenso gleichgültige Zwecke
vorsetzen kann, der sie als Mittel zu dienen hat. Auf der anderen Seite
führt die instrumentelle Geisteswissenschaft, die es nicht zur
Erkenntnis der selbständigen Gesetze ihrer Objekte bringt, auch in der
Praxis nicht zu einer Beherrschung und erfolgreichen Benutzung
gesellschaft1icher Gegenstände, sondern zu Unterwerfung unter
unbegriffene Gesetze, die eben dadurch mitten Bereich des menschlichen
Geistes und Wollens zu dem berühmten "Naturgesetz, das auf der
Bewußtlosigkeit der Beteiligten beruht", 74) werden. Diese Differenz
von Natur- und Geisteswissenschaften, von objektiver Erkenntnis (und
daher erfolgreichem praktischen Instrumentalismus) und theoretischem
Instrumentalismus (mit deshalb notwendig erfolgloser Praxis) sieht
Adorno nicht, weil er sich nicht auf die Beurteilung des Denkens
einläßt, sondern undifferenziert das Resultat desselben seiner Kritik
unterwirft. Hegel schon hatte auf den Unterschied hingewiesen:
"Wenn vom Zweck die Rede ist, so pflegt man dabei nur die äußerliche
Zweckmäßigkeit vor Augen zu haben. Die Dinge gelten bei dieser
Betrachtungsweise nicht als ihre Bestimmung in sich selbst tragend,
sondern bloß als Mittel, welche zur Realisierung eines außerhalb ihrer
liegenden Zwecks gebraucht und verbraucht werden. Dies ist überhaupt
der Gesichtspunkt der Nützlichkeit, welcher vormals auch in den
Wissenschaften eine große Rolle spielte, demnächst in verdienten
Mißkredit gekommen und als zur wahrhaften Einsicht in die Natur der
Dinge nicht auslangend erkannt worden ist. Allerdings muß den endlichen
Dingen als solchen dadurch ihr Recht angetan werden, daß man sie als
ein Nicht-Letztes und als über sich hinausweisend betrachtet. Diese
Negativität der endlichen Dinge ist indes ihre eigene Dialektik, und um
diese zu erkennen, hat man sich zunächst auf ihren positiven Inhalt
einzulassen." 75)
Adorno kritisiert das Denken ohne Rücksicht auf seinen besonderen
Gegenstand und ohne Rücksicht auf seine eigenen wissenschaftlichen
Qualitäten als instrumentell. Er stört sich daran, daß Gegenstände -
und sei es die Natur - im Resultat der Wissenschaft als Mittel
vorliegen, und wirft der Wissenschaft dieses ihr (richtiges oder
falsches) Resultat vor. Noch unausgeführt liegt hierin die später zu
entwickelnde Idee, daß die Dinge nicht Mittel sein sollten - und zwar
theoretisch wie praktisch. Hatte Adorno schon bei der Darstellung des
Verhältnisses des Denkens zu seinem Objekt das Denken gleich mit
Bestimmungen der Praxis, genauer des Verzehrens ausgestattet, so
richtet sich auch seine Kritik auf das Denken als eine Bedingung der
praktischen Benutzung der Dinge wie auf diese selber. Diese
Parallelität der zwei Betätigungen der menschlichen Subjektivität, die
doch durchaus verschiedenen Gesetzen folgen, führt zu dem erstaunlichen
Ergebnis, daß Adorno dem Denken sowohl den Vorwurf macht, mit seinem
Objekt nie übereinzustimmen, wie auch das Kompliment, es sei objektiv.
Dieser zweite Widerspruch zur ersten erkenntnistheoretischen Behauptung
hat sich freilich schon darin angedeutet, daß gegen das
"instrumentelle" Denken keine theoretischen Einwände erfolgt sind. Wenn
ein Denken als notwendig und "als Denken" auch gar nicht anders möglich
akzeptiert wird, dann liegt darin schon die Anerkennung, es sei auch
richtig so.
Diese parallele Führung der Bestimmungen der Theorie und der Praxis,
deren beide jeweils auch unmittelbar die andere Seite treffen sollen,
ist im übrigen nichts anderes als der oben schon besprochene Fehler,
die Theorie als eine Art von Praxis 76) zu bestimmen, jetzt aber auf
beide Seiten angewendet. Adorno ist sich im übrigen dieses Springens
mittels "vager Analogien" 77) durchaus bewußt und vertritt seine
Weigerung, Theorie als Theorie zu besprechen, offensiv als "das
Sachhaltige" seiner Philosophie:
"Leicht wäre mir eine Äquivokation vorzuwerfen: Problem sei bei Popper
etwas lediglich Erkenntnistheoretisches und bei mir zugleich etwas
Praktisches, am Ende gar ein problematischer Zustand der Welt. Aber es
geht ums Recht eben dieser Distinktion. Man würde Wissenschaft
fetischisieren, trennte man ihre immanenten Probleme radikal ab von den
realen, die in ihren Formalismen blaß widerscheinen." 78)
Resultat des Verfahrens, das Denken als Widerschein, als modifizierte Praxis, aufzufassen, sind folgende Einsichten:
Einerseits vergewaltigt das Denken seine Objekte, die es "zum Objekt" des Denkens "zurichtet":
"Die Dinge verhärten sich als Bruchstücke dessen, was unterjocht ward; seine Errettung meint die Liebe zu den Dingen." 79)
"Der versöhnte Zustand annektierte nicht mit philosophischem
Imperialismus das Fremde, sondern hätte sein Glück daran, daß es in der
gewährten Nähe das Ferne und Verschiedene bleibt, jenseits des
Heterogenen wie des Eigenen." 80)
Alle andersartigen Beteuerungen ändern nichts daran, daß Adorno in
seiner Gleichsetzung von Erkenntnis und Instrumentalismus die
Erkenntnis zu einem übel erklärt, das im versöhnten Zustand den Dingen
nicht mehr angetan würde. Vielmehr würde Liebe zu den Dingen herrschen,
und die Nähe zu ihnen bestände darin, sie als ferne, unbegriffene zu
wissen.
Andererseits aber ist die Zumutung der Erkenntnis gegen ihr Objekt 81)
ja der Widerschein der Praxis 82) und nicht eine eigenständige
Leistung, die nach ihren Kriterien beurteilt werden könnte; als solche
bildet sie nur ab, was praktisch passiert. Damit wird der Theorie als
Theorie explizit Wahrheit konzediert, und der Fehler fällt ganz in die
Praxis, in der die Dinge so reduziert und praktisch zu Abstraktionen
gemacht werden, wie die Theorie sie darbietet. Daß auch dieser Gedanke
haltlos ist, da man die Wirklichkeit schlechterdings nicht zu
Abstraktionen machen kann, denn das hieße sie praktisch zerstören 83)
ficht Adorno nicht an. Am Tausch, dem allgemeinen Schlüsselbegriff für
die Praxis in der bürgerlichen Welt überhaupt, stellt Adorno dar, daß
die Wirklichkeit genau so schief ist, wie er behauptete, daß die
Theorie sie sehe - womit letztere wieder richtig liegt.
"Das Tauschprinzip, die Reduktion menschlicher Arbeit auf den
abstrakten Allgemeinbegriff der durchschnittlichen Arbeitszeit, ist
urverwandt mit dem Identifikationsprinzip. Am Tausch hat es sein
gesellschaftliches Modell und er wäre nicht ohne es. Durch ihn werden
nichtidentische Einzelwesen und Leistungen kommensurabel, identisch.
Die Ausbreitung dieses Prinzips verhält die ganze Welt zum Identischen,
zur Totalität." 84)
Die Abteilung der kapitalistischen Wirtschaftsweise aus einer Denkform
soll hier ebensowenig interessieren wie die Logik der Analogie, die es
erlaubt, innerhalb eines Satzes den Tausch zuerst zum praktischen
Pendant, zum "Modell" des Denkens zu machen, dann umgekehrt das Denken
zur conditio sine qua non des Tausches und schließlich das Denken zum
Subjekt der ganzen Bewegung zu erklären, das in die Praxis praktisch
hineinwirke und sich alles so mache, damit es dies so praktisch
hergerichtete Unwesen dann auch erkennen könne - den Tausch aber zum
praktischen, verlängerten Arm des Gedankens.
Dies alles soll hier nicht so interessieren wie der Umstand, daß Adorno
mit diesen Analogien dem Denken ausgerechnet Objektivität bescheinigt -
immerhin das einzige, was von Denken zu fordern ist; allerdings in
einer sehr eigentümlichen Weise: Nur weil das Objekt wirklich genau so
reduziert ist, wie es vom Denken zurechtgeschustert wird, ist das
Denken stimmig. Es fällt Adorno dabei nicht einmal auf, daß, wenn die
Objekte der Wirklichkeit tatsächlich so hergerichtet sein sollten, wie
er glaubhaft machen will, dann das Denken nicht noch einma1 mit dem
Abstrahieren beginnen dürfte - die eine Behauptung hebt die jeweils
andere unweigerlich auf. Trotzdem wird die ratio als Subjekt der
Weltveränderung weiter verfolgt:
"Die bürgerliche ratio näherte als Tauschprinzip das, was sie sich
kommensurabel machen, identifizieren wollte, mit wachsendem, wenngleich
potentiell mörderischem Erfolg real den Systemen an, ließ immer weniger
draußen. Was in der Theorie als eitel sich überführte, ward ironisch
von der Praxis bestätigt." 85)
Damit ist das Denken 1. gerade dann, wenn es seine Objekte erkennt und
ihren Begriff weiß, Ideologie; 2. ist es gerade darin objektiv:
"Als äußerster Grenzfall von Ideologie rückt das transzendentale Subjekt dicht an die Wahrheit." 86)
Schließlich, und hier wollen wir uns wieder nicht um die bekannten
Widersprüche kümmern, sondern müssen versuchen, das Gemeinte zu finden,
wird das Denken insgesamt so bestimmt, daß es gerade durch seine
Objektivität ideologisch ist. über den oben angegebenen Umweg kommt
Adorno dazu, das Wissen als Wissen zu akzeptieren, und ist gerade
deswegen mit ihm nicht zufrieden. Er gibt mit der Parallele von Theorie
und Praxis an, daß sowohl den Dingen etwas fehlt, wenn sie als das
gewußt werden, was sie sind, wie auch dem Denken, wenn es die Dinge als
das weiß, was sie sind. Seine Kritik der Erkenntnis heißt nicht mehr,
sie sei falsch, sondern sie sei bloß Wissen - freilich ist dies eine
Kritik, die sich offenbar nicht dem wissenschaftlichen Standpunkt
verdanken kann. Dem Wissen vorzuwerfen, es sei nur es selbst und nichts
anderes, mißt das Wissen an etwas, was es eben nicht ist. So zeigen
Adornos Äußerungen zur Mangelhaftigkeit des Wissens immer wieder, daß
der Mangel jedenfalls keiner des Wissens ist.
"Ordnet es (das Denken, d. V.) sich aber als Wissenschaft den
Wissenschaften ein, so verzichtet es auf den eigenen Impuls eben dort,
wo es dessen am dringendsten bedürfte. Es bleibt dinghaft, bloße
Nachkonstruktion eines durch die gesellschaftlichen Kategorien und
schließlich die Produktionsverhältnisse bereits Vorgeformten ...
Wissenschaft verdinglicht, indem sie die geronnene geistige Arbeit, das
seiner gesellschaftlichen Vermittlung unbewußte Wissen, zum Wissen
schlechthin erklärt." 87)
Demnach soll es also noch ein anderes Wissen geben als das Wissen der
Objektivität, ein Wissen, das vielmehr von dem durch diese
Unterscheidung zum "bloß objektiven Wissen" herabgesetzten verhindert
wird. Deswegen wird der Angriff auf das Wissen der Welt scharf und
polemisch:
"Damit fällt ein greller Strahl auf die Wahrheit selbst. Spekulation
spürt eine gewisse Pf licht, ihrem Gegner, dem common sense, die
Position des Korrektivs einzuräumen. Behielte das Pdestre das letzte
Wort, wäre es die Wahrheit, so wäre die Wahrheit entwürdigt. Das
triviale Bewußtsein mag der adaequatio rei atque cogitationis näher
sein als das sublime, in fratzenhaftem Hohn auf die Wahrheit wahrer als
das überlegene, außer wenn ein anderer Begriff von Wahrheit gelingen
sollte als der von adaequatio." 88)
Zwar ist auch Adornos Bestimmung, Wissen sei "bloße Nachkonstruktion"
dessen, was es schon gibt, eine unpassende Darstellung des Begreifens,
aber immerhin macht Adorno damit klar, daß das andere Wissen, das ihm
vorschwebt, nichts mit dem zu tun hat, was Wissen heißt; nämlich das
Wissen von etwas, was es ohne den Wissenden schon gibt, und was diesem
vor seinem Wissen noch unbekannt und damit unbeherrscht war. Dieses
weitergehende Wissen soll sich von der "adaequatio" frei machen, denn
die "Orientierung" des Denkens an der Realität erscheint Adorno als
Fehler. Wieder einmal wirft er Bestimmungen der Theorie und der Praxis
zusammen und kommt zu einer Kritik des Denkens nur darüber, daß er
dessen Bezug auf die Realität dem praktischen gleichsetzt. Daß sich die
Theorie nämlich am Objekt orientiert, i. e. nur seine Bestimmungen
wissen, diese aber in ihrer Notwendigkeit wissen will, erscheint ihm
als dasselbe, als wenn der Mensch sich praktisch immerzu dem Gegebenen
unterwirft. Diese Verwechslung drückt sich darin aus, daß Adorno meint
extra betonen zu müssen, man dürfe beim Erkennen, wie er es vorschlägt,
die Erkenntnis nicht mit der Billigung des Erkannten vermischen, obwohl
"der Begriff" diese eigentlich tue:
"Während sie (die philosophische Erkenntnis, d. V.) der realen
Determination der Phänomene durch ihren Begriff versichert ist, kann
sie diesen nicht ontologisch, als das Wahre sich vorgeben. Er ist
fusioniert mit dem Unwahren, dem unterdrückenden Prinzip." 89)
Die Begriffe, die die Wissenschaft weiß, sind also wirklich die Gesetze
der Sachen - insofern sind die Urteile der Wissenschaft wahr; aber sie
sind nicht das "Wahre". Schon der Subjektswechsel des Satzes kündigt
an, daß nicht die Urteile, sondern ihre Objekte, nicht die
theoretischen Begriffe, sondern ihr Inhalt, die Gesetze der Dinge
gemeint sind, wenn gesagt wird, sie seien nicht "das Wahre". Verwundern
muß freilich die adversative Form, in der diese Trivialität ausgesagt
wird. Wer außer Adorno sollte gemeint haben, daß die objektiven Gesetze
und Zwecke (denn Zwecke sind die Gesetze der gesellschaftlichen
Phänomene) allein darum, daß sie objektiv sind, auch schon gut oder
wünschenswert wären? Adorno mag hier wieder an Hegel denken, doch sogar
sein berühmter und in der Tat gefährlicher Satz, nach dem, was
vernünftig, wirklich und was wirklich vernünftig ist, verfällt nicht
dieser Kritik einer simplen Verwechslung 90) Hegel bezog sich nämlich
auf die Seite des Inhalts, bestimmte das Wirkliche als das in seiner
Notwendigkeit erkannte, und hielt dafür, daß man, was notwendig ist,
nicht einer Kritik, ob es sein solle oder nicht, unterziehen dürfe.
