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VON CLABAUTER
Stuttgart, 14. Januar 1997
1. TEIL: ZUR GESCHICHTE UND PRAXIS
Die Revolution ist aufs neue zu erfinden - das ist alles." (S.I. Nr. 6, August 1961) GESCHICHTLICHE ZUSTANDSBESCHREIBUNG 1945: Der Krieg ist aus. Der Wiederaufbau beginnt; und während das französische Militär seiner Leidenschaft in einem Land namens Vietnam weiter nachgeht, soll in Frankreich alles wieder in das sogenannte zivile Leben eingeordnet werden. Die ersten Behördenvorschriften werden erlassen, es werden wieder Häuser gebaut, Straßen und Plätze bekommen neue Namen. Die Gesellschaft teilt sich weiter in Klassen auf. Es soll wieder lustig konsumiert werden. In dieser Zeit findet sich in Paris ein wilder Haufen von Künstlern, Lebenskünstlern und "Tagedieben" zusammen, die sich die LettristInnen nennen, von "lettre", der Buchstabe. Den Grundstein für die lettristische Bewegung hatte ein gewisser Isidore Isou gelegt, der den Gedanken verfolgte, daß man einen alten abgestandenen Gegenstand in seine Bestandteile zerlegen muß, um daraus Grundstoffe für neue Schöpfungen herstellen zu können (Vgl. die Collagetechniken der DadaistInnen). Das erste Testfeld für diese Technik war die Poesie. Trotz der trockenen und humorlosen Theoretisierung von Isou hatten die LettristInnen jede Menge Spaß daran, einem gesetzten Kunstpublikum bei Lesungen Gedichte aus Buchstaben vorzutragen, zur damaligen Zeit ein Skandal. Die Lust am Skandal dürfte bei vielen LettristInnen schon früher vorhanden gewesen sein, genauso wie der Wunsch, auch den eigenen Alltag zu verfremden oder ihre Mitmenschen und deren öde Gewohnheiten bloßzustellen, zu zerlegen, wenn nicht gar zu zerstören. AKTIONEN DER LETTRISTINNEN Ein Beispiel, wie sie die Spießbürger aus ihrem Dämmerschlaf aufscheuchten, trug sich am 9. April 1950 bei einer Ostermesse in der Kathedrale "Notre Dame" in Paris zu. Es gelang einigen von ihnen, sich unter die SonntagsbesucherInnen zu mischen. Einer der LettristInnen, Michel Mourre, war in einer Dominikaner-Kutte gekommen. Als sich die Gläubigen im Verlauf der Messe von ihren harten Bänken für eine Schweigeminute erhoben, schlich er sich auf die Kanzel, um eine sehr deutliche Botschaft in den Raum zu rufen. Ich zitiere:
hier im Zeichen der Basilika der Notre Dame de Paris, klage ich die universale katholische Kirche an, des tödlichen Mißbrauchs unserer lebendigen Kräfte für einen leeren Himmel, klage ich die Kirche der Schwindelei an, klage ich die katholische Kirche an, die Welt mit ihrer Friedhofsmoral zu verpesten, das Krebsgeschwür des zerfallenen Okzidents zu sein. Wahrlich ich sage euch: Gott ist tot!" Hier an dieser Stelle wurde Mourre von dem Organisten unterbrochen. Der Rest der Rede wurde niemals gehalten. Ich zitiere den Rest dennoch, weil er so schön ist:
denn eure Predigten sind der schmierige Dünger für die Schlachtfelder Europas. Geht hinaus in die tragische Wüste, die herrliche Erde, auf der Gott tot ist, und bestellt von neuem die Erde, mit euren nackten Händen, euren Händen des Stolzes, euren Händen ohne Gebete. Heute am Ostersonntag des heiligen Jahres, hier im Zeichen der Basilika der Notre Dame de Paris, erklären wir den Tod des Christengottes, um endlich den Menschen leben zu lassen." Nach dem ersten Schrecken wollten die Gläubigen ihre Nächstenliebe vergessen und den Unverschämten so behandeln, wie schon Lattenjupp behandelt wurde. Mit gezückten Schwertern stürzten sich die Schweizergardisten der Kathedrale auf die Verschwörer und versuchten, diese zu töten. Mourres Genossen rannten zum Altar und versuchten ihren Freund abzuschirmen. Einer von ihnen zog sich eine klaffende Gesichtswunde hinzu. Daraufhin hatte die Menschenmenge das Quartett bis an die Seine gehetzt und stand kurz davor die vier zu lynchen. Dort wurden sie dann von der Polizei gestellt oder besser gesagt gerettet. Mourre und Serge Berna wurden später einem Psychiater vorgeführt. Über den Befund ist leider nichts bekannt. Nach 11 Tagen Untersuchungshaft wurde Mourre in eine psychiatrische Anstalt gesteckt, in der er dann christlich wurde oder besser gesagt geisteskrank. Viele Aktionen waren jedoch weniger überlegt. Eines Tages wollten zwei LettristInnen den Eiffelturm in die Luft sprengen, weil er ihnen die Sicht aus ihrem Wohnzimmer versperrte. Sie erzählten es aber zu vielen, so daß sie festgenommen wurden, gerade als sie sich an den Turm heranschlichen. Aber die LettristInnen zerhackten nicht nur Gedichte oder Gebetstraditionen. Sie versuchten ihr Morsealphabet auch in die Malerei und in das Kino zu tickern. Bei fast jeder ihrer Filmvorführungen kam es zu Tumulten im Publikum. Auf diese Reaktionen hatte man es auch abgesehen. In dem Film "Hurrlements en faveur de Sade" (Geheul für de Sade) von Guy Ernest Debord - auf diese Person werden ich noch des öfteren zurückkommen - sah man immer eine weiße Leinwand, wenn gesprochen wurde und eine schwarze, wenn nichts zu hören war. Die längste Dunkelphase in diesem Film betrug 24 min. Das Publikum hatte Gelegenheit zur Antwort oder zur Kinosesselakrobatik. Der Text bestand aus Gesprächsfetzen, gängigen Phrasen, Gesetzestexten oder z.B. Erinnerungen an die LettristInnen. Die Aktivierung des Publikums war unter anderem ein Ziel der lettristischen Filme. Beispielsweise wurde das Publikum eine Stunde vor dem Saal warten gelassen und am Eingang ein Schild hingehängt mit der Aufschrift: "Der Film hat schon begonnen". Es gab auch einen inszenierten Polizeieinsatz, mit dem das Publikum aus dem Kino vertrieben wurde. Bewegliche Gegenstände wurden vor die Leinwand geschoben, um die Projektion zu stören usw. 1952 kam es anläßlich eines weiteren öffentlichen Tumultes zur Spaltung der LettristInnen. Charlie Chaplin war nach Paris gekommen, um seinen neuen Film "Limelight" vorzustellen. Chaplin war in den USA in jener Zeit eine persona non grata. Seine Europareise wurde von den USA dazu genutzt, eine Verfügung herauszubringen, die ihn sofort einzuknasten erlaubte, falls er amerikanischen Boden betrete, mit der Begründung: Chaplin untergrabe mit seinen Filmen die amerikanische Moral. JournalistInnen von Zeitung und Funk drängelten sich im noblen Hotel Ritz, um den gefeierten Darsteller vom armen Bettler aus der Nähe zu sehen. Draußen prügelten sich die LettristInnen mit den Flics, die die feine Gesellschaft von den Lumpen sauber zu halten hatte. Zwei von ihnen gelang es die Absperrungen zu überwinden. Zwischen den schwarzen Anzügen fielen sie dann nicht nur mit ihren heruntergekommenen Klamotten auf, besondere Aufmerksamkeit erreichten sie durch das Verteilen von Flugblättern mit der Überschrift: "Schluß mit den Plattfüßen". Dort stand an Chaplin gerichtet:
Isidore Isou verstand den Spaß nicht und distanzierte sich von der Aktion, weil er auf Angebote aus der Filmbranche für seine Filme schielte. Er hatte gar, wie vermutet wurde, die Aktion zuvor den Bullen verraten. Daraufhin wurde die "Lettristische Internationale" (I.L.) gegründet, in der sich diejenigen zusammenfanden, die vor allem eine rebellische Praxis ihrer Ideen suchten und keine Kunstkarriere. Und während alle spektakulären Künstler bemüht waren, einen schönen Platz auf dem neuen Kunstmarkt zu ergattern, gefielen sich die Mitglieder der I.L. um so mehr darin, ihre vollständige Geringschätzung und ihren generellen Widerstand gegen dieses Theater kundzutun. Das erste Auseinandersetzungsfeld der I.L. und der Feind war der Surrealismus, aber auch die MarxistInnen und TrotzkistInnen in Frankreich. Jedoch dort wo die sich aufhielten, fehlte es i.a. an Stil und Geschmack für die Frechheiten der I.L. Daher boten die SurrealistInnen als Gegner und Gegnerinnen mehr. Ihre Reden und Schriften waren voll von Beleidigungen für die Speichellecker, Kriecher und Idioten, von denen sie sich im Kunstgewerbe, als auch im Alltagsleben umgeben sahen. Im Potlatch, einer lettristischen Zeitung, waren diese fast rührend naive, dennoch erfrischend radikale Worte zu lesen:
Die Flugschrift Potlatch bestand aus hektographierten Blättern, deren Artikel allesamt mit einem Anti-Copyright versehen waren. Der Name "Potlatch" steht als Versprechen für eine Welt des Überflusses, des überbordenden Reichtums, der unbekümmerten 'Verschwendung' und des Spiels, für die Aufhebung warenförmiger Verkehrsformen; jenseits der Ökonomie, der Zweckgebundenheit und des kleinlichen Aufrechnens von Geben und Nehmen. Potlatch ist hier das Synonym für "die niemals enden wollende Fete" an der die kommende Revolution zu messen sein wird. Historisch war das Potlatch eine Vorform des Warentauschs bei einigen indigenen Stämmen an der nördlichen Pazifikküste der heutigen USA. Ein Würdenträger lud einen anderen ein und überhäufte ihn mit Geschenken. Was dem Gast nicht gefiel, wurde zerstört. Der Ruhm des Gastgebers stieg mit dem Maß von Veräußerung, das er "zu Ehren" des Besuchers initiierte. Der "Sinn" lag darin, daß der Gast, durch diese Orgie des Gebens gedemütigt, nun seinerseits selbst ein solches Potlatch veranstalten mußte, das keinesfalls hinter dem des Herausforderers zurückbleiben durfte, um sein Ansehen wieder herzustellen. Die in dem Potlatch verteilten "unverkäuflichen Güter" bestanden aus den bislang unveröffentlichten Wünschen und Fragen der LettristInnen. Deren gründliche Analyse durch andere Menschen stellte ein Gegengeschenk dar. Das hektographierte Mitteilungsblatt wurde in einigen Vierteln von Paris verteilt und an wenige Gleichgesinnte in ganz Europa verschickt, zu denen Verbindung gehalten wurde und mit denen man die Debatte führte. Stets bereit, sich Feinde zu machen und als unduldsam zu gelten, signalisierte auch ihre Kleidung die Ablehnung gängiger Modevorschriften. Die Haare ungekämmt, gelegentlich gefärbt, die Frauen schrill geschminkt. Die Kleider waren stets verschmutzt, wenn nicht sogar mit ihren Parolen beschmiert oder zerrissen. Drogen gehörten zu ihren ständigen Wegbegleitern, nicht selten bis in den Tod. Rauschtaten waren an der Tagesordnung. Der Vergleich zum über 20 Jahre späteren Punk der 70er Jahre drängt sich auf. Sex mit Minderjährigen war verboten; viele der LettristInnen waren aber noch minderjährig; andere hatten keinen festen Wohnsitz (damals auch ein Strafbestand). Das alles gab immer wieder Anlaß zu Ärger mit der Polizei. Laut ihren eigenen Erzählungen war Lohnarbeit ein Schimpfwort in ihren Kreisen. Das Geld zum Leben mußte dennoch irgendwoher kommen. Das verdienten sie sich mit kleinen Diebstählen, Haschisch verkaufen, Betteleien, Statistenrollen beim Fernsehen, Modell stehen beim Maler oder schon auch mal mit dem Verkauf eines Bildes. Ihre Hauptbeschäftigung war das "Umherschweifen"- "dérive" - (darauf komme ich später bei der Theoriebildung noch mal), was bedeutete: nüchtern oder breit durch die Gegend zu ziehen, immer auf der Suche nach einem Abenteuer oder einer Entdeckung. Dabei verklebten oder verteilten sie kleine Handzettel oder bemalten die Wände mit Parolen. Ihre Treffpunkte waren bestimmte Kneipen, wo sie redeten, tranken, kifften und Würfel spielten. Einen kleinen Einblick in das Leben der Mitglieder der I.L. kann ein Brief von Gil Wolman aus dem Jahr 1953 geben:
Diese Melancholie im Nachsatz war des öfteren der Grundtenor bei den LettristInnen: "Alle Mittel sind uns recht, um sich zu vergessen: Selbstmord, Todesschmerzen, Drogen, Alkoholismus, Wahnsinn" schrieben sie im Potlatch und jedes dieser Mittel hat einigen von ihnen das Leben gekostet. "Wie auch immer, lebend werden wir hier nicht rauskommen." schrieb Debord in der Potlatch Nr 2. So konnte es also nicht mehr weitergehen. Debord schrieb später über die Veränderung im Leben der LettristInnen folgendes:
Doch wie von der Defensive in die Offensive gelangen? Wie konnten die Möglichkeiten der Subversion gefunden werden? Dieser offensivere Weg war allerdings in der Lettristischen Internationale schon in diffuser Form angelegt und wurde später bei der Situationistischen Internationale ausgearbeitet. Die I.L. arbeitete bei ihrer ersten Konferenz 1952 folgende Richtlinien aus: - Weiterführung der kulturellen Subversion - Ablehnung einer regressiven Moral, bis genauere Kriterien festgelegt werden können - äußerste Umsicht bei der Veröffentlichung persönlicher Arbeiten, die die I.L. verpflichten können. - Ausschluß, sollte jemand unter seinem Namen eine kommerzielle Arbeit veröffentlichen. Die I.L. hatte eine Losung: "Nichts ist wahr, alles ist erlaubt". Für die I.L., so Debord, sei dies lediglich eine Parole gewesen, ein Schlüssel zum Eintritt in das Reich von "Spiel und öffentlichem Leben". Diese Losung stammt von Nietzsche und dieser hatte sie von Hassan i Sabbah. Wenn nichts wahr ist, außer unserer Überzeugung, daß alles, was wir als wahr akzeptieren sollen, falsch ist, dann ist alles möglich. Daher kann man auch das Vorgefundene für das eigene Spiel benutzen; die Schwierigkeit besteht lediglich darin, dem Bestehenden die eigenen Spielregeln aufzuzwingen. Diese Schwierigkeiten sollten nun in Debords nächstem Projekt, nämlich der Situationistischen Internationale, systematisch angegangen werden. |
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