KUNST, KULTUR, ALLTAG UND SPEKTAKEL

Die SituationistInnen bedienten sich der Ironie, denn Ironie ist stets ein Bestandteil von détournement. Aber ihre Ironie war von besonderer Art: Sie richtet die Aufmerksamkeit des Beobachters auf die Tatsache, daß sich die SituationistInnen der Lächerlichkeit ihrer apokalyptischen Phantasie bewußt sind, und bekräftigt gleichzeitig, daß jedes der gestohlenen Wörter Ernst ist, sehr Ernst sogar.

Vieles der LettristInnen und der SituationistInnen war geprägt vom Diskurs der Nachkriegskunst und der dadaistischen Antikunst. Die Situationistin Michèle Bernstein meinte zu diesen Einflüssen: "Jeder ist das Kind vieler Väter; es gab den Vater den wir haßten, den Surrealismus. Und es gab den Vater, den wir liebten: DaDa. Wir waren die Kinder von beiden." (Bernstein, in: Lipstick Traces)

Am Surrealismus hatten sie vor allem dessen Hang zum Irrationalismus auszusetzen: "Der dem Surrealismus zugrundliegende Irrtum ist die Idee des unendlichen Reichtums der unbewußten Phantasie. (...) Tatsächlich ist die Entdeckung der Rolle des Unbewußten eine Überraschung und eine Neuigkeit gewesen, aber kein Gesetz für zukünftige Überraschungen und Neuigkeiten. (...) Wir müssen weitergehen und mehr Rationalität in die Welt bringen - das ist die Vorbedingung, um in ihr die Leidenschaft zu entzünden" (Debord, Rapport), schrieb Debord an den Surrealismus gerichtet. Über DaDa schrieb er: "Seine historische Rolle ist es, dem herkömmlichen Verständnis der Kultur den tödlichen Stoß versetzt zu haben." (Debord, Rapport)

Die Berliner DadaistInnen zogen aus der Frage, "Was ist die deutsche Kultur? - Antwort: Dreck" (Huelsenbeck), die Konsequenz, mit allen Mitteln der Satire, des Bluffs, der Ironie, am Ende aber auch mit Gewalt gegen diese Kultur vorzugehen. Und zwar in gemeinsamer großer Aktion.

Dies prägte auch das Verhältnis der SituationistInnen zur Kunst. Bakunins Vorschlag in Dresden, die Bilder des Museums am Stadtrand aufzustellen, um die angreifenden Truppen daran zu hindern zu schießen, stellte für Debord einen "mustergültige Art und Weise, die vergangene Kunst zu behandeln, sie wieder im Leben (...) auf' s Spiel zu setzen" (Debord, Rapport) dar.

Doch die LettristInnen und SituationistInnen wollten über DaDa und den Surrealismus hinaus.

    "Der Dadaismus wollte die Kunst aufheben, ohne sie zu verwirklichen; und der Surrealismus wollte die Kunst verwirklichen, ohne sie aufzuheben. Die seitdem von den SituationistInnen erarbeitete kritische Position hat gezeigt, daß die Aufhebung und die Verwirklichung der Kunst die unzertrennlichen Aspekte ein und derselben Überwindung der Kunst sind." (Debord, Spektakel These 191).

Die I.L. meinte, daß dérive und détournement beides Kunstformen seien, die keine Kunst hervorbringen konnten (hier irrten sie sich, Vgl. Postmodernismus), sondern nur eine neue Art Leben.

Die gesamten bisherigen Kunstformen erschienen Debord als veraltet, nutzlos und letztlich gar als Hindernis, da sie "die Emotionen festhalten (fixieren)." (Debord, Rapport)

Kunst war für Debord Zeitverlust im Gegensatz zu Asger Jorn, der die Kunst neu definieren wollte. Ein Bild oder eine Zeile für sich zu beanspruchen, als im voraus auf die Mauer der Geschichte geschriebenes, einzigartiges und unvergängliches Mal, heiße nach Debord, einen Betrug an der Geschichte zu verüben. Es heiße die Mythen des genialen Genies und der göttlichen Inspiration in Kauf zu nehmen und mit einem System individueller Hierarchie und sozialer Kontrolle zu kollaborieren. Angesichts der Tatsache, daß Gott tot ist und die Kunst seinen Platz eingenommen hat, heiße dies eine religiöse Illusion aufrechtzuerhalten, die passenderweise in der wundersamsten aller Waren eingefangen war.

Jedoch war die Diskussion über die Kunst innerhalb der S.I. äußerst kontrovers; auch Asger Jorns Rolle und seine Argumentation ist dabei sehr interessant, so daß es falsch wäre, wenn der Eindruck entstehen würde, die I.L. oder die S.I. fänden die Kunst, der sie viel zu verdanken hatten, einfach doof, auch wenn es jetzt so rüberkommt.

Die laute Sprache oder genauer, die lauten Sprüche der Werbung haben die LettristInnen von Anbeginn zu ihren eigenen Zwecken benutzen wollen, unter anderem, weil Sprachrhythmus, propagandistischer Schall, sachliche Härte und Sinnverschiebung ihrer Idee des Gebrauchs der Sprache entgegen kamen.

Ebenso ist die Sprache der LettristInnen eine Sprachform der Kriegswissenschaft, von der Schnelligkeit riskanter Manöver, bis zu der unsichtbaren Bedeutung eines entnervenden Abwartens ausgedehnt.

Debord nannte die LettristInnen "les enfants perdus", einen verlorenen Haufen oder ein Himmelfahrtskommando.