Adorno also ist vornehmlich selber der Adressat seiner Kritik, daß man
nicht für "das Wahre" halten dürfe, was man für das wirkliche Gesetz
einer Sache erkannt hat. Er nimmt nämlich die Erkenntnis einer Sache
per se als ihre Rechtfertigung, was sich schon in der Formulierung "das
Wahre" ankündigt. Man fühlt sich erinnert an die bayrische Verfassung,
die dazu verpflichtet, die Kinder im Geiste des Wahren, Guten und
Schönen zu erziehen. Das 'Wahre' ist an und für sich doch erst einmal
die zu einem Subjekt hochstilisierte Qualität theoretischer Aussagen;
wahr sind Theorien, nicht Dinge. Wird aber "das Wahre" zur Qualität von
Dingen, so meint es, daß diese Dinge in dieser bestimmten
Beschaffenheit richtig, wünschenswert oder ihrem Begriff entsprechend
seien. Konsequenterweise wird diese Formulierung auch nicht auf Dinge
und Verhältnisse angewandt, die wirklich notwendig sind, sondern nur
auf solche, die der Willkür und freien Gestaltung der Menschen
unterliegen. Vom Fallgesetz hat noch niemand gesagt, es sei "das
Wahre", wohl aber wird der "wahre Sozialismus" von einigen anderen
unterschieden, ebenso wie die wahre Liebe. Tatsächlich liegen hier
Urteile der Nützlichkeit vor, Urteile, die sagen, was wünschenswert ist
und was nicht. Der Maßstab dieser Entscheidungen ist nichts als das
praktische Interesse, denn anders läßt sich nicht entscheiden, was
gewollt werden soll, bzw. gewollt wird. Die Form dieses Urteils ist
aber die der Theorie. Praktische Fragen nicht praktisch, sondern mit
theoretischen Grundsätzen zu entscheiden, das ist die Haltung, die sich
in dieser metaphorischen Rede von "dem Wahren" ankündigt. Dieses aber
ist der wissenschaftlichen Theorie unmöglich, sie sagt nur, was ist und
nennt die Gesetze desselben, sie sagt keineswegs, was sein soll 91) und
sie braucht das auch gar nicht; denn die wirkliche Kenntnis der Gesetze
einer Sache liefert der praktischen Beurteilung so eindeutiges
Material, daß die Bewertung durch das Interesse dann absolut keine
Frage mehr ist. So dürfte die Darstellung der Zwecke und Mittel eines
Krieges durchaus hinreichen, um eine Bewertung dann unproblematisch
werden zu lassen; und Marx' Analyse der kapitalistischen Wirtschaft,
von der er sagte, sie sei eine Ausbeutungsgesellschaft, die Reichtum
auf Kosten von Armut schaffe und beides auf immer größerer
Stufenleiter, ist in der Vergangenheit auch immer theoretisch
angegriffen worden und nicht hinsichtlich der Bewertung dieser
Resultate. Man bezweifelte - und dies ist die wissenschaftliche Kritik
- die theoretischen Urteile dieser Wissenschaft und war keineswegs
bereit einzuräumen, daß freilich Ausbeutung herrsche, daß aber die
Bewertung dieses Umstands noch eine offene Frage sei. Wissenschaft hat
also weder eine praktische Orientierung an sich, noch bedarf sie einer
solchen, weil sich die praktische Beurteilung einer erkannten Sache von
selber versteht.
Adorno aber nimmt jede Theorie als Philosophie er nimmt Theorie, die
zunächst weder Lob noch Kritik einer Sache ist 92), sondern nur ihre
Gesetze erforscht, als Legitimation, gerade dann, wenn sie die Gesetze
der Sache weiß. 93) Eine Sache in ihrer Notwendigkeit zu wissen, oder
ihre immanente Zweckmäßigkeit zu kennen, ist aber etwas ganz anderes,
als eine Sache als notwendig, bzw. als zweckmäßig anzusehen. Die
Differenz besteht im Bezugspunkt der Notwendigkeit. Die "Logik des
Kapitals" erklärt das Kapital nicht - in einer saloppen Wendung - zu
einer logischen Sache; die Logik der Religion, die nicht zuletzt Hegel
sehr klar entfaltet hatte, besagt noch lange nicht, daß die Religion
eine Sache des logischen Denkens wäre. Die Logik einer Sache nennt ihr
immanentes Gesetz, damit sind nur die Momente dieser Sache aus ihrem
allgemeinen Zweck entwickelt, nicht aber diese Sache als notwendig.
Letzteres unterstellte nämlich einen Bezugspunkt jenseits dieser Sache,
relativ zu dem sie überhaupt nur als notwendig angesehen werden könnte;
dieses Verfahren aber - und das hat wiederum Adorno treffend gezeigt -
führte von einem zum andern und müßte rein Seiner Form nach in einem
unendlichen Regress enden, in dem stets der Grund als zufällig, das
Begründete aber als damit zufällig notwendig" erschiene.
Adorno aber nimmt alles Denken als Philosophie, alle Erklärung einer
Sache aus ihrem immanenten Zweck als Ableitung einer Sache aus
irgendeinem Ur- oder Letztgrund, damit als Apologie, denn alles, was
aus einem absoluten Grund heraus notwendig ist, ist per se
gerechtfertigt. Wie gläubige Menschen jede geäußerte Auffassung als
Glauben betrachten - und jede, die von der ihren abweicht, als
Irrglauben - so betrachtet der Philosoph Adorno jede Theorie, die ihre
Sache weiß, als Philosophie - aber als falsche. Denn er wendet sich
gegen die Tradition der deutschen Philosophie, die stets das jeweils
Bestehende zu legitimieren wußte. Indem er jede wissenschaftliche
Theorie als Philsophie nimmt, betrachtet er ihre Objektivität, d. h.
ihre Wahrheit, ihre Orientierung am Gegenstand als Orientierung auf den
Gegenstand, als Parteinahme für ihn. Daß die Wissenschaft sich auf ihre
Objekte einläßt, sieht Adorno als ihren Fehler an und bezichtigt sie
desha1b des Positivismus. Nicht legitimatorisch, kritisch müßte nach
ihm eine philosophisch bewußte Wissenschaft sein, kurz: negativ:
"Bis in die Vulgärsprache hinein, die Menschen lobt, wofern sie positiv
seien, Schließlich in der mordlustigen Sprache von den positiven
Kräften wird das Positive fetischisiert. Demgegenüber hat unbeirrte
Negation ihren Ernst daran, daß sie sich nicht zur Sanktionierung des
Seienden hergibt." 94)
Adorno tritt dem verwissenschaftlichten Zeitgeist, den er eben darin
für positivistisch hält, mit der Aufforderung zu einer anderen,
jenseits aller Gegenstände des Denkens bezogenen, kritischen
Grundorientierung entgegen. Adorno hält also erstens eine
außerwissenschaftliche Orientierung des Denkens für nötig, damit dieses
nicht ideologisch wird, und zweitens eine kritische Haltung. Damit aber
wird Kritik zu einer Frage der Haltung - und das ist merkwürdig. Wie
schon aufgezeigt, ist Kritik Resultat der Wissenschaft, nicht eine
Haltung in ihr. Während die Naturwissenschaft weder kritisch noch
affirmativ ist, weil dieser Gegensatz für sie überhaupt unpassend ist,
die instrumentelle Geisteswissenschaft dagegen affirmativ, weil sie per
se für das Objekt ihrer Untersuchung Partei ergreift und den Nutzen
desselben erfindet, während schließlich richtige Wissenschaft von den
gesellschaftlichen Gegenständen als solche ebenfalls weder kritisch
noch affirmativ ist, sondern eben die Zwecke ihrer Gegenstände
erforscht und damit - je nach Sache - wirklich alles Nötige über sie
sagt, sieht Adorno gerade in der Wissenschaftlichkeit den affirmativen
Charakter und empfiehlt eine Befreiung von demselben. Er sieht das
größte Hindernis für eine kritische Orientierung in einer
unvoreingenommenen Beschäftigung mit der Sache, die das Denken freilich
als wirkliche Tatsache anerkennt - sonst könnte man sich ja wirklich
jede Frage nach Gründen sparen. Adorno aber kann nur den Kopf schütteln
über die
"Tatsachengläubigkeit des Fachmenschen, der jede Besinnung auf das, was
nicht der Fall ist, als Belästigung und womöglich als Frevel am
wissenschaftlichen Geist empfindet." 95)
So wird die Orientierung auf das, was es nicht gibt, aufs Wünschen,
Erfinden und Spekulieren der Wissenschaft als Korrektiv ihrer
unweigerlich affirmativen Neigungen empfohlen. Indem Kritik so von
einem Resu1tat der Theorie zu ihrer Qua1ität gemacht wird, befreit sie
Adorno von ihrem Grund in der Sache; sie wird prinzipiell - und damit
grundlos. Wer aus Prinzip kritisiert, hat keinen Grund am einzelnen
Objekt und untergräbt sich gerade mit seiner Sicherheit, die sich von
nichts beeindrucken läßt, das Argument der Kritik. Kritik setzt sich
ins Unrecht, indem sie zur Haltung wird. Kritik wird für Adorno so zum
Kriterium der Wahrheit - und weil diese Kritik Haltung ist und sich von
ihrem Grund in der Sache emanzipiert hat, wird die Orientierung auf
das, was nicht ist, die Spekulation zum Signum der Kritik. Es ist
keineswegs so, daß Adorno um der Kritik bestimmter, von ihm als
schlecht beurtei1ter Umstände willen die Kritik in der tatsächlich
höchst affirmativen Welt der Wissenschaft beleben wollte. Umgekehrt
verhält es sich. Um der Orientierung auf das Nicht-Seiende, um der
Philsophie willen entdeckt er das Bedürfnis nach Kritik, das eine
apologetische Wissenschaft nicht befriedigen wollte, und nutzt es aus,
um für Philosophie zu argumentieren. Der Beweis für diese Behauptung
liegt auf der Hand: Was als Kriterium der Wahrheit bleibt, ist Kritik.
Wenn diese aber jenseits vom Gegenstand vorweg entscheiden soll, daß
auf jeden Fall zu kritisieren sei, dann besteht sie in einer negativen
Einstellung: im Vorurteil, daß auf jeden Fall das, was nicht ist, viel
besser sein könnte als das, was ist 96).
4. Metakritik der Erkenntnistheorie
Die Metakritik der Erkenntnistheorie ist eine der interessantesten
Untersuchungen im Werk Adornos, weil er hier viele wissenschaftliche
Argumente gegen die Erkenntnistheorie aufnimmt, wie sie schon von Hegel
vorgetragen - und hier im Grundzug referiert - wurden. Adorno
argumentiert gegen die Erkenntnistheorie wissenschaftlich und erfüllt
in diesem Bereich alleine das auch von ihm für unabdingbar erachtete
Gebot der immanenten Kritik. Allerdings verläßt er seinen oben
angegebenen philosophischen Standort dabei nicht. Er kann Hagels
Argumente "brauchen" und biegt sie um, wo es darauf ankommt, das
philosophische Problem zu erhalten. überhaupt erklärt sich sogar das
Interesse Adornos an der Erkenntnistheorie und ihrer Kritik aus seiner
rein philosophischen Sicht wissenschaftlicher Theorien.
Er hatte, wie oben darzustellen versucht wurde, wissenschaftlichen
Einsichten den Vorwurf gemacht, sie seien gerade darin, daß sie das
ihnen objektiv vorgegebene Objekt und sonst nichts dächten,
ideologisch; sie würden den Objekt nicht gerecht, wenn sie es nur als
das nähmen, was es ist. Mehr noch, das Denken orientiere praktisch auf
das Gegebene, sei legitimatorisch, indem es "nur" objektiv sei. Adorno
hatte also alle Wissenschaft als Philosophie genommen, die Sinn,
Orientierung und "das Gute" zum heimlichen Thema habe, wenn sie doch
nur Dinge erkennt. Als Philosophie kritisiert er sie nun. Jenseits von
der Argumentation irgendwelcher Theorien befragt er sie nach ihrer
Begründung, ihrem Rechtsgrund, kamst in den unvermeidlichen Regress der
Erkenntnistheorie hinein und beweist damit, daß diese Wissenschaften
doch nicht "Letztes", an und für sich "Gültiges" sind, sondern abhängig
von allerlei Setzungen. Als solche gar nicht "letzten" Erkenntnisse -
die wissenschaftliche Einsichten ja weder sein wollen noch nicht sein
wollen, weil sie eben keine Philosophien zu sein behaupten - bekommen
sie ihren Stellenwert dann erst durch die Philosophie, die in einer
"Selbstreflexion des Denkens" den "Wert" der gemachten Voraussetzungen
zu prüfen beansprucht. Das komplizierte Verfahren, das Anliegen der
Erkenntnistheorie nicht zu kritisieren, sondern zu übernehmen und
selbst zu betreiben, ihre Beweise aber zurückzuweisen, kennzeichnet
Adornos Verhältnis nicht nur zur Erkenntnistheorie, der Metaphysik der
Wissenschaft, sondern zur Metaphysik überhaupt. Es soll hier im
einzelnen untersucht werden.
