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Bemerkungen über die Lähmung vom Dez'95 (Paris'96)

„Man darf sein Schweigen nur brechen, wenn man etwas zu sagen hat, was mehr wiegt als die Stille."
ABBÉ DINOUART, Die Kunst zu schweigen.

„Aber sicherlich ist es niemandem gegenüber respektlos, die Menschen einfach aufzuforderdern, zumindest die Ereignisse zu beobachten und zu beurteilen, wenn sie hartnäckig darauf bestehen, jede andere Art von Instruktion abzulehnen."
JOSEPH DE MAISTRJE, Essai sur le principe générateur des constitutions poltiiques.

I

Verdunstung

Nachdem sie wie ein Hauch einmütiger Euphorie aufgestiegen war, ist „die bedeutendste soziale Bewegung seit Mai 68" auf die gleiche Weise in sich zusammengefallen und hat nichts zurückgelassen, was auch nur ein wenig greifbar gewesen wäre; und wir sprechen offensichtlich nicht von sozialen Errungenschaften, im gewerkschaftlichen Sinn, sondern von wahrnehmbaren Spuren eines klareren Bewußtseins über den wirklichen Zustand der Welt und des Lebens. Nach 68 hatte Aron von „unauffindbarer Revolution" reden können, um diese Bewegung zu verspotten, die an den existierenden Institutionen nichts verändert hatte, und er hatte als Erklärung seines Buches die Souvenirs von Tocqueville mit ihrer ironischen Beschreibung der revolutionären Chimären zitieren können („Der eine wollte die Ungleichheit der Reichtümer zerstören, der andere die Ungleichheit des Wissens, der Dritte unternahm es, die älteste der Ungleichheiten zu nivellieren, die zwischen Mann und Frau..."). Es brauchte nichtsdestotrotz Jahre, um die Freiheitsgedanken auszurotten und in Fäulnis übergehen zu lassen, die sich dort getroffen hatten und als gemeinsame wiedererkannt wurden. Nach Dezember 95 konnte man von „vollständig gefundener" Revolution sprechen, da ja das Programm, die Ziele, der Sinn von allen Spezialisten formuliert wurden, und die Protagonisten selbst - Streikende und Demonstrierende - sehr schnell nurmehr die Rollen, die man ihnen zuwies, zu übernehmen und dann nach Hause zu gehen hatten, sobald das Stück beendet war, ebenso schnell, wie sich die Demonstrationen am Ende der Routen aufgelöst hatten. Und umso freiwilliger, als es tatsächlich nicht begeisternd ist, eine Rolle zu rezitieren, die andere geschrieben haben; aber sie hatten auch kaum versucht, sie selbst zu schreiben.

Seit dem Tag nach der Wiederaufnahme der Arbeit hätte man zweifeln können, daß tatsächlich etwas geschehen war. Ein Reisender, der nach einigen Wochen der Abwesenheit nach Frankreich zurückkehrte, hätte nichts von einer so „breiten Revolte gegen die Modernisierung" geahnt, die kaum erloschen war; und sicher zeugten die Gesichter der Transportierten/Lohnabhängigen nicht davon, daß sie, und sei es auch nur ein wenig, den berühmten „frischen Wind" geschnuppert hätten, noch daß sie laut ihre Verzweiflung und ihre Ablehnung der Welt ins Gesicht geschrien hätten. Aus dem einfachen Grund, weil nichts dergleichen sich ereignet hatte, außerhalb der Polemiken von Soziologen und Ökonomen in den Zeitungen; das falsche Bewußtsein schien ebenso intakt wie der Staat selbst, unter dem enormen Verhängnis der Welt, wie sie ist. Dennoch bescheinigte gerade das Bizarre dieses Eindrucks, dieses „als wäre nichts gewesen", jedem, daß es nicht mehr war wie zuvor, daß etwas geschehen war; aber was?

Auf ziemlich seltsame Weise hinterließ diese unvorhergesehene soziale Bewegung, wenngleich sie vorgab, siegreich in ihren Forderungen zu sein, einige Tage nach ihrer Verdunstung einen Eindruck von Niederlage und sogar von Zusammenbruch. Und diejenigen, die hatten abtreten müssen, erschienen wie Sieger. Sie waren es tatsächlich: den anderen blieb die Bitterkeit der verpaßten Gelegenheiten, dessen, daß keine der Ängste, die alle teilten, dort formuliert worden war.

Eines war von nun an für alle Welt klar: daß es keinen „Ausweg aus der Krise" geben würde; daß die ökonomische Krise, die Depression, die Arbeitslosigkeit, die Prekarität aller, etc. gerade zur Funktionsweise der planetarisierten Ökonomie geworden waren; daß dies mehr und mehr so sein würde; daß man nur die Wahl hatte zwischen der Anpassung und, zunächst, der Resignation darüber. Nichts hatte sich also geändert: die trüben und verhängnisvollen Fluten des ökonomischen Laufs der Dinge spülten uns weiter zu irgendeinem Abfluß hin, mit einer einziger Aussicht für jeden, der Notwendigkeit, Tag für Tag seine materielle Existenz zu reproduzieren. Aber das Neue war, daß niemand sich dies mehr verheimlichen könnte: daß man sich seine Angst und seine Mutlosigkeit eingestehen mußte, seine Ungläubigkeit gegenüber all den alten Versprechungen, daß alles schließlich gut enden würde, daß all die Müdigkeit und die Ängste eines immer aufgezwungenen, beschränkten Lebens eines Tages ihre Entschädigung finden würden, und zumindest die eines ruhigen Rentnerdaseins. So ging alles weiter, obwohl nichts so war wie zuvor: es war sogar mehr wie zuvor, denn es gab weniger die Illusion eines danach.

In einer Epoche, die mit einer solchen Ernüchterung über ihre Zukunft getränkt ist, würde revolutionärer Prophetismus verzweifelt hohl klingen; im übrigen hat außer mumifizierten Gauchisten niemand mehr Lust, Weissagungen über die großartigen Perspektiven zu machen, die sich uns eröffnen, aus dem einfachen Grund, weil sie nichts weniger sind als großartig. Der Prophetismus mit seinem orakelnden Ton wissenschaftlicher Unfehlbarkeit ist schon immer die schwächste Seite der sozialen Kritik gewesen; die Härte der Epoche ist mit ihm fertig geworden, ebenso wie mit dem naiven Glauben an den emanzipierenden Charakter des technischen Fortschritts - umso besser. Wie es ein Dialektiker in anderen finstren Zeiten ausgedrückt hatte: die Theorie, die alles von den Menschen und ihren Taten erwartet, prophezeit nicht. Aber gerade weil es unangebrachter ist als je zuvor, im Namen der Zukunft zu sprechen, muß man umso besser wissen, was man will, und es sagen: im Namen welcher Konzeption des Lebens, für welche Form gesellschaftlichen Lebens man sich schlägt. Genau darüber hat sich im Dezember das Wesentliche abgespielt, und darüber wird es sich jedesmal abspielen, wenn eine kollektive Verweigerung versucht, die Demoralisierung und die Isolation zu überwinden, die jeden in seinem privaten Elend einschließen.

Wenn man sagt, wie der anfangs zitierte Eisenbahner, daß ein „Gesellschaftsideal" gefehlt hat, wird ein orthodoxer Marxist, der aus seiner Tiefkühltruhe gekrochen ist, sofort das gebräuchliche Zitat abspulen, daß, um ihre eigene Emanzipation und mit ihr die höhere Lebensform zu verwirklichen, zu der die gegenwärtige Gesellschaft durch ihre eigene ökonomische Struktur unwiderstehlich, drängt, die Arbeiterklasse kein Ideal zu verwirklichen, sondern nur die Elemente der neuen Gesellschaft zu befreien hat, mit denen die alte, zusammenbrechende bürgerliche Gesellschaft schwanger geht. Diese ruhige Konzeption der Revolution als Entbindung - blind für alles, was ein Jahrhundert der Geschichte seit Marx schwerwiegend bewiesen hat, blind für das Wissen, daß die Warengesellschaft nur mit sich selbst schwanger war, und daß das, wozu sie unwiderstehlich „durch ihre eigene ökonomische Struktur" drängte, sicher nicht eine höhere Lebensform war - ist auf legitimere Weise von den Erleuchteten der computergestutzten Emanzipation wieder aufgegriffen worden, á la de Rosnay, die bessere Gründe haben, die neue Gesellschaft vorherzusagen, die in den Flanken jener entsteht, in der wir vegetieren, sowie die Aufhebung all der Widersprüche, in die sich die Irrationalität der Ware verwickelt hat, durch die Ankunft des kybernetischen New Age.

Die gegenwärtige Produktion bewahren und gleichzeitig die Warenbeziehungen abschaffen zu wollen, oder die Warenbeziehungen bewahren zu wollen, jedoch gemildert durch eine Auswahl „guter Produkte" oder „guter Aktivitäten", das sind unheilvolle Idyllen, und ebensosehr Absurditäten: sicher wird sich nicht das abspielen vor der Szenerie einer verschwendeten Natur, vergiftet durch die Chemikalien der industriellen Prosperität, erschöpft durch die menschliche Überschwemmung. „Nichts mehr wird so sein wie zuvor", tatsächlich, weil wir in die, vielleicht nicht sehr lange, Ära des Überlebens in extremer Umgebung eingetreten sind, wo völlig neuartige und unvorhersehbare Bedingungen mit der Kollektivierung des Überlebens neue Zwänge auferlegen. Die Welt, die wir vor Augen haben, ist die all der Fortschritte der Vernunft der Ware. Und der fanatische Sorman hat recht, wenn er feierlich verkündet, daß der Fortschritt auf ihrer Seite ist: er wird seit zwei Jahrhunderten von diesen Leuten gemacht. Wenn er hinzufügt, daß dank der laufenden Modernisierungen „das Schicksal der Franzosen sich noch verbessern kann", ist die Ironie selbstverständlich unfreiwillig; eine ziemlich grausame Ironie, so nicht allein unser Schicksal für schon zufriedenstellend zu erklären, sondern mehr noch, wenn man sich auch nur den Fortschritt beim Hautkrebs vor Augen hält, der aus der Auflösung der Ozonschicht resultiert.

II

Globalisierung

"Die Interessen und die Erinnerungen, die aus den lokalen Gewohnheiten stammen, enthalten einen Widerstandskeim, den die Autorität nur ungern duldet und den auszureißen sie sich beeilt. Sie hat die Individuen lieber; ohne Anstrengung rollt sie ihr enormes Gewicht über sie wie über Sand." (Benjamin Constant, De l'esprit de conquête et de l'usurpation, Kap. „De l'uniformité"")

Die Reformen, die der Grund für diese Agitation waren, hatten unter anderem das Ziel, der Bevölkerung ausdrücklich den unausweichlichen Charakter des „globalen" Stadiums der ökonomischen Modernisierung im XXI. Jahrhundert zu verstehen zu geben. Nach dem „französischen" Stadium von Anfang der achtziger Jahre, und noch nach dem „europäischen" einige Jahre später; immer unter dem Vorwand, auf dem Kurs zu bleiben, ist dies in Wirklichkeit das Eingeständnis, daß die Ökonomie unkontrollierbar geworden ist, daß sie von ganz alleine läuft. Aber diese simple Evidenz haben die Streitereien der Spezialisten des Sozialen und der Finanzexperten übertönt; die einen riefen die Bevölkerung auf, Widerstand zu leisten, um den Status quo zu retten, und waren daher gezwungen, über die Ökonomie zu lügen, um sie nicht als solche kritisieren zu müssen; die anderen, die diese Evidenz für sich besitzen, die sie weder aussprechen noch wirklich vor Augen haben wollen, beriefen sich lieber auf den Sinn der Geschichte und ermahnten die Bevölkerung, sich in diesen Krieg zu werfen, der jedenfalls die „lokalen Gewohnheiten" des gewöhnlichen Lebens wegfegen wird. Durch diese Mahnungen und diese Drohungen wird die Angst als fast ausschließliches Mittel zum Regieren eingeführt. Denn ein wenig nach Art der Atomenergie ist die globalisierte Ökonomie eine Macht, die allen mit ihren planmäßig gelenkten Verwüstungen die irreversible Zeit der Katastrophe, den „Countdown", aufzwingt, und nur Fristen, Notbehelfe, Verfallszeiten zur Diskussion zuläßt.

„Mit einem Gerumpel von Archaismen aller Art trägt die Million, die vorbeimarschiert, ihren Rückzug vor der modernen Welt zur Schau, ihre Angst vor einer liberalen Gesellschaft, die überall auf der Welt Fuß faßt. In Frankreich hat sie noch nicht ihre Kultur freier und erwachsener Menschen verankert..." (Le Point, 16. Dezember 1995). In diesem Sinn war ebenso von „erster Revolte gegen die Globalisierung" die Rede, und sogar von „antimoderner Revolution". So haben die Partisanen der Modernisierung der Ware, indem sie ihre Befürchtungen veröffentlichten - denn zweifellos wundern sie sich manchmal über die Leichtigkeit, mit der schließlich all das durchgeht -, sehr viel mehr über den latenten Inhalt dieser Bewegung gesagt als es ihr selbst gelungen ist. Abgesehen von dem vagen Gefühl für alles, was man sich verlieren und korrumpieren ließ, jenem generellen Gefühl, das um den Streik wie eine Aura schwebte, gab es nichts, was klar und deutlich versichert wurde, und sicherlich keine Kritik des modernen Lebens. All das, was als Stützpunkt hätte dienen können, um sich wirklich der „ökonomischen Logik" zu widersetzen - nach dem alten Scherz: um zu revoltieren, muß ein Volk konservativ sein, es muß zumindest die Gründe für die Revolte bewahrt haben -, all das ist hinterhältig ruiniert worden; was bleibt zu verteidigen? Laut Professor Bourdieu die „Kultur des öffentlichen Dienstes"; diese wurde uns so beschrieben: „Europa hat den Vorsorge-Staat erfunden. Wie nirgendwo anders auf der Welt ziehen die Bürger der Fünfzehn Vorteil aus einer Altersversorgung, Familienbeihilfen, Arbeitslosenversicherung, ebenso wie aus den Bestimmungen zum Recht auf Arbeit. Dieses Arsenal sozio-ökonomischer Garantien, das von der Arbeiterbewegung erobert wurde, macht das Herz der europäischen Zivilisation aus." (Le Monde diplomatique, Januar 1996.) Man muß wirklich ein Autofahrer von links sein, um sich ein XXI. Jahrhundert vorzustellen, das noch die alte Welt des ständigen Fortschritts wäre, wo eine mit Ökologismus und Telepartizipation gekreuzte Sozialdemokratie diese „Kultur des öffentlichen Dienstes" vor den Klauen der totalen Produktion retten würde; wo, mit ihren an die Ära der Telearbeit angepaßten sozialen Errungenschaften, die Festung Europa der ewig strahlende Leuchtturm der Menschenrechte und der Arbeiterschaft in der finsteren Nacht des Rests der Welt bliebe etc.

Zweifellos muß man Marxist am College de France sein, um zu ignorieren, daß die Ware in ihrem Wesen, als soziale Beziehung, die Vernichtung jeder qualitativen Eigenheit, jeder lokalen Besonderheit zugunsten der abstrakten Universalität des Marktes ist. Wenn man die Ware akzeptiert, muß man ihr Weltlich-Werden akzeptieren, deren Agent jede besondere Ware ist, sogar bevor sie in Taiwan fabriziert wurde. Damit die dynamischen Werte des integralen Handels sich vollständig ausspielen können, braucht man selbstverständlich eine „offene" Welt; offen für das Endlose des ökonomischen Erfolgs; der immer wieder neu zu erringen ist, offen auch für die Kooptierung - auf all den hierarchischen Stufen - derer, die auffallend ähnliche Züge mit der herrschenden Elite aufweisen: Nihilismus, Mangel an Vorstellungskraft, leidenschaftlicher Konformismus und Kälte der sadistischen Charaktere. Im Gegenzug werden die Aufsässigen sich wieder dem Ausschuß der Überzähligen und Zurückgebliebenen in den Verliesen der Unter-Konsumtion, des mehr oder weniger unterstützten Umherirrens, zugesellen. „In Los Angeles hat der Turbo-Kapitalismus die Familienstruktur vollständig zerstört. Selbst euer Bruder kommt euch nicht zu Hilfe. Aber die Ökonomie ist dynamisch und die Arbeitsgelegenheiten zahlreich." (Edward Luttwak, Croissance, April 1996). Die übergroße Mehrheit muß sich daran gewöhnen, sich so zu sehen, wie die Ökonomie sie sieht: als Menschenmaterial. Genau das entdecken die Überlebenden der Restrukturierungspläne: Ihr Strafaufschub ist eine vorläufige Zufälligkeit. Alle wissen, daß sie austauschbar sind, niemand ist in Sicherheit; ein hohe Qualifikation erfordernder Arbeitsplatz kann von heute auf morgen von einem Computerprogramm ersetzt werden. Keine „Begleitmaßnahme" wird diese Bewegung der emanzipierten Ökonomie mildem können. Jeder fürchtet, daß Murren, das Hegen schlechter Gedanken, Vorbehalte gegenüber dem Warenleben hieße, die Rache des Weitgeistes auf sich zu ziehen. Und deswegen umgibt man sich mit technischen Fetischen, denen man seine Ehrerbietung erweist, um seinen ernsthaften Glauben an diese unsichtbare, wenngleich sehr offensichtliche Macht zu beweisen. Man glaubt, sich einen Schutz zu sichern, indem man sich absorbieren läßt, indem man sich mimetisch in die Anonymität der verwalteten Kollektivität einfügt - man weiß, daß die Herrschaft en gros deren Überleben garantieren wird, weil gerade diese Masse sie existieren läßt: so ist es die Knechtschaft selbst, die wie ein magischer Schutz erscheint. Aber diese Sicherheit wird nichts anderes sein als eine noch weitergehende Anpassung an die Unsicherheit des künstlichen Lebens.

„Die Staaten und die diversen Kräfte der Konterrevolution hatten gewöhnlich kein Bedürfnis, die ganze historische Tragweite ihrer Taten zu begreifen, und sie fanden in ihrer bedrohten Situation leicht den Inhalt und den Stoff ihrer Aktivität: es genügte ihnen, unter dem Druck des Protestes das ganz zu vollenden, was sie in der Euphorie des sozialen Friedens begonnen hatten, und all ihre besonderen repressiven Aufgaben flössen spontan in das Unternehmen ein, die Gesamtheit des Lebens den Forderungen der Ökonomie zu unterwerfen, die sich für sich selbst entfaltete (...) Im Gegenzug konnte die soziale Bewegung, die das Proletariat veranlaßte, sein modernisiertes Elend zu bekämpfen und an seine verlorene Geschichte wieder anzuknüpfen, ihre Kohärenz nur aus dem Bewußtsein über ihr Projekt ziehen." („Histoire de dix ans", Encyclopedie des Nuisances, Nr. 2, Februar 1985.) Da die Entscheidungen, die die Lohnabhängigen und die Arbeitsbedingungen betreffen, „durch den weltweiten Wettbewerbsdruck diktiert" werden, müssen nun überall die sozialen Sicherungssysteme und die erkämpften Regelungen fallen, die für die Warenflüsse ebensosehr „Rigiditäten" sind. Insbesondere in Frankreich hatte man mehr und längere Zeit zahlen müssen, um so die Unterwerfung zu kaufen: aber diesen Preis kann der Kapitalismus künftig nicht mehr zahlen (um auf dem Weltmarkt wettbewerbsfähig zu sein), und er will ihn nicht mehr zahlen, weil er nicht mehr durch die Drohung proletarischer Subversion dazu gezwungen ist. Die Gewerkschaften, die die soziale Sicherheit mitverwalten, begriffen somit am 15. November, daß die schönen Tage vorbei waren, und daß sie, um etwas von ihren Pfründen und ihren Bestechungsgeldern zu retten, am Arbeitsplatz ihre Tressen als repräsentative Vermittler wiedergewinnen müßten. Sie lancierten also auf dem öffentlichen Sektor den Streik, und wenngleich seine Ausweitung, seine Dauer und seine subversivsten Initiativen (wie die wilden Senkungen der Tarife beim Konsum von Elektrizität) das Werk der Basis sein würden, verloren sie dennoch nie die Kontrolle über ihn, bis hin zu den Verhandlungen, zur letztlichen „Unterbrechung", zur Farce des „sozialen Gipfels".

Die anfängliche Übereinstimmung der defensiven Interessen, zwischen der gewerkschaftlichen Bürokratie und der Basis der Streikenden, konnte nur durch das Auftauchen eins neuen Inhalts des Protestes wieder in Frage gestellt werden. Aber die Gelegenheit, die der latenten Unzufriedenheit geboten wurde, hat die Kristallisierung eines kollektiven Bewußtseins vom wirklichen Zustand der Welt nicht provoziert; das Verständnis dessen, was sie sein würde, diese Welt, wenn erst einmal die von einer früheren Epoche geerbten Schutzsysteme gefallen sind, machte im Gegenteil blind gegenüber dem, was sie schon ist, was man sie werden ließ. Diese „Modernisierung" erschien so als das, was sie auch ist, Regression in Richtung früherer Formen der Unterdrückung, aber nicht als das, was sie wesentlich ist: das logische Endergebnis einer Enteignung, die man lieber für bequem gehalten hatte. Und die generelle Verarmung des Lebens durch die Ökonomie wurde nur als strikte Pauperisierung im Innern der nicht kritisierten Ökonomie wahrgenommen. Schon im Verlauf ähnlicher defensiver Kämpfe der vorherigen Jahre hatte die scheinbare Neuigkeit außergewerkschaftlicher Organisationsweisen nur besonders rückständigen Gauchisten das hoffnungslose Schweigen über die Absurdität und die Inhumanität der Aktivitäten verbergen können, die man so, manchmal gewaltsam, verteidigen wollte. Hat man in jenen Momenten jemals von den Krankenpflegerinnen gehört, daß sie ihre Wut an der wissenschaftlichen Medizin auslassen, von den Fernfahrern, daß sie sich gegen das schwachsinnige Wachstum des Warentauschs wenden, oder von den Fischern, daß sie die Ausplünderung denunzieren, deren Agenten und Opfer sie gleichzeitig sind? Oder von den Beschäftigten des Flugtransports, daß sie die Flüsse der globalisierten Ökonomie kritisieren, die den Himmel mit ihren gehetzten Verwaltern und ihrem Massentourismus überfüllt? Und noch einmal, hat man im Dezember viel von dem besonderen Gefühl gehört, das einen befällt, wenn man mit dreihundert Stundenkilometern an einer nuklearen Zentrale vorbeifährt?

Der defensive Kampf, der sich nicht explizit das Ziel setzt, dem, was er zu verteidigen vorgibt, einen übergeordneten Sinn zu verleihen (der Sicherheit oder der Gesundheit beispielsweise), kehrt jämmerlich in seine anfänglichen Schranken zurück und wird eine Beleidigung für das, was er hätte sein können. So hat die Beschränkung der Formen des Kampfes (die naive Gerissenheit zahlreicher Streikender ließ sie glauben, daß sie die Gewerkschaften benutzten und daß sie sie lenkten, wo sie nur wollten; und das ist das genaue Gegenteil von dem, was geschehen ist) letztlich der seines Inhalts entsprochen.

III

Selbstbeschränkung

„... man vergißt, daß eine Revolution, um ohne Blutvergießen erfolgreich zu sein, nicht von vornherein das Risiko eines solchen ablehnen kann, weil der Gegner es nicht ablehnt. Dieses zugelassene Risiko macht ihren Prüfstein aus, ihre Wahrheit, nicht wünschenswert, aber in den Konflikt eingeschrieben." (Gustav Herling, Journal écrit la nuit.)

Angesichts der Modernisierung der Ware gelingt es den Armen nicht mehr, das Leben in anderen Begriffen als denen, die ihnen die Ökonomie diktiert, zu denken, und nicht einmal zu träumen. Sie bekämpfen davon das, was ihnen übertrieben erscheint, während die Ökonomie zentral der realisierte Exzess ist; sie ziehen für den Moment das Entsetzen „in Deckung" (vor dem entgegenkommend verbreiteten Bild derjenigen „ohne Heim und Herd") den Gefahren des Kampfes vor.

Der sonderbar Eindruck von „Realitätsverlust", den dieser Streik vermittelt hat, ist der Tatsache geschuldet, daß er, während er „das Land lahmte", wie die Zeitungen sagen, selber im Hinblick auf das gelähmt war, was in seiner eigenen Existenz angelegt war: die Bewegung der Streiks und Demonstrationen wurde durch das, was sie schon getan hatte - der Routine der Flucht nach vorn eine Zeit des Stillstands aufzuzwingen -, nicht vorangetrieben, sondern ist im Gegenteil in einer nicht vorankommenden Mobilisierung erstarrt, während sie immer blutleerer geworden ist, jedes eigenen Inhalts entleert, am scheinbaren Leben gehalten durch die gewerkschaftlichen und medialen Transfusionen. Man kann viele psychologische Erklärungen für diese Art der Flucht vor den Konsequenzen dessen, was man schon begonnen hatte, geben. Man kann sagen, daß alle Welt fürchtete, den relativen Komfort, den das europäische Dach noch gewährt, zu gefährden, wenn man „zu weit" ginge, während so viele schlimme Stürme über den Planeten fegen; man kann auch sagen, daß die Entschlossenheit und der Schwung insgeheim unterminiert wurden durch die innerste Überzeugung, daß es auf jeden Fall zu spät ist, der Schuß losgegangen, der Wein verschüttet, das Kind in den Brunnen gefallen ist, etc. Man kann vor allem sagen, daß das, was im Gedächtnis hängen bleibt, eben das Entsetzen vor einer Welt ohne Garantie irgendeiner Art ist, das gleiche Entsetzen, das zunächst dazu antreibt, die alten Schutzsysteme in Liqidation zu verteidigen, das aber, kaum wird es kollektiver Widerstand, den Konflikt als Vorwegnahme dessen, was es fürchtet, zu installieren scheint.

Nie konnte man sich der Herrschaft widersetzen, ohne auf irgendeine Art gezwungen zu sein, schnell zum Zentrum seiner Gründe vorzustoßen. Heute jedoch findet sich jeder Versuch von Opposition an diesem Punkt in der Gesamtheit der aufrecht erhaltenen geheimer. Einverständnisse mit der modernen Welt befangen, so daß er die Situation von Bruch und offenem Konflikt nicht erreichen kann, die eine solche Klärung zugleich erlaubt und notwendig macht. Die Gesänge der Herrschaft funktionieren umso besser, als sie tatsächlich eine nährende und schützende Mutter geworden ist: die Staatsbürger machen ihre Einkäufe in den riesigen Geschäften; wenn nicht, wie soll man sich ernähren, woher soll die Nahrung und der ganze Rest kommen? Für das integrierte Individuum ist der Besitz einer besonderen „Subjektivität" die notwendige Illusion für die Intensivierung seiner Enteignung, im Konsum und in der Produktion. Diese Subjektivität, mit der er sich identifiziert, gehört nicht zu ihm, sondern zu der sozialen Organisation, die sie so ausgerüstet und produziert hat: das ist der Grund, warum es für ihn schwierig ist, eine Existenz ohne Waren, Zwänge und Meinungen zu entwerfen, die sein bewußtes Leben geformt haben und dessen Inhalt ausmachen. Eine kritische individuelle Reflexion trifft ebenso schnell wie eine oppositionelle soziale Bewegung auf diese Grenze. Sie übertreten zu wollen heißt schon, aus der Einfriedung dieser verwalteten Welt auszubrechen, heißt außerhalb voranzugehen, wo es nichts gibt, was uns leitet, keine wie auch immer geartete Garantie; wo jeder persönlich die Konsequenzen dieser Verweigerung auf sich nehmen muß. In Ermangelung dessen können die Verhandlungen beginnen.

Die Eigentümlichkeit unserer Epoche besteht gerade darin: früher tat die Macht, sich der revolutionären Drohung bewußt, die die Proletarier, damals Träger des Projekts eines besseren Lebens, die zudem die Mittel, dieses ins Werk zu setzen, unter den Händen hatten, alles, um zu verhindern, daß ein Kampf diesen Punkt der Klärung erreichte; und so trug sie dazu bei, indem ihre repressive Tätigkeit unversöhnliche Lager schuf. Heute kann die Macht die Revolte, die so grausam der Ideen und Mittel beraubt ist, sozusagen laufen lassen, damit die Verzagtheit vor der ungeheuren Anstrengung, die aufzuwenden ist, vollständig einsetzt, um deren Ablehnung dauerhaft zu machen.

Wenn wir hier von der Macht sprechen, schließen wir wohlverstanden die Gewerkschaften mit ein. Was sie betrifft, konnte man bemerken, daß sie im Verlauf der Dezember-Streiks erfolgreich das Aufkommen einer Selbst-Organisation der Streikenden, in Form von Koordinationen, verhindert hatten, indem sie sich selbst als Koordinationen verkleideten, das heißt indem sie all die demokratischen Formen in ihre Einkreisungsarbeit einbrachten. Aber diese einfache Feststellung hat Konsequenzen für alle, die in dieser abgetriebenen Revolte eine Art Radiographie vom Zustand des Bewußtseins sehen, denn die Gewerkschaften konnten so Koordination spielen, und ungestraft, da sie nicht mehr allzusehr fürchten müssen, daß die demokratischen Formen (tägliche Vollversammlungen, etc.) sich mit der Basis eines subversiven Inhalts ausgestattet finden; die gewerkschaftlichen Hierarchien ließen also zu, daß die Neo-Basisgewerkschafter sich an der Arbeiterdemokratie und am Versammlungsfetischismus weiden, sicher, am Ende des Rennens die Herrschaft über den Schluß zu behalten, nach so vielen so wenig schlüssigen Debatten.

Eines der wichtigsten konterrevolutionären Resultate des tiefgründigen Eindringens der modernen Illusionen ist, daß die Diskussionen unter denen, die versuchen, ihr Schicksal wieder in Frage zu stellen, der Karikatur schließlich ziemlich ähnlich werden, die die Reaktionäre schon immer davon gezeichnet haben: endlose Plaudereien ohne Zugriff auf die Realität, etc. Die Streikenden, bewaffnet nur mit ihren guten Absichten, sind sehr schnell auf diese enorme Schwierigkeit gestoßen, die wie ein unlösbares Problem ist: dank des Kampfes die Qualitäten neu zu erfinden, ohne die es nicht einmal Kampf gibt. Die Qualitäten, auf denen sie bestehen mußten, um zu versuchen, weiter zu gehen - Geschmack an der Freiheit, Sinn für die Zeit und Erinnerung, Mut zur minoritären Position -, sind solche, die so gut durch ihren jeweiligen Ersatz (deutsch im Original) verdrängt wurden - parodistisches Abenteuer, frenetische Suche nach dem Augenblick und seinem emotionellen Konsum, Fetischismus der „Differenz" -, daß ihr Fehlen kaum mehr verspürt wurde.

Die Rückkehr in den gewerkschaftlichen Schoß, der übrigens eher ignoriert oder magisch geleugnet als wirklich verlassen worden war, hat sich somit umso leichter vollzogen, als - war erst einmal der latente Inhalt der Bewegung verdrängt - der Ersatzinhalt („Rücknahme des Plans Juppé") und die gewerkschaftlich-mediale Inszenierung des Zusammenstoßes sich als einziger Ausdruck der Unzufriedenheit durchsetzten, in der Selbst-Kontemplation einer Kraft, die auf ihre wiederholte Parade reduziert war, nach Art des „Rekordbesuchs", der den Händlern aller Couleur so teuer ist. Alles fiel ins Simulakrum zurück, in diese Bilder, die die Ko-Existenz der widersprüchlichsten Befriedigungen erlauben, da ja keine ausreichend real ist, um eine andere auszuschließen: das Abenteuer und die Sicherheit, etc.; in diesem Fall konnte man durch die Verhandlungen beruhigt werden (man verließ die „Deckung" nicht), und gleichzeitig aufgemuntert durch die äußeren Anzeichen kriegerischer Entschlossenheit - was trotzdem an dumpfer Bitterkeit übrig bleiben konnte, fand seine psychologische Kompensation, indem das, was man nicht zu tun gewußt hatte, auf später verschoben wurde („Wir fangen im Januar wieder an"). An der Leichtigkeit, mit der sie sich mit diesem Köder zufrieden gab, kann man ermessen, wieweit diese vorgeblich „anti-moderne" Bewegung davon entfernt war, es ausreichend zu sein.

IV

Virtualisierung

Die Rolle einer revolutionären Zeitschrift besteht eben darin, nicht nur den Aufständischen von Los Angeles Recht zu geben, sondern auch dazu beizutragen, ihnen Gründe zu geben, und die Wahrheit theoretisch zu erhellen, deren Suche hier von der Praxis ausgedrückt wird. („Niedergang und Fall der spektakulären Warenökonomie", Internationale situationniste Nr. 10, März 1966.) In diesem Fall wie in so vielen anderen sieht man, wie die revolutionären Methoden umgedreht werden können: während man in anderen Zeiten Extremisten isoliert und Randalierer ernannt hatte, künstlich dafür gesorgt hatte, daß die Gebote steigen, ließen dieses Mal die Versuche in diesem Sinn lange auf sich warten, seien es die Demonstrationen unzufriedener Benutzer oder die ewigen „Ausschreitungen", gut kanalisiert, um auf die televisuellen Informationen des Abends programmiert zu sein; und sehr schnell hat sich stattdessen in der spontanen Übereinstimmung all der Träger des falschen Bewußtseins die Organisation der Popularität dieses Streiks eingestellt, dem die Illusionisten der Medien die besten Gründe zu geben sich beeilten. Und dies umso effektiver,-als es in bestem Glauben geschah: gerade weil sie von dieser immensen Mittelklasse ausgegangen sind, die das Wesentliche der Bevölkerung ausmacht, deren Illusionen und deren Unruhe sie von Natur aus teilen, und da ihre Funktion darin besteht, darüber zu wachen, daß diese jene nie völlig entnerven, verkörpern die Journalisten, aufgrund beruflicher Verpflichtung, könnte man sagen, die Avantgarde der Welt, wie sie wird. Da die spektakuläre Erziehung nicht viel Verschiedenheit in die Gehirne pflanzt, ist es diese aktive Anhänglichkeit, die es ihnen gewöhnlich erlaubt, so gut den Duft der Zeit zu wittern, sich so scharfsinnig „gesellschaftlicher Phänomene" anzunehmen, Diagnosen zu stellen, in denen sich alle Welt wiedererkennt: es ist das falsche Bewußtsein, das sich prüft und zu sich selbst spricht; und gerade das erlaubt ihnen in unvorhergesehenen Umständen, „auf die Schnelle" (? „á chaud") plausible Erklärungen und Repräsentationen zu finden, die die durchschnittliche Subjektivität nicht stören, und die sie sogar verbessern müssen. Schließlich beschäftigt sie die gegenwärtige Gesellschaft zu keinem anderen Zweck. Man kann zu diesem Thema den besonders bildenden Charakter des Gauchismus (abwertend: Linksradikalismus) anführen: die Journalisten, die in ihren jüngeren Tagen in seinen unwirklichen Deklamationen badeten, haben hier die Gelegenheit gefunden, ihre bezaubernden Klischees zu recyceln und ihre Art, zu versuchen, uns ihre Wünsche für die Wirklichkeit nehmen zu lassen (insbesondere Le Guilledoux von Le Monde, dem es einige Tage gelungen ist, die Seiten dieser Tageszeitung denen eines arbeitertümelnden Blättchens aus den siebziger Jahren ähneln zu lassen). Die schöne Spontaneität der Sache, die subjektive „Ernsthaftigkeit" dieser Medienangestellten, das heißt die Tatsache, daß sie, als neues Personal in den Beruf kletternd, in einer Epoche ausgebildet worden sind, die in der Simulation, der Auto-Illusion und dem Fanatismus des Konsenses weiter fortgeschritten ist, haben der Operation ihren wirklich modernen Charakter verliehen, der darin bestand, die Leute des Sinns ihrer Tätigkeit durch deren Verherrlichung zu berauben, und nicht mehr nur durch deren Verleumdung. Man erinnere sich an die besondere Fröhlichkeit, die in den ersten Tagen über dieser enormen Unordnung schwebte: als die Routine des programmierten Lebens unvermutet unterbrochen war, kostete man sofort von jener besonderen Intensität, die die lebendige Zeit bietet. Und zweifellos um anzufangen gingen viele auch zur Arbeit wie unter dem Vorwand, dies zu durchleben, einen Eindruck davon zu erhäschen und ihn zu teilen: das Erstaunen, in einer Welt mit Entfernungen, außerhalb von Repräsentationen, zu leben. Es wurde folglich in die Wege geleitet, sie unverzüglich dieser gefährlichen Selbstwahmehmung zu enteignen. Und das Spektakel produzierte in Echtzeit die Repräsentation eines Zusammenlebens, deren Konsumenten sie nur noch zu sein hatten, Konsumenten, die man für ihren Mut und ihre Schlauheit beglückwünschte, für ihre Großzügigkeit, die Streikenden zu unterstützen, für ihren schönen Humor und ihren Verantwortungssinn.

Und tatsächlich hat diese Art lobender Repression Erfolg gehabt, im einhelligen Nebel der guten Gefühle die simpelste Einsicht in die - weniger euphorischen - Möglichkeiten und in die - rauheren - Realitäten zu ertränken; während die Gewerkschaften uns sogar das Lied über die „Unkontrollierten" ersparten, im Hinblick auf die illegalen Akte der Streikenden. All das ist ausreichend im Stil der neuen Managementtechnik, die „weiblich" genannt wird, die uns als die zukünftige angekündigt wird und die sich so definiert: „Worum handelt es sich? (...) um ein Modell, wo die physische Kraft und die materielle Gewalt der moralischen Kraft und dem gefühlsmäßigen und spirituellen Charisma weichen; in dem der Geist der Agressivität, des Wettbewerbs zugunsten der Kooperation, der Hilfestellung schwindet, und wo der Respekt der allein befehlenden Autorität den Platz räumt für eine 'andere Form von Autorität, anregender, weniger autoritär, eher überzeugend, in Samthandschuhen (...) Das ad hoc Management wird also eher Animateur, Katalysator sein, fügte Mike Burcke hinzu, und so den gewöhnlichen, unflexiblen Übergängen ein Ende machen.' Der Manager von morgen, derjenige, der erfolgreich die Lohnabhängigen zusammen arbeiten lassen wird, stünde also nicht mehr auf dem Gipfel einer hierarchischen Pyramide, sondern im Zentrum." (Le Monde, 6. Februar 1996.)

Selbstverständlich funktioniert eine solche repressive Methode nur, weil niemand vergißt, daß eine andere, eher klassische, jederzeit angewandt werden kann: „Vigipirate" (Notstandsplan, in Kraft gesetzt nach den Bombenanschlägen in Frankreich im vergangenen Sommer, die algerischen Fundamentalisten zugeschrieben wurden, Anm. d. Überrs.) war da, patrouillierte im Hintergrund und in den Hintergedanken derjenigen, die festliches Ambiente konsumierten, während sie versuchten, an diesen „virtuellen Mai" zu glauben. In dem Maße, wie sie in Wirklichkeit zurückwich, machte sich die Bewegung die Atmosphäre der beschallten Demonstrationen zu eigen, bis sie nichts anderes mehr war; und bei ihrer letzten Parade konnte man sehen, als die gewerkschaftlichen Lautsprecher triumphierend die Zahlen der Teilnehmer durchgaben, die vom Femsehen gesendet wurden, das direkt die Bilder dieses Marsches ins Nirgendwo verbreitete, daß die Demonstrierenden sich nun selbst bejubelten, nach Art der „menschlichen Welle", die manchmal die Zuschauer der großen Sportveranstaltungen bewegt (welche, in Erscheinung getreten mit dem modernen Totalitarismus, mit ihm in Satellitenübertragung prosperieren).

Wie Michelet in Die Hexe bemerkte, verzweifelte das Mittelalter daran, in dem von der Kirche erzwungenen Zustand von Magersucht zu leben: „Eine unendlich einfache Methode befreite von der Urteilskraft, indem sie allen den leichten Abstieg bot, dem man nur noch folgen mußte. Wenn das Glaubensbekenntnis obskur war, war das Leben vollständig im Pfad der Legende vorgeschrieben. Das erste Wort, das letzte, war dasselbe: Imitation." Die neuen Herren, an der Grenze zu einem solchen Fortschritt, während die Verzweiflung immer noch da ist, haben die Methode bewahrt, und von dem Wort „Imitation" allein den Sinn Fälschung. Als die Gefahr gebannt war, haben die Ratschläge Chiracs an die Präfekten („Bleiben Sie völlig cool", Le Canard enchainé, 29. November 1995), ebenso wie seine Anweisungen, die Leute demonstrieren zu lassen („Die Gesellschaft muß atmen"), ihren vollen Sinn erhalten. Und der kleinste Abgeordnete konnte zu diesem Thema übertreiben: „Diese Revolte ist eine Art Gesundheitstherapie (...) Es gibt auf den Demonstrationen eine Form von kollektiver Äußerung, von Gemeinschaft, die man anderswo nicht wiederfindet. Sie sind auch eine Fete, sie haben dem Land frischen Wind gebracht." (Le Monde, 17.-18. Dezember 1995.) Der Reiz der Rebellion gab sich im Laufschritt mit dem mageren Trost der Parodie zufrieden. Nach dem Beispiel karitativer Messen, wo Ablaß erkauft wird, die Illusion der Großzügigkeit, bot man sich dort die Illusion einer kämpferischen Einheit an („Tous ensemble" -„Alle zusammen"). So waren diese „Tage der Solidarität", in deren Verlauf, wie Journalisten sagten, Zusammenleben und warme menschliche Beziehungen wiederentdeckt wurden („Die Sprachlosigkeit löste sich in einer quasi-festlichen Atmosphäre auf: das Gefühl, einen außergewöhnlichen Moment zu erleben, ließ einige sozialen Barrieren fallen", Le Monde, 9. Dezember 1995), wie eine fratzenhafte Maske, die über die schäbige Verpflichtung gestülpt wurde, trotz allem zur Arbeit zu gehen, zu Fuß, auf dem Fahrrad, mit Rollschuhen oder per Autostop. Denn wenn die Lohnabhängigen des öffentlichen Sektors so etwas wie ein „Privileg" haben -sicherlich archaisch und würdig, von der Modernität abgeschafft zu werden, zusammen mit dem, irgendeine Gewißheit über seine Zukunft zu haben -, dann ist dies heute ganz einfach die Möglichkeit zu streiken, die alle anderen praktisch verloren haben, unter dem Druck der Prekarität, der befristeten Verträge, der Atomisierung, der Flexibilität („Sie gehen mit einer Riesenangst im Bauch zur Arbeit", sagte selbst ein Chef - L' Usine nouvelle, 14. Dezember 1995); aber diejenigen, die mit ihren Füßen gegen die Generalisierung des Streiks stimmten, konnten sich als Kompensation die Möglichkeit anbieten lassen, ihre Gefügigkeit zu bewundem, die im medialen Spiegel in Heroismus transformiert wurde, oder sogar in spielerische Energie.

Der famose „Streik mit Bevollmächtigung" hatte somit etwas von einem Wasserfall von Repräsentationen, der gut zum Geist der Epoche paßt: die Experten-Interpreten der sozialen Bewegung (man holte sogar Morin und Touraine wieder aus der Versenkung), die Eisenbahner in einen kollektiven Star transformiert, schließlich den „Champions des Fastens" ähnelnd, deren Martyrium die Spannung anderer Streiks, sogenannter Hungerstreiks, ausmacht, die sympathischen Nicht-Streikenden voll platonischem Enthusiasmus, etc. Die ad hoc Umfragen unter der Bevölkerung erreichten hier den Gipfel des Absurden: der Streikende, der Benutzer, der Nicht-Streikende, der Konsument, der Befragte, der Sparer, der Autofahrer ... Während der Streikende demonstrierte, machte der Nicht-Streikende „Streik mit Bevollmächtigung", als Benutzer jedoch war er ein heroisches Opfer, während der Konsument ein düsteres Gesicht machte und der Sparer beunruhigt war, der Autofahrer nahm andere in seinem Wagen mit, während der Befragte beteiligt war...

Im Nachhinein ließ auch die Erscheinung der Staus, die die ganze Hauptstadt lahmten, und des menschlichen Gewimmels, das in jedem Sinne in die hereinbrechende Nacht stürzte, eher als an eine gemeinsame Erholungspause an eine Massendemonstration denken, an der teilzunehmen die Individuen sich gezwungen sehen, um ihre unerschütterliche Anhänglichkeit an die entfremdete Arbeit zu bekräftigen, sowie ihre „unbegrenzte, bedingungslose und unverwüstliche Loyalität" zur ziellosen Bewegung der Ökonomie. Das nicht zu tun, hieß den Verdacht auf sich zu lenken, sich auf der schwarzem Liste wiederzufinden. Daß zahlreiche, so scheint es, sich bis zum Schluß dieser Demütigung amüsierten und sich mit dem energischen Bild identifizierten, das ihnen imponiert hatte (oder: das ihnen übergestülpt wurde), sagt nichts gegen diese Beobachtung; sondern nur etwas über die Langeweile und die Armseligkeit dessen, woraus das „moderne Glück" gesponnen ist, damit eine unvorhergesehene Dysfunktion der sozialen Maschine zur glücklichen Überraschung eines Augenblicks intensiven Lebens wird, ein Abenteuer, jedoch ohne Gefahr: niemand zweifelte daran, daß alles bald wieder in geordneten Bahnen verlaufen werde.

Als die „Lohnabhängigen mit Streikrecht" zur Maloche zurückgekehrt waren, wechselten die Medien das Register: nach der geselligen Einhelligkeit der demonstrierenden Verteidiger des öffentlichen Dienstes war dies die Rückkehr der Wilden des Überflusses. Die Kamera schwenkte zu den Schulen, um dort unter denen, die sie ein bißchen frequentieren, jene zu finden, die am ungeduldigsten waren, die ihnen zukommende Rolle zu spielen: die reine Brutalität zu verkörpern, gegen die dringend der Rechtsstaat verteidigt werden muß. So kam die Gewalt, von der man in einem kollektiven Kampf weder Gebrauch zu machen wußte noch es wollte, ihres Sinns beraubt zurück, als terrorisierende Drohung für die atomisierte Menge.

V

Regression

Diese Überflußgesellschaft an Mangel preist uns immer das kopflose Stadium seiner Modernisierung an, indem sie uns fragt, ob wir es zufälligerweise vorziehen würden, eine Gegend der Dritten Welt zu werden, schläfrig und gebrechlich, übrigens in Lumpen, eine Art Bulgarien, anstatt zur Entdeckung der neuen Sensationen und des unerhörten Selbst-Aufblühens überzugehen, die der Hyper-Kapitalismus uns mit seinen Spitzentechnologien vorbehält. (Worauf man zunächst antworten müßte, daß wir ohne Zögern den Weg der Rückständigkeit wählen würden: zumindest behält das Leben dort einige menschliche Züge, wie die Touristen wissen, die keinen anderen Grund haben, sich in diese Länder zu begeben; und ebenso auf die Frage der Autarkie, daß wir sie auf der Ebene einer Provinz vorziehen würden als auf der des Globus; man wäre dort in Wirklichkeit wohlhabender.) Aber das ist nur eine gebräuchliche Formel, und wir haben nicht die Wahl; die Frage ist so geregelt, daß wir das Schlechteste von bei dem haben werden: die Sterilität des synthetischen Lebens und die uneffektiven Antibiotika, die soziale Auflösung und den Mangel an Nahrungsmitteln, die Telearbeit und die Massaker.

Alle Welt stellt fest, daß man heute, in jeder Hinsicht, schlechter lebt als vor vielleicht nur zwanzig Jahren. Alle Welt sieht, daß um uns herum sich das Universum zusammenzieht und sich schneller ruiniert als vorhergesehen: der Alptraum, den man niederträchtig den Generationen nach sich zu hinterlassen glaubte, nimmt plötzlich vor unseren Augen Gestalt an. Alle Welt findet es deprimierend, daran zu denken; es ist folglich sehr günstig, daß man uns künftig drängt, nicht mehr daran zu denken: „Die Zukunft ist eine alte Idee, wir müssen die Gegenwart erfinden", annonciert ein Multinationaler des elektrischen Glücks, der es auf sich nimmt, das ganze Zubehör zu liefern, um besser von dieser falschen Gegenwart zu profitieren, die von der Zukunft befreit ist, dem alten Horizont der gesetzten Existenzen von früher. Aber dieses Leben im Augenblick braucht andere Arten der Beschäftigung, eine neue Doktrin des gerechten Lebens, die man uns darlegen will:

„Wie auch immer, die unter 25jährigen - und nunmehr zunehmend auch die unter Dreißigjährigen - werden massiv zur Prekarität verdammt, aus der sie eine Lehrzeit machen, inner- wie außerhalb der öffentlichen Programme. Im Negativen sind sie abonniert auf alle Formen atypischer Beschäftigung, von den Zwischenbeschäftigungen bis zu den befristeten Verträgen und, selbstverständlich, den Praktika. Die Anstellungen, wenn sie Zustandekommen, setzen voraus, sich Probezeiten zu unterziehen, die ewig werden.

Nach und nach gewöhnen sich die Jugendlichen auch an diese Prekarität, Synonym für Galeere. Im Positiven eignen sie sich dadurch unfreiwillig eine wirkliche Fähigkeit zum Umgang mit der Instabilität an und lassen sich darauf ein, die Unsicherheit zu meistern, indem sie schließlich die „kleinen Jobs" den verschiedenen Formen sozialen Gehalts vorzuziehen, die sie als Parken wahrnehmen. Damit legen sie zugleich Beweis für Klarsichtigkeit wie für eine Form momentaner Zuversicht ab, die sie lehrt, zu leben, ohne zu wissen, was der nächste Tag bringen wird.

Auf diese Weise experimentieren sie mit den Beschäftigungsverhältnissen der Zukunft, die die weniger versicherten, flexibleren und unsicheren Situationen vorwegnehmen. Aber obwohl dieser schmerzhafte Initiationsparcours sie in die Lage versetzen könnte, von diesen Grundlagen aus wieder eine Zukunft aufzubauen, sagen die Umfragen auch, daß die gleichen Jugendlichen ihre Hoffnungen auf Eintritt ins Leben und ihre Ziele einer stabilen Beschäftigung auf später verschieben, in der Absicht, die Geleise ihrer Eltern und die Modelle von früher wiederzufinden. Während sie an eine Parenthese/Klammer in der Erwartung der Rückkehr zu einer besseren, aber früheren Welt glauben wollen, vergeben sie vielleicht die einzige Chance auf einen Ausweg. Ausgehend von dieser Galeere, die sie so gut kennen, wären sie tatsächlich die einzigen, die die sozialen Organisationsformen von morgen extrahieren können" (Alain Lebaube, Le Monde, 25. Oktober 1995.)

Und hier, in welcher Umgebung und unter welchen Herrlichkeiten sich diese vita nuova abspielen wird:

„Was weggefegt wurde, ist nicht Europa, sondern eine gewisse An und Weise, die soziale Ordnung zu denken (...) ein völlig neuer Kapitalismus taucht gegenwärtig auf (...) ein globaler Kapitalismus, der die Rolle der Staaten und der Nationen in der Welt tiefgreifend umwälzt. Ein Kapitalismus, der von neuen Kräften angetrieben wird, wo eine neue Elite hoch kommt und die Gesamtheit der traditionellen Klassen proletarisiert wird (...) es wird anstelle der Arbeiterschaft bald nur noch ein breites deklassiertes Proletariat geben (...) eine triumphierende Oberklasse wird auf den schmutzigen Wassern des Elends segeln, und der Erfolg der einen wird mit dem Preis der Marginalisierung der übergroßen Zahl und der Gewalt der Deklassierten bezahlt werden" (Jacques Attali, „Die Oberklasse", Le Monde, 7. März 1996.)

„Sie lieben es zu genießen, zu spielen, sich zu bewegen; sie machen sich keine Gedanken, ihren Kindern Glück oder Macht zu hinterlassen: jeder für sich. Obendrein reich, leben sie luxuriös, oft ohne zu bezahlen, was sie konsumieren. Sie bringen das Beste und das Schlechteste von morgen mit sich, richten eine flüchtige, um die Zukunft unbersorgte Gesellschaft ein, egoistisch und hedonistisch, im Traum und in der Gewalt." (ebenda)

Aber es sind die gleichen Werte des umgekehrten Lebens, die allen vorgeschlagen werden, den Herren wie den Elenden:

„...es ist mehr als ein politisches Programm, das man sich vorstellen muß, es ist eine kulturelle Revolution: die Akzeptanz des Neuen als einer guten Nachricht, der Prekarität als eines Wertes, der Instabilität als einer drängenden Notwendigkeit und der Vermischung als eines Reichtums, die Schaffung dieser endlos anpassungsfähigen Nomadenstämme, die tausend Energien freisetzt und Trägerin ursprünglicher Solidarität ist." (ebenda)

Unter der Herrschaft der Ökonomie muß man lernen zu leben, ohne zu wissen, was das Morgen bringen wird, und jede Hoffnung aufgeben, daß dieses Morgen besser sein könnte. Keine Errungenschaft wird es geben, denn das Funktionieren selbst der Warenmaschinerie ist eine unendliche Zerstörung, die nie bei einer stabilen Form, einem Resultat, stehenbleiben kann. Die Instabilität von allem, die Abwesenheit jeglicher Sicherheit hinsichtlich der Zukunft, das Ende der Illusionen des garantierten Lebens, all das ist künftig die Grundlage der gewöhnlichen Existenz. Wenn sich die Einheit der Bewegung auflöst, ohne die es ganz einfach keine Zivilisation gegeben hätte - und die zugleich den Ihren einen Schutz bieten und vorwärts gehen wollte -, bleibt das Bedürfnis, geschützt zu werden, sowie die Regression, die die Führungskräfte zur Einrichtung eines permanenten „Notstands" verleitet, während sie die Geführten auf den Grund der kathodischen Höhle stößt. Daß die abgeschmackten Versprechungen der Epoche des „Welfare State" wie ein goldenes Zeitalter beschworen werden und daß das Überleben einen Staat reklamiert, der besser schützt, sagt viel über das moderne Elend, jedoch nichts über das, was wirklich kommen wird.

Was im Verlauf dieses Dezembermonats aufblühte ist genau dieses Gefühl, das in normalen Zeiten von der Routine zensiert wird: daß die Vergangenheit nicht mehr die Zukunft erhellt, und daß einfach niemand weiß, was passieren wird; während alle Welt gespürt hat, daß das erst beste aus dem Hexenkessel des Kapitalismus herauskommen kann, selbstverständlich angefangen bei dem Schlimmsten. Die charmanten Prinzen der Öffentlichkeit haben sich in Kröten verwandelt, und die Kröten sind dabei, zu etwas anderem zu mutieren, was noch nie unter der Sonne gesehen wurde. Die Klammer der Euphorie der Ware, des garantierten Glücks und der Integration aller schließt sich wieder. Und der Gedanke verbreitet sich, daß der Kapitalismus, nachdem er alles zerstört hat, was bis dahin dem menschlichen Leben einen Sinn gegeben hatte, uns an den Rand des Abgrunds geführt hat, ohne jedoch aufzuhören, uns aufzufordern, „einen großen Schritt vorwärts zu machen".

Zweifellos ist das mediale Stimmengewirr darauf zurückgefallen, und diese traurige Wahrheit, mit der man künftig leben muß, würden alle lieber vergessen, so sehr vergällt sie all die Befriedigungen, die die Ökonomie anbietet; aber diese verlorene Naivität wird nicht zurückkehren, und vielleicht hat die soziale Herrschaft sie nicht mehr nötig, um sich zu versichern, daß die Bevölkerungen ihr unterworfen bleiben: in der völlig zersetzten Welt, in der wir uns bald befinden werden, wo jeder Gedanke an irgendeine Zukunft erlischt, wird sie der Angst Schutz und Instruktionen eines unmittelbaren und vitalen Interesses im Tausch gegen Gehorsam anbieten müssen. Aber sie muß unterdessen die Modernisierung des sozialen Lebens nach den Anforderungen des Weltmarktes verfolgen, und dies wird für einige Jahre eine delikate Aufgabe gegenüber einer so ernüchterten Bevölkerung: um die Passivität in ihr aufrechtzuerhalten, wird sie die Unruhen in ziemlich schreckliche Bilder übersetzen müssen, Unruhen, die sie schon zur Hand hat, und die sicherlich nicht zu vernachlässigen sind.

Und genau daran müssen die Partisanen der Warenvereinheitlichung, des gelobten Landes, in dem die Gesetze der Ökonomie für die Bevölkerungen wie ein Naturzustand wären, denken, die exakt nichts vorschlagen im Tausch gegen den Verlust all der Garantien, mit denen sie die Unterwürfigkeit erkauften. Da dies nicht aus Ehrlichkeit sein kann, und tatsächlich lassen sie nichts Angenehmes erhoffen, noch aus dem Mangel, plausible Lügen zu finden, um sie vorzubringen - jede beliebige vorübergehende Illusion wäre gerade recht -, so muß dies vielmehr daran liegen, daß sie davon ausgehen, daß dies nicht mehr der Mühe wert ist; daß die Gegenwart so furchterregend geworden ist, daß es nicht mehr nötig sei, uns von Hoffnung zu Hoffnung zu schleppen, und daß die autonom gewordene Ökonomie - emanzipiert nicht nur von jedem menschlichen Zweck, sondern auch von jeder Notwendigkeit, sich zu rechtfertigen oder auch nur einen Vorwand zu liefern - schließlich ohne sprachliche Vorsichtsmaßregeln für sich selbst sprechen und sagen kann: „Ich werde sein, was ich sein werde." Als könnte, da sich nichts zwischen sie und die atomisierten menschlichen Massen stellt, die soziale Herrschaft nun verbreiten, daß sie kein anderes Ziel hat als sich selbst, daß der Fortschritt kein anderer ist als der, die Entfremdung die das Leben glücklich macht, unumkehrbar zu machen, im Hinblick worauf der ganze Rest - die menschliche Gattung und ihre Geschichte, das Leben auf der Erde - unbedeutend und wertlos ist.

Deshalb ist es absurd, nutzlos und sogar sehr dumm, der entfesselten Ökonomie gut zureden zu wollen, indem man ihr vor Augen führt, daß sie, außer der Natur, die Gesellschaft der menschlichen Gattung zerstört; um nicht zu sehen, daß gerade das ihr Zweck ist: für das menschliche Vieh eine Totalität zu werden, aus der auszubrechen es nicht mehr in Betracht ziehen kann. Wie man auch wenig intelligent sein muß, um sich vorzustellen, daß aus der informatischen Verkabelung des Planeten eine Gegenmacht zur ausgedehnten Hegemonie des Rationalismus entstehen könnte, der mit Hilfe des Computers regiert. Übrigens sind diese Utopien eines Warenfortschritts „mit menschlichem Gesicht", bevölkert mit verantwortlichen Bürger-Konsumenten, so trübsinnig, so langweilig und verdummend, daß man ihnen fast eine sensationelle Katstrophe vorziehen würde; aber die Frage stellt sich nicht einmal, aus dem einfachen Grund, weil die Katastrophe der klimatischen Veränderung begonnen hat und der Vorhang sich hebt vor einer neuen Welt mit ihren vollkommen neuartigen Bedingungen, über die uns die Maschinen der instrumentellen Vernunft nichts sagen können:

„Lester R. Brown, Vorsitzender des Worldwatch Institutes von Washington, das bedeutendste internationale Forschungszentrum zu Umweltfragen, ist beunruhigt. Nach zwanzigjähriger Erforschung der Auswirkungen menschlicher Aktivitäten auf natürliche Gleichgewichte schätzt er, daß die ökologische Krise dabei ist, den point of no-return zu erreichen: das weltweite Angebot an natürlichen Ressourcen, auf der Basis der ökonomischen Aktivität und der sozialen Stabilität des Planeten, kann die Nachfrage der Bevölkerungen nicht mehr befriedigen, insbesondere, was die Lebensmittel betrifft. „Der Krieg zwischen Mensch und Natur hat schon begonnen", hat er uns erklärt." (Le Monde, 27. Februar 1996.)

Es geht allein darum zu wissen, ob das kollektive Überleben sich auf die disziplinierende Weise einer unendlich fortgesetzten totalen Mobilisierung abspielen wird, die den leitenden Klassen eine Art Ewigkeit sichert: wo jedes neue Desaster, jede neue Knappheit in den Augen der Bevölkerungen die Notwendigkeit der organisatorischen Herrschaft attestiert, diesen Sezessionskrieg zwischen der Menschheit und der Natur zu führen; oder ob es die Sache einer vom ökonomischen fatum und seinen unverantwortlichen Hierarchien emanzipierten Menschheit sein wird, die für ihre eigene Sache kämpft, das heißt für die Rettung der biologischen Grundlagen des Lebens auf der Erde.

Diese Alternative wird zweifellos denen naiv oder schwachsinnig erscheinen, die sich vor der Auflösung der wirklichen Welt durch die Simulationsprogramme der virtuellen Realität geschützt wähnen, die versichern, daß alles bestens läuft. Die ändern belastet sie mit ihrer Isolierung und ihrer Ohnmacht vor der fortschreitenden Objektivität des Existierenden, der Schnelligkeit des katastrophischen Laufs der Dinge, der sozialen Anomie, wo sie die Indiviuen sich auflösen sehen; sie fordert sie so dazu auf, sich von dieser unerfreulichen Gesellschaft zurückzuziehen und sich auf sich selbst zu beschränken, im Kreis ihrer privaten Genüsse.

Trotzdem weiß man, daß man sich in einer so desaströs vereinheitlichten Welt nicht ganz alleine retten kann; nicht nur aus dem Grund, daß es keinen Ort gibt, um sich vor ihr zurückzuziehen, und keine Art, sich vor ihr zu schützen; sondern auch deswegen, weil es umsonst wäre: wir brauchen, um glücklich zu sein, die Gesellschaft der menschlichen Gattung. Man hat also nur die Wahl, an ihrer Rettung zu arbeiten. Aber womit beginnen? Sagen wir, daß man beginnen muß, sich ganz alleine zu retten; daß dies eine Verpflichtung sich selbst gegenüber ist, sich über all die Leichtgläubigkeiten des modernen Lebens klar zu werden, seine falschen Freuden und seine Ersatzangebote, seine angeblichen Notwendigkeiten und seine täuschenden Repräsentationen, die uns beunruhigen und verwirren; daß dies nicht eine ernste Pflicht ist, sondern daß es im Gegenteil sehr angenehm ist, den Widerspruch seines Geistes zum Nichts dieses mimetischen Lebens kennenzulernen, eines immer schändlichen und oft lächerlichen Lebens, das übrigens vergiftet ist und nicht einmal lebt. Und es müßte mit dem Teufel zugehen, wenn man nicht bald andere Bremer Stadtmusikanten treffen würde, die das gleiche interessante Geheimnis teilen: Etwas besseres als den Tod gibt es immer. Worauf man daran denken kann, die Gültigkeit jener anderen Maxime zu untersuchen, die weit führen kann, und sogar bis zu dem Gedanken, daß es schließlich möglich wäre zu leben: Die Menschen werden durch nichts als durch Meinungen eingeschränkt.

ENCYCLOPÉDIE DES NUISANCES, MÄRZ 1996


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