- Texte -
Jack London auf der Roamer

König Alkohol
(John Barleycorn)

Kapitel 35 - Jack London
übersetzt von Reinhard Wissdorf 

Aber die Schuld mußte bezahlt werden. John Barleycorn begann einzufordern, und er forderte weniger vom Leib als von meinem Geiste. Die alte, langwierige Krankheit des Intellekts brach wieder aus. Die längst entschwundenen Gespenster hoben wieder die Köpfe. Aber sie waren nun schrecklich verändert. Früher hatte ich sie, die ihren Ursprung im Geiste hatten, leicht durch eine gesunde, normale Logik bannen können; jetzt aber steckte die weiße Logik John Barleycorns dahinter, und die Geister, die König Alkohol einmal gerufen hatte, sind nicht wieder zu bannen. Gegen diese Krankheit,durch das Trinken hervorgerufen, muß man antrinken, weitertrinken, um im Rausch die Betäubung zu suchen, die John Barleycorn verspricht, aber niemals gibt.

Wie soll ich dem, der sie nie kennengelernt hat, diese weiße Logik beschreiben? Es ist vielleicht besser zunächst zu zeigen, wie unmöglich eine solche Beschreibung ist. Nimm Cannabisland, das Land der endlosen Dehnung von Raum und Zeit. In vergangenen Jahren habe ich zwei denkwürdige Reisen in jenes ferne Land unternommen und die Abenteuer, die ich dort erlebt habe, sind mit unauslöschlicher Klarheit meinem Gehirn eingebrannt. Seitdem habe ich mit endlosen Worten vergeblich versucht jemandem auch nur das geringste meiner Erlebnisse erklären zu wollen, der meine Erfahrung nicht teilte.

Ich benutze die ausschweifendsten Metaphern und beschreibe, welche Jahrhunderte zwischen zwei schnell dahingeklimperten Klaviernoten liegen - unfaßbare Abgründe voll Schrecken und Todesangst. Stundenlang kann ich reden, um nur diese eine Phase des Haschischrauchens darzustellen - und am Ende hat der Zuhörer doch nichts verstanden. Und wenn ich nicht einmal diesen einen Aspekt von all den Schrecken und Wundern des Cannabislandes erzählen kann, wie soll ich dann auch nur einen leisen Begriff vom Ganzen geben?

Doch lasst mich zu einem sprechen, der wie ich dieses Zauberland bereist hat und sofort werde ich verstanden. Ein Satz, ein einziges Wort lassen in seinem Hirn die Vorstellung erstehen, die stundenlanges Erzählen dem, der nicht dagewesen ist, nicht geben können. Und ebenso verhält es sich mit John Barleycorns Reich, wo die weiße Logik regiert. Wer nie selbst dort war, dem müssen die Berichte unfaßbar und phantastisch erscheinen. Ich kann ihn daher nur bitten das, was ich jetzt berichten will, auf Treu und Glauben hinzunehmen.

Denn es sind verhängnisvolle Ahnungen der Wahrheit im Alkohol verborgen. In dieser Frage kann der Nüchterne für den Trunkenen zeugen. Es scheint verschiedene Wahrheiten in der Welt zu geben - eine ist wahrer als die andere. Manche Wahrheit ist Lüge, aber gerade sie ist es, die Wert für das Leben hat, die der Mensch, der existieren will, gebraucht. Auf einmal siehst du, unbereister Leser, wie toll, wie gotteslästerlich das Reich ist, das ich dir beschreiben möchte. Aber ich kann es nur in der Sprache John Barleycorns, und die verstehst du nicht, denn sie wird nicht von deinesgleichen gesprochen. Ihr meidet die Straße des Todes und zieht nur die Straße des Lebens entlang. Doch es gibt Straßen und Straßen und für die Wahrheit gibt es Namen und Namen. Aber Geduld. Vielleicht wirst du doch noch durch das scheinbare Chaos meiner Worte in der Ferne die Schemen eines anderen Landes, eines anderen Volkes sichten.