Adorno macht zunächst den Fehler der Erkenntnistheorie mit. Er beginnt
seine Vorlesung über sie mit der erkenntnistheoretischen Frage, an der
er nichts auszusetzen hat:
"Sie werden hinnehmen müssen, daß unter Erkenntnistheorie eben doch
sehr wesentlich die Rechtsfragen der Erkenntnis zu verstehen sind, also
die Fragen, die sich auf die Gültigkeit oder Nichtgültigkeit, die
Wahrheit oder Unwahrheit, die Richtigkeit oder die Nichtrichtigkeit von
Erkenntnis ... beziehen." 97)
Er bemerkt nicht, daß er damit schon in eine Überlegung eingestiegen
ist, die in der schon angeführten Weise eine "scholastische Frage"
werden muß; denn jenseits vom einzelnen Argument läßt sich die
Objektivität des Denkens überhaupt eben weder bezweifeln noch
legitimieren. Mehr noch; Adorno teilt auch noch den Irrtum aller
Erkenntnistheoretiker - auch der modernen: der Methodologen -
Erkenntnistheorie tue not, "sonst müßten wir einfach drauflos erkennen
und wären damit eben all den Fehlerquellen ausgesetzt, denen die
unkritische Erkenntnis unterliegt" 98) Als ob die vielen schon
versuchten Erkenntnistheorien und Methodologien jemals Fehler in der
Wissenschaft aufgespürt und ausgeräumt hätten!
Während tatsächlich nur Behauptungen begründet werden können, verlangt
auch Adorno, daß Begründungen begründet werden müßten, und geht so weg
von der Begründung. Er hinterfragt sie und kommt damit zu der Frage der
Erkenntnistheorie: Woher kommt die Erkenntnis, bzw. worauf gründet sie
sich?; wie kann das Bewußtsein Erkenntnis produzieren?; welchen
"Zwängen" unterliegt es dabei? usw. Diese Frage nach dem "letzten"
Rechtsgrund des Erkennens führt notwendig in einen unendlichen Regreß.
Das weiß Adorno und er will nichts, als dessen Notwendigkeit beweisen.
"Ich glaube, es ist, wenn Sie die Fragen der Erkenntnistheorie in der
Reinheit erkennen wollen ... notwendig, daß Sie nicht nur sehen, aus
welchem inneren Zwang, aus welcher inneren Not es zur Reflexion auf das
Bewußtsein und seine Formen kommt. Sondern daß Sie zugleich auch eine
Ahnung davon haben, daß dieser Zwang selber nicht das letzte ist, ja
daß diesem Zwang selbst ein Moment von Täuschung innewohnt." 99)
Auf Basis der erkenntnistheoretischen Fragestellung kritisiert Adorno
nun die Fehler dieser Disziplin an Kant - obwohl doch mit der Frage die
Notwendigkeit der Fehler schon gesetzt ist. So weist er auf den Zirkel
von Erkenntnisvermögen und seiner als gewiß unterstellten Äußerung, von
der her man einzig vom Vermögen wissen könne, hin:
"Das hat deshalb, ich sage das in allem gebührenden Respekt selbst vor
dem großen Kant, ein bißchen etwas von Spiegelfechterei; denn wenn man
so, wie es im Ansatz der Kantischen 'Kritik der reinen Vernunft'
geschieht, die Wissenschaft selbst als ein Fragloses, Gültiges,
schlechthin zu Achtendes voraussetzt, hat der Versuch, ihre Geltung
hinterher abzuleiten, eigentlich etwas Scheinhaftes. Man beweist nur,
wessen man von vornherein sicher ist." 100)
Aus diesem Zirkel folgt für Adorno nun aber nicht, daß man sich gleich
die Bezweiflung der Objektivität der Erkenntnis hätte sparen können,
wenn man alle ihre Bestimmungen dann doch aus der stattgehabten
Erkenntnis nehmen muß, wenn man sie "rekonstruieren" will, daß man "von
Anfang an gewissermaßen zu einem hysteron proteron gezwungen (ist, d.
V.), d. h. zur Setzung einer gegenständlichen Sphäre als einer
Gegebenheit, mit der er (Kant) es dann immer wieder zu tun hat." 101)
Das Gegenteil schließt Adorno daraus: nicht die Ungewißheit, die
Sicherheit Kants sei erschwindelt; man müsse die Frage nach dem
"Rechtsgrund" des Denkens stellen, dürfe sich aber dabei nicht auf
wirkliche Erkenntnis als sichere Grundlage beziehen:
"Das will sagen, daß Philosophie heute sich nicht so, wie es noch bei
Kant der Fall war, die Wissenschaft einfach vorgeben und dann zu dieser
vorgegebenen Wissenschaft, an der von vornherein kein Zweifel sei, eine
Art von Rechtfertigung suchen kann." 102)
Aber nicht nur das Wissen, also die Identität von denkendem Subjekt und
gedachtem Objekt, darf "vorgegeben" sein, auch die Extreme dieses
Verhältnisses. des Gegenstands der Erkenntnistheorie, sind keineswegs
eine sichere Basis der Erkenntnis. Noch einmal soll klargestellt
werden, daß diese Frage schon der Fehler ist. Erkenntnis gibt es, sie
muß nicht mehr begründet (allenfalls erforscht) werden; es gibt also
auch das Problem nicht, wo sich die Erkenntnis einer festen Basis
versichern könnte. Nur durch die von Adorno mitgemachte Suche nach
einem "Ersten", einem Deduktionspunkt, aus dem sich alles ableiten
ließe, kommt der Philosoph in die Aporie des unendlichen Regresses, die
Adorno "aufdeckt". Er referiert in seiner "Vorlesung zur Einleitung in
die Erkenntnistheorie" so zwar das "Grenzen"- Argument Hegels, mit dem
die ganze Erkenntnistheorie aus den Angeln gehoben ist, kann damit aber
überhaupt nichts anfangen. 103) Er weiß um Hegels Argument, daß die
Trennung des Bewußtseins von seinem Inhalt, den es bei Kant ja erst
noch nach seiner Subjektivität oder Objektivität beurteilen soll, ein
absolut leeres Ich, ein Bewußtsein ohne Inhalt zurückläl3t, das als
solches ja wirklich nichts mehr weiß; aber Adorno liest dies anders.
Er hatte ja überhaupt schon den Gedanken, daß die Erkenntnistheorie auf
die Formen des Bewußtseins reflektiert, als Suche nach dem absolut
Gewissen aufgefaßt, von dem aus das besondere Wissen abgeleitet werden
könnte. Wird nun auf das Denken selber reflektiert, dann birgt das
notwendig die Konsequenz, daß die Verstandesbegriffe und mit ihnen
letztlich das ganze Wissen aus dem Subjekt abgeleitet wird.
"Die Erkenntnistheorie, die sich so reflektiert und so unnaiv vorkommt,
macht sich an dieser Stelle wirklich das Allernaivste zu eigen,
nämlich, daß das Nächstliegende, also was der Ordnung der Erfahrung
zunächst einmal kommt, auch der Sache nach eine Art absolute Priorität
innehätte ... Das Nächste, die Tatsache also, daß ich in meiner
Erfahrung anhebe mit mir selbst, macht diese unmittelbare Erfahrung
keineswegs zu einer an sich ersten und zu einer an sich alles andere
tragenden. Nun aber verfährt man so, als ob man auf der einen Seite
dies Nächste hätte, also mit anderen Worten an der Unmittelbarkeit der
individuellen Erfahrung, als an dem Rechtsgrund der Erkenntnis
festhalten könnte..." 104)
Adorno kritisiert hier nicht mehr Kant mit den Argumenten Hegels,
sondern die erkenntnistheoretische Suche nach der sicheren Basis der
Erkenntnis an ihrer Konsequenz; nicht nach dem Fehler in der Frage,
sondern nach der Unhaltbarkeit ihrer Antwort:
"Sie können vielleicht jetzt verstehen, woher das eigentlich rührt,
nämlich dadurch, indem das absolut Gewisse in das Subjekt verlegt wird,
und alles, was an Inhalt dem Subjekt zukommt, als gewissermaßen
vorphilosophisch oder der Philosophie unwürdig abgewiesen wird, dadurch
kommt dann eigentlich zustande, daß nur das ganz Leere, das Nichtige
als Gegenstand der Philosophie überhaupt übrig bleibt."
"Zum zweiten möchte ich Ihnen noch sagen, daß der entscheidende
Verlust, den die Erkenntnistheorie dem nicht Erkenntnistheoretischen,
Spekulativen zufügt, der ist, daß sie prinzipiell die Erkenntnis
eigentlich in eine Tautologie verwandelt. Es gibt für die konsequente
Erkenntnistheorie eigentlich überhaupt keine Erkenntnis. Das läßt sich
auf folgende Weise verhältnismäßig deutlich machen: wenn Sie einen
Gegenstand erkennen, dann ist der Sinn der Erkenntnis dieses
Gegenstands ja gerade der, daß Sie hinausgehen wollen über dieses bloße
Beisichselbersein, von dem ich Ihnen gesprochen habe. Nun aber ist es
in der erkenntnistheoretischen Position so, daß grob gesprochen und
übertreibend, das Objekt, also gerade das Neue, was hinzugefügt werden
soll, selber zum Subjekt wird, so wie es in der Kantischen Philosophie
in dem berühmten Satz ausgesprochen ist, daß der Geist der Natur die
Gesetze vorschreibt." 105)
Adorno begnügt sich nicht mit dieser richtigen Konsequenz der Suche
nach dem festen Halt des Denkens jenseits seiner selbst, er denkt die
Logik der Suche nach dem Ersten noch weiter und löst das Subjekt der
Erkenntnis auf. Adorno macht Ernst mit der Skepsis, der sich diese
ganze Suche nach dein festen Grund des Denkens ja verdankt, und fragt
sich, ob es denn mit der Einheit des Bewußtseins so eine sichere Sache
sei:
"Das Prinzip des Ichs kommt also bei Kant in einem viel emphatischeren
Sinn in die Philosophie herein... Nun kommen Sie aber sofort in sehr
große Schwierigkeiten herein. Denn gerade der Empirismus hatte ja
nachgewiesen in Hume, daß das Ich, mit den es die Psychologie zu tun
hat, eigentlich nichts Substantielles ist, daß es nichts Sicheres,
nichts Festes ist, worauf man sich beziehen kann. Sondern daß es in
nichts anderem besteht, als in den Formen der Verkettung von
Erlebnissen. " 106)
Dadurch wird die Einheit des Bewußtseins "bloß empirisch"; und Adorno
mag zugestehen, daß sie im Fall der Erkenntnis vorliegt, vermißt aber
dann das Prinzipielle, das sichere Erste: es könnte doch auch sein, daß
das Ich gar kein Selbstbewußtsein ist. 107) Wie er die subjektive Seite
der Erkenntnis auflöst, sobald sie von den Erkenntnistheoretikern als
die sichere Basis des Denkens präsentiert wird, so wendet er sich auch
gegen die andere, das Objekt. Er nimmt die Präsentation des
"Konstitutionsproblems" gegen die Erkenntnistheoretiker ernst und
beweist ihnen, freilich gar nicht ironisch, daß mit der Methode des
Hinterfragens alles in Zweifel gezogen werden kann. Das Objekt, sagt
Husserl, ist für das Denken, genauer zunächst die Wahrnehmung, einfach
eine Gegebenheit; ob die freilich ein Erstes ist, bezweifelt Adorno
doch ernsthaft: Dadurch, daß sich die Wahrnehmung auf etwas richtet,
wird es doch in das Subjekt "vermittelt".
"Indem das Vermittelte, durch die Intention bereits Gedachte, bloß
hingenommen werden soll, wird der Begriff der unmittelbaren Gegebenheit
total: Wahrnehmung Wissen von etwas, dies Wissen zum primären,
irreduktiblen Tatbestand des Bewußtseins und die wahrgenommene Dingwelt
gleichsam zum radikal Ersten." 109)
Adorno denkt also die Logik der Skepsis radikal zu Ende und hat dafür
eine Denkmethode entwickelt, die ähnlich der "reziprokem Kritik von
Besonderem und Allgemeinem" die Argumente der "Ursprungsphilosophie"
immer zu "schlagen" erlaubt; im Unterschied zur Kritik des Besonderen
und des Allgemeinen vom jeweils anderen Standpunkt aus trifft diese
Kritik Adornos das Dilemma der Ursprungsphilosophie tatsächlich. Adorno
nimmt also das Problem der Konstitution 110) sehr ernst, er begibt sich
selber mit auf die Suche nach dem, was dem Bewußtsein sicher gegeben
sein könnte, bzw. nach dem, was das Bewußtsein von sich aus als sicher
zu setzen in der Lage wäre. Gegen jeden Vorschlag derartiger
Sicherheiten weiß er aber eben das einzuwenden, was der Vorschlag will:
da wird ein Erstes gesetzt; da herrscht Sicherheit, da gibt es den
Deduktionspunkt, dessen Findung doch die ganze Suche gewidmet war.
Adornos Argument dabei ist stets, daß dieses Erste doch selber nicht
vom Himmel gefallen sein kann, also auch (theoretisch oder praktisch)
schon ein Vermitteltes ist, als solches aber gerade kein Erstes. Der
Beweis für die Seite der theoretischen Vermittlung gelingt
trivialerweise immer:
"Zur Kritik steht der Begriff des absolut Ersten selber. ... Es geht um
Begriffe und Legitimation eben solcher Begründungen, nicht um die
inhaltlich wie sehr auch immer wechselnde These, was nun der letzte
Grund sei.