Im Unterschied zur Avantgarde ist ein "verlorenen Haufen" keine feste Einrichtung eines Heeres, sondern ein Moment seiner Auflösung. Über die Versprengten werden keine weiteren Meldungen erwartet. In den Einflußbereich des Gegners hineingeraten, kann dieses Kommando als Aufklärungsauftrag an besondere Kräfte der Avantgarde ergehen, es kann aber ebenso jeden anderen Truppenteil treffen, wenn z.B. die Nebeneffekte größerer Bewegungen geordnet werden oder wenn aus geschützten oder geordneten Linien der letzte Befehl in einen unhaltbaren, aus dem Blick geratenen Frontabschnitt ergeht: "Nicht ergeben!"

Die LettristInnen sahen sich dementsprechend; nämlich, daß sie im Frontabschnitt des modernen Kapitalismus operierten.

Der Hochmut der Macht, und ihr selbstverständlicher Begleiter, die Geheimhaltung wichtiger Bewegungsmotive, gelangen dadurch in den Brennpunkt der Beobachtung ...

Debord bedient sich der Sprache der Zeremonien, und er macht sich den Bluff bei der Gründung der I.L. zu eigen, mit dem das öffentliche Bild staatstragender Vorgänge hergestellt wird: Konferenzen, verschlüsselte Depeschen, Ausschlüsse, proklamatische Markierungen der Zeit, internationale Sektionen, Büros, Archive - eine ganze Reihe von Fachtermini des bürokratischen, politischen und geheimdienstlichen Lebens...

Vorbild war unter anderem auch die "Internationale" von Karl Marx, der als Basis ein ähnliches Selbstverständnis beanspruchte: sich die Bedeutung des Projektes nicht von gerade existierenden Machtverhältnissen vorschreiben zu lassen.

Das war nicht nur eine Anmaßung, sondern auch eine Zumutung für diejenigen, die sich von dem Spiel der Wertzeichen verwirren ließen und es als Störung der vereinbarten Regeln empfanden. Die I.L. und auch später die S.I. war als inszenierte Organisation eine Parodie, ein Narrenspiel, Mimikri.

Das S.I.-Konzept der konstruierten Situation versteht sich als Gegenentwurf zur Kunst:

    "Die Situation fassen wir als das Gegenteil des Kunstwerks auf, das als ein Versuch der absoluten Wertsteigerung und der Erhaltung des gegenwärtigen Augenblicks ist (...) Jede Situation, wie bewußt sie auch konstruiert sein mag, enthält ihre Negation und geht unvermeidlich ihrer eigenen Umkehrung entgegen."
Dafür galt es einige Begriffe des kulturellen Sektors umzudefinieren, bzw. ihren affirmativen Charakter aufzuzeigen. So seien Sehen und Schauen schlechte Gewohnheiten.

Das Bild ist der Begriff für ein Transportgut des Falschen, der Verkehrungen und Vernebelungen, das Gegenteil des Lebendigen. Es verstellt die Sichtbarkeit der wirklichen Welt; jedoch beim Elend gibt es ab und zu "Sichtbarkeit"; dann hat sich die Welt nicht zum Bild verschlossen, sondern erscheint nur als sichtbar schlechtes Bild.

Hier begegnen uns immer wieder zwei Phänomene bei der Debordschen Analyse der Auflösung der Kultur.

Seine Analyse der Auflösung der Kultur ist allerdings kein Kulturpessimismus, da nichts nachgejammert wird, sondern im Gegenteil: die Auflösung der Kultur wird als Chance begriffen, die es voranzutreiben gilt. Das Schlechte wird beschrieben, aber es klingt nicht weinerlich, sondern sardonisch, fratzenhaft-vergnügt.

Die zwei Phänomene der Debordschen Analyse sind: Die Konfusion, in der sich die Kultur befindet, und die Präzision oder Zuverlässigkeit, mit der es ihr gelingt, überall wirksam zu werden. Roberto Ohrt schreibt dazu:

"Ausführlich widmet sich Debord einer Kritik des Konfusionismus, schaut in das schnell geordnete Durcheinander um das kulturelle "Nichts", deren verschiedene Vertreter es nicht verstehen, die Botschaft der "Auflösung" der bürgerlichen Kultur, als eine revolutionäre zu lesen." (R.O. S.179)

Ein weiterer zentraler Begriff der situationistischen Theorie ist das Alltagsleben oder das alltägliche Leben. Hierbei hatte der marxistische Philosoph Henri Lefèbvre einen großen Einfluß auf die SituationistInnen. Lefèbvre wandte sich in der Nachkriegszeit vom damaligen Marxismus ab. Er vertrat die Meinung, daß man, um die Welt zu verändern, über die Veränderung des Lebens nachdenken müsse. Er schrieb eine Theorie der Momente. Momente tauchen in einem geheimnisvollen unerforschten Bereich auf, den er Alltagsleben nannte, eine Form des Lebens, die sich am leichtesten durch Negation beschreiben läßt: "Was übrig bleibt, wenn man alle außerplanmäßigen Aktivitäten eingestellt hat." (Lefèbvre)

Damit ist weniger das Leben am Arbeitsplatz, als das auf der Fahrt dorthin gemeint... mehr noch, das durch den Stumpfsinn der Arbeit oder der Fahrt zur Arbeit bedingte Leben der Phantasie. Es geht weniger um das Leben als Ehefrau, als um die seltenen Gelegenheiten, wenn die Rolle irgendwie verschwindet und eine Frau sich für ein paar Sekunden neu definiert, und zwar über nichts, was die Gesellschaft als real anerkennt.

