Jean-Pierre Voyer

Reich, Gebrauchsanweisung

"REICH, Mode d'emploi”

Editions Champ libre,

Paris 1971.

Aus dem Französischen:

Projektgruppe Gegengesellschaft,

Düsseldorf.

"Das Ding enthält im zweiten Teil, in außerordentlich gedrängter, but relatively popular form, viel Neues, das aus meinem Buch (1) vorweggenommen ist, während es zugleich doch notwendigerweise über allerlei wegschlüpfen muß. Frage, ob es rätlich, dergleichen in solcher Weise vorwegzunehmen?"

Brief von Marx an Engels, 24.6.1865.

I. Der Charakterbegriff nach Reich

"Um in Paris die Liebe zu finden, muß man sich hinab bis zu den Klassen begeben, denen das Fehlen der Erziehung und der Einbildung mehr Energie gelassen haben. Sich mit einem starken unerfüllten Verlangen zu zeigen heißt, sich unterlegen zu zeigen, was in Frankreich unmöglich ist, außer bei den Leuten, die ganz unten stehen, ... daher die übertriebenen Lobreden auf die Mädchen aus dem Mund der jungen Männer, die ihr Herz fürchten."

Stendhal, "Über die Liebe".

Durch den praktischen und theoretischen Kampf gegen die Widerstände in der Analyse gelangte Reich mit völliger Konsequenz zu der Auffassung, daß der Charakter (die Charakterneurose) die Form selbst dieser Widerstände ist (2). Im Gegensatz zum Symptom, das man als Produkt und Konzentration des Charakters anzusehen hat und das als Fremdkörper empfunden wird und ein Krankheitsgefühl erzeugt, ist der Charakterzug in die Persönlichkeit organisch eingebaut. Die Tatsache, daß die Krankheitseinsicht fehlt, ist ein Grundmerkmal der Charakterneurose. Das erklärt, daß dieser Verfall der Individualität erst bei dem Versuch einer Kommunikation zum Vorschein kommen konnte; die analytische Technik selbst sollte, so einseitig sie auch ist, schnell den Charakter als das enthüllen, was er ist: eine Abwehr der Kommunikation, ein Ausfall der Fähigkeit zur Begegnung. Das ist der Preis, der für die Grundfunktion des Charakters, die Abwehr der Angst, gezahlt wird (3)- Wir brauchen uns nicht über den Ursprung der Angst auszulassen, über ihre Gründe und deren Fortbestehen. Sagen wir nur, daß die besondere Form des Charakters eine Verhärtung ist, die man vor dem zehnten Lebensjahr erhält, was niemanden überraschen wird.

Die Unauffälligkeit dieser Haltung erklärt ihre Unkenntnis als soziale Pest und somit ihre dauerhafte Wirksamkeit. Diese Haltung erzeugt verkümmerte Individuen, die kaum noch Intelligenz, Geselligkeit und Sexualität aufbringen, und die infolgedessen wirklich unabhängig voneinander sind, was ideal für das optimale Funktionieren des automatischen Systems des Warenverkehrs ist. Die Energie, die das Individuum gebrauchen kann, um zu erkennen und erkannt zu werden, ist im Charakter gebunden, das heißt sie wird dazu gebraucht, sich selbst zu neutralisieren.

In allen Gesellschaften, in denen die modernen Produktionsbedingungen herrschen, erhält die Unmöglichkeit zu leben individuell die Form des Todes, des Wahnsinns oder des Charakters. Mit dem unerschrockenen Doktor Reich und gegen alle, die ihn erschrocken zu integrieren oder zu entstellen versuchen, postulieren wir die pathologische Natur jedes Charakterzuges, das heißt alles Chronischen im menschlichen Verhalten. Worum es uns geht, das ist nicht die individuelle Struktur unseres Charakters oder die Erklärung seiner Bildung, es ist seine Unbrauchbarkeit für die Konstruktion von Situationen. Der Charakter ist also nicht einfach ein krankhafter Auswuchs, den man getrennt behandeln könnte, er ist zugleich ein individuelles Heilmittel in einer global kranken Gesellschaft, ein Heilmittel, das das Übel erträglich und dabei schlimmer macht. Die Leute sind in großem Maße Komplicen des herrschenden Spektakels. Der Charakter ist die Form dieser Komplicenschaft.

Wir unterstützen die Auffassung, daß die Leute ihren Charakter nur auflösen können, indem sie in Opposition zu der ganzen Gesellschaft treten (wir wenden uns insoweit gegen Reich, wenn er die Charakteranalyse von einem spezialisierten Blickpunkt aus betrachtet); während die Funktion des Charakters darin besteht, sich auf den Stand der Dinge einzustellen, ist seine Auflösung eine Vorbedingung für die globale Kritik der Gesellschaft. Dieser Kreislauf muß durchbrochen werden.

Die globale Opposition beginnt mit der aktiven Kritik der Lohnarbeit (4) nach einem Grundprinzip, das außer Diskussion steht: "Arbeitet nie". Die für ein solches Unternehmen absolut notwendigen Abenteuereigenschaften schließen den Charakter aus. Der Charakter ist der Ruin dieser Eigenschaften. Das Problem der Opposition gegen die ganze Gesellschaft ist folglich auch das Problem der Auflösung des Charakters.

II. Seine Anwendung auf die Wirkung des Spektakels

"Die wichtigsten und wahrsten Konzepte der Epoche werden gerade an der Erzeugung der größten Verwirrung über sie und der schlimmsten Verkehrungen ihres Sinns gemessen. (...) Von den vitalsten Konzepten wird der wahrste und zugleich der verlogenste Gebrauch gemacht, (... ) weil der Kampf der kritischen Wirklichkeit gegen das apologetische Spektakel zu einem Kampf führt, der über die Worte geht. (... ) Nicht die autoritäre Säuberung enthüllt die Wahrheit eines Konzepts, sondern der Zusammenhang seines Gebrauchs, in der Theorie und dem praktischen Leben."

'Internationale Situationniste',

Nr. l0, 1966.

Publik: "öffentlich, bekannt".

Publizität: "Öffentlichkeit, öffentliches Interesse, Propaganda".

"Hansens Universallexikon".

Die Publizität des Elends unterscheidet sich nicht von der Idee seiner Abschaffung (5). So kommt der Geist zu den Menschen. Das Elend ist immer das Elend der Publizität. Wir müssen daher die Gründe für das Fortbestehen des Elends in dem suchen, was das Elend der Publizität verursacht.

Der Fetischismus ist das Elend der Publizität. Er ist die Form selbst der sozialen Trennung. Überall, wo sich die Individuen und ihre Totalität gegenüberstehen, erhält diese Opposition die Form des Fetischismus der Totalität. Die Opposition zwischen dem Ganzen und den Individuen erfolgt mittels einzelner Teile des Ganzen, die isoliert oder in phantastischer Beziehung zu dem Ganzen und zueinander erscheinen (6). Das getäuschte Bewußtsein ist das wesentliche Moment des Fetischismus. Durch das getäuschte Bewußtsein werden die Dinge zu dem, was sie zu sein scheinen. Das Fehlen des Bewußtseins erhält die Form des Bewußtseins.

Der Fetischismus der Ware ist in ihrem Wert konzentriert. Marx brauchte die paar tausend Seiten des "Kapitals", um mit der Wirklichkeit dieses Fetischismus fertig zu werden. Das Joch des Wertes ist es, das auf allen Köpfen lastet, ob sie nun bürgerlich, bürokratisch oder proletarisch sind. Der Wert ist das Verhältnis zweier Quantitäten zueinander. Was ist phantastischer, als daß hier und jetzt 'x' Kilogramm Karotten 'y' Liter Bier oder gar 'z' Minuten Friseur wert sind. Der Wert ist hier und jetzt die extravagante Autonomie der Ware. Es ist gefährlich, zu stehlen, zu plündern oder Feuer zu legen. Noch gefährlicher ist es, nie zu arbeiten! Der Wert setzt sich unerbittlich durch (7), während der getäuschte Blick nur den Dingen und ihrem Preis begegnet.

Im 19. Jahrhundert sind mit dem vollendeten Gegensatz zwischen dem Leben des Individuums und dem Leben seiner Art (dem Alltagsleben einerseits und dem automatischen Warenverkehr andererseits) alle Hoffnungen berechtigt (die von Hegel und die von Marx). In diesem Stadium liegen die Dinge klar: das Alltagsleben ist nichts, der Verkehr alles. Das Nichts des Alltagslebens ist ein sichtbares Moment des Ganzen des Verkehrs. Der Fetischismus täuscht nur noch die herrschende Klasse und ihre Denunzianten. Mehrere Male setzt das Proletariat zum Sturm auf die Totalität an, und beinahe hätte die Publizität des Elends über das Elend der Publizität triumphiert.

Heute liegen die Dinge sehr viel anders. Die Modernisierung der Kämpfe der Unterdrückten, und vor allem die Tatsache, daß sie unvollendet geblieben sind, haben von 193o an zu einer schnellen Modernisierung des Fetischismus durch die herrschende Klasse und ihren Staat geführt. Das Auftreten des wissenschaftlichen Fetischismus war recht bemerkenswert: New Deal, Bolschewismus und Nationalsozialismus gleichzeitig. Diese Modernisierung besteht wesentlich darin, dem Alltagsleben das zu entziehen, was ihm geblieben war: seine Negativität, das heißt die Publizität seines Elends, die Publizität seiner Nichtigkeit. Das Geheimnis des Elends des Alltagslebens ist das wahre Staatsgeheinmis. Das ist der Schlußstein, der das Gebäude der Trennung zur Vollendung bringt, das auch das Gebäude des Staates ist.

Das Spektakel, oder die wissenschaftliche Entwicklung des Fetischismus, ist nichts als das Privateigentum an den Publizitätsmitteln, das Staatsmonopol der Erscheinung. Mit ihm bleibt allein der Warenverkehr publik. Das Spektakel ist nichts als der Warenverkehr, der alle verfügbaren Publizitätsmittel absorbiert und dadurch das Elend zur Unsichtbarkeit verurteilt. Das Spektakel ist die geheime Form des publiken Elends, wo sich der Wert unerbittlich durchsetzt, während der getäuschte Blick nur den Dingen und ihrem Gebrauch begegnet.

In der imperialistischen Publizität des Warenverkehrs tritt der Wert nie in Erscheinung. Sie ist das Spektakel der Unsichtbarkeit des Wertes. Diese "natürliche" Unsichtbarkeit bildet die zutiefst spektakularistische Tendenz des Verkehrs, die die Bourgeoisie bei der wissenschaftlichen Entwicklung des Fetischismus ausnutzen konnte. Der Verkehr kann als großer Rummel des Gebrauchs erscheinen, sofern der Wert nicht auf andere Weise publik ist; des Gebrauchs des Geldes hauptsächlich, versteht sich. Von daher ist die Faszination des Zuschauers leicht verständlich, der täglich mit dem Wert konfrontiert wird. Das ist die Wirkung des Spektakels. Sie kommt jeder Idee zuvor: alles scheint vollendet. Sie verbietet jedes Erkennen: der Elende kennt sich als der einzige Elende. Der Gebrauch des Geldes erscheint in sich als das Instrument der Aufhebung des Wertes. Gipfel der Verkehrung. So kommt der Geist nicht zu den Menschen.

Von seinem Logenplatz aus mußte Reich die Rolle frappieren, die der Charakter als anti-individuelle Struktur bei der großartigen Nazi-Inszenierung spielte (8). Er überläßt die burleske Frage "Warum revoltieren die Arbeiter?" den Psychoanalytikern, Psychiatern, Soziologen und anderen Dienern des Spektakels und stellt dafür die grundlegende Frage: "Warum revoltieren sie nicht!" (9). Er schreibt die Unterwerfung der Vernichtung des Individuums durch den Charakter zu. Was kaum bestritten werden kann. Aber nicht ausreicht. Zu sagen, daß diese Gesellschaft keine zutiefst spektakularistische Tendenz besäße, hieße zu behaupten, daß das Spektakel allein das große Werk der herrschenden Klasse sei. Damit würde man ihr viel Talent zusprechen. Wir wissen, daß die herrschende Klasse das erste Opfer ihrer eigenen Illusionen ist. Sie folgt der Bewegung.

Wir haben weiter oben den Grund für diese Tendenz genannt. Der Charakter ist davon abgesehen unbestreitbar real. Er zeichnet sich klinisch ab. Jetzt müssen wir wissen, wovon er nun genau die Klinik ist, nachdem wir erst einmal festgestellt haben, daß er als getrennter Begriff nicht ausreicht. Als getrennter Begriff ist er nur wieder ein Fetisch.

Unsere These ist die folgende. Das Quantitative herrscht. Alle menschlichen Beziehungen werden von der Beziehung von Quantitäten zueinander beherrscht, erscheinen aber nichtsdestoweniger als reine menschliche Beziehungen; oder: der getäuschte Blick begegnet nur den Dingen und ihrem Preis. Wir haben schnell die spontan spektakularistische Wirkung dieser ganz "natürlichen" Gegebenheit erkannt, die die Unsichtbarkeit des Wertes ist. Das hindert nicht daran, daß der Wert von jedem ständig als die unausweichliche Notwendigkeit seines Alltagslebens erlebt wird. Wir haben gesehen, daß dieses geheim Erlebte die spektakularistische Tendenz des Warenverkehrs vollendete. Was ist das, was Reich klinisch herausfindet und Charakter nennt? Wir behaupten, daß es der Wert als unmenschliche und auf andere Weise nicht sichtbare Notwendigkeit ist, der damit erfaßt wird. Das ist bis heute Oberhaupt der einzige Weg konkreter Annäherung an den Wert als geheimes Elend der Individualität. Reich spürte unter dieser Form das Unbewußte auf, sein Elend und seine elenden repressiven Instanzen, die ihre Stärke und ihren magischen Apparat nur von dem Imperium des Wertes ableiten, das über dem Alltagsleben steht. Nur weil die universelle Sozialisierung der menschlichen Beziehungen die einzige Form des Wertes angenommen hat, der ihre Negation ist, sind die echten menschlichen, von der Lust besiegelten Beziehungen in dieser Sozialisierung aufbewahrt (10), als natürliche Beziehungen von Mensch zu Mensch, die insoweit unerlaubt und heimlich sind, denn alle Gesellschaftlichkeit, die ganze Menschheit ist vom Wert besetzt (im Sinn Lyauteys), der einzigen erlaubten Sozialisierung. Was dem Gesetz des Wertes zu entgehen sucht, nimmt folglich die Form des Natürlichen an, das heißt per Definition die Form dessen, was der Beherrschung durch die Menschheit entgeht.

In seinem dritten philosophischen Manuskript mißt Marx die Menschlichkeit des Menschen, seine Sozialisierung, an dem Sozialisierungsgrad des "unmittelbaren, natürlichen, notwendigen" Verhältnisses des Menschen zum Menschen: des Verhältnisses des Mannes zum Weib. Der Wert als universelle Sozialisierung, als einzige und verkehrte Form des menschlichen Wesens, ist ebenso die Unmöglichkeit der Sozialisierung dieser Beziehung, die folglich die "natürlichste”, das heißt die am meisten von dem herrschenden Gemeinwesen behinderte Beziehung bleibt. Im Schoß der universellen Sozialisierung durch den Wert fällt dieses Natürliche mit seinem Verfallgrad (11) zusammen, genau wie der Grad der Natürlichkeit der Nambikwara Indianer im Schoß unserer Zivilisation mit dem Grad ihrer Ausrottung zusammenfällt. Dieser Verfallgrad - Psychose, Neurose, Charakter - als Anzeichen der Nicht-Sozialisierung, der Unmenschlichkeit des Menschen ist der wirkliche Gegenstand der Psychoanalyse. Dieser alte Schweinehund von Freud ging sogar soweit, daß er diesen Grad von Natürlichkeit mit der Wildheit und diese durch den Wert verkehrte Sozialisierung mit der Zivilisation identifizierte. Die Psychoanalyse war und ist die Paläontologie dieser Vorgeschichte.

Wir stützen unsere noch rein theoretische These auf folgende klinische Beobachtung. Wenn ein zufälliger Umstand zur Auflösung des Charakters führt, wird die phänomenale spektakuläre Form der Totalität in ihrem Anspruch zerstört, als das Fehlen des Wertes durchzugehen. Wir haben also, im Augenblick negativ, eine Identität des Charakters und der Wirkung des Spektakels festgestellt.

Ob das Subjekt dem Wahnsinn erliegt, ob es die Theorie praktiziert oder sich an einem Aufstand beteiligt (12), wir haben jedesmal festgestellt, daß die zwei Pole des Alltagslebens - der Kontakt mit einer beengten und getrennten Wirklichkeit einerseits und der spektakuläre Kontakt mit der Totalität andererseits - gleichzeitig aufgehoben werden, um der Einheit des individuellen Lebens Platz zu machen, was Reich ärgerlicherweise Genitalität nennt. (Wir ziehen Individualität vor.)

Die Arbeiten von Reich sind seit Marx die ersten, die konkret Licht auf die Entfremdung werfen. Die Theorie des Spektakels ist seit Marx die erste, der es darum geht, eine Theorie der Entfremdung zu sein. Die Synthese dieser zwei Methoden hat unmittelbare Konsequenzen, die wir demnächst entwickeln werden.

Zunächst sind wir der Auffassung, daß sich die Praxis der Theorie nicht von der Genitalität unterscheidet wie sie Reich auffaßt.

Die Theorie wird das fortwährende Kennen des geheimen Elends, des Geheimnisses des Elends. Sie ist deshalb auch für sich allein schon das Aufhören der Wirkung des Spektakels. Da das Spektakel die geheime Form des publiken Elends ist, hört seine Wirkung auf, sobald sein Geheimnis aufhört. Seine Wirkung liegt in seinem Geheimnis. Die Theorie fällt folglich mit der gelebten Möglichkeit zusammen (Pleonasmus, im Gegensatz zur Wahrscheinlichkeit, die als Zweifel oder Gleichgültigkeit erlebt wird). Die Theorie, das ist das Leben, wenn alles möglich ist. Sie hört zu existieren auf, sobald sie sich irrt, und findet sich wieder in der Langeweile, unter der Wirkung des Spektakels. Die Theorie ist, wenn sie existiert, folglich sicher, daß sie sich nicht irrt. Die Theorie ist ein Subjekt, das frei von Irrtum ist. Sie läßt sich von nichts täuschen. Ihr einziger Gegenstand ist die Totalität. Die Theorie kennt das Elend als insgeheim publik. Sie kennt die geheime Publizität des Elends. Alle ihre Hoffnungen sind berechtigt. Der Klassenkampf existiert.

Das Spektakel ist das Fehlen des Geistes, der Charakter ist das Fehlen der Theorie.

Das Proletariat wird sichtbar sein, oder es wird nicht sein. Das Proletariat besteht in seiner eigenen Sichtbarkeit. Die Organisation des Proletariats ist die Organisation seiner Sichtbarkeit. Die globale Praxis des Proletariats wird seine permanente Publizität sein oder nichts. Das haben Hitler, die Leninisten und die Maoisten so gut begriffen, daß sie die Sichtbarkeit des Proletariats mit Gewalt organisierten. Der Kapitalismus ist ehrgeiziger, wenn er die Sichtbarkeit des abgeschafften Proletariats herstellen möchte.

Die Sichtbarkeit des Elends allein ist nicht das Proletariat. Sie ist notwendig, reicht aber nicht aus; sie kann nur die Theorie sein. Das Proletariat fordert, daß die Sichtbarkeit des Elends publik ist. Die Kritik muß zugleich Theorie der Publizität (der Sichtbarkeit) und Publizität (Sichtbarkeit) der Theorie sein. Ihr Gegenstand muß für ihre Publizität sorgen. Erst wenn sie publik ist, irrt sie sich nicht. Sie ist nicht die Theorie der Publizität, wenn sie nicht für ihre Publizität sorgt. Für einen Theoretiker der Publizität ist es der Gipfel der Lächerlichkeit, wenn er nicht für die Publizität seiner Theorie zu sorgen vermag.

Das Proletariat ist die schließlich verwirklichte Einheit der Theorie der Publizität und der Publizität der Theorie.

Wir glauben, daß diese Bemerkungen all dem überlegen sind, was ein Lukács über das Klassenbewußtsein zu sagen vermochte. Sie haben unbestreitbar den Vorteil der Kürze. Die Werbeleute wissen das, auf die Kürze kommt es an für die Publizität. "Tanz mal wieder" - lautet eine der jüngsten Aufforderungen an die Deutschen (13). Man kann die Geringschätzung nicht kürzer zum Ausdruck bringen. Was sie sich nicht vorstellen können ist, daß dieser Ausdruck bei einem Straßburg der Betriebe (14) noch kürzer sein wird. Die Sichtbarