Autonomie oder Barbarei Ein Überblick über das Werk von Cornelius Castoriadis Von Max Zulauf Erschienen in: Direkte Aktion Nr.149, Januar/Februar 2002 Cornelius Castoriadis ist zwar einer der wichtigsten und originellsten Theoretiker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, er blieb indes zeitlebens relativ unbekannt. Mit Fug und Recht rühmte ihn Octavio Paz als einen Denker, "dem wir alle unschätzbare Aufklärung in Sachen Philosophie und Politik verdanken"1, nannte ihn Edgar Morin einen "enzyklopädischen Geist"2, bezeichnete ihn Axel Honneth als einen "der letzten großen Repräsentanten und Erneuerer (der) Tradition" der europäischen Linken und Schöpfer einer "bahnbrechenden Theorie"3. Doch nach wie vor besteht zwischen der Bedeutung seiner Gedanken und ihrer Rezeption eine tiefe Kluft. Selbst in Frankreich, seiner Wahlheimat, wo er als einer der wichtigsten Inspiratoren einer radikalen antistalinistischen Linken und der Bewegung des Mai 68 eine gewisse Anerkennung fand, wirkte er die meiste Zeit fast im Verborgenen und blieb sein Leben lang ein akademischer Außenseiter. Hierzulande ist sein umfangreiches Werk überhaupt erst richtig zu entdecken. Die Gesichtspunkte, unter denen es unser Interesse verdient, sind enorm weit gefächert. Castoriadis lesen heißt, die üblichen Demarkationslinien zwischen den Disziplinen und den Bereichen des Denkens ständig zu überschreiten. Das Fragen ohne Ende, das in seinen Texten pulsiert, ignoriert die konventionellen Grenzen zwischen den Wissensdomänen, weil es unkonventionellen, unakademischen, "unwissenschaftlichen" – eben zutiefst politischen Motiven folgt. Castoriadis spricht abwechselnd und zugleich als radikaler politischer Aktivist, Theoretiker und Historiker der Arbeiterbewegung, als Ökonom, Soziologe, Psychoanalytiker und Philosoph. Unermüdlich setzt er sich in allen Dimensionen und Domänen des Denkens und Handelns mit dem einen grundlegenden Problem auseinander: der Verwirklichung der individuellen wie gesellschaftlichen Autonomie und Emanzipation - und den schier unüberwindlichen Hindernissen dieser Verwirklichung. Wer sich heute diesem Problem stellen will, kommt um Castoriadis nicht herum. Ein Überblick über die Fragen, die ihn umtrieben, und den Eigensinn seiner Antwortsuche, der hier vermittelt werden soll, lässt sich am ehesten ausgehend von den Stationen seiner politisch-intellektuellen Biographie gewinnen. Am 11. März 1922 als Sohn griechischer Eltern im damaligen Konstantinopel (dem heutigen Istanbul) geboren, wuchs Cornelius Castoriadis in Athen auf. Unter der rechtsextremen Metaxas-Diktatur beteiligte er sich früh an der radikalen politischen Opposition und schloss sich 1942 den linken Trotzkisten an – die nicht nur von der Gestapo, sondern auch den Folter- und Mordkommandos der stalinistisch beherrschten EAM ("Nationale Befreiungsfront") verfolgt wurden. 1945 ergriff Castoriadis die Chance, die ihm ein Stipendium des Athener "Institut francais" bot, und ging nach Paris. "Socialisme ou Barbarie" Schon als er dort der trotzkistischen "Parti communiste internationaliste" beitrat, stand für ihn - konträr zur trotzkistischen Generallinie - längst fest, dass der Stalinismus keine vorübergehende bürokratische "Entartung" eines Arbeiterstaates darstellte, sondern ein neuartiges totalitäres Ausbeutungssystem, mit der Bürokratie als herrschender Klasse. Dieses System hatten Marxisten, so seine Überzeugung, genauso revolutionär zu bekämpfen wie die westlichen kapitalistischen Gesellschaften. Eine solche Position stieß im trotzkistischen Lager auf taube Ohren. Das führte bald zum Bruch: "Socialisme ou Barbarie" ("Sozialismus oder Barbarei"), die kleine Gruppe, die Castoriadis mit Gleichgesinnten gegründet hatte, wurde zur selbständigen Organisation, die eine Zeitschrift gleichen Namens herausbrachte. In der ersten Ausgabe vom März 1949 prognostizierte Castoriadis, daß die Antwort der Arbeiterklasse auf die Errichtung stalinistischer Regime in Osteuropa nur eine Revolte gegen die neue Bürokratie sein könne [2]. Dahinter stand die Überzeugung, dass Sozialismus nicht Parteiherrschaft und Verstaatlichung der Unternehmen bedeutet, sondern Selbstverwaltung in Produktion und Gesellschaft. Es ist heute kaum noch nachzuvollziehen, wie schwierig (und zudem nicht ganz ungefährlich!) es im politisch-kulturellen Klima des frühen kalten Krieges war, eine solche linksradikale Kritik an der UdSSR ("Vier Buchstaben, vier Lügen", wie Castoriadis sagte) und der stalinistischen Politik zu formulieren. "Socialisme ou Barbarie" bezog Position zwischen allen Stühlen und zwischen allen Fronten - zwischen den Verteidigern des kapitalistischen Westens und den – im Frankreich jener Jahre zahlreichen! – Verteidigern der UdSSR. 1953 rebellierten die ostdeutschen Arbeiter, 1956 gab Chruschtschow während des XX. Parteikongresses die stalinistischen Verbrechen zu und im gleichen Jahr bildeten sich während des ungarischen Aufstands Arbeiterräte, die mit ihren Forderungen nach Arbeiterdemokratie streikend die Prognose von 1949 bestätigten. Zusammen mit anderen undogmatisch-marxistischen Gruppierungen sorgte "Socialisme ou Barbarie" mit überzeugenden Analysen dieser Ereignisse maßgeblich dafür, dass sich in der Folge die Keime einer kapitalismus- wie stalinismuskritischen Neuen Linken bildeten, die in den Bewegungen der 60er Jahre aufgehen sollten.4 Bürokratischer Kapitalismus Am bürokratische Faden, den er seit den frühen Auseinandersetzungen um den gesellschaftlichen Charakter der UdSSR nicht mehr aus der Hand gab, zog Castoriadis beharrlich weiter. Es gelang ihm dabei, den zutiefst paradoxen Charakter kapitalistischer Herrschaft herauszuarbeiten. Das Konzept des "bürokratischen Kapitalismus", das Castoriadis entwickelte, besagt zum einen, dass die Trennung zwischen bürokratischer Leitung und den von ihr beherrschten "Ausführenden" oder "Befehlsempfängern" zum grundlegenden sozialen Gegensatz wird. Und es verweist zum anderen auf eine folgenreiche Paradoxie, die damit verbunden ist: dass nämlich die Arbeitenden das System nicht (nur) in Gang halten, indem sie den Befehlen der Herrschenden gehorchen, sondern dadurch, dass sie den irrationalen, oft sinnlosen Anweisungen des von der Alltagsrealität der Produktion abgeschnittenen Leitungsapparates widerstehen und zuwiderhandeln. Die Besonderheit kapitalistischer Herrschaft bestand für Castoriadis also in ihrer spezifischen, sehr konkreten, von den Beherrschten tagtäglich erfahrenen Widersprüchlichkeit. Kapitalismus bedeutet nicht, wie im orthodoxen Marxismus, Despotie (bzw. rationale Planung) in der Fabrik auf der einen und "Anarchie" auf dem Markt auf der anderen Seite; er bedeutet vielmehr immer – in der Fabrik und auf dem "Markt" – Despotie und "Anarchie" zugleich. Sein Charakteristikum ist die Pseudo-Rationalität einer Beherrschung des sozialen Lebens von außen, durch einen separierten Kontrollapparat – eine Pseudo-Herrschaft, deren irrationale Maßnahmen und Folgen ständig Widerspruch, Kampf und gesellschaftliche Krisenerscheinungen hervorrufen müssen [vgl. 5]. Die Krise des Kapitalismus wurzelt letztlich darin, dass er diesen Kampf und das damit verbundene Streben nach Autonomie permanent hervorbringt – und zugleich gezwungen ist, beides zu unterdrücken. Funktionieren kann dieses paradoxe System, mit all seiner technischen Komplexität und der Trennung seiner Manager von der wirklichen Produktion, die sie managen sollen, nur, wenn die von ihm Ausgebeuteten und Unterdrückten sich ihm wiedersetzen. Die Hälfte aller Bewegungen, die Hälfte des Arbeitshandelns der Arbeitenden zielt – meist still und verdeckt – auf Widerstand gegen kapitalistische Ausbeutung und Entfremdung [7, S. 114]. Dieser Widerstand, der sich schon im Entstehen "informeller" Gruppen im Betrieb ausdrückt, kann zu Formen autonomen Handelns führen, die für Castoriadis potentiell den Ausgangspunkt für eine radikale Umwandlung der Gesellschaft darstellen. Ausgehend von seiner Analyse der Widersprüche und Konflikte des bürokratischen Kapitalismus und der Erfahrung des ungarischen Aufstands konkretisierte Castoriadis von 1955 bis 1958 in der Aufsatzfolge "Sur le contenu du socialisme" ("Über den Inhalt des Sozialismus") - bis heute ein wichtiger Bezugstext für libertäre Sozialisten - seine Vorstellung vom Wesen und der Funktionsweise einer selbstbestimmten Gesellschaft. Der Inhalt des Sozialismus wird hier ausgehend von der Idee der Autonomie – der radikaldemokratischen Selbstgesetzgebung – neu zu bestimmen versucht. Als "Definition" des Sozialismus ergab sich die Arbeiterselbstverwaltung in der Produktion und die Selbstverwaltung aller gesellschaftlichen Tätigkeiten durch alle an ihnen Beteiligten: die universelle Macht der Arbeiterräte. Wichtig war Castoriadis vor allem der Versuch, ausgehend von den historischen Erfahrungen konkret zu zeigen, wie die Verwirklichung dieses Prinzips praktisch möglich ist [vgl. 6]. Bruch mit dem Marxismus Seine luziden Analysen entwickelte Castoriadis zunächst ausgehend von der Produktionssphäre, den Erfahrungen im Betrieb und am Arbeitsplatz.5 Die "Modernisierung" des Kapitalismus konfrontierte freilich auch mit andersartigen, wenig erfreulichen Phänomenen: dem massenhaften Rückzug ins Private und der zunehmenden Entpolitisierung des öffentlichen Lebens. Apathie, so erkannte Castoriadis bereits Ende der 50er Jahre, wird im "modernen" Kapitalismus, wo der Drang der Leute zur Teilhabe dauerhaft und systematisch auszuschalten versucht wird, eher zur Norm. Gerade die Arbeiterklasse, das revolutionäre Subjekt der marxistischen Theorie, ist vor diesen Tendenzen offensichtlich keineswegs gefeit. Aber auch andere, eher zur Hoffnung Anlass gebende soziale und politische Tendenzen waren mit dem traditionellen marxistischen Orientierungsrahmen kaum in Einklang zu bringen: Früher als viele andere erkannte Castoriadis in den neuen sozialen Bewegungen der Frauen, der Jugendlichen und Studenten sowie in den Kämpfen ethnischer und kultureller Minoritäten Anzeichen für eine Revolte gegen die moderne Gesellschaft, in denen sich Autonomiestreben und alternative Lebensentwürfe auf neue und unvorhergesehene Weise Ausdruck verschafften [vgl. 7]. Der Marxismus war selbst eine Ideologie und ein Hindernis für die neuen Bewegungen und die Hoffnungen auf eine grundlegende gesellschaftliche Veränderung geworden – so lautete die Schlussfolgerung, die Castoriadis zu Beginn der 60er Jahre zog. Die marxistische "wissenschaftlich-bürokratische" Theoriebildung selbst, deren Aufgabe es war, die gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten aufzudecken und von ihnen aus den allein möglichen politischen Weg zu weisen, hatte sich als Teil des Problems entpuppt, das sie zu kritisieren vorgab: der bürokratisch-kapitalistischen Entwicklungstendenzen. Im Unterschied zu vielen anderen wandte sich Castoriadis gerade deswegen vom Marxismus ab, weil er der revolutionären Tradition und damit dem Projekt einer radikaldemokratischen gesellschaftlichen Transformation treu bleiben wollte. "Ausgehend vom revolutionären Marxismus", so schrieb er, "sind wir an den Punkt gelangt, an dem man sich entscheiden muß, entweder Marxist zu bleiben oder Revolutionär zu bleiben; entweder einer Lehre die Treue zu halten, die schon seit langem keinen Anstoß mehr zum Denken und Handeln gibt, oder aber dem Entwurf einer radikalen Umwandlung der Gesellschaft treu zu bleiben." [1, S. 28] In der Aufsatzserie "Marxisme et théorie révolutionnaire" (1964/65) forderte er mit solchen Positionen nicht nur den traditionellen Marxismus, sondern zugleich den damals die französische akademische Welt beherrschenden Strukturalismus heraus. Während sich das intellektuelle Paris gerade mitten im Lévi-Strauss-/Althusser-/Foucault-Taumel befand, arbeitete Castoriadis – wieder einmal gegen den Strom – an einem umfassenden Perspektivenwechsel, der es ermöglichen sollte, die Bedeutung des revolutionären Entwurfs, des ihm entsprechenden Denkens und Handelns, in neuem Licht zu sehen und weiterzuentwickeln. Diese offene Infragestellung des Marxismus fand auch bei den Genossen von "Socialisme ou Barbarie" ein äusserst geteiltes Echo und führte zum offenen Konflikt. Nicht wenige – pikanterweise auch der später als Vordenker der "Postmoderne" Furore machende Lyotard, ein langjähriges Mitglied der Gruppe – bekämpften die Neuorientierung mit eher "altlinken" Argumenten. 1965 erschien die letzte Nummer der Zeitschrift, und 1967 löste sich die Gruppe endgültig auf. Aber die zentralen Ideen gewannen weiter Anhänger, vor allem bei einigen Aktivisten der sich rasch radikalisierenden Studentenbewegung. In den Forderungen nach Selbstverwaltung und nach "l’imagination au pouvoir", die sich dann im Mai 68 an den Pariser Häuserwänden fanden, hallten auch die Castoriadis-Texte aus der Zeit von 1949 bis 1965 wider. Der Bruch mit dem Marxismus und das Ende von "Socialisme ou Barbarie" waren auch tiefe Einschnitte in der persönlichen Entwicklung. Castoriadis, der sich seit 1960 selbst einer Analyse unterzog, wandte sich verstärkt der Lehre Freuds zu. Er absolvierte eine Ausbildung als Analytiker und begann 1974 zu praktizieren. Der damaligen Rede vom "Tod des Subjekts" setzte er die Idee entgegen, dass die Psychoanalyse, ähnlich wie die wahre Pädagogik und die wahre Politik, auf menschliche Autonomie abzielt: auf eine andere Beziehung zum Unbewussten, die dem Subjekt ein Erkennen und Akzeptieren seiner unbewussten imaginären Schöpfungen ermöglicht. Jenseits der vorherrschenden szientistischen Tendenzen, der Tendenz zur drogengestützten Therapie und der antipsychoanalytischen Trends des Zeitgeists versuchte er von da an immer wieder, den Sinn der Psychoanalyse als befreiende Praxis in Erinnerung zu rufen [vgl. 3]. Gesellschaft als imaginäre Institution 1975 erschien das Hauptwerk von Castoriadis: L’institution imaginaire de la société (dt. 1984 u.d.T. Gesellschaft als imaginäre Institution [1]). Castoriadis erkundet darin den Bereich des Gesellschaftlich-Geschichtlichen als Welt des Imaginären: als imaginäre Institution, als Schöpfung gesellschaftlicher Formen. Und er resümiert die Resultate seiner intensiven Auseinandersetzung mit der psychoanalytischen Theorie: seine Konzeption der ursprünglichen "psychischen Monade", die sich nur durch Zwang der gesellschaftlichen Realität öffnet und – wie die Träume, die Fehlleistungen oder der Wahnsinn bezeugen – nie ganz in dem gesellschaftliche Individuum aufgeht, das aus ihr gemacht wird. Die Kritik an der wissenschaftlich-bürokratischen Theoriebildung (auch) des Marxismus hatte für Castoriadis die fundamentale Frage der Theorie überhaupt und damit des gesamten überkommenen Denkens und seines Verhältnisses zur Praxis erneut aufgeworfen. Die ersten Befunde, die seine Beschäftigung mit dieser Frage zu Tage förderten, hatte er 1964/65 bereits in "Marxismus und revolutionäre Theorie" präsentiert; dieser lange Aufsatz bildete nun den ersten Teil des Buches. Hinzu kam nun als zweiter Teil - zehn Jahre später und nach erneutem Studium der Psychoanalyse, der Probleme der Sprache und der traditionellen Philosophie – die Abhandlung "Das gesellschaftliche Imaginäre und die Institution". Das Verbindungsglied besteht in der Kritik und Überwindung der überkommenen Konzeption von (auch revolutionärer) "Theorie". Revolutionäres Denken zielt - in der zu konkretisierenden und immer wieder neu zu reflektierenden Perspektive eines emanzipatorischen Entwurfs6 - auf radikalen gesellschaftlichen Wandel, auf die Umwälzung der bestehenden und die Schaffung neuer, egalitär-demokratischer Institutionen. Nichts scheint zunächst evidenter zu sein als die Tatsache, dass die Geschichte der menschlichen Gesellschaft immer schon und ganz wesentlich in der Schaffung einer Vielfalt von immer wieder anderen, neuen Institutionen besteht. Folgt man indes konsequent den überkommenen Kategorien und Schemata des okzidentalen theoretischen Diskurses, so muss man – wie Castoriadis herausarbeitet – von Rechts wegen leugnen, dass es solche Vielfalt und solche Neuschöpfungen überhaupt geben kann! Denn dieser Diskurs ist beherrscht von einer identifizierenden und Mengen bildenden Logik, die zugleich eine höchst folgenreiche Ontologie – d.h. eine Vorstellung vom Charakter allen Seins – transportiert: Sein kann hier strenggenommen immer nur als Bestimmt-Sein (Determiniert-Sein) gedacht werden, und damit ist in einer ersten Bestimmung - und nur in ihr - schon stets alles andere enthalten. Die Folgen sind – vor allem politisch-praktisch – höchst fatal: Nur die "Theorie" allein besitzt den Schlüssel zur "Wahrheit" der Bestimmung jeglichen Gegenstands und seiner Geschichte – und sie zwingt uns dazu, das Neue, das radikal Andere - sei es im Gewand "rationalistischer" oder "materialistischer" Erklärungen - auf einen bloßen "Unterschied" zu reduzieren. Selbst revolutionäre Theorien, die sich diesen Denkzwängen zu entwinden versuchten, wie jene von Marx, sind, wie Castoriadis im Einzelnen nachweist, an entscheidenden Stellen wieder in die überkommene Logik und Ontologie – und die entsprechenden Reduktionismen – zurückgefallen. Die Herrschaft von Kategorien und Schemata, die den anstehenden theoretischen und praktischen Aufgaben eines radikalen gesellschaftlichen Neuanfangs völlig unangemessen waren, war dort - mit katastrophalen Konsequenzen - ins Zentrum des revolutionären Entwurfs getragen worden. Castoriadis blieb nicht bei der Kritik dieser Entwicklung stehen. Er entwarf eine Alternative. Für die ihm vorschwebende "Antitheorie" eines sich nicht in die schimärischen Wahrheiten identitäts- und mengenlogischer Bestimmungen einschließenden Denkens wurden die "imaginären Bedeutungen" zu dem eigentlichen Element des Anderswerdens, aber auch des Zusammenhalts und der geschichtlichen Orientierung jeder Gesellschaft. Die gesellschaftlichen imaginären Bedeutungen - kulturelle Grundorientierungen, gesellschaftliche Selbst- und Weltbilder – "verkörpern" sich in den Institutionen. Ohne das auf eigentümliche Weise "ordnende" Element dieses Imaginären blieben die im engeren Sinn symbolischen und funktionalen Aspekte der Institution - die keine Analyse vernachlässigen darf - bloß leeres, lebloses Gerippe. Gesellschaften zeichnen sich durch ein je spezifisches "Magma" - wie Castoriadis die Seinsweise des Imaginären nennt, um sie von identitäts- und mengenlogischen Organisationsweisen deutlich abzugrenzen – imaginärer Bedeutungen aus. Gewiss muss jede Gesellschaft auch "Technik" und "Logik" (d.h. Sprache) "instituieren". Diese beiden Kerninstitutionen sind die Domänen der Identitäts- und Mengenlogik und damit Referenzfelder und Stützen des traditionellen Denkens. Doch weder "materielle Basis" (deren Entwicklungsgesetze, wie bei Marx, den Gang der Geschichte determinieren), noch etwa "kommunikative Rationalität" (als ewiges Potential der Sprache zum herrschaftsfreien Diskurs, wie bei Habermas) verbergen sich in ihnen. Sie sind das notwendige Medium, in dem sich das je besondere gesellschaftliche Imaginäre, das eine Epoche auszeichnet, "ausdrückt" und verwirklicht: es gibt eine kapitalistische Technik ebenso wie eine "kapitalistische Sprache". Das Imaginäre ist das entscheidende Element sowohl der gesellschaftlichen Stabilität als auch des Wandels, der Schöpfung neuer gesellschaftlicher Formen. Und deren Auftauchen und konkrete Gestalt kann strenggenommen niemals erklärt, sondern immer nur aufgeklärt werden - um sie dann entweder, mit Gründen, gutzuheißen und zu wollen oder aber abzulehnen und zu bekämpfen. Doppelcharakter der Gegenwartsgesellschaft
Aus dieser umgestellten Perspektive betrachtet, war die gegenwärtige "westliche" Gesellschaft nun als "dual" instituierte erkennbar geworden, als Gemisch heterogener imaginärer Strömungen. Das kapitalistische Projekt der Zentralität des "Ökonomischen", des Warenfetischismus und des unbeschränkten Wachstums, der fortschreitenden (Pseudo-) Rationalisierung, der Eroberung und Beherrschung der Natur und der stetigen Annäherung an ein totales (Pseudo-) Wissen und eine totale (Pseudo-) Kontrolle über seine natürlichen und gesellschaftlichen "Objekte", ist übermächtig. Das kapitalistische Imaginäre, von dieser Gesellschaft selbst geschöpft und instituiert, hat sich verselbständigt, regiert sie scheinbar souverän "von außen", ist zur fraglosen, unveränderbaren (allenfalls manipulierbaren) Pseudonatur geworden. Nichts anderes bedeutet für Castoriadis nun Entfremdung (oder Heteronomie): Verselbständigung der instituierten Bedeutungen, deren Prädominanz über die sie instituierende Gesellschaft. Doch damit ist nur die dominante Hälfte der doppelten Institution der heutigen Gesellschaft bezeichnet. Schon um halbwegs zu funktionieren, bedarf das kapitalistische Projekt opponierender Kräfte, Korrektive, die seine tiefreichende Irrationalität kompensieren oder in Grenzen halten. Dies ist eine der Quellen der zweiten prägenden Macht der modernen Entwicklung: des gesellschaftlichen Entwurfs individueller und kollektiver Autonomie. Ihm hat Castoriadis die alte revolutionäre Arbeiterbewegung ebenso zugerechnet wie die neuen Frauen-, Studenten- und Jugendbewegungen sowie die parallelen Neuanfänge in Kunst, Philosophie und Wissenschaft. Deren Opposition gegen Inhalte und Implikationen des kapitalistischen Projekts hat die institutionelle Gestalt der Gesellschaft mitgeformt und zumindest die Keime alternativer Vergesellschaftungsprinzipien hervorgebracht. Der Entwurf der gesellschaftlichen Autonomie, der bewussten Selbst-Institution der Gesellschaft, konkretisiert die früheren Vorstellungen von der gesellschaftlichen Umwälzung und erweitert sie. In der Konsequenz zielt der Autonomieentwurf auf die Beseitigung der gesellschaftlichen Heteronomie, auf ein radikal verändertes – nicht-entfremdetes – Verhältnis der sich selbst instituierenden Gesellschaft zu ihren Institutionen. Die grundlegende Maxime des zu verwirklichenden autonomen Gemeinwesens lautet: "Unser Gesetz ist, uns unsere eigenen Gesetze zu geben." [8, S. 342] "Wo Es war, soll Ich werden", so lautet die bekannte Zielformel Freuds für die psychoanalytische Kur. Im gesellschaftlichen Feld geht es, nach Castoriadis, um Ähnliches: Wo das verselbständigte Imaginäre, wo also Gott, die Natur, der Markt oder die Rationalität - und ihre jeweiligen irdischen Statthalter - waren, sollen Wir werden. Auch für den so verstandenen emanzipatorischen Entwurf – dem die Bezeichnung "Sozialismus" freilich (nicht nur, weil sie zum Instrument furchtbarer Mystifikationen wurde, sondern auch wegen der Ambivalenz des Begriffes selbst [vgl. 8, S. 329ff]) nicht mehr angemessen schien – blieb die Arbeiterbewegung ein zentraler Bezugspunkt. Doch die Geschichte der Arbeiterbewegung kann von nun an nurmehr als eine von mehreren Quellen gelten. Die Industriearbeiterschaft schrumpft seit langem rein zahlenmäßig immer mehr zusammen und tritt vor allem in den letzten Jahrzehnten nicht länger als selbstbewusste Klasse auf, die eine radikale gesellschaftliche Transformation anstrebt. Das Interesse an einer autonomen Gesellschaft ist nicht mehr klassenspezifisch. Außer der winzigen Minderheit der herrschenden Gruppen sind potentiell alle zu Adressaten des revolutionären Entwurfs geworden [vgl. 4]. Gegen den verallgemeinerten Konformismus Nach L’institution imaginaire meldete sich Castoriadis in einer Fülle von Aufsätzen und Interviews, die in den sechs Sammelbänden der Carrefours du labyrinthe (auf Deutsch leider nur der erste: [2]) vorliegen, weiterhin zu Wort. Das Spektrum der behandelten Themen und der meist ebenso profunden wie originellen Einsichten ist enorm: Es reicht von der griechischen polis über das immer wieder erörterte Problem des Imaginären in Gesellschaft und Psyche, die Rolle der modernen Wissenschaft und Technik, Fragen der Politik und der sozialen Gegenwartsanalyse bis hin zu beißenden Kommentaren über die Haltung der Intellektuellen in der "Postmoderne" – für Castoriadis schlicht die Ära eines zunehmend verallgemeinerten gesellschaftlichen, politischen, philosophischen wie künstlerischen Konformismus. Obwohl die akademische Welt seinem Werk schließlich eine gewisse Aufmerksamkeit zollte, blieb er in dieser Welt stets ein Außenseiter. Er wurde 1979 Forschungsdirektor an die Pariser "École des hautes études en sciences sociales", wo er bis 1995 zum Generalthema "Gesellschaftliche Institution und geschichtliche Schöpfung" sowie zu Problemen der Psyche zahlreiche Seminare hielt. Er arbeitete an einem mehrbändigen Werk über La Création humaine ("Die menschliche Schöpfung"), das er nicht mehr vollenden konnte. Cornelius Castoriadis starb, im Alter von 75 Jahren, am 26. Dezember 1997. Sein Nachlass ist beträchtlich. Neben anderen Vorarbeiten zu La Création humaine besteht er aus seinen Seminaren, deren vollständige Veröffentlichung (auf Grundlage von Tonbandmitschnitten) geplant ist. Der 1999 als erster erschienene Band, Sur ‚Le Politique‘ de Platon ("Über Platons ‚Politikos’ [‚Staatsmann’]") lässt ahnen, welche Schätze hier noch zu heben sind. Die letzten zwanzig Jahre seines Lebens hatte Castoriadis vor allem der philosophischen Vertiefung und Weiterentwicklung seiner originären Konzeption von der individuellen wie gesellschaftlichen Geschichte als imaginärer Schöpfung gewidmet, - ohne dabei auch nur einen Moment lang die ursprünglichen politischen Zielvorstellungen von der Selbstverwaltung und von einer selbstbestimmten Gesellschaft aus den Augen zu verlieren. Nicht nur hier zeigt sich die bemerkenswerte Kontinuität, Kohärenz und Folgerichtigkeit seines Schaffens. Er weitete seine frühen Konzepte allmählich zu einem umfassenden Entwurf individueller und gesellschaftlicher Autonomie aus, dessen Spuren er bis in die griechische Antike zurückverfolgte. Freilich beurteilte er die Chancen für seine unmittelbare praktische Verwirklichung – hier und heute – immer pessimistischer. Von den beiden imaginären Kernbedeutungen, deren Konflikt die moderne Welt geprägt hat – dem kapitalistischen Projekt der unbegrenzten Ausdehnung pseudorationaler Pseudoherrschaft und dem Autonomieentwurf - , scheint die erste auf der ganzen Linie zu triumphieren, während die zweite einen langen Niedergang erlebt. Dieser Niedergang lähmt den sozialen und politischen Konflikt – der bislang auch, so Castoriadis, das eigentliche Lebenselexier der modernen kapitalistischen Gesellschaft gewesen war. Diese Lähmung drückte sich für ihn etwa in den Proklamationen einer "Postmoderne", des "Endes der Geschichte" und deren soziokulturellen wie politischen Begleitumständen aus – für Castoriadis Symptome einer tiefen Krise und wachsenden "Bedeutungslosigkeit" der heutigen Gesellschaft insgesamt. Angesichts dessen begriff er seine Anstrengung zunehmend als Beitrag zu der langwierigen Arbeit an der Vorbereitung einer zukünftigen praktisch-politischen Renaissance des Autonomieentwurfs. Castoriadis lesen Den Sinn seiner Bemühung, den geschichtlich-gesellschaftlichen Verlauf aufzuklären, sah Castoriadis, wie erwähnt, gerade nicht im Aufstellen einer umfassenden, abschließenden "Theorie". Er verstand sie als seinen Beitrag zu unserer kollektiven Bemühung um Autonomie: uns selbst die Gesetze geben, in bewusster Weise, unter Beteiligung von uns Allen. Die Gesellschaft war und ist in der Lage, sich diese Bemühung, diesen "Entwurf" als imaginäres Ziel selbst zu setzen, genauso wie sie fähig war und ist zur Heteronomie: der imaginären Vorstellung und Einrichtung von Gesellschaft als Pseudonatur, Werk und Welt scheinbar außersozialer Größen (Götter, Natur, Vernunft, den Gesetzen der Geschichte). Autonomie ist keine Notwendigkeit, nichts garantiert ihre Verwirklichung. Sie ist aber auch keine Privaterfindung von Castoriadis, sondern eine gesellschaftliche Schöpfung: Die AutorInnen des Entwurfs der Autonomie sind die revolutionären Riesen der Geschichte, die Aufständischen von 1871, 1917, 1920, 1936, 1956... und die zahllosen stillen Saboteure des kapitalistischen Alltags damals wie heute. Auf den Schultern dieser Riesen kann der Denker jenen Entwurf, seiner bewussten Entscheidung folgend und mit Hilfe seiner Reflexion, explizieren und klären, um damit gewisse Gestalten des gesellschaftlichen Seins denkmöglich zu machen und auch in Zukunft denkmöglich zu erhalten – und psychisch besetzbar und politisch erkämpfbar. Diese Denk- und Handlungsmöglichkeiten bleiben. Castoriadis lesen heißt, die denk- und handlungsmöglich gewordene Autonomie erneut zu aktualisieren – und durch unsere eigene Aktivität weiterzuentwickeln. Und auch die Alternative bleibt, die Castoriadis von Anfang an umtrieb und die sich in unsere Tagen wieder einmal zuspitzt: Autonomie oder Barbarei. Literatur [1] Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie, Frankfurt 1984 (TB-Ausgabe 1990). [2] Castoriadis, Cornelius: Sozialismus oder Barbarei. Analysen und Aufrufe zur kulturrevolutionären Veränderung, Berlin 1980. [3] Castoriadis, Cornelius: Durchs Labyrinth. Seele, Vernunft, Gesellschaft, Frankfurt 1981. [4] Castoriadis, Cornelius: Die Frage der Geschichte der Arbeiterbewegung (1974), in: Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit (1998), Nr. 15, S. 15-68. [5] Castoriadis, Cornelius: Die "Rationalität" des Kapitalismus (1997), in: Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit, Nr. 16 (2001), S. 425-446. [6] Castoriadis, Cornelius: Sur le contenu du socialisme I (1955), wiederabgedruckt in : Le contenu du socialisme, Paris 1979, S. 67-102 ; Sur le contenu du socialisme II (1957), deutsch als : Arbeiterräte und selbstverwaltete Gesellschaft, Frankfurt 1974 ; Sur le contenu du socialisme III (1958), wiederabgedruckt in : L’expérience du mouvement ouvrier 2, Paris 1974, S. 9-88. [7] Castoriadis, Cornelius: Le mouvement révolutionnaire sous le capitalisme moderne (1960/61), wiederabgedruckt in : Capitalisme moderne et révolution 2, Paris 1979, S. 47-203. [8] Castoriadis, Cornelius: Sozialismus und autonome Gesellschaft (1979), deutsch in: Ulrich Rödel (Hrsg.), Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, Frankfurt 1990, S. 329-357. |
Fussnoten | |
Octavio Paz, Itinerarium. Kleine politische Autobiographie, Frankfurt 1993, S. 56. | |
Edgar Morin, Castoriadis, un titan de l'esprit (nécrologie), in: Le Monde, 30 décembre 1997, S. 1. | |
Axel Honneth, Die Kreativität des Sozialen. Zum Tode von Cornelius Castoriadis, in: Frankfurter Rundschau, 30.12.1997. | |
Vgl. Ingrid Gilcher-Holtey, "Die Phantasie an die Macht". Mai 68 in Frankreich, Frankfurt 1995. | |
«Socialisme ou Barbarie» versuchte selbst, eine Art Arbeitsforschung in revolutionärer Absicht, aufbauend auf Berichten ("témoignages") aus dem Arbeitsalltag, zu entwickeln. Vgl. Andrea Gabler, Die Despotie der Fabrik und der Vor-Schein der Freiheit. Von "Socialisme ou Barbarie" gesammelte Zeugnisse aus dem fordistischen Arbeitsalltag, in: Archiv für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit, Nr. 16, S. 349-378. | |
"Der Entwurf ist die Absicht einer Veränderung des Realen, geleitet von einer Vorstellung vom Sinn dieser Veränderung, orientiert an den tatsächlichen Bedingungen und bestrebt, eine Aktivität in Gang zu setzen." [1, S. 132] |
Hinweise
Auf der englischsprachigen "Cornelius Castoriadis – Agora International"-Webseite finden sich reichhaltiges, vor allem bibliographisches Material sowie aktuelle Informationen zur Diskussion über das Werk von Castoriadis:
http://aleph.lib.ohio-state.edu/~bcase/castoriadis/index2.html
Ebenfalls von Interesse ist die französischsprachige Seite der "Association Castoriadis":
http://www.multimania.com/ccastor/
Die gegenwärtig auf Deutsch lieferbaren Bücher (bzw. Sammelbände mit wichtigen Aufsätzen) von Castoriadis sind die unter [1], [3] und [8] im Literaturverzeichnis genannten. Über die zahlreichen französischen Originalpublikationen und die englischen Übersetzungen informiert zuverlässig die erstgenannte Webseite (die auch eine Bibliographie der deutschsprachigen Veröffentlichungen von und über Castoriadis enthält).
Die beiden letzten Nummern (15 und 16) des "Archivs für die Geschichte des Widerstandes und der Arbeit" enthalten schließlich, neben den im Literaturverzeichnis genannten Castoriadis-Aufsätzen, eine ganze Reihe von Artikeln über Castoriadis und "Socialisme ou Barbarie" sowie Beiträge von und Interviews mit anderen ehemaligen Genossen dieser revolutionären Gruppe (Lefort, Mothé, Simon).