Das alltägliche Leben ist ein Reich der Wiederholung, der Belanglosigkeit, Depression; ein Reich der Langeweile, stumm unterbrochen von scheinbar unsinnigen Sehnsüchten nach Heldentaten, Abenteuer, Flucht, Rache... Freiheit. Lefèbvres Kritiker leugneten, daß das Alltagsleben überhaupt existiert. Das Alltagsleben, so wie Lefèbvre es darstellte, ist ein ebenso unbefriedigendes wie stummes Milieu, ebenso stumm, wie allgegenwärtig. Doch wenn man diesen Momenten eine Sprache, eine politische Sprache gäbe, könnten sie die Grundlage für vollkommen neue Forderungen an die soziale Ordnung bilden. Marxismus ist das nicht. Marx hätte dies verstanden. Lefèbvres Theorien wurzeln nämlich in Marx` 1844 erschienenen "Ökonomisch-philosophischen Manuskripten", die Lefèbvre Ende der 20er Jahre übersetzt und herausgegeben hatte.

Aus diesem Ansatz resultierte auch ein Grundsatz der situationistischen Theorie. Er lautet, daß die Natur der gesellschaftlichen Realität und die Mittel zu deren Veränderung nicht durch die Analyse der Machtverhältnisse ergründet werden können, sondern durch eine gründliche, nüchterne Betrachtung der scheinbar trivialen Gesten und Akzente der Alltagserfahrung.

In der S.I. betrieb man eine systematisch gedachte Entwertung jeglicher Erscheinungen, die "über das Leben hinausgehen". So wird einer Aktion der Weg freigemacht, die letztlich nur noch sich selbst wahrnimmt. Alle Repräsentation verfällt dann einer Dynamik, die sich im "Stil der Negation" fortwährend von dem, was sie vorzeigt, moralisierend abhebt.

Das Projekt der S.I. ist nichts weiter als eine verführerische, subversive Neuformulierung des Offensichtlichen. Sie behaupten in etwa: "Unsere Vorstellungen davon wie die Welt funktioniert, warum sie verändert werden muß, sind in allen Köpfen, und zwar als Gefühle, die in Ideen zu übersetzen niemand bereit ist, daher übernehmen wir die Übersetzung."

Im Alltagsleben entdeckten die SituationistInnen ein weiteres Phänomen - die Langeweile.

"Langeweile ist immer konterrevolutionär" (S.I. Nr. 8) schrieb die S.I.

Langeweile war für die S.I. ein modernes Phänomen, eine moderne Form von Kontrolle.

Nach Ansicht der S.I. produzieren Modernität, verringerte Arbeitszeit und relativer Überfluß, Stadtplanung und der Wohlfahrtsstaat nicht Glück, sondern Depression und Langeweile. Die Menschen empfinden ihren Zustand als schicksalhaftes Ereignis.

Da jeder Mann und jede Frau von allem anderen immer mehr getrennt ist, sind sie auf sich selbst zurückgeworfen, nach dem Motto: Ich bin nicht glücklich - was stimmt mit mir nicht?

Dieser Fatalismus ist Hinnahme und somit immer konterrevolutionär.

Man sieht auch auf dieser Ebene, daß die Situationisten und Situationistinnen eine Haltung definieren wollten, keine Ideologie, da sie Ideologien als Entfremdung betrachteten, als Transformation von Subjektivität in Objektivität, von einem Verlangen in Macht, das die Individuen zur Machtlosigkeit verdamme.

Die unterschwellige Negation dieser Verhältnisse sahen die SituationistInnen in den Begierden und Wünsche der Menschen.

Der Wunsch beginnt mit dem Anspruch, nicht als Objekt, sondern als Subjekt der Geschichte zu leben, so zu leben, als hänge von dem, was du tust, tatsächlich etwas ab, und dieser Anspruch eröffnet neue Perspektiven.

"Ich bin nichts, und müßte alles sein", hat der junge Marx geschrieben, als er diesen revolutionären Impuls definierte.

Das Spektakel wie es Debord beschreibt, ist zugleich die Geiselnahme, wie das Gefängnis dieses Impulses. Es ist ein herrliches Gefängnis, in dem das ganze Leben als permanente Vorstellung aufgeführt wird. Eine Vorstellung, wo "alles, was direkt gelebt wurde, sich zu einer Repräsentation entwickelt hat." Das Spektakel war der Hauptfeind der SituationistInnen. Ihm widmete Debord sein Hauptwerk "Die Gesellschaft des Spektakels". Hierin beschreibt er unermüdlich in 221 Thesen, was das Spektakel ist und wie es gestürzt werden könnte.

    "Das Spektakel ist das Kapital, das einen solchen Akkumulationsgrad erreicht, daß es zum Bild wird." (Debord, Spektakel These 34)
Im Spektakel ist Passivität zugleich Mittel und Zweck eines großen verborgenen Projekts, eines Projekts gesellschaftlicher Kontrolle. Unter den Bedingungen seiner speziellen Form von Hegemonie produziert das Spektakel natürlich keine Schauspieler, sondern Zuschauer: moderne Männer und Frauen, die sich begeistert alles anschauen, was man ihnen zum Ansehen vorsetzt. Es erzeugt Demokratien falscher Begierden: Man kann zwar nicht eingreifen, will es aber auch nicht, weil das Spektakel als Mechanismus gesellschaftlicher Kontrolle ein inneres Spektakel der Teilnahme, der freien Wahl aufführt. Wie eine avantgardistische Performance führt das Spektakel eine Ideologie der Freiheit auf.

Als Theater ist das Spektakel auch eine Art Kirche, "der materielle Wiederaufbau der religiösen Illusion." (Debord, Spektakel)

Moderne Technik, Beherrschung der Natur, die mögliche Aufhebung des Reichs der Notwendigkeit in der modernen Überflußgesellschaft "hatten die religiösen Wolken nicht vertrieben, in die die Menschen ihre von ihnen losgerissenen, eigenen Kräfte gesetzt hatten: sie haben sie nur mit einer weltlichen Grundlage verbunden." (Debord, Spektakel)

Die Verselbständigung der von der Gesellschaft geschaffenen Kräfte, als Folge der Logik des Wertetauschs, belegte Marx mit dem Begriff "Entfremdung".

Die Entfremdung, die er auf den Ebenen der Lohnarbeit, der Beziehungen zwischen Mensch und Natur und zwischen Mensch und Mensch, analysierte, bekommt im Spektakel noch eine weitere psychologische Bedeutung:

"Die Entfremdung des Zuschauers zugunsten des angeschauten Objekts" - unserem idealisierten Selbst oder eines seiner Teile - "drückt sich so aus: je mehr er zuschaut, um so weniger lebt er; je mehr er sich in den herrschenden Bildern des Bedürfnisses wiederzuerkennen akzeptiert, um so weniger versteht er seine eigene Existenz und seine eigene Begierde. Die Äußerlichkeit des Spektakels im Verhältnis zum tätigen Menschen erscheint darin, daß seine eigenen Gesten nicht mehr ihm gehören, sondern einem Anderen, der sie ihm vorführt." (Debord, Spektakel These 30)

Dieser "Andere" ist das personifizierte Spektakel; so auch z.B. konkrete Personen: Jesus, Kurt Cobain, Lenin, Gandhi, das Gesicht auf einer Reklametafel, oder das Gesicht des idealisierten Selbst, an das man eventuell während des Beischlafs denkt.

Als solches ist das idealisierte Selbst immer präsent, immer knapp außer Reichweite. Als Perversion der Freiheit ist es wie jede Perversion - nach Freud - erotisch; als Entfremdung ist es mit dem Schauder verbunden, daß man es haarscharf nicht geschafft hat, ein Gefühl, das einen immer wieder einen neuen Anlauf machen läßt. Es ist eine perfektionierte Symbolwelt in den Köpfen der Menschen.

Wenn die Revolution im Grunde im Begehren wurzelt, sein eigenes Leben zu schaffen, eine so tiefe und eindringliche Sehnsucht, daß ihre Verwirklichung die Schaffung einer neuen Gesellschaft erfordert, so vereinnahmt das Spektakel diesen Wunsch und verwandelt ihn in den, ein Leben so zu führen, wie es bereits existiert, nämlich in der sich ständig erneuernden Utopie des Spektakels.

Diese Vereinnahmung des revolutionären Impulses belegen die SituationistInnen mit dem Begriff Rekuperation. Die moderne Gesellschaft modernisiert sich durch das innerhalb der herrschenden Strukturen heranwachsende Prinzip der Negation. Die Opposition zum Spektakel wird rekuperiert und somit zum Spektakel der Opposition. Die S.I. meinte, daß hier der Ort des revolutionären Impulses auf dem Terrain des Spektakels sei.

Nichts, was tatsächlich geschieht wird real, bevor es nicht im Spektakel "gesellschaftliches Leben" vorkommt; damit wird es irreal und verkehrt sich in sein Gegenteil. Rekuperation bedeutet also Trennen, Isolieren und Integrieren von Tendenzen, die ursprünglich als Negation der bestehenden sozialen Verhältnisse entstanden sind, mit denen sich das Spektakel vorantreibt und modernisiert. "Die herrschende Ideologie organisiert die Banalisierung der subversiven Entdeckungen und verbreitet sie im Überfluß, nachdem sie sie sterilisiert hat." (Debord, Rapport)

Das Wort Spektakel ist Anfang der 80er zum Modewort verkommen und somit selbst rekuperiert worden; es bedeutete dort nur, daß das Bild einer Sache, die Sache selbst überlagert. Für diesen Sachverhalt ist der Begriff "Mythos" sicher angebrachter.

Ebenso benutzen Kulturkritiker seit dieser Zeit den Begriff "Spektakel", um sich zu beklagen; wie z.B., daß die Leute zu glauben scheinen, daß die USA mit Rambo-Filmen den Vietnamkrieg nachträglich gewinnen könnte, daß die Konsumenten von der Werbung verführt werden, daß Bürger und Bürgerinnen Schauspieler wählen, statt Sachfragen. Dies ist aber eher Theater.

Debord jedoch hat darauf bestanden, es handele sich zum einen um eine Art Religion und vor allem um Ideologie:

    "eine ins Materielle übertragene Weltanschauung, eine Anschauung der Welt, die sich vergegenständlicht hat." (Debord, Spektakel These 5)
Und zum anderen, daß das Spektakel nicht nur Werbung ist oder Fernsehen, sondern die komplette gesellschaftliche Welt:
    "Das Spektakel ist nicht ein Ganzes von Bildern, sondern ein durch Bilder vermitteltes gesellschaftliches Verhältnis zwischen Personen." (Debord, Spektakel These 4)
So verwarf er im voraus die seinem Buch folgende platte Gesellschaftskritik.

Der Siegeszug des Spektakels besteht darin, daß zwar nichts wirklich zu sein scheint, ehe es in dem Spektakel aufgetaucht ist, es aber bereits in dem Moment seines Auftauchens jede Wirklichkeit einbüßt, die es besessen hat. "Jeder so festgesetzte Begriff gründet sich nur auf seinen Übergang in die Gegenseite," schreibt Debord und weiter:

"In einer wirklich verkehrten Welt ist das Wahre ein Moment des Falschen." (Debord, Spektakel These 9)

Man kann jedoch nicht einfach alle Dinge umdrehen, denn das Gegenteil einer Lüge ist noch lange nicht die Wahrheit.

Das Spektakel schafft seine eigene Opposition und vereinnahmt sie: "Realität erscheint mit dem Spektakel und das Spektakel ist real", schrieb Debord und gelangt somit weiter zum gesellschaftlichen Kern des Spektakels:

    "Das Spektakel ist der Moment, in welchem die Ware zur völligen Beschlagnahme des gesellschaftlichen Lebens gelangt ist. Das Verhältnis zur Ware ist nicht nur sichtbar, sondern man sieht nichts anderes mehr: die Welt die man sieht ist seine Welt." (Debord, Spektakel These 42)
Debord schreibt, daß es das Prinzip des Warenfetischismus ist, das sich absolut im Spektakel vollendet, d.h. die Beherrschung der Gesellschaft durch "sinnlich übersinnliche Dinge". (Debord, Spektakel These 36)

Dieser Nachsatz stammt im Original von Marx. Es zeigt sich hier, wie konsequent Debord an der Marxschen Theorie bleibt, um ihren, durch die Partei-MarxistInnen, LeninistInnen und anderes Gesockse verschütteten revolutionären Gehalt wieder ins Leben zu rufen. Er wendet dabei konsequent die oben beschriebene Methode der Entwendung an und legt somit den vernebelten revolutionären Gehalt der Marxschen Theorie wieder frei.

Eine These davor entwendet Debord ebenfalls eine These von Karl Marx, nämlich daß die Ware ein sehr vertracktes Ding sei, voll metaphysischer Spitzfindigkeiten. Lesen wir mal im Original, was Marx zum Fetischcharakter der Ware schrieb:

    "Eine Ware erscheint auf den ersten Blick ein selbstverständlichen, triviales Ding. Ihre Analyse ergibt, daß sie ein sehr vertracktes Ding ist, voller metaphysischer Mucken (...) Es ist sonnenklar, daß der Mensch durch seine Tätigkeit die Formen der Naturstoffe in einer ihm nützlichen Weise verändert. Die Form des Holzes z.B. wird verändert, wenn man aus ihr einen Tisch macht. Nichtsdestoweniger bleibt der Tisch Holz, ein ordinäres, sinnliches Ding. Aber sobald er als Ware auftritt, verwandelt er sich in ein sinnlich übersinnliches Ding. Er steht nicht nur mit den Füßen auf dem Boden, sondern er stellt sich allen anderen Waren gegenüber auf den Kopf und entwickelt aus seinem Holzkopf Grillen, viel wunderlicher, als wenn er aus freien Stücken zu tanzen begänne." (Marx; Das Kapital I, S. 76)
Marx spielte auf die SpiritistInnen an, die seiner Zeit und einige auch heute noch um die Tische sitzen, sich an den Händen halten und darauf warten, daß die Geister Verstorbener sich bemerkbar machen, an den Tischen rütteln und sie zum Tanzen bringen. Die SpiritistInnen haben nicht viel mit Waren zu tun, aber die Ware hat viel mit Zauberei und Mystizismus zu tun. Die Ware ist das Agens der Verdinglichung, die Verkehrung der Subjekte in Objekte und umgekehrt. Dieser Verdinglichung, welcher auch die Marxsche Theorie unterlag, entgegenzutreten und sie durch Entdinglichung wieder der Subversion zuzuführen, darauf kam es Debord an. Hierfür benötigte er die Entwendung, als eine Art Praxis der Theorie.

In ihrer Theorie der Praxis traten die SituationistInnen der Verdinglichung mit dem Konzept der "Konstruktion von Situationen" entgegen, um dieses warenförmige Verhältnis zumindest für einen kurzen Augenblick aufzubrechen. Die LettristInnen und Debord haben dies z.B. in ihren Filmen versucht praktisch umzusetzen. Als sie z.B. Filme als tolle Avantgarde- Filme mit viel Schweinereien ankündigten und lediglich zerkratzte Filmfolie oder abwechselnd schwarze bzw., weiße Leinwand zu sehen war, um damit Tumulte im Kino auszulösen.

Jedoch im Gegensatz zum Film gibt es im alltäglichen Leben einige Schwierigkeiten mit einer konstruierten Situation; dazu Roberto Ohrt:

    "Die Beteiligten dürfen hier noch weniger in eine Heldenrolle verfallen; die Situation sollte sich nicht um eine einzige Person verfestigen. Die Plätze müssen beweglich gehalten werden, und die Aktion kann nicht das einzige Geschehen sein." (Roberto Ohrt; Phantom Avantgarde)
Die konstruierte Situation setzt das konsequent fort, was Marx in seiner Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie so ausdrückte:
    "Man muß den wirklichen Druck noch drückender machen, indem man ihm das Bewußtsein des Druckes hinzufügt, die Schmach noch schmachvoller machen, indem man sie publiziert (...) man muß die versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, daß man ihnen ihre eigene Melodie vorsingt!" (Marx; Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie)
Was ist das neue der Debordschen Kritik gegenüber der Marxschen Kritik?

Debord orientiert sich mit seinen Formulierungen streng an Marx. Jedoch gekoppelt mit der Methode der Entwendung, des Plagiats. Debord schreibt dazu - mit einer Lautréamont-Entwendung:

    "Die Ideen verbessern sich. Die Bedeutung der Worte trägt dazu bei. Das Plagiat ist notwendig. Der Fortschritt impliziert es. Es hält sich dicht an den Satz eines Verfassers, bedient sich seiner Ausdrücke, beseitigt eine falsche Idee, ersetzt sie durch eine richtige." (Debord, Spektakel These 207)
Diese Methode praktiziert er nicht nur bei Marx, sondern auch bei Hegel, Freud und anderen. Er begründet dies damit, daß die Entwendung das Gegenteil des Zitats sei. Das Zitat verfälsche als theoretische Autorität bereits deswegen, weil es Zitat geworden sei, weil es Fragment sei, das aus seiner Bewegung, seiner Epoche und seinem Bezugsrahmen gerissen sei. Die Entwendung dagegen sei die flüssige Sprache der Antiideologie, die den früheren Wahrheitskern wiederbringe und bestätige.

Somit müssen bei der Bildung einer revolutionären Theorie nicht alle Kategorien wieder neu gefunden werden, sondern können alte, die immer noch gelten, übernommen werden, andere korrigiert und neue hinzugefügt werden, ohne daß die Theorie eklektizistisch oder willkürlich wird.

Die Theorie kann somit auch für die gegenwärtige Praxis zugänglich gemacht werden, mehr noch, sie erhält ihren Wahrheitskern erst in der Praxis wieder.

Das, was Marx noch als eine mögliche Entwicklung des Kapitalismus vorausgeahnt hatte, schien in den 60er Jahren, in denen Debord seine Kritik schrieb, Wirklichkeit geworden zu sein. Bei seiner Beschreibung des neuen Stadiums, in das der Kapitalismus eingetreten war, blieb Debord zunächst wieder, wie schon beim Warenfetischismus, hart am Marxschen Text:

    "Während in der ursprünglichen Phase der kapitalistischen Akkumulation" die Nationalökonomie den Proletarier nur als Arbeiter betrachtet", der das zur Erhaltung seiner Arbeitskraft unentbehrliche Minimum bekommen muß, ohne ihn jemals "in seiner arbeitslosen Zeit, als Mensch" zu betrachten, kehrt sich diese Denkweise der herrschenden Klasse um, sobald der in der Warenproduktion erreichte Überflußgrad vom Arbeiter einen Überschuß von Kollaboration erfordert. Dieser Arbeiter, von der vollständigen Verachtung plötzlich reingewaschen, die ihm durch alle Organisations- und Überwachungsbedingungen der Produktion deutlich gezeigt wird, findet sich jeden Tag außerhalb dieser Produktion, in der Verkleidung des Konsumenten, mit überaus zuvorkommender Höflichkeit scheinbar wie ein Erwachsener behandelt. Da nimmt der Humanismus der Ware den Arbeiter " in seiner arbeitslosen Zeit und als Mensch" in die Hand ganz einfach deswegen, weil die politische Ökonomie jetzt als politische Ökonomie diese Sphären beherrschen kann und muß. So hat die "konsequente Durchführung der Verleugnung des Menschen" die Ganzheit der menschlichen Existenz in die Hand genommen." (Debord, Spektakel These 43)
Dem Arbeiter mußte man ein gewisses Maß an Mehrwert zugestehen (z.B. in Form von Aktien), an frei verfügbarem Einkommen und an Freizeit.

Doch wo ist die Erweiterung gegenüber der Marxschen Analyse? Das Geheimnis des Fetischs Ware liegt darin, daß die Waren reden, menschlich wirken, daß sie Menschen und Dinge verwandeln können. So war dies schon bei Marx.

Jedoch damit die in diesem Geheimnis enthaltenen Verdinglichungen in der menschlichen Psyche stattfinden können, muß jeder und jede zuhören lernen:

Du bist nichts, wenn Du nicht alles hast - das ist Modernität. Modernität bedeutet die Verschiebung des Schwerpunktes im Kapitalismus von Produktion zu Konsum, vom Bedürfnis zum Wunsch oder wie Debord es ausdrückt:

    "Die erste Phase der Herrschaft der Wirtschaft über das gesellschaftliche Leben hatte in der Definition jeder menschlichen Realisierung eine offensichtliche Degradierung des Seins zum Haben mit sich gebracht. Die gegenwärtige Phase der völligen Beschlagnahme des gesellschaftlichen Lebens durch die akkumulierten Ergebnisse der Wirtschaft führt zu einer verallgemeinerten Verschiebung vom Haben zum Scheinen, aus welchem jedes tatsächliche "Haben" sein unmittelbares Prestige und seinen letzten Zweck beziehen muß. Zugleich ist jede individuelle Wirklichkeit gesellschaftlich geworden, direkt von der gesellschaftlichen Macht abhängig und von ihr geformt." (Debord, Spektakel These 17)
Die neue Qualität gegenüber Marx besteht nun darin, daß die von Marx beschriebene Verwandlung der menschlichen Beziehungen in Beziehungen zwischen Dingen, also Warenfetischismus, sich hin zur Verwandlung der menschlichen Beziehungen in Bilder, also Spektakel, verschiebt. Die Degradierung des gesellschaftlichen Lebens vom Sein zum Haben setzt sich in der Reduktion aufs Scheinen fort.
    "Die Verschiebung vom Bedürfnis zum Wunsch basiert darauf, daß die Begierden reduziert werden müssen auf die, die sich vermarkten lassen und die Begierden müssen auf Bedürfnisse reduziert und als solche erlebt werden. Wie die SituationistInnen behaupten, erfordert das moderne kapitalistische Projekt, daß das potentiell ungezügelte Verlangen im Herzen jedes Menschen auf ein Haushalten mit praktischen Bedürfnissen reduziert wird und daß Möglichkeit zu dem reduziert wird, was sie "Überleben" nannten, die Reduzierung des Lebens auf ökonomische Zwänge - in diesem Fall, daß man nicht etwas kauft, das man sich subjektiv wünscht, sondern etwas, ohne das man, wie das Spektakel "objektiv" beweist, nicht leben kann." (Greil Marcus)
Das Leben, als Fülle aller geschichtlichen Möglichkeiten, wird also im Spektakel zum reinen Überleben degradiert.