Alkohol spricht die Wahrheit, aber seine Wahrheit ist ungewöhnlich. Die alltägliche Wahrheit, ist eine besondere, geringere Art der Wahrheit. Nehmen wir zum Beispiel ein Zugpferd. In allen Wechselfällen seines Lebens, muß es auf unfaßbaren, dunklen Pfaden vom Anfang bis an das Ende glauben, daß das Leben gut sei; daß die Plackerei im Geschirr gut sei; daß der Tod, mit welch blindem Instinkt es ihn auch auffassen möge, ein schrecklicher Riese ist; das Leben aber wertvoll und wohltuend. Und daß am Ende, mit verschwindendem Leben, nicht einfach ausgeknockt und geschlagen, die müden Knochen brechen. Daß jenes Alter etwas köstliches, verdientes sei, obwohl es ja nur bedeutet, daß es als magere Schindmähre vor den Trödlerkarren gespannt wird, um bei jedem Schlage, den es erhält, der langsamen Auflösung näher zu kommen, dem Ende, das darin besteht, daß alle die verschiedenen Teile seines Körpers auf verschiedene Weise verwendet werden (sein herrliches Fleisch, seine hellrosa, geschmeidigen Knochen, seine Säfte und Fermente und die Sinne, die dem allen Leben verliehen), in Gerbereien, Knochenmühlen und Leimsiedereien wandern. Bis zum letzten Schritt muß dieser Karrengaul bei den Geboten der geringeren Wahrheit bleiben, dieser Wahrheit des Lebens, die das Leben erst erträglich für ihn macht.

Dieses Zugpferd ist wie alle Pferde, wie alle Tiere überhaupt, den Menschen einbegriffen, vom Leben verblendet, von seinen Sinnen umgarnt. Es will leben - um jeden Preis. Das Leben ist gut, trotz aller Schmerzen, die es bringt. Das Spiel ist gut, auch wenn alles Lebende schließlich verlieren muß. Dies ist die Wahrheit, die zwar nicht für das Universum gilt, wohl aber für die Geschöpfe die darin eine Zeitlang bestehen wollen, ehe sie unweigerlich vergehen. Mag diese Wahrheit nun falsch sein oder nicht - sie ist die gesunde, normale, die vernünftige Wahrheit, an die alles Leben sich halten muß, wenn es leben will.

Nur der Mensch, allein unter den Tieren, hat das schreckliche Privileg der Vernunft erhalten. Das menschliche Hirn ist imstande, den berauschenden Schein der Dinge zu durchdringen und ihren überirdischen Zusammenhang ohne Rücksicht auf sich selbst und seine Träume zu erkennen. Er kann es tun, aber es ist nicht gut für ihn, wenn er es tut. Um zu leben, in Fülle und Lebendigkeit (das heißt, zu sein, was er ist), muß auch er sich vom Leben blenden, von seinen Sinnen umgarnen lassen. Was gut ist, ist wahr, weil nicht sein kann was nicht sein darf. Und ist dies auch nur eine von den geringeren Wahrheiten, so muß der Mensch sie doch kennen, muß sich der Mensch von ihr in der unabwendbaren Gewißheit leiten lassen, daß sie die absolute Wahrheit ist und daß es außer ihr keine andere Wahrheit auf der Welt gibt. Es ist gut, wenn der Mensch den Trug der Sinne und die Fallstricke des Fleischen als vollwertig hinnimmt und in nebelhaftem Empfinden den Listen und Lügen der Leidenschaften folgt.
Und der Mensch tut es. Zahllose Menschen haben die andere, wahrere Wahrheit erblickt und sind vor ihr zurückgewichen. Zahllose Menschen sind von der langen Krankheit ergriffen worden, und sie haben gelebt, um von ihr zu erzählen, und sie haben sich bemüht, sie bis an ihr Lebensende zu vergessen. Sie lebten weiter. Sie lebten sich aus, sie waren das Leben. Sie hatten recht.

Und da kommt John Barleycorn mit seinem Fluch, den er auf jenen herabbeschwört, der Einbildungskraft besitzt, der das Leben liebt und leben will. John Barleycorn schickt seine weiße Logik, den silbernen Boten der Wahrheit jenseits der Wahrheit, den Widerpart des Lebens, grausam und Öde wie ein sternenloser Raum, regungslos und eisig wie der absolute Nullpunkt, blendend durch die Kälte unentrinnbarer Folgerichtigkeit und unvergeßlicher Tatsachen. John Barleycorn läßt den Träumer nicht träumen, den Lebendigen nicht leben. Er vernichtet Geburt und Tod und löst selbst das Paradox des Seins in Nebel auf, bis das Opfer wie in "Die Stadt der furchtbaren Nacht" schreit: "Unser Leben ist Trug, unser Tod ein schwarzer Abgrund!" Und das Opfer dieser gräßlichen Vertraulichkeit nimmt Kurs auf den Weg des Todes.

co. Reinhard Wissdorf / StoryNet 1996 | Jack London Home | Texte | Essays | eMail