"In dem als philosophisch Erstem behaupteten Prinzip soll schlechthin
alles aufgehen, gleichgültig, ob dies Prinzip Sein heißt oder Denken,
Subjekt oder Objekt, Wesen oder Faktizität. Das Erste der Philosophen
erhebt totalen Anspruch: es sei unvermittelt, unmittelbar. ... Aber ein
jegliches Prinzip, auf welches Philosophie als auf ihr erstes
reflektieren kann, muß allgemein sein, wenn es nicht seiner
Zufälligkeit überführt werden will. Und ein jegliches allgemeines
Prinzip eines Ersten, wäre es auch das der Faktizität im radikalen
Empirismus, enthält in sich Abstraktion. ... Als Begriff ist das Erste
und Unmittelbare allemal vermittelt und darum nicht das Erste." 111)
Ferner wird das Erste durch die notwendige Abstraktheit immer
inhaltsleerer, so daß es sich dem "analytischen Urteil" annähert.112)
Aber Adorno nimmt das Konstitutionsproblem gar nicht einfach als die
Grundfrage der Erkenntnistheorie, die als Bedingung der Möglichkeit
sicherer Erkenntnis einen zuverlässigen archimedischen Punkt jenseits
der Argumente und ihrer Notwendigkeit sucht, sondern er nimmt die Frage
gleich praktisch: Das Subjekt der Erkenntnis, die Einheit des
Bewußtseins, die Kategorien der Erfahrung, alles das muß doch auch
irgendwie geworden sein, auch das darf nicht nur als Bedingung der
Möglichkeit von Wissenschaft wie bei Kant, sondern praktisch
keinesfalls unproblematisch vorausgesetzt werden. Während Kant die
transzendentalen Bedingungen der Erkenntnis nennt und nicht die
geringste Mühe aufwendet, um einerseits zu zeigen, daß diese
Bedingungen erfüllt sind - denn sie sind ja in der von ihm zum Vorbild
genommenen Wissenschaft erfüllt - und um andererseits zu zeigen, daß
oder wie diese Bedingungen hergestellt wurden - denn er wollte ja nicht
die Genese, die "historische und gesellschaftliche Vermittlung" der
Einheit des Bewußtseins darstellen -treibt Adorno die Skepsis über das
bloß theoretische Feld hinaus, fragt nicht nur nach den Bedingungen der
Konstitution einer Sache für mein Bewußtsein, sondern nach der
Konstitution des einheitlichen Bewußtseins einerseits und der
Dinglichkeit der Dinge andererseits an und für sich.
"Zugleich kann jedoch die erkenntnistheoretische Analyse des
Unmittelbaren dessen eigenes Vermitteltsein nicht wegerklären. Das
motiviert die dialektische Logik, welche solchen Widerspruch zur
Bestimmung der Sache selbst erhebt, also den Begriff des Unmittelbaren
festhält sowohl wie negiert." 113)
Damit wird der Übergang gemacht zur Theorie der realen Konstitution des
Erkenntnissubjekts wie seiner Objekte als der Bedingung ihrer möglichen
Erkennbarkeit. Hier ist der Knotenpunkt von Erkenntnistheorie und
Gesellschaftstheorie, deren Zusammenfallen von der Sekundärliteratur
wohl bemerkt und kritisiert, aber an keiner Stelle aus dem Fehler sowie
der konsequenten Fortführung der Erkenntnistheorie über ihren
eigentlichen Bereich hinaus erklärt wird. Hier ist also der Punkt
erreicht, wo Adorno den Übergang dazu macht, was Habermas überhaupt zum
Prinzip Frankfurter Erkenntniskritik erklärt hatte: "Erkenntnistheorie
als Gesellschaftstheorie" 115)
Daß damit die ganze erkenntnistheoretische Problematik nicht kritisiert
ist, sondern im strengen Sinn ad absurdum geführt wurde, mag am Rande
angemerkt sein. Nicht nur ergibt sich nun unter der Voraussetzung einer
erst noch zu leistenden Rechtfertigung der Kategorien der Erkenntnis
der Zirkel, daß diese durch eine Gesellschaftskritik, die ja wohl auch
Theorie sein muß, also den erst zu rechtfertigenden Kategorien vorweg
gehorchen muß, begründet werden sollen; mehr noch, die Thematik der
Erkenntnistheorie wird durch den Übergang von der Konstitution einer
Sache für mein Bewußtsein zu der Konstitution der Sache an sich im
Grunde aus der Diskussion herausgekürzt und auf die wahrhaft triviale
"Einsicht" heruntergebracht, daß es eine Sache schon praktisch geben
muß, damit sie meinem Bewußtsein gegeben sein kann.
5. Zusammenfassung
- Adorno ist Erkenntnistheoretiker, indem er das Verhältnis des Denkens
zur Wirklichkeit als den Prüfstein und die Vorbedingung zuverlässiger
Erkenntnis diskutiert. Insofern kann er sich auf Kant berufen. Im
Unterschied zu Kant freilich, der exakt zwischen transzendentalen
Überlegungen über die Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis und
empirischen Vernunftgebrauch unterschied, nimmt es Adorno mit dieser
Distinktion nicht so genau. Dies deshalb, weil ihm von vornherein aller
Vernunftgebrauch als Philosophie erscheint. Er nimmt absolut jede
Wissenschaft und jede Erforschung empirisch gegebener Dinge als
Ableitung dieser Einzelheit aus allgemeinsten Prinzipien. In seiner
Sichtweise, die Philosophie und Wissenschaft nicht unterscheidet,
verwechselt er die Erklärung einer Sache aus ihrem Zweck mit einer
Ableitung derselben aus einem universellen Grund aller Dinge; daher
auch Theorie mit Legitimation. Hegels Diktum, daß Philosophie
Wissenschaft zu sein habe, nimmt Adorno - und zwar gar nicht gegen
Hegel - nach der von Anfang an implizierten Umkehrung hin: alle
Wissenschaft habe zugleich Philosophie zu sein. Also liest er jede
Theorie, die eine Sache nach ihrer Notwendigkeit darstellt, die also
ihren Zweck oder Grund nennt, als Darstellung der Sache als einer an
und für sich notwendigen und damit per se vernünftigen. Adorno nimmt so
sehr jede Theorie als Philosophie, daß er sogar Theorien, die keinerlei
Versuch einer Ableitung merken lassen, als solche nimmt: als welche,
die "bloß" objektiv seien und damit die Wirklichkeit zum Maßstab der
Bewertung machten. Erst hier setzt seine Kritik der Philosophie ein;
ganz auf dem Boden der philosophischen und damit rechtfertigenden
Besprechung der Dinge kritisiert Adorno das Ge1ingen des
Ableitungsversuchs. Er meint, daß die Deduktion aller Einzelheit aus
einem Universalprinzip nicht funktionieren könne, und kritisiert
Wissenschaft als das Resultat einer falschen Selbsteinschätzung
philosophischen Denkens.
- Erst aus dieser Sicht des Denkens als Philosophie erklärt sich dann
Adornos erkenntnistheoretisches Urteil: Weil sich nicht jedes Ding aus
einem Urprinzip deduzieren läßt, darf das - offenbar weiterhin aus
Urprinzipien deduzierende - Denken nicht meinen, es habe die Sache
begriffen; als ob Begreifen einer Sache und ihre Deduktion aus Anderem
überhaupt etwas miteinander zu tun hätten. An dieser Stelle wird die
"Selbstkritik der Philosophie", die doch Philosophie bleiben und nicht
Wissenschaft werden soll, zur Aufgabe.
"Nachdem Philosophie das Versprechen, sie sei eins mit der Wirklichkeit
... brach, ist sie genötigt, sich selber rücksichtslos zu kritisieren."
Hier wird Hegel, der philosophische Vertreter der Objektivität des
Denkens, mit Kant kritisiert, dessen unüberwindliche Kluft zwischen
Subjekt und Objekt zum Anliegen allen Philosophierens erhoben wird.
Allerdings verdankt sich Adornos Bezug auf Kant einem Interesse, das
dem Kantischen gerade entgegengesetzt ist: Hatte Kant überlegt, wie
Metaphysik als Wissenschaft möglich sei, so fragt und sagt Adorno, wie
Wissenschaft als Metaphysik zu treiben sei.
- Das Denken als eine gegen seine eigene Möglichkeit skeptische
Metaphysik ist nun der einzige Einwand gegen die Harmonie stiftende
Subsumtion der Realität unter abstrakte Allgemeinheiten. Damit besteht
die Kritik des affirmativen Denkens in einer an seinem Erfolg. Adorno
kritisiert nicht das Anliegen oder die Argumente dieser Denkart,
sondern das Erreichen ihres Ziels. Er fordert, daß umgekehrt das Denken
gerade darin kritisch zu sein habe, daß es in diesem
Rechtfertigungsversuch scheitert.
Von dieser Forderung aus kritisiert er auch die Erkenntnistheorie, da
diese ja ihrerseits den Versuch unternimmt, die Erkenntnis - und sei es
als bloß subjektive - zu rechtfertigen. So wenig aber wie auf der
materialen Ebene kritisiert Adorno auf der erkenntnistheoretischen die
Fragestellung, sondern auch hier nur das Gelingen der Antwort. Jetzt
kann er Argumente Hegels gegen Kant zur Anwendung bringen. Aller
Nachweis vom Zirkel, endlosen Regress und der notwendigen Leere der
erkenntnistheoretisch bestimmten Momente der Erkenntnis (das reine Ich,
das Ding-an-sich und die leeren Kategorien) dient Adorno dazu zu
zeigen, daß "mitten im Denken der Gedanke sistiert" wurde, daß ein
Erstes gefunden wurde, das doch selber vermittelt ist. Daraus schließt
er, daß die erkenntnistheoretische Frage, wie Habermas es explizit
formuliert, zu radikalisieren, die erkenntnistheoretischen Kategorien
selber noch auf ihre Konstitution hin zu hinterfragen seien. So macht
er den Übergang zur Frage nach der Konstitution von Subjekt und Objekt
nicht für das Bewußtsein, sondern an sich; freilich auch hier mit dem
Gebot, ein abschließendes Urteil nicht zu fällen. Die Betrachtung
dieser Überlegung zerfällt in a) die angewandte Methode des
Hinterfragens des "scheinbar Unmittelbaren", die "Begriffe und
Kategorien der Negativen Dialektik", und b) die Antwort auf die Suche
nach dem Ersten.
Anmerkungen: Erkenntnistheorie
1) Th. W. Adorno, Vorlesung zur Einleitung in die Erkenntnistheorie,
vom WS 1957/58 (Junius-Drucke) Ff./M. (im folgenden: Erkenntn.Th.), S.
177.
2) So wurde die Grundfrage der Erkenntnistheorie von Karl Marx
formuliert; siehe: Thesen zu Feuerbach, 2. These; in: Marx-Engels-Werke
(im folgenden: MEW) Bd. 3, Berlin (Ost) 1973, S. 5.
3) Th. W. Adorno,. Negative Dialektik, Ff./M. 1966 (im folgenden: ND), S. 379.
4) ND, S. 24
5) Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Stuttgart 1966 (im
folgenden: Kr.d.r.V.) immer zitiert nach der Paginierung B; B XIV f.
6) In dieser Bestimmung der Indizien dafür, daß die Metaphysik nicht
den sicheren Gang einer Wissenschaft geht, unterscheidet sich Kant
auffällig von modernen Auffassungen über die Wissenschaft. In diesem
Unterschied dokumentiert sich, daß Kant trotz seiner Skepsis bezüglich
der Erkenntnis geistiger Gegenstände und im Gegensatz zu heutigen
Erkenntnistheoretikern sich noch Gedanken zutraute. Während Karl Popper
im end- und erfolglosen "bloßen Herumtappen" gleich ein unverzichtbares
Merkmal von Wissenschaftlichkeit sehen will, da diese ja immer von der
Irrtumsmöglichkeit her die Irrtumsgewißheit sich zu Herzen nehmen
solle, nimmt Jürgen Habermas die Äußerung des Mangels an wirklichem
Wissen, die Vielfalt widerstreitender Auffassungen für den Mangel der
Wissenschaft selber und meint, durch die Herstellung intersubjektiver
Meinungen, durch die Bildung von Konsens, das allseitige bloße Meinen
zum Wissen erheben zu können.
Siehe: Karl Popper, Objektive Erkenntnis, Ein evolutionärer Entwurf
(Aus dem Englischen von H. Vetter), Hamburg 1973, S. 95 und passim.
Jürgen Habermas, Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der
kommunikativen Kompetenz; in: Habermas/Luhmann, Theorie der
Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Theorie- Diskussion, Ff./M. 1971,
S. 101 ff.
7) Hegel wendet gegen Kants notwendige Antinomien im Beweise Gottes folgendes:
"Kämen solche Bestimmungen der Welt, Gott, den Freien zu, so wäre
objektiver Widerspruch vorhanden; dieser Widerspruch ist aber nicht an
und für sich vorhanden, sondern kommt nur uns zu: er hat seine Quelle
allein in unserem Denken. ... So ist aber der Widerspruch nicht
aufgelöst; er besteht vor wie nach. Das ist zuviel Zärtlichkeit für die
Dinge; es wäre schade, wenn sie sich widersprächen. Daß aber der Geist
(das Höchste) der Widerspruch ist, das soll kein Schade sein. ... Die
wahrhafte Auflösung geht auf den Inhalt, daß die Kategorien keine
Wahrheit an ihnen haben..."
G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Bd. III (Reclam), Leipzig 1971, S. 514 f.
8) Kant, a.a.O., B 23.
9) Hegel weist darauf hin, daß die Kantische Philosophie nur eine neue
Interpretation der in der Wissenschaft auftretenden Formen von
Allgemeinheit und Notwendigkeit ist - sie fügt diesen nichts hinzu und
nimmt ihnen nichts:
"Daß sich in der Erkenntnis die Bestimmungen der Allgemeinheit und
Notwendigkeit finden, dies Faktum stellt der Humesche Skeptizismus
nicht in Abrede. Etwas anderes als ein vorausgesetztes Faktum ist es in
der Kantischen Philosophie auch nicht; man kann nach der gewöhnlichen
Sprache in den Wissenschaften sagen, daß sie nur eine andere Erklärung
jenes Faktums aufgestellt habe."
Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Bd. 1, in:
Hegel Werkausgabe, Hrsg. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel (im
folgenden: WW), Bd. 8, § 40 Zusatz, Ff./M. 1970, S. 113.
10) Kant, a.a.O., B VII.
11) Hegel, Enz. 1, § 41, WW8, S. 113. siehe auch:
"Kant nennt nun seine Philosophie deshalb Transzendentalphilosophie,
d.h. ein System der Prinzipien der reinen Vernunft, d.h. der
Prinzipien, die das Allgemeine und Notwendige in dem selbstbewußten
Verstande aufzeigen, ohne sich mit den Gegenständen zu beschäftigen
noch zu untersuchen, was Allgemeinheit und Notwendigkeit sei."
ders., Gesch.d.Phil. Bd. III, S. 490.
12) ders., Enz. I, WW 8, § 41 mündlicher Zusatz 1, S. 114.
13) Auf den Fehler dieser Frage hat der Hegel-Schüler Marx mit seiner oft mißverstandenen 2. These über Feuerbach hingewiesen:
"Die Frage, ob dem menschlichen Denken gegenständliche Wahrheit zukomme
- ist keine Frage der Theorie, sondern eine praktische Frage. In der
Praxis muß der Mensch die Wahrheit, i.e. Wirklichkeit und Macht,
Diesseitigkeit seines Denkens beweisen. Der Streit über die
Wirklichkeit oder Nichtwirklichkeit des Denkens - das von der Praxis
isoliert ist - ist eine rein scho1astische Frage."
Karl Marx, Thesen über Feuerbach, MEW Bd. 3, S. 5. Entgegen dem
universellen Mißverständnis des sogenannten orthodoxen Marxismus
formuliert Marx hier nicht die Praxis als Kriterium der Wahrheit. (Zu
dieser Auffassung siehe: W. I. Lenin, Materialismus und
Empiriokritizismus, in: Lenin Werke, Berlin (Ost) 1973, Bd. 14, S. 137;
sowie: G. Klaus/M. Buhr (Hrsg.), Philosophisches Wörterbuch, Leipzig
1975, Stichwort 'Praxis', S. 966 ff.) Marx unterscheidet lediglich eine
innertheoretische Frage von einer, die das Denken nichts angeht. Jede
einzelne Theorie beweist ihre Wahrheit durch die Schlüssigkeit, d.h.
Notwendigkeit ihrer Argumente - nach diesem Grundsatz hat sich Marx
auch praktisch verhalten, der er sein Leben lang andere Theorien
theoretisch kritisierte. Die Frage aber, ob das Denken überhaupt
Wirklichkeit habe, ist keine Frage, die sich das Denken stellen oder
gar beantworten kann, ohne sich selbst zu widersprechen; denn es fragt
sich doch, ob dann die Frage selbst Wirklichkeit hat, bzw. mit welchen
Argumenten bewiesen werden soll, daß mit Argumenten wirkliche
Verhältnisse bewiesen werden können. Die "Macht" des Denkens beweist
sich freilich nur in der Praxis.
14) In der Philosophie des 20. Jahrhunderts hat es zwei bemerkenswerte
Wendungen dieses Hegelschen Arguments gegeben, von denen sich das hier
vertretene Verständnis abgrenzt. Ob mit Kenntnis der Hegelschen
Kantkritik oder nicht hat Ludwig Wittgenstein auch vom
"Grenzen"-Argument Hegels Gebrauch gemacht. Auch er hat bemerkt, daß es
einen Widerspruch macht, über die Grenzen unserer Erkenntnis reden zu
wollen, weil man mit dem Wissen um die Grenzen über sie schon hinaus
ist, bzw. umgekehrt: weil man ohne Bezugspunkt außerhalb unserer
Erkenntnis (Sinne, Erfahrung, Bewußtsein) keine Veranlassung hat, eine
Beschränktheit oder Unangemessenheit des Denkens gegenüber allen
möglichen Objekten zu behaupten. Eigentümlicherweise schließt
Wittgenstein aus diesem Argument nun aber nicht, daß Mißtrauen in das
Denken und Sprechen unbegründet ist, sondern umgekehrt, daß es sogar
außerordentlich begründet sei, man es aber nicht sagen könne; daß ihm
die Instanz der Kritik der Erkenntnis fehlt, läßt ihn nicht sein
Mißtrauen in es vergessen, sondern an der Möglichkeit seiner Betätigung
verzweifeln:
"Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt. Die Logik
erfüllt die Welt; die Grenzen der Welt sind auch ihre Grenzen. Wir
können also in der Logik nicht sagen: Das und das gibt es in der Welt,
jenes nicht. Das würde nämlich scheinbar voraussetzen, daß wir gewisse
Möglichkeiten ausschließen und dies kann nicht der Fall sein, da sonst
die Logik über die Grenzen der Welt hinaus müßte: wenn sie nämlich
diese Grenzen auch von der anderen Seite betrachten könnte. Was wir
nicht denken können, das können wir nicht denken; wir können also auch
nicht sagen, was wir nicht denken können.
Diese Bemerkung gibt den Schlüssel zur Entscheidung der Frage,
inwieweit der Solipsismus eine Wahrheit ist. Was der Solipsismus
nämlich meint, ist ganz richtig, nur läßt es sich nicht sagen, sondern
es zeigt sich."
Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Ff./M. 1968, S. 89 f.
Der Kantkritik zuwider läuft m.E. auch die Auffassung der Frankfurter
Schule, besonders von Jürgen Habermas besprochen, daß Hegels Argument
gegen den Skeptizismus der erkenntnistheoretischen Reflexion nur auf
Basis einer "identitätsphilosophischen Vorentscheidung" formuliert
werden kann. Obwohl die schlagende Stelle aus der Phänomenologie
zitiert wird, meint Habermas nicht, daß die Erkenntniskritische
Skepsis, von Hegel als Grund der Differenz von Wissen über das Objekt
und Objekt nachgewiesen, fallengelassen werden sollte, sondern, daß die
Übereinstimmung von Denken und Sache erst durch die jene Differenz
hervorbringende Reflexion unter Beweis zu stellen wäre: Hegel habe nur
"vermeint', die "Erkenntniskritik als solche zu überwinden. Diese
Meinung schleicht sich ein, weil Hegel von Anbeginn eine Erkenntnis des
Absoluten als gegeben unterstellt, deren Möglichkeit doch auch und erst
recht nach Maßstäben einer radikalisierten Erkenntniskritik noch zu
erweisen wäre."
Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse, Ff./M. 1968, S. 18. Dagegen
aber behält die von Habermas zitierte Hegelstelle allemal recht:
"Inzwischen, wenn die Besorgnis, in Irrtum zu geraten, ein Mißtrauen in
die Wissenschaft setzt, welche ohne dergleichen Bedenklichkeiten ans
Werk selbst geht und wirklich erkennt, so ist nicht abzusehen, warum
nicht umgekehrt ein Mißtrauen in dieses Mißtrauen gesetzt und besorgt
werden soll, daß diese Furcht zu irren schon der Irrtum selbst ist. In
der Tat setzt sie etwas und zwar manches als Wahrheit voraus und stützt
darauf ihre Bedenklichkeiten und Konsequenzen, was selbst vorher zu
prüfen ist, ob es Wahrheit sei."
Hegel, Phänomenologie des Geistes, ed. Hoffmeister, Hbg. 1952, S. 64 f.
Hier bricht Habermas' Zitierung ab, denn er hat mit dem letzten
Halbsatz einen Beleg dafür, daß auch Hegel Voraussetzungen kennt, die
zuerst zu prüfen seien, ehe man sich ans Erkennen macht. Hätte er
weiter zitiert, dann hätte er eben diesen Fehler als die Voraussetzung
der Erkenntnistheorie gefunden, von dem Hegel dann abschließend sagt:
"...wodurch das, was sich Furcht vor dem Irrtume nennt, sich eher als Furcht vor der Wahrheit zu erkennen gibt." a.a.O., S. 65
15) Hegel, Enz. 1, WW 8, § 60, Zusatz, S. 143 f.
16) Hegel, Vorl. über die Geschichte der Philosophie, Bd. III, a.a.O. S. 648.
Hegel hatte selber die Notwendigkeit der Prüfung von
Gedankenbestimmungen hervorgehoben, freilich nicht als Voraussetzung,
als Bedingung der Möglichkeit von Wissenschaft, sondern als Teil von
ihr, der eben Klarheit in die angewendeten Formen des Denkens bringt,
der diese also nicht konstituiert:
"Hierin (im Ansatz der Kantischen Philosophie, P.D.) liegt allerdings
das Richtige, daß die Formen des Denkens nicht ununtersucht gebraucht
werden, aber dieses Untersuchen ist selbst schon ein Erkennen. Es muß
also die Tätigkeit der Denkformen und ihre Kritik im Erkennen vereinigt
sein. Die Denkformen müssen an und für sich betrachtet werden, sie sind
der Gegenstand und die Tätigkeit des Gegenstands selbst."
Hegel, Enz. 1, WW 8, § 41 Zusatz 1, S. 114.
Das Erkennen des Erkennens hat ebenso wie das der Ökonomie einen
wirklichen, gegebenen Gegenstand - eben unser Denken, das wir auch ohne
Logik tun und dessen eigene Gesetze bei der Erklärung profaner
Gegenstände längst und auch ohne getrennte Erforschung des Denkens
unabhängig vom besonderen Inhalt Geltung haben und beachtet werden. Als
Voraussetzung des Denkens wäre die Wissenschaft vom Denken absurd:
"Daß man durch sie (die Logik, P.D.) denken 1erne was sonst für ihren
Nutzen und damit für den Zweck derselben galt, - gleichsam als ob man
durch das Studium der Anatomie und Physiologie erst verdauen und sich
bewegen lernen sollte, - dies Vorurteil hat sich längst verloren..."
Hegel, Wissenschaft der Logik, ed. Lasson, Bd. 1 (im folgenden: Logik 1), Hbg. 1967, S. 4.
17) Kant bezeichnet diese Differenz selbst durch die Unterscheidung des
empirischen und des transzendentalen Vernunftgebrauchs. Letzterer darf
die Grenzen der möglichen Erfahrung überfliegen, ohne transzendent zu
werden, weil er die Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung aufsucht.
18) Hegel, Logik 1, S. 52 f.
19) Der Unterschied von Kraft und Äußerung ist ein rein formeller,
keiner des Inhalts. Die Analyse beider Bestimmungen zeigt sie als sich
ergänzende Seiten eines Verhältnisses, in dem der gleiche Inhalt einmal
als ein Inneres und einmal als ein Äußeres bestimmt ist. Dabei verweist
jede der zusammengehörigen Seiten auf die andere: Die Kraft auf die
Äußerung als auf ihre Wirklichkeit, und die Äußerung auf die Kraft als
ihr Wesen. Ich weiß also nicht mehr über eine empirisch vorfindliche
Sache, wenn ich sie als Äußerung eines Triebs oder Betätigung eines
Vermögens dazu bestimme; ich versichere nur tautologisch, daß ich die
Äußerung als Wirkung von etwas Innerem ansehen will. Siehe dazu: Hegel,
Wissenschaft der Logik, Bd. II, ed. Lasson, Hbg. 1969 (im folgenden:
Logik II), S. 144 ff., insbesondere S. 150.
20) Hegel, Gesch. d. Phil. III, S. 520 f.
21) a.a.O., S. 488.
22) a.a.O., S. 491.
23) ders., Enz. 1, § 41, S. 113.
24) ders., Gesch. d. Phil. III, S. 48S.
25) a.a.O., S. 486.
26) a.a.O., S. 484.
27) Diese Verkehrung von menschlichem Zweck und Mittel weist Marx etwa
bei der Lohnarbeit nach. Der Lohnarbeiter benutzt seine Arbeit als sein
Lebensmittel: "Aber, was das Wesentliche ist, der Zweck des Austauschs
für ihn ist die Befriedigung seines Bedürfnisses." An sich ist sein
Leben Mittel der Verausgabung von Arbeit:
"Statt ihre Verwunderung dahin zu richten - und es dem Arbeiter als ein
großes Verdienst des Kapitals anzurechnen, daß er überhaupt lebt, also
bestimmte Lebensprozesse täglich wiederholen kann, sobald er sich
ausgeschlafen und sattgegessen hat - hätten die schönfärbenden
Sykophanten der bürgerlichen Ökonomie ihr Augenmerk vielmehr darauf
richten sollen, daß er nach stets wiederholter Arbeit immer nur seine
lebendige, unmittelbare Arbeit selbst auszutauschen hat. Die
Wiederholung ist in fact nur scheinbar. Was er austauscht gegen das
Kapital, ist seine ganze Arbeitsfähigkeit, die er, say, in 20 Jahren
ausgibt."
Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Moskau 1939, S. 195/201.
Die praktische Angewiesenheit auf Arbeit, bisweilen auch Zwang, läßt
den Lohnarbeiter die Vermehrung des Kapitals praktisch als sein Mittel
ergreifen. Geschieht dieser theoretische Fehler der Praxis in der
Theorie, so liegt die Legitimation schädlicher Verhältnisse vor.
28) Hegel, Gesch. d. Phil. III, S. 483.
29) Es wird in späteren Kapiteln noch zu zeigen sein, daß Adornos
Kritiken an Einzelwissenschaften auf Basis dieses
erkenntnistheoretischen Konzepts durchgeführt werden - also unter einer
vorweg gewählten Zielsetzung. Keinesfalls verhält es sich umgekehrt,
daß eine unbefangene Untersuchung der Einzelwissenschaft zu Kritik und
dadurch zu dieser Konzeption der Erkenntnistheorie geführt hätte.
30) Man kann zum Beispiel nicht umhin, es schon für eher komisch zu
halten, wenn Adorno für die Differenz von Denken und Objekt
Größenverhältnisse angibt:
"Die begrifflichen Gehäuse, in denen, nach philosophischer Sitte, das
Ganze sollte untergebracht werden, gleichen angesichts der unermeßlich
expandierten Gesellschaft ... Überbleibseln der einfachen
Warenwirtschaft inmitten des industriellen Spätkapitalismus."
ND, S. 13.
31) Adorno, ND, S. 1S.
32) Adorno, ND, S. 42.
33) Auf solche Beispiele rekurriert wohl Wulff Rehfus, wenn er bemerkt:
"Adorno grenzt sich ständig gegen die eigenen Mißverständnisse ab und
formuliert dann unter neuer Bezeichnung das, was mit dem, wovon er sich
absetzt, schon immer gedacht wurde ... Er baut nicht vorhandene
Frontstellungen auf und bekämpft seine eigenen Fehlinterpretationen. Er
schlägt sich mit dem selbst erzeugten Popanz herum."
Wulff Rehfus, Die Rekonstruktion der Wahrheit aus der Ästhetik, Dissertation Phil. Fak. d. Universität Köln 1976, S. 15.
34) So äußert sich Hegel sehr lobend über diese Seite des Empirismus:
"Es liegt im Empirismus dies große Prinzip, daß, was wahr ist, in der
Wirklichkeit sein und für die Wahrnehmung da sein muß. Dies Prinzip ist
dem So11en entgegengesetzt, womit die Reflexion sich aufbläht und gegen
die Wirklichkeit und Gegenwart mit einem Jenseits verächtlich tut,
welches nur in dem subjektiven Verstande seinen Sitz und Dasein haben
soll. Wie der Empirismus, erkennt auch die Philosophie nur das, was
ist; sie weiß nicht solches, was nur sein soll und somit nicht da ist."
Hegel, Enz. 1, § 38 Zusatz, S. 108.
35) Hegel, Logik 1, S. 25 f.
36) Adorno, ND, S. 150.
37) a.a.O., S. 42 f.
38) a.a.O., S. 150.
39) Adorno, Philosophische Terminologie, Bd. 1, Ff./M. 1973 (im folgenden: PhilTerm) S. 88
40) Wenn Hegel sagt: "was wir bloß meinen, das können wir nicht sagen",
dann zielt er nicht auf einen Rest von Einzelheit am Objekt, der nicht
begrifflich zu bestimmen sei, sondern darauf, daß, wer so meint, ja gar
nichts weiß, was nicht in Begriffe gepaßt hätte, daß also die Dignität
der unmittelbaren Beziehung zur Sache, des Meinens, gegenüber dem
Wissen selber eine bloß gemeinte ist:
"Sie meinen also wohl, dieses Stück Papier das hier ein ganz anderes
als das obige ist; aber sie sprechen 'wirkliche Dinge äußere oder
sinnliche Gegenstände, abso1ut einze1ne Wesen' usf., d.h. sie sagen von
ihnen nur das Allgemeine; daher, was das Unaussprechliche genannt wird,
nichts anderes ist als das Unwahre, Unvernünftige, bloß Gemeinte."
Hegel, Phänomenologie des Geistes, ed. Hoffmeister, Hamburg 1952 (im folgenden: Phän.), S. 88.
41) Adorno, ND, S. 24.
42) a.a.O., S. 147.
43) Die Genese eines Standpunkts ist zwar kein Argument innerhalb
seiner Systematik, es mag aber doch nützlich sein, daran zu erinnern,
daß Adorno diese Auffassung von der prinzipiellen Äußerlichkeit der
Denkbestimmungen gegen die Objekte von seiner Neukantischen Ausbildung
her vom Anfang seiner philosophischen Anstrengungen aus übernommen
hatte. Zusammen mit Horkheimer promovierte und habilitierte (Adorno mit
einer ersten Arbeit, die zurückgewiesen wurde) er bei Hans Cornelius.
Dieser hatte in einem Kant-Kommentar zwar sehr treffend die
Grenzbestimmung des Dings-an-sich kritisiert, dann aber die Frage, wie
es angesichts der Einzelheit der Erfahrung zu Allgemeinheit und
Notwendigkeit komme, mit der Induktion beantwortet, ein Verfahren, von
dem Kant schon bemerkte, daß aus häufiger Gesetzlosigkeit keine Regel
folge. Siehe dazu: Hans Cornelius, Kommentar zu Kants Kritik der reinen
Vernunft, Erlangen 1926, S. 14 und S. 23.
Da auf diese Weise das Außereinander von allgemeinen Gedanken und
einzelnen Objekten nicht überwunden war, dachte Cornelius das
Allgemeine getrennt vom Besonderen und griff dazu auf die
Gestaltpsychologie zurück. Damit aber entsteht eben der Widerspruch,
der bei Adorno aufgezeigt wurde.
Aufschlußreich für die Klärung der Wurzeln der kritischen Theorie sind
besonders Max Horkheimers Arbeiten bei Cornelius: Zur Antinomie der
teleologischen Urteilskraft, Diss. Univ. Frankfurt 1923; und: Über
Kants Kritik der Urteilskraft als Bindeglied zwischen theoretischer und
praktischer Philosophie, Habilitationsschrift, Univ. Frankfurt 192S.
Siehe auch: Carlo Pettazzi, Ricerche sulla formazione del pensiero
filosofico di Adorno, Diss. Universita Statale di Miliano 1973.
44) Hegel, Gesch. d. Phil. III, S. 520.
45) a.a.O., S. 519 f.
46) Adorno, ND, S. 13.
47) a.a.O., S. 24.
48) a.a.O., S. 147.
49) a.a.O. S. 154
50) a.a.O., S. 15.
51) a.a.O., S. 149.
52) a.a.O.
53) Adorno, ND, S. 15.
54) "Über jenes Resultat vom Erkennen kann noch die weitere Bemerkung
angeschlossen werden, daß die Kantische Philosophie auf die Behandlung
der Wissenschaften keinen Einfluß hat haben können. Sie läßt die
Kategorien und die Methode des gewöhnlichen Erkennens ganz
unangefochten. Wenn in wissenschaftlichen Schriften damaliger Zeit
zuweilen der Anlauf mit Sätzen der Kantischen Philosophie genommen ist,
so zeigt sich im Verfolge der Abhandlung selbst, daß jene Sätze nur ein
überflüssiger Zierat waren und derselbe empirische Inhalt aufgetreten
wäre, wenn jene etlichen Blätter weggelassen worden wären."
Hegel, Enz. 1, § 60 Zusatz, S. 144 f.
55) Adorno, ND, S. 53.
56) Wie viele Arbeiten, die versuchen, Adornos Gedankengang weniger
kritisch offenzulegen als "verständlich" zu machen, operiert auch
Thomas Mirbach mit dem ständigen Hin- und Herspringen von
Erkenntnistheorie zu Gesellschaftstheorie und zurück. Damit hellt er
die Analogieschlüsse aber eben nicht auf, sondern vervielfältigt sie.
Bemerkenswert ist der Titel seiner Arbeit: "Kritik der Herrschaft"!
Ohne einen kritischen Gedanken gegen Adorno damit formuliert haben zu
wollen, hat er, so scheint es, tatsächlich mit dieser Formulierung
einen vorläufigen Begriff von Adornos Denken gegeben. Kritik der
Herrschaft ist sie gerade darin, daß keine Bestimmung darüber folgt,
welche Herrschaft denn da, kritisiert wird. Adorno kritisiert die
wirkliche, soziale Herrschaft als Unterabteilung der Herrschaft
überhaupt, und darunter fällt vornehmlich die 'Herrschaft' des
Gedankens bei der Erkenntnis und die des Zwecks beim Handeln. Über
diese 'Herrschaft' ist das Subjekt bestimmt!
Thomas Mirbach, Kritik der Herrschaft, Zum Verhältnis von
Geschichtsphilosophie, Ideologiekritik und Methodenreflexion in der
Gesellschaftstheorie Adornos. Ff./M./New York 1979.
57) Adorno, ND, S. 28.
58) Diese Formulierung benutzt Marx zur Charakterisierung seines
'Kapital', das natürlich "empirische" Wissenschaft ist und keine
Konstruktion a priori.
Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, 14MW 23, S. 27.
59) Adorno, ND, S. 32.
60) a.a.O., S. 31.
61) a.a.O.
62) Die Gleichsetzung von Theorie und Praxis im Begriff des
"Sich-Einverleibens" tut beiden, der Theorie und der Praxis,
gleichermaßen Unrecht. Es behauptet, daß das geistige
Sich-zueigen-Machen dem Objekt etwas wegnähme, und daß das praktische
Vernichten ihm Unrecht tue. Beides ist falsch. Siehe dazu näher Fußnote
81 dieses Kapitels.
63) Die Tradition der Metaphysikkritik in der Frankfurter Schule wurde
hauptsächlich von Max Horkheimer mit seinem Aufsatz 'Materialismus und
Metaphysik' (in: Kritische Theorie, (Hrsg.) Alfred Schmidt, Ff./M.
1968, Bd. 1) begründet.
"Die Metaphysik erhebt das Allerallgemeinste, etwa die Elemente, welche
allen Menschen aller Zeiten, aller Orte, aller Gesellschaftsschichten,
ja womöglich allem Dasein eigen sind, zum Konkreten'. Sie überbietet
sich im Hervorbringen immer neuer Lehren, immer neuer Entwürfe, um dies
Letzte, Ursprüngliche, Konkrete zu entdecken und auf es zu verweisen."
a.a.O., S. 53.
Auch den Zweck dieser Universalien, den später Adorno im systematischen
Denken selber zu entdecken meint, hat Horkheimer schon kritisch
aufgedeckt. Allen Anstrengungen bisheriger Philosophie
"scheint es gemeinsam zu sein, dem menschlichen Einzelwesen den Blick
in eine überpersonale Sphäre zu öffnen, die wesenhafter, sinnerfüllter,
substanzieller als sein Dasein. Sie leisten dem von Hegel
vorgezeichneten Begriff der Verklärung Genüge."
ders., Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die Aufgaben
eines Instituts für Sozialforschung; Öffentliche Antrittsvorlesung bei
der Übernahme des Lehrstuhls für Sozialphilosophie und der Leitung des
Instituts für Sozialforschung am 24. Januar 1931; in: Frankfurter
Universitätsreden 1931, XXXVII.
64) Ein herrliches Beispiel dafür, wie gleichgültig die Richtung der
Metaphysik für ihre Harmonie und Bescheidenheit stiftende Leistung ist,
bietet Friedrich Tomberg, der sein Buch zur Kritik der 'Bürgerlichen
Wissenschaft' mit folgendem religiösen Bekenntnis zur Materie
beschließt, mit dem er beweist, daß die antimetaphysisch gemeinte
Metaphysik der Natur bzw. der Objektivität die Stelle des lieben Gottes
ohne weiteres auszufüllen vermag:
"Vermöge der Wissenschaft ist der menschliche Geist in die Geheimnisse
dieser (der materiellen, der Verf.) Realität tief eingedrungen. Bis zu
den letzten Bausteinen glaubte er schon vorgedrungen zu sein, bis zu
den Atomen, den für unteilbar erklärten, bis zu den Elementarteilchen,
die sich nicht teilen, aber ineinander übergehen, im Resultat taten
sich jedoch ganz neue Dimensionen auf, die auf eine unendliche, noch
kaum zu ahnende Mannigfaltigkeit im Innern der Natur schließen lassen.
Wenn so der Staub beschaffen ist, aus dem die Menschen - nach einem
geheiligten Wort - geworden sind, und zu dem sie wieder werden sollen,
so brauchen sie um ihrer Endlichkeit willen mit ihrem Schicksal nicht
zu hadern. Die Materie, der die Individuen nach einer gewissen Zeit
ihres Lebens wieder ganz anheimfallen, ist kein toter, plumper Stoff,
sie ist vielmehr die Realität selbst, die als Ganzes in ihrer
Unerschöpflichkeit einen absoluten Vorrang vor allen ihren einzelnen
Momenten innehat." usf. ...
Friedrich Tomberg, Bürgerliche Wissenschaft; Begriff, Geschichte, Kritik, Ff./M. 1973, S. 178.
65) Matthias Tichy widmet eine ganze Arbeit dem "Verhältnis von
Allgemeinem und Besonderem" bei Adorno. Allerdings versäumt er, ganz
wie Adorno, die Subsumtion unter abstrakte Allgemeinheit als
theoretischen Fehler zu entwickeln. Er nimmt das instrumentelle Denken
als Ausdruck der Herrschaft in der Gesellschaft und macht sogar Adornos
Übergang zur Kritik der Subjektivität mit: daß das Individuum
Gesellschaft als sein Mittel begreift, soll auch schon praktisch das
Herrschaftsmoment im Einzelwesen repräsentieren. Deutlicher als Adorno
formuliert Tichy den Zirkel, der in dieser Gleichsetzung theoretischer
und praktischer "abstrakter Allgemeinheit" und der Ableitung beider
auseinander liegt:
"Die Antwort, die die kritische Theorie auf die Frage nach dem
Allgemeinen geben kann, wird darin bestehen, daß sie einen bestimmten
Begriff des Allgemeinen zur Kritik stelle, nämlich den des abstrakt
Allgemeinen, und im Aufweis seiner Unwahrheit einen anderen Begriff in
den Blick zu bringen versucht. Dieser Aufweis geschieht durch eine
immanente Kritik des Begriffs des abstrakt Allgemeinen, die jedoch
einen Anstoß von außen, die Erfahrung von Unversöhntheit von
Allgemeinem und Besonderem, braucht. Daher ist mit dieser Erfahrung zu
beginnen und von ihr aus der Begriff des Allgemeinen, der dieser
Erfahrung zugrunde liegt, anzugeben. Daraus wird wiederum die
Erfahrung, von der ausgegangen wurde, als objektiv zu erweisen sein."
Matthias Tichy, Theodor W. Adorno, Das Verhältnis von Allgemeinem und
Besonderem in seiner Philosophie, Bonn 1977 (Diss. Univ. Freiburg/Br.)
66) Es muß darauf hingewiesen werden, daß sich solche Argumente -
speziell das hier referierte - durchaus bei Adorno finden. In der
Kritik der Ursprungsphilosophie ist er seiner eigenen Forderung nach
immanenter Kritik am weitestgehenden gerecht geworden; allerdings zielt
seine Kritik nicht auf die Fehler und ihre Beseitigung, sondern er
verwendet immanente Argumente, um auf die Voraussetzungshaftigkeit
dieser Philosophien zu verweisen und um ihre Ursprungsfragestellung zu
radikalisieren. Siehe dazu den Abschnitt zur "Metakritik der
Erkenntnistheorie".
67) Auch Adorno selbst macht da keine Ausnahme. Im Gegensatz zur
"bürgerlichen Soziologie" bewertet er die Abstraktion nur negativ: Auch
ihm gilt die "Gesellschaft" als System, in dem der Einzelne irgendeine
Funktion für irgendein Ganzes hat, aber er verurteilt, "daß
Gesellschaft auf jeden Einzelnen primär als Nichtidentisches, als
'Zwang' stößt."
Adorno, Gesellschaft, in: Gesammelte Schriften Bd. 8, Ff./M. 1972, S. 12.
Wenn Adorno auf die kapitalistische Ausbeutung zu sprechen kommt, dann
nicht als das, was sie ist - Zweck der Produktionsweise sondern, im
Sinn der obigen Terminologie, als Prädikat der Abstraktion: der
Klassenantagonismus als eine - widersprüchliche - Form der Herstellung
von Einheit und Zusammenhang, kurz von System und Vergesellschaftung
unter den Menschen.
Diese logische Form hat Marx bei Hegel nachgewiesen, wo die
Wirklichkeit nicht das zu bestimmende Subjekt der theoretischen Sätze
bildet, sondern Hegels Abstraktionen (Substantialität etc.), die selber
nur Prädikate der Wirklichkeit sein können, zum Subjekt werden, das
wirkliche Subjekt aber "zum Prädikat seines Prädikats".
Siehe: Marx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts, MEW Bd.1, S. 215.
68) Diesen Gedanken ohne weitere Vertiefung oder in die Breite der
möglichen Nützlichkeiten gehende Begründungen hat Niklas Luhmann zum
Grundgedanken seiner Systemtheorie gemacht:
Gesellschaft ist die Reduktion von Komplexität! "Diese Reduktion der
äußeren Weltkomplexität auf ein Format, das Erleben und Handeln
ermöglicht, wird bei allen menschlichen Systembildungen durch Sinn
gesteuert..."
Niklas Luhmann, Zweckbegriff und Systemrationalität, Ff./M. 1973, S. 176.
Luhmann denkt sich die vielen Handlungsmöglichkeiten, die es gäbe, wenn
dem Menschen von der Gesellschaft nicht einiges ge- und verboten wäre.
Da er sich den Menschen nun als bloß Reagierenden auf allerlei Zwänge
vorstellt, wüßte sein Mensch, sobald er mehr dürfte, als er jetzt darf,
gar nicht mehr, was er machen sollte. Er könnte sich nicht entscheiden,
weil ihm die gewohnten Verbote abhanden kommen würden. So wird die
Gesellschaft im nächsten Schritt des Gedankenexperiments wieder
eingeführt und erscheint prompt als der deus ex machina: Sie verhindert
die Abwesenheit von sich selber.
69) A. Woll, Allgemeine Volkswirtschaftslehre, Berlin, Ff./M. 1969, S.
44. Dieses Standardwerk beginnt die Besprechung dessen, was Geld
inmitten der modernen Markwirtschaft ist, folgendermaßen:
"Ein unmittelbarer Tausch, 'Gut gegen Gut', ein Naturaltausch, ist mit
einigen Schwierigkeiten verbunden." - und so fort. Das Geld löst sie!
70) Siehe dazu: Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW Bd. 23, S. 102 ff.
71) Eine der wenigen Kritiken des instrumentellen Denkens in den
modernen Geisteswissenschaften liegt von Karl Held in Bezug auf die
Linguistik vor. Er beginnt seine Untersuchung mit einer
Charakterisierung des teleologischen Arguments, das die Natur seines
Gegenstands in den Nutzen für Anderes, seinen Bezug auf oder seine
Funktion in irgendwelchen Zusammenhängen verlegt.
"Daß sich die Linguistik mit Kommunikation befaßt, leuchtet noch jedem
unmittelbar ein: das Stichwort 'Sprache' läßt uns stets 'Mitteilung'
assoziieren. Hier stellt sich allerdings die Frage, ob die Sprache, als
bloßes Mittel der Kommunikation betrachtet, richtig erfaßt werden kann;
ob nicht die Einsichten über die Sprache allem Räsonnement über
Kommunikation, in der sie als Mittel auftritt, vorauszusetzen sind. Man
wird also mißtrauisch sein müssen gegenüber Theorien, die Sprache aus
ihrer Verwendung als Mittel erklären wollen."
Karl Held, Kommunikationsforschung - Wissenschaft oder Ideologie.
Materialien zur Kritik einer neuen Wissenschaft, München 1973, S. 8.
72) Adorno, ND, S. 28 und 29.
73) Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischem Ökonomie, a.a.O., S. 313.
74) Friedrich Engels, Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie, MEW Bd. 1, S. 515.
75) Hegel, Enz. 1, WW 8, § 205 mündl. Zusatz, S. 362.
76) Siehe dazu: "Denken ist ein Tun, Theorie eine Gestalt von Praxis."
Adorno, Marginalien zu Theorie und Praxis, in: Stichworte, Kritische
Modelle 2, Ff./M. 1969, S. 171.
77) Christel Beier spricht von "vagen Analogien", mit denen
gesellschaftstheoretische Aussagen dazu hergenommen werden, um
erkenntnistheoretische Grundsätze bezüglich "bürgerlicher
Reflexionsformen" zu belegen.
Christel Beier, Zum Verhältnis von Gesellschaftstheorie und
Erkenntnistheorie. Untersuchungen zum Totalitätsbegriff in der
kritischen Theorie Adornos, Ff./M. 1977, S. 45. Sie weist auch auf den
Zirkel hin, der bei Adorno besteht, wenn er seine erkenntnis- und
ideologiekritischen Aussagen mit gesellschaftstheoretischen beweisen
will; diese aber ihrerseits durch die Anwendung der Methoden, die erst
aus der Erkenntnistheorie gewonnen werden, erhält. (a.a.O., S. 44 f.)
Von diesem Urteil aus kommt Beier zu dem auch hier vertretenen Schluß,
daß Reflexionen auf die Erkenntnis und ihre Formen lediglich
erklärenden, keinesfalls aber für die empirische Wissenschaft einen
"begründungstheoretischen Status" haben dürfen, weil sonst der Zirkel
unvermeidlich ist. (a.a.O., S. 65)
78) Adorno, Zur Logik der Sozialwissenschaften; in: Der
Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Neuwied/Berlin 1969, S.
129.
79) Adorno, ND, S. 189.
80) a.a.O. S. 190.
81) Zu der Behauptung Adornos, das Denken und Handeln tue den Objekten
Gewalt an, sei schon an dieser Stelle folgendes angemerkt. Im Denken
kann keinem Objekt, was es auch sei, irgend Gewalt getan werden.
Metaphorisch mag zur Bezeichnung falscher Schlüsse schon einmal gesagt
werden, das sei ein 'gewaltsamer' Schluß, aber das darf nicht
buchstäblich verstanden werden. Das Denken, sei es richtig oder falsch,
ist ein rein theoretischer Bezug auf die Sache, die davon überhaupt
nicht berührt wird. Erkannt zu werden tut keinem Objekt weh - und sei
es der Mensch. Auch falsche Erkenntnis ist keine Vergewaltigung des
Objekts, denn sie resultiert lediglich im Nichtwissen der Bestimmungen
der Sache. Praktisch folgt daraus nicht Herrschaft Ober das Objekt,
sondern das Gegenteil; seiner unerkannten Eigengesetzlichkeit muß sich
das unwissende Subjekt unterwerfen. Nur richtige Erkenntnis führt zur
praktischen Herrschaft über die Sache. Aber auch hier ist die Rede von
der Gewalt, die der beherrschten Sache angetan würde, irreführend. Zur
Gewalt gehört nämlich immer ein Wille, der gebrochen wird; ein Stück
Eisen zum Amboß und nicht zum Huf zu machen, tut ihm nichts an, denn
diese Formen sind ihm, das keinen eigenen Zweck verfolgt, gleichermaßen
gleichgültig. Gewalt hat nur Sinn im Verkehr mit Menschen. Die im
Umkreis der Frankfurter Philosophie in der Studentenbewegung
aufgekommene Formulierung der "Gewalt gegen Sachen" ist ein Widerspruch
in sich - und bekommt nur durch das Recht auf Eigentum, dadurch, daß
bestimmte Menschen "ihren Willen ausschließend in diese Sachen legen",
einen rationellen Sinn.
82) Dies ist eine andere Ausdrucksform des Widerspruchs bei Adorno, der
das Denken einmal als objektiv und einmal als Ideologie nimmt.
Einerseits "scheint" in den "Formalismen der Wissenschaft" die Praxis
"blaß wider", andererseits macht sich Adorno - und zwar zurecht - über
die Widerspiegelungstheorie der Leninschüler lustig:
"Der Gedanke ist kein Abbild der Sache - dazu macht ihn einzig
materialistische Mythologie Epikurischen Stils, die erfindet, die
Materie sende Bildchen aus - sondern geht auf die Sache selbst."
"Erkenntnis besitzt nicht, wie die Staatspolizei, ein Album ihrer
Gegenstände."
ND, S. 203, 204.
83) siehe: Hegel, Gesch. d. Phil., Bd. III, a.a.O. S. 483.
Abstraktionen lassen sich sehr wohl gegen bestimmte Gegenstände und
Subjekte geltend machen, man denke nur an Beispiele, wo Menschen einer
Funktion unterworfen werden (Soldaten, Schichtarbeiter etc.) Freilich
kann man nicht die Wirklichkeit in einem universellen Sinn zur
Abstraktion machen - einen universellen Sinn aber setzte jede
Erkenntnistheorie voraus, weil diese ja Aussagen über das Verhältnis
des Denkens zum Objekt noch vor jeder besonderen Bestimmung des einen
oder anderen Objekts macht.
84) Adorno, ND, S. 147.
85) a.a.O., S. 32.
86) a.a.O., S. 178
87) ders., Zur Metakritik der Erkenntnistheorie, Ff./M. 1972 (im folgenden: Metakritik), S. 50.
88) ders., ND, S. 355.
89) a.a.O., S. 55.
90) Siehe: Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, ed.
Hoffmeister, Hamburg 1955 (im folgenden RPH), S. 14. Mit dem
Widerspruch gegen diesen Satz konfrontiert, gab Hegel in der Einleitung
zur Enzyklopädie der Wissenschaften eine Erläuterung der
mißverstandenen Bestimmung der Wirklichkeit:
"- das Zufällige ist eine Existenz, die keinen größeren Wert als die
eines Möglichen hat, die so gut nicht sein kann, als sie ist. Wenn ich
aber von Wirklichkeit gesprochen habe, so wäre von selbst daran zu
denken, in welchem Sinne ich diesen Ausdruck gebrauche, da ich in einer
ausführlichen Logik auch die Wirklichkeit abgehandelt und sie nicht nur
sogleich von dem Zufälligen, was doch auch Existenz hat, sondern näher
von Dasein, Existenz und anderen Bestimmungen genau unterschieden habe."
ders., Enz. 1, § 6 Zusatz, S. 48.
In der 'kleinen Logik' dazu: "Die entwickelte Wirklichkeit ist die Notwendigkeit."
a.a.O., § 147, S. 288.
Mit dieser Bestimmung hat Hegel die Beurteilung existierender
Verhältnisse aus der Zufälligkeit des frommen Wünschens und des "bloßen
Sollens", auf das die Welt ja bekanntlich nicht gewartet hat,
herausgehoben. Er hat der Vernünftigkeit der Dinge - ein an und für
sich irreführender Ausdruck für das positive praktische Urteil - ein
Maß genannt, nämlich die Notwendigkeit einer Sache. Etwas, das
notwendig ist, ist von vornherein jeder Kritik enthoben.
Was die Naturwissenschaft anbelangt, so vermag sie zwar nie die
Notwendigkeit der Naturgesetze nachzuweisen - das will sie auch gar
nicht; sie ist nämlich Naturwissenschaft und nicht Philosophie - aber
sie weist die Naturerscheinung als notwendig aus Gesetzen nach, und
zurecht kommt niemand auf die Idee, eine Naturkritik vorzutragen. Das
wäre absurd.
So kommt das Kriterium eigentlich erst so recht in gesellschaftlichen
Angelegenheiten zur Geltung; und gerade hier hat es sein Recht: Marx
hatte an Ricardo gelobt, daß er die bürgerliche Produktionsweise als
die notwendige Organisationsform des Fortschritts der Produktivkräfte
darzustellen versuchte, und ihm diese Behauptung bestritten. Nimmt man
Hegels Bestimmung der Notwendigkeit ernst, dann ist sie überhaupt
höchst restriktiv:
Nur diejenigen Existenzen sind notwendig und damit "vernünftig", die
"an und für sich sind", d.h. die einen selbstbewußten Zweck verfolgen.
Existenzen dagegen, die nicht an und für sich sind, müßten nicht so
sein, wie sie nun einmal sind, und haben weder die Strebung noch die
Macht, ihre zufällige Beschaffenheit gegen irgendwelche verändernde
Anstöße von außen festzuhalten. Wendete man allein diese Bestimmung auf
die bürgerliche Gesellschaft an, so charakterisierte diese sich als
'zufällige Existenz'; und zwar deswegen, weil sie keine selbstbewußte
Zweckmäßigkeit verkörpert, sondern ihren objektiven Zweck jenseits des
Willens der wirklichen Subjekte und durch diese hindurch verwirklicht.
Engels bemerkte dazu:
"Und doch liegt auf der Hand, daß dies Gesetz (des Gleichgewichts am
Markt) ein reines Naturgesetz, kein Gesetz des Geistes ist. Ein Gesetz,
das die Revolution erzeugt ... Es ist eben ein Naturgesetz, das auf der
Bewußtlosigkeit der Beteiligten beruht."
Friedrich Engels, Umrisse einer Kritik der Nationalökonomie, MEW Bd. 1, S. 514.
Aber auch Hegel selbst vertritt diese Auffassung letztlich, wenn er in
der Weltgeschichte immer wieder ein Walten der "List der Vernunft"
entdeckt. Damit sagt er nämlich selbst, daß "die Vernunft" das Subjekt
einer historischen Bewegung ist, von der die wirklichen Subjekte den
Zweck weder wissen noch wollen.
Mehr aber noch: Existenzen, die einen Widerspruch, praktisch einen
Antagonismus inkorporiert haben, sind nach Hegel nicht nur nicht
wirklich, sondern noch nicht einmal möglich! Praktisch heißt das, sie
können aus sich heraus nicht bestehen.
Dagegen muß freilich schon gesagt werden, daß derlei Verhältnisse,
mögen sie auch nicht aus sich heraus Bestand haben, durch die
äußerliche Stütze der Macht gewissermaßen schon eine "Art" Wirklichkeit
- und zwar eine ganz schön dauerhafte - erhalten haben.
Schließlich braucht nicht weiter erwähnt zu werden, daß die Richtigkeit
von Hegels Kriterium praktischer "Vernünftigkeit" daran nicht Schaden
nimmt, daß er in der Rechtsphilosophie, der er die Bemerkung über die
Identität von Vernunft und Wirklichkeit vorausschickte, die bürgerliche
Gesellschaft mit falschen Argumenten für notwendig erklärte. Man denke
nur an die Ableitung des Privateigentums aus dem Willen oder an die des
Monarchen aus der Einzelheit des Staates.
Zur Kritik dieser Ableitungen siehe: Marx, Das Kapital, Bd. III, MEW
25, S. 628 f. Fußnote; sowie ders.: Zur Kritik des Hegelschen
Staatsrechts, MEW 1, S. 225 und passim.
91) Meine Darstellung der Verhältnisse der Leistungen der Theorie und
der davon unterschiedenen praktischen Beurteilung dürfte vom Standpunkt
Adornos wie auch der Tradition der Frankfurter Positivismuskritik als
positivistisch erscheinen; ganz so wie auch meine Einwände gegen die
Erkenntnistheorie.
"Gerade der Anspruch der Frische und theoretischen
Unvoreingenommenheit, das Feldgeschrei 'Zu den Sachen', stammt von
einer erkenntnistheoretischen Norm her: der positivistischen, die
Denken aufs gleichsam technische Verfahren der Abkürzung einschränkt
und die Substanz der Erkenntnis einzig dem zuschreibt, was ohne die
Zutat des Denkens da sein soll..
Adorno, Metakritik, S. 131.
Adorno setzt sich hier explizit gegen theoretische Objektivität und tut
damit zugleich dem Positivismus zu große Ehre an, daß er ihm diese
zubilligt. Zugleich gibt er zu erkennen, daß ihm das Positivistische am
Positivismus durchaus unbekannt ist. Dies besteht nämlich weder in
einer vom Positivismus gar nicht erfüllten wissenschaftlichen
Objektivität, noch darin, daß er die praktische Bewertung der Resultate
der Forschung auch dem praktischen Interesse überließe, sondern darin,
daß er keine Theorie als Urteil über die Wirklichkeit zu nehmen bereit
ist, sondern alle Theorien als bloße Meinungen behandelt, die, statt
objektiv zu sein, sich den Interessen der besonderen Forscher verdanken
und somit eines nie leisten dürfen: eine Kritik dessen, was es gibt.
Darin besteht "positives Denken".
92) Adorno nimmt auch umgekehrt jede Theorie, die praktisch
verwerfliche Zwecke einer Sache ans Licht bringt, als nicht einfach
objektive Erforschung der Sache, sondern als Ausdruck, nicht einer
legitimatorischen, sondern einer kritischen Ha1tung. Diese Herabsetzung
einer Theorie, die objektiv und unabhängig von der Haltung
Kritikwürdiges analysiert, ist in Frankfurt Tradition. Horkheimer hatte
schon 1933 Marx' Kapital als Ausdruck eines Interesses an einer
"einheitlichen Epoche" gedeutet:
"Die Konzeption des Prozesses zwischen Gesellschaft und Natur, die hier
schon mitspielt, die Idee einer einheitlichen Epoche der Gesellschaft,
ihrer Selbsterhaltung usf. entspringen bereits einer gründlichen vom
Interesse an der Zukunft geleiteten Analyse des geschichtlichen
Verlaufs."
Max Horkheimer, Traditionelle und Kritische Theorie, in: Alfred Schmidt
(Hrsg.), Kritische Theorie, Bd. 2, S. 174. Bei Marx, auf dessen
Einverständnis Horkheimer sich hier beruft, hätte er nur Ablehnung
geerntet. Dieser hatte nämlich immer wieder betont, daß sich seine
politische Parteinahme für das Proletariat seiner Einsicht in die
Gesellschaft verdanke, nicht umgekehrt die Gesellschaftstheorie seiner
Liebe zur arbeitenden Klasse. Im "Nachwort zur zweiten Auflage" vom
"Kapital" Bd. 1 gibt er an, daß der Nutzen seiner Theorie für die
Arbeiterklasse sich der Einsicht in die kapitalistische Gesellschaft
und den "historischen Beruf" des Proletariats verdanke, nicht aber der
"historische Beruf" dem frommen Wunsch, etwas für die Armen zu tun.
"Soweit solche Kritik überhaupt eine Klasse vertritt, kann sie nur die
Klasse vertreten, deren geschichtlicher Beruf die Umwälzung der
kapitalistischen Produktionsweise und schließlich die Abschaffung aller
Klassen ist."
Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, S. 22.
Die deutlichste Ablehnung für diese Art moralischen Lobs hätte sich der
Standpunkt der Frankfurter Philosophie von Engels geholt, der in einem
Brief an Lafargue klarstellte, daß man Marx nicht richtig verstanden
hatte, wenn man meinte, ihn wegen seiner hohen Einstellung loben zu
müssen.
"Marx würde gegen das politische Ideal protestieren, das Sie ihm
unterstellen. Wenn schon von einem Mann der Wissenschaft, der
ökonomischen Wissenschaft, die Rede ist, so darf man keine Ideale
haben, man erarbeitet wissenschaftliche Ergebnisse, und wenn man
darüber hinaus noch ein Mann der Partei ist, so kämpft man dafür, sie
in die Praxis umzusetzen. Wenn man aber ein Ideal hat, kann man kein
Mann der Wissenschaft sein, denn man hat eine vorgefaßte Meinung.'
Engels, Brief an Lafargue, in: MEW 36, S. 198.
93) Der eher kantianisch argumentierende Wulff Rehfus merkt von dieser
Position aus viele immanente Unstimmigkeiten bei Adorno. Er weist
richtig darauf hin, daß die Gleichsetzung von Erkenntnis und
Legitimation falsch ist und konsequent zum Ende der Theorie führen muß.
"Adorno geht noch einen Schritt weiter. Diese begriffliche Subsumtion
habe ihre Auswirkung auf die gesellschaftliche Wirklichkeit. Was im
Begriff als identisch behauptet würde, könne in der Wirklichkeit nicht
mehr als Widersprüchliches anerkannt werden. Denn der Begriff behaupte
ja die Identität. Die im Begriff vollzogene Identität verhalte sich
affirmativ gegen die Wirklichkeit. Dies ist Adornos Angriff auf den
Idealismus: Synthesis wird mit Identität gleichgesetzt und Identität
des Denkens mit Affirmation der gesellschaftlichen Wirklichkeit."
Wulff Rehfus, Die Rekonstruktion der Wahrheit aus der Ästhetik, Diss. an der Phil. Fak. der Univ. Köln 1976, S. 24.
Adorno meine, die Vermeidung dieser Hypostasierung der Begriffe zu
Rechtfertigungen "nur darin erblicken zu können, daß das Denken seine
Einheitsstiftung des Nichtidentischen aufgibt und sich der chaotischen
Disparatheit der Mannigfaltigkeit der Anschauung anpaßt. Damit aber ist
Erkenntnis überhaupt nicht mehr möglich. Adorno jedoch meint, nur so
der Affirmation entgehen zu können." a.a.O., S. 40.
94) Adorno, ND, S. 160.
95) Adorno, Philosophie und Lehrer, in: Eingriffe. Neun kritische Modelle, Ff./M. 1963, S. 40.
96) Dieses universelle A priori der Kritik ist von vielen, auch
"konservativen" Autoren als die Fortsetzung der "Philosophie des
Ersten", die Adorno gerade einer Kritik unterziehen wollte, erkannt
worden. Manfred Riedel sieht hier eine negative Ontologie, ebenso
Günter Rohrmoser, Karl-Heinrich Birzele die Fortführung des Mythos, den
die Aufklärung überwinden wollte.
Manfred Riedel schreibt in einer Rezension von Herbert Marcuses "Der eindimensionale Mensch":
"Die Rede von der Eindimensionalität des Menschen hat einen a priori
kritischen Sinn - sie schließt die Anerkennung einer alternativen
Dimension ein. Allerdings beginnt hier auch die Problematik von
Marcuses soziologischer Analyse. Selbst wenn man mit ihren kritischen
Tendenzen weitgehend übereinstimmt, wird man zugeben müssen, daß diese
Anerkennung nicht aus ihnen selber folgt, sondern im Grunde ontologisch
motiviert ist. Anstatt die gesellschaftliche Realität in ihre
Bestandteile aufzulösen, wirft diese Kritische Theorie ihr den Schleier
einer negativen Identität über, der die Kritik an das Bestehende bannt,
über das sie sich beständig hinaus wähnt."
Manfred Riedel, Der Denker Herbert Marcuse, Teil II. Die Philosophie
der Weigerung, in: Merkur, Köln 1967, Jahrgang XXI, Heft 236, Seite
1084.
Rohrmoser erinnert daran, daß einer Theorie totaler Negativität der Bezugspunkt fehlt, die Negativität daher reine Setzung ist.
"... eine Theorie totaler Negativität kann auch nicht die Vernunft als
Grund ihrer eigenen Ermöglichung für sich in Anspruch nehmen. Denn die
Vernunft selber unterliegt ja dem Bann, den es zu brechen gilt. Also
kann die Vernunft nicht das sein, was den Bann zu brechen vermag... Die
Theorie der negativen Dialektik verdankt sich sogar der Destruktion der
Vernunft."
Günter Rohrmoser, Das Elend der kritischen Theorie, Freiburg i.Br. 1970, S. 24.
Siehe auch: Karl-Heinrich Birzele, Mythos und Aufklärung, Adornos
Philosophie, gelesen als Mythos - Versuch einer kritischen
Rekonstruktion, Diss. an dem Phil. FB III der Univ. Würzburg 1977; zu
diesem Thema besonders die Seiten 147-156.
Diese Kritiken treffen Adorno, auch wenn man den schon in der
Einleitung erwähnten Verdacht nicht loswird, daß sich diese Autoren an
der ontologischen, mythischen, a priorischen Kritik vor allem deshalb
stoßen, weil sie radikale Kritik - und nicht so sehr, weil sie so gar
keine Kritik - ist: "Mit diesem Begriff gesteht die Kritische Theorie
ihre Unfähigkeit ein, die befreienden Tendenzen innerha1b der
bestehenden Gesellschaft aufzuweisen." (Riedel, a.a.O., S. 1086); "Den
Horizont einer Vermittlung sieht die Adornosche Theorie also
verstellt." (Rohrmoser, a.a.O., S. 29).
Diese Sätze lesen sich fast wie der Aufruf: Irgend etwas mußt du auch
einmal gut finden! Es geht aber gar nicht um das Recht zur Kritik das
man sich dadurch erwerben könnte, daß man für irgend etwas, das es
schon gibt, Partei ergreift, sondern um die Kraft der Kritik, die im
bestimmten Argument liegt. Eine universelle Kritik dagegen ist die
Haltung eines Denkens, das nur sich von allen fernhält und damit in
nichts mehr eindringt.
97) Adorno, Vorlesung zur Einleitung in die Erkenntnistheorie, gehalten
im Wintersemester 1957/58, Junius-Drucke, Ff./M., S. 9 (im folgenden:
ErkTh).
98) a.a.O., S. 8.
99) a.a.O., S. 177.
100) Adorno, Philosophische Terminologie, Bd. 1, Ff./M. 1973 (im folgenden: PhilTerm), S. 89.
101) ders., ErkTh, S. 188.
102) ders., PhilTerm, S. 89.
103) Adorno wendet Hegels Argument von den Grenzen, über die man schon
hinaus sein müsse, wenn man sie als Schranke, als Hindernis wisse, in
der schon von Habermas hier referierten Manier. Er nimmt es nicht als
immanente Kritik der Grenzziehung, sondern sucht Voraussetzungen:
"Im Sinn der kritischen Erwägung, die ich soeben durchgeführt habe,
liegt es, daß Sie eigentlich bereits auf dem Standpunkt jener
unendlichen, also über die Endlichkeit der Beziehung auf ein Objekt
hinausgehenden Vernunft stehen müssen, wenn Sie so etwas wie die
Grenzbestimmung der Vernunft eigentlich geben wollen. Diese Annahme (!)
ist es dann, die Hegel dazu..."
ErkTh, S. 210.
104) a.a.O., S. 177/178.
105) a.a.O., S. 180/181 f.
Es fällt auf, daß Adorno hier über die Leere und Tautologie der
Erkenntnistheorie - zurecht - spricht, dies aber in eben der Weise, in
der er materiale Wissenschaft, "den Begriff" etc. auch kritisiert. Dies
verweist darauf, daß Adorno materiale Wissenschaft von vornherein als
Erkenntnistheorie, bzw. als das letzte Glied der Ab1eitung der
Erkenntnis aus dem Subjekt auffaßt und zwischen der materialen Theorie
und der Metatheorie nicht unterscheidet. Er meint wirklich, daß die
Geltung eines inhaltlichen Satzes von der erkenntnistheoretischen
Metareflexion jenseits aller praktizierten Wissenschaft abhinge. Siehe
dazu den Abschnitt 'Zusammenfassung' dieses Kapitels.
106) Adorno, ErkTh, S. 212.
107) Wulff Rehfus bemerkt von seinem kantianischen Standpunkt aus, daß
die Auflösung der Einheit des Ich die Bedingung der Möglichkeit von
Erkenntnis untergräbt:
"Damit aber ein Individuum seinen eigenen Zerfall als Erkenntnis für
sich realisieren kann, muß notwendig das vorausgesetzt werden, was in
diesem Prozeß zerstört wird: eine Subjektivität, die sich
kontinuierlich durchhält. Um die Erkenntnis des Zerfalls machen zu
können, darf eben genau dieser Zerfall nicht statt haben... Dennoch
gibt Adorno vor, ohne es ausweisen zu können, daß das zerfallende
Subjekt die Erfahrung seiner eigenen Zerstörung machen könne."
Wulff Rehfus, a.a.O., S. 28.
108) Adorno, Metakritik, S. 13S.
109) Daß Adornos Denken durchaus unter die Logik der Skepsis fällt, die
Hegel im 'unglücklichen Bewußtsein' in der Phänomenologie des Geistes
dargestellt hatte, betont auch Wulff Rehfus, a.a.O., S. 64-68; s. a.
Hans Heinz Holz, Mephistophelische Philosophie, in: W.F. Schoeller, Die
neue Linke nach Adorno, München 1969, S. 188.
110) Die rationelle Behandlung des 'Konstitutionsproblems', in der
dessen Beantwortung nicht erst die Bedingung der Möglichkeit von
Wissenschaft zu stiften hätte, die also wissenschaftlich zu untersuchen
hätte, wie etwas Gegenstand für mein Bewußtsein wird, gehört in die
"rationelle Psychologie", die Hegel im 'subjektiven Geist' abgehandelt
hatte. Hier wäre der Gang über Empfindung, Wahrnehmung, Anschauung,
Erfahrung bis zum Denken über den Mangel der jeweiligen Stufen zu
entwickeln.
111) Adorno, Metakritik, S. 14/15 f.
112) "Das Erste muß der Ursprungsphilosophie immer abstrakter werden;
je abstrakter es aber wird, desto weniger erklärt es mehr, desto
weniger taugt es zur Begründung. Bei vollkommener Konsequenz nähert das
Erste unmittelbar dem analytischen Urteil sich an, in das es die Welt
verwandeln will, der Tautologie, und sagt am Ende überhaupt nichts
mehr."
a.a.O., S. 22.
113) a.a.O., S. 134.
114) entfällt.
115) Jürgen Habermas, Erkenntnis und Interesse, a.a.O., S. 59.