S.I. und Frankfurter Schule (beide kannten sich und ihre Theorien nicht, bzw. Debord Adornos Theorien erst später) nennen das die "Proletarisierung der Welt". Damit meinten sie, wenn die politische Ökonomie das Leben beherrscht, verwandelt sie jeden; den in einen Konsumenten verwandelten Arbeiter, den Kleinbürger, der bereits einer war in eine Art Proletarier, ein stummes Objekt angesichts des sprechenden Dinges; die "Vermenschlichung der Ware" bedeutet, daß die Ware menschlich wird, während der Mensch zur Ware wird.

Doch wo andere nur härter werdenden Zement sahen, glaubten die SituationistInnen als Gruppe selbstbewußter moderner Revolutionäre, einen Riß zu entdecken: Überfluß, Banalität und Langeweile seien nicht nur modernistische Druckmittel fader Tyrannei, sondern Gelegenheiten zur Entdeckung neuer Wünsche - Wünsche die es aufzuspüren gelte und mit allen Mitteln des Bluffs, der Ironie, der Satire und am Ende auch mit Gewalt publik machen würde, um sich anschließend bereit zu halten, in eine große gemeinsame Aktion, in einen Ausbruch von Negation, in eine neue Welt überzuleiten.

Die SituationistInnen beschrieben ihre Lage, wie Raoul Vaneigem es formulierte, als die "von Kämpfern zwischen zwei Welten; die eine erkennen wir nicht an, während die andere noch nicht existiert. Es kommt darauf an, den Zusammenstoß voranzutreiben..." (Vaneigem, Beginn einer Epoche).

Bei der Frankfurter Schule (v.a. bei Adorno) heißen Melancholie und Nostalgie die treibenden Kräfte, mit der sie ihre Sätze formulierten; im Unterschied dazu wollten die S.I. Jammern durch Wut ersetzen. Mit der Entwendung von Freud heißt es bei Debord:

    "In dem Moment, in dem die Gesellschaft entdeckt, daß sie von der Wirtschaft abhängt, hängt die Wirtschaft tatsächlich von ihr ab (...). Wo das wirtschaftliche <<Es war, muß das Ich werden>>. " (Debord, Spektakel These 52)
Die S.I. wollte dieses therapeutische Wachrütteln übernehmen.

Greil Marcus schreibt in seinem Vergleich der Frankfurter Schule mit der S.I.: "Adornos Negation fehlte der sardonische Spaß. Ein Wesenszug, den die Punk-Version der Negation nie vernachlässigte," wobei er leider allzusehr die S.I. und Dada in ihrer Lust an der Negation mit den Anfängen von Punk vergleicht, und somit einer Rekuperierung Tür und Tor geöffnet hat.

Die S.I. waren Spieler und Spielerinnen, sie pokerten; ihr Einsatz bestand unter anderem darin, daß menschliche Subjektivität in den objektivierenden Markt aufgenommen wird und somit zur Sprengkraft wird. Wenn die zentrale menschliche Fähigkeit darin besteht, bewußt mehr zu wollen, als man haben kann, entsteht daraus die Fähigkeit jedes einzelnen, etwas anderes als jeder andere zu wollen. Der Kapitalismus weiß dies und reagiert darauf, weshalb es jedes Produkt in zahllosen Variationen gibt. Der moderne Kapitalismus ist ein vertracktes Projekt. Frei verfügbares Einkommen und Freizeit möchten Sehnsüchte wecken, die der Markt nie befriedigen kann, und diese Sehnsüchte enthalten vielleicht sogar den Wunsch, sich aus dem Markt auszuklinken. Die Sixties waren in den Metropolen Wirtschaftswunderzeiten.

Einige Sehnsüchte der 60er sind nun Teil der Struktur. Doch ebenso produzierte das Spektakel immer mehr soziale und wirtschaftliche Aussperrungen.

Der Kapitalismus hat sich in den 80er Jahren unter Thatcher, Kohl und Reagan weiterentwickelt. Er hat einiges aus den 68er Revolten gelernt und darauf reagiert. Überfluß kann der Macht gefährlich sein, während "Mangel", wenn man ihn vorsichtig einsetzt, stabilisierend wirkt, nach dem Motto: "Laß dir nichts zu Schulden kommen, du könntest der Nächste sein."

Eine hohe Arbeitslosigkeit sorgt z.B. für ein williges Reservoir von Streikbrechern und verwandelt den Fluch der miesen Arbeit in einen Segen. Mai-'68-Slogans, wie Abenteuer, Risiko, Phantasie, Spontaneität, Selbstverwirklichung sind in den modernen Kapitalismus integriert und rekuperiert worden und werden von beinahe jedem Manager im Munde geführt.

Das Verdienst der S.I. bestand einfach darin, die neuen Brennpunkte der Revolte in der modernen Geschichte und im Zentrum des modernen Kapitalismus aufgezeigt zu haben.

Debord sagte 1978 über das Programm der S.I. im nachhinein:

    "So wurde das beste Programm entworfen, um die Gesamtheit des sozialen Lebens ganz mit Argwohn zu belegen: Klassen und Spezialisierungen, Arbeit und Zerstreuung, Ware und Städtebau, Ideologien und Staat - wir haben gezeigt, daß dies alles nur zum wegwerfen taugte. Und solch ein Programm enthielt kein einziges Versprechen, nur das einer zügellosen Autonomie ohne Regeln. Diese Perspektiven gehören heute zum Alltag, und überall kämpft man für oder gegen sie. Damals aber wären sie gewiß jedem phantastisch erschienen, wenn sich der moderne Kapitalismus nicht noch phantastischer aufgeführt hätte." (Debord; In girum imus nocte...)
Hier ist die Perspektive in welcher Richtung eine Kritik heutzutage weiterzutreiben wäre. Eine Grundeinsicht muß also die sein, daß die Kritik der SituationistInnen nicht mehr ausreicht und ihr Angriff nicht ausgereicht hat. Dennoch legten die SituationistInnen die Meßlatte an der sich die revolutionäre Kritik in ihr er modernsten Form heutzutage zu messen hat.

WAS BLEIBT?

Die Einflüsse der S.I. kann man danach in allen möglichen kulturellen Bereichen entdecken, mit sehr unterschiedlichen Ausprägungen und Formen.

Einige Beispiele:

+ Großbritannien: Der aus der S.I. ausgeschlossene Christopher Gray rief ca. 1968 eine Gruppe ins Leben, die sich "King Mob" nannte und in deren Dunstkreis sich der Manager der Sex Pistols und "Erfinder" des Punk Malcolm McLaren, sowie deren Platten-Cover-Grafiker Jamie Reid befanden.

+ Der Literat und Initiator eines Kunststreiks Stewart Home bezieht sich sehr stark auf die SituationistInnen.

+ Eine kleine bewaffnete Gruppe namens Angry Brigade bezog sich bei ihren Anschlägen auf die S.I.-Theorie und verwendete S.I.-Slogans in den 80er Jahren.

+ Frankreich: Bei den Aufständen der Weinbauern 1976 tauchte eine anonyme Gruppe namens Nexialistische Internationale auf. Die auch die Stadt Toulouse in Verwirrung stürzte.

+ Deutschland: Dieter Kunzelmann der über die Münchner Künstlergruppe SPUR zur S.I. kam und als diese 1962 ausgeschlossen wurden, er sich ebenfalls entschied auszutreten, gründete in Berlin die "Subversive Aktion" und war Mitglied der Kommune I, aus der heraus die Spaßguerilla entstand. Vor allem hier ist allerdings Vorsicht geboten, denn leider wird die S.I. mit dem verflachten Ansatz der Spaßguerilla allzuhäufig in einen Topf geworfen.

+ Ende der 70er bis Anfang der 80er Jahre gab es eine Gruppe, die sich Subrealisten Bewegung nannte und in der Anti-Atom-Bewegung mitmischte und diese gleichzeitig kritisierte.

+ Italien: Die S.I.-Thesen hatten starken Einfluß auf die Autonomia-Bewegung. Toni Negri, einer der Theoretiker der Autonomia-Bewegung, kannte die situationistische Theorie.

+ In Spanien benannte die "Koordination der autonomen Gruppen Spaniens" (ca. 50 Inhaftierte) als ihren einzig bedeutsamen Bezug die S.I.

+ USA: Der Cyber-Punk und Chaos-Philosoph Hakim Bey (Temporäre Autonome Zone) bezieht sich unter anderem auf die SituationistInnen, wobei er allerdings desöfteren in einen Mystizismus abdriftet.

+ Ebenfalls in Italien, wie auch in Großbritannien treibt eine Bewegung namens Luther Blisset ihr Unwesen, die nach Debords Selbstmord einen Nachruf auf ihn veröffentlichten.

+ Im Musikbereich ist neben Punk auch bei einigen Industrial-Bands ein S.I.-Einfluß zu spüren. Ich kenne allerdings nur wenige Bands, die sich direkt auf die SituationistInnen berufen und das sind Negativland, SPK und natürlich KLF, die öffentlich eine Million Pfund verbrannten.

+ Einige Performance-KünstlerInnen beziehen sich direkt oder indirekt auf die S.I.

+ In der Philosophie hinterließ die situationistische Theorie deutliche Spuren z.B. bei Jean Baudrillard, Gilles Deleuze, Jaques Derrida und zum Teil auch bei Michel Foucault, - die im Mai 68 allesamt an den Pariser Universitäten lehrten.

Alle diese Ansätze fallen jedoch weit hinter das Projekt der S.I. zurück. In keinem dieser Bereiche und in keiner dieser Tendenzen kann man, meiner Ansicht nach, einen solch konsequenten Stil der Negation finden, wie er bei den SituationistInnen und vor allem bei Guy Debord vorherrschte. (Anm.: Debord hat sich am 30. Nov. 94 das Leben genommen).

Desweiteren ist zur Zeit zu beobachten, daß im links-kulturellen Millieu die SituationistInnen wieder mehr und mehr in Mode kommen (z.B. Spex, Beute ...). Diese Modetendenzen wurden schon von den SituationistInnen verächtlich als "prosituationistisch" bezeichnet. Dieser Situationismus sei ein Milieu, das die Ideologisierung der S.I.-Theorie betreibe, nichts als gute Absichten besitze und keine kritisch-praktische Aktivität entwickeln würde. Wie ist mit diesem Phänomen umzugehen? Jean-Pierre Voyer schreibt dazu:

"Der Situationismus muß bekämpft werden. Und um den Situatuionismus tatsächlich zu bekämpfen - es gibt eine prosituationistische Mode, die in der spektakulären Opposition zum Situationismus besteht - muß zunächst der Marxismus bekämpft werden. Die Situationisten waren die ersten, die den Marxismus bekämpften, das heißt, Marx gerecht wurden. Folglich heißt den Situationisten gerecht zu werden, zunächst Marx gerecht zu werden. Wir werden dann sehen, daß es sich nicht darum handelt, einen Trennungsstrich zwischen der Vergangenheit und der Zukunft zu ziehen, sondern darum, die Ideen der Vergangenheit zu vollenden." (Voyer, Untersuchungen)

Dies muß Aufgabe einer Praxis der Theorie sein, die der heutigen Raum-Zeit angemessen ist, die dann in Verbindung zu revolutionären Kämpfen tritt, sobald jene sichtbar werden, und somit in eine Theorie der Praxis umzuschlagen hat. Wir stehen nun vor keiner geringeren Aufgabe, als diese Theorie/Praxis-Dialektik voranzutreiben, und somit die situationistische Theorie dialektisch aufzuheben.


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