Das Spektakel, wie Guy Debord und die Situationisten es auffassten, wohnt der neuen imperialen Herrschaftsordnung inne. So oder so ähnlich zumindest ließe sich die These wiedergeben, die Michael Hardt und Antonio Negri in ihrem Buch Empire präsentieren. Die Aufmerksamkeit für die historischen Bedingungen, unter denen Debord seine Thesen zum Spektakel formulierte, machen dagegen vorschnelle Aktualisierungen vermeidbar. Stärken und Schwächen einer legendären Theorie treten hervor. Der folgende Beitrag skizziert jene Bedingungen in der Sozialgeschichte und im Pariser intellektuellen Milieu der sechziger Jahre.
Debords Analyse der Gesellschaft des Spektakels, so heißt es in Empire, sei heute »treffender und drängender« denn je. In der gegenwärtigen imperialen Gesellschaft bilde das Spektakel einen virtuellen Ort, einen Nicht-Ort jener Politik, für die innen und außen, natürlich und gesellschaftlich, privat und öffentlich nicht mehr so recht zu unterscheiden seien. Hardt und Negri definieren das Spektakel als einen Apparat aus Bildern und Vorstellungen, der zugleich diffus und integriert ist und dessen Aufgabe darin besteht, trennend und vereinheitlichend den öffentlichen Diskurs und die öffentliche Meinung zu produzieren und zu regulieren. Es handelt sich hierbei um eine Manipulation ohne Manipulator oder, in den Worten einer älteren Auffassung des Ideologischen ausgedrückt, um den sozialen Kitt der neuen imperialen Ordnung, der die pyramidale Konstitution innerhalb des durch eine Vielzahl sich kreuzender Repräsentations- und Machtverhältnisse gekennzeichneten Netzwerks zusammenhält. Das Spektakel zerstöre jede kollektive Form der Gesellschaft, indem es die sozialen Akteure individualisiert und dennoch in eine Uniformität des Handelns und Denkens drängt, die den realen Herrschaftsprozess zu stabilisieren verspricht. Im Unterschied aber zu Debord, der das Spektakel in der sich universalisierenden Warenproduktion begründet sieht, fundieren Hardt und Negri es in der sich mit der neuen imperialen Ordnung herausbildenden politischen Kontrolle und ihrer massenmedialen Verdoppelung. Sie sprechen in Anlehnung an Hobbes von der »Kommunikation der Furcht«, die Herrschaft als von einer »unerbittlichen Machtmaschine« angetrieben erscheinen lasse.
Tatsächlich gleiten Hardt und Negri in jenes soziologische Fahrwasser ab, in dem sich die situationistische Theorie des Spektakels zur Medien- und Kommunikationstheorie banalisieren lässt. Zumindest nach Debords Anspruch sollte die Theorie des Spektakels jedoch nicht nur einen gesellschaftlichen Teilbereich treffen, sondern die Totalität der von der Warenproduktion bestimmten modernen Gesellschaft. Gerade für den Topos der »immateriellen Arbeit«, der in der Konzeption von Hardt und Negri von außerordentlicher Bedeutung ist, könnten andererseits Debords Überlegungen zum Spektakel eine gewisse Aktualität für sich in Anspruch nehmen. Definiert ist die »immaterielle Arbeit« durch eine Neuzusammensetzung von Hand- und Kopfarbeit im unmittelbaren Produktionsprozess; Wissen und Kommunikation rücken mehr und mehr in dessen Zentrum. Heute, so Hardt und Negri, ist jede Art der Verausgabung von Arbeitskraft, sei sie materiell oder immateriell, intellektuell oder manuell, in einen »Kampf um die sprachlichen Bedeutungen und gegen die Kolonisation der kommunikativen Gesellschaftlichkeit von Seiten des Kapitals« verwickelt. Genau an dem zweiten Aspekt, dem Kampf gegen die Kolonisation der Kommunikation, setzt Debords Theorie des Spektakels an, während der erste Aspekt, der Kampf um den Sinn der Wörter, die Grenze der situationistischen Konzeption markiert.
Die historische Konstellation der Theorie
Um diese These zu erläutern, ist es notwendig, Debords Ansatz in die historische Konstellation seiner Entstehung und Ausformulierung zurückzuversetzen. Die Theorie des Spektakels ist vor dem Hintergrund der intellektuellen Auseinandersetzungen im Frankreich der späten fünfziger und der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts zu beurteilen. Allerdings kann im Rahmen dieses Artikels diese Konstellation nur angerissen werden. Um hier also den Weg etwas abzukürzen, sei auf das Buch Fast cars, clean bodies: decolonization and the reordering of French culture von Kristin Ross aus dem Jahr 1995 und auf den 1965 erschienen Roman Les choses. Une histoire des années soixante (dt. Die Dinge) von Georges Perec verwiesen. Ross stellt in ihrer sozio-kulturellen Geschichtsschreibung das Material zur Verfügung, um jene intellektuellen Gefechte im Spannungsbogen zwischen der politischen Opposition gegen den Algerien-Krieg und den Gaullismus einerseits und den durch Kino, Werbung und Literatur sich verändernden Wahrnehmungsweisen und Handlungsmustern andererseits begreiflich zu machen. Perec zeichnet das Soziogramm der jungen Generation in den Sechzigern. Er lässt seine Figuren, Jérôme und Sylvie, die beide, 24- bzw. 22jährig, Soziologie in Paris studieren und in der Marktforschung jobben, zwischen Konsumansprüchen und politischem Engagement hin und her taumeln, bis sie schließlich nach einem Umweg über Tunesien, wo Sylvie eine Anstellung als Lehrerin findet, in der französischen Provinz als Marketing-Spezialisten landen und dort die Leitung der Dependance einer Pariser Werbeagentur übernehmen.
Die wichtigsten Bezugspunkte der intellektuellen Debatte innerhalb der späten fordistischen Gesellschaft Frankreichs sind damit angedeutet: der Krieg gegen die algerische FLN und die Desillusionierung nach der Unabhängigkeitserklärung Algeriens im März 1962, vor allem nach dem Putsch unter Verteidigungsminister Boumedienne gut drei Jahre später; die autoritäre Staatsführung in den Anfangsjahren der Fünften Republik; der Konsumismus und die Expansion der Werbewirtschaft; die sozio-strukturellen Veränderungen der so genannten Mittelklasse wie der Arbeiterklasse; die kulturellen Phänomene: von der Suche nach veränderten Erzählstrategien etwa bei Alain Robbe-Grillet oder Michel Butor, über die Filme von Claude Chabrol oder Jean-Luc Godard bis zum Alltagsleben, etwa zu neuen Hygienestandards. Und schließlich noch eine Neuerung im Verlauf der sechziger Jahre: Der Strukturalismus löste den Existenzialismus als intellektuelle Mode ab. Wie Jean-Paul Sartre und etwa auch Henri Lefebvre ist Debord ein erklärter Gegner des Strukturalismus und denunziert ihn als »das vom Staat garantierte Denken«, das die gegenwärtigen Bedingungen der Kommunikation verabsolutiere.
An den Rändern des Marxismus. Ein konstitutives Moment dieser Konstellation habe ich bisher unterschlagen, ich meine den Bezug auf den Marxismus. Diesem Moment ist der umfangreichste Teil seines in neun Abschnitte gegliederten Buchs Die Gesellschaft des Spektakels gewidmet. Unter der Überschrift »Das Proletariat als Subjekt und als Repräsentation« zeichnet Debord hier die Entwicklung des Marxismus als Ideologie nach. Die finale These dieser Rekapitulation lautet: »Die revolutionäre Theorie ist jetzt jeder revolutionären Ideologie feind, und sie weiß, dass sie es ist.« Genau solche Sätze sind charakteristisch für Debords Position. Da ist zunächst der verschärfte Ton, der das kritische Verhältnis von Theorie und Ideologie im Marxismus zur Feindschaft steigert und dann sofort diese Steigerung zum Selbstbewusstsein der Theorie erklärt. Der zweite Satz produziert jene Schließung, in der die theoriepolitische Position zementiert ist. Die Exklusivität der eigenen Position innerhalb der intellektuellen Auseinandersetzung um den Marxismus besteht in der Behauptung, das historische Selbstbewusstsein des Marxismus zu repräsentieren. Jetzt hat die Stunde geschlagen, in der das revolutionäre Projekt des Marxismus, die historische Überwindung jeder in Klassen gespaltenen Gesellschaft, zu sich selbst kommt, »sichtbar« zu dem wird, »was es schon wesentlich war«. Unschwer zu erkennen, dass hierin die Stellung des absoluten Wissens bezogen ist.
Aus heutiger Sicht, zumal wenn die Schlachtordnungen vergangener Jahrzehnte nicht erneut aufgestellt werden sollen, bleibt allerdings zu fragen, was diese Inszenierung verbarg. In zentralen Punkten, etwa in der Kritik des Ökonomismus oder der These von der Materialität der Ideologie (»Das Spektakel ist die ins Materielle übertragene Weltanschauung«), steht Debord seinen marxistischen und strukturalistischen Zeitgenossen, etwa Louis Althusser oder Roland Barthes, zweifellos näher, als er einzugestehen bereit war. Heute, nachdem die Schlachtgeräusche verstummt und die Pulverschwaden verzogen sind, ist zumindest ein gemeinsames Anliegen auszumachen, nämlich die Mängel der marxistischen Ideologietheorie zu beheben. Sowohl die Theorie des Spektakels bei Debord, als auch das Konzept der ideologischen Staatsapparate und der Anrufung der Individuen als Subjekte der durch diese Apparate geregelten Praxisformen bei Althusser wie auch die semiologische Theorie der Metasprache bei Barthes lassen sich nicht im Basis-Überbau-Schema des traditionellen Marxismus fassen.
Theorie und Praxis
In diese besondere Konstellation also sind Debords 221 Thesen zur Gesellschaft des Spektakels hineinformuliert. Schon die Beiträge in der seit 1958 unregelmäßig erscheinenden Zeitschrift der Situationistischen Internationale kommentieren beständig diese Konstellation. Ungezählte Aussagen aus dem öffentlichen Diskurs werden hier als Signale entfremdeter spektakulärer Organisation präsentiert, jede Neuerung wird als Beitrag zur Restrukturierung des Spektakels gewertet. Debords Buch von 1967 gibt dieser Kritik schließlich ihre konzentrierte Form, die nicht in erster Linie als Quintessenz bisheriger Kritiken und als theoretischer Ausdruck situationistischer Publikationspraxis, sondern als deren späte theoriepolitische Ausrichtung und Befestigung verstanden werden muss. Debord verschafft sich einen Spielraum, indem er entgegen der antiessenzialistischen Wendung der französischen Intellektuellen, die mit einer ausdrücklichen Hegel-Kritik und der besonderen Beachtung der Sprache als System der Sinnproduktion verbunden ist, auf die hegelmarxistische Konzeption der Verdinglichung aus Georg Lukács' Geschichte und Klassenbewusstsein aus dem Jahre 1923 zurückgreift.
Genauer gesagt, Debord rekurriert auf die emphatische Formel der Einheit von Theorie und Praxis, in der die verdinglichten Bewusstseinsformen des Proletariats zu überwinden seien. Lukács, so heißt es an einer Stelle der Gesellschaft des Spektakels, habe die Rolle der revolutionären Organisation als Vermittlung von Theorie und Praxis ganz richtig gesehen, die Proletarier sollten nicht länger als Zuschauer, sondern bewusst wählend und erlebend das Organisationsgeschehen bestimmen. Nur habe Lukács sein »Traumbildnis« mit der realen Existenz der bolschewistischen Partei verwechselt, die 1917 zu nichts anderem getaugt habe, als zur Machtergreifung im Staat.
Das theoretische Konzept bleibt im Grunde allerdings unberührt von dieser Verwerfung der Partei. Die Vermittlung übernehmen andere Instanzen, bei Sartre, der Lukács' Buch gut kannte, die Intellektuellen, bei Debord die revolutionäre Organisation, deren einziges Kriterium zur Teilnahme die Anerkennung und Selbstaneignung der Kohärenz kritischer Theorie und ihrer Beziehung zur praktischen Tätigkeit darstellt. Das ist freilich nichts anderes als Lukács pur. Und so schleppen Debords Thesen zum Spektakel im Namen der wahren revolutionären Organisation eine Reihe hilfloser Begriffe wie etwa den des »falschen Bewusstseins« oder den der »Kohärenz der Kritik« und eine völlig überspannte Vorstellung der Dialektik von Abstraktem und Konkretem weiter (»Die konkrete Seinsweise des Spektakels ist die Abstraktion«), die sich nicht zuletzt in der gehäuften Verwendung der Vorsilbe »pseudo« oder der Wörter »Illusion« und »illusionär« ausspricht.
Spektakel und Metasprache
Wie gesagt, Debord formuliert vom Standpunkt des absoluten Wissens aus. Schon bei Lukács verdeckte diese Redeweise weithin seine zentrale Entdeckung: die ideologische Vergesellschaftung der Subjekte. Bei Debord nun schiebt sie sich vor die Erkenntnis, dass diese Vergesellschaftung nicht nur im Bewusstsein der Subjekte, sondern in deren sinnlicher, vor allem visueller Wahrnehmung bereits verankert ist. Die 34 Thesen im ersten Abschnitt seines Buchs dienen dazu, die gesellschaftliche Trennung von Leben und Bild herauszustellen. Die herrschenden Bilder sind mit Debord aber nicht nur als Symptome einer niedergehenden Gesellschaft, ihrer realen Kommunikationslosigkeit zu verstehen, sondern vor allem und zuerst als Effekte der gesellschaftlichen Organisation zu analysieren, wie sie die sinnliche Wahrnehmung der Subjekte orientieren.
Eine solche Analyse wird nicht ohne die Analyse der sprachlichen Verhältnisse auskommen. Debord hatte sich durch seine Positionierung in den intellektuellen Auseinandersetzungen diese Einsicht verstellt. Wenn Marx und Engels in der Deutschen Ideologie über die Philosophen sagen, dass sie »die Sprache zu einem eignen Reich verselbständigen«, dann kann die semiologische Ideologiekritik zeigen, wie diese Verselbständigung der Sprache durch die soziale Organisation der sprachlichen Form selbst ermöglicht ist. Die Metasprache, die nach der Analyse von Barthes jedes historische Produkt in eine Aussage essenziellen Typs verwandelt, indem sie die Bedeutungen überformt, ist nicht auf die Sprache der Philosophen beschränkt, sondern findet sich im Alltagsleben ebenso wie in den zahlreichen technischen Spezialsprachen. Während die metasprachlichen Aussagen überhand nehmen und sich ausbreiten, verflüchtigt sich die Realität. Die semiologische Analyse nun soll aus den Überformungen den Sinn rekonstruieren.
Vom Bild her denkend wie Debord und vom Wort her wie Barthes, lässt sich der Kampf gegen die Kolonisation der Kommunikation und um den Sinn der Wörter, der mit der Neuzusammensetzung von manueller und intellektueller Arbeit im Postfordismus entbrannt ist, in seinem doppelten Moment und Erfordernis begreifen: als ideologischer Kampf um neue Wahrnehmungsweisen und neue Redeweisen, gegen das Spektakel einer vermeintlich virtualisierten Realität wie gegen die Metasprache einer vermeintlich digitalisierten Kultur. Als in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts die im Fordismus veränderten Wahrnehmungsweisen und Handlungsmuster handgreiflich wurden, passierte, wie Johannes Agnoli 1968 schrieb, etwas Unvorhergesehenes. Das Objekt der Konsumwerbung und die manipulierbare Marktgröße verwandelte sich in ein Subjekt gesellschaftlicher Prozesse, das auch Subjekt der Politik werden sollte. Gut dreißig Jahre später ist andererseits zu erahnen, dass mit Jérôme und Sylvie, den Figuren aus Perecs Roman Die Dinge, die Prototypen der zum Standard gewordenen postmodernen Lebensverläufe dargestellt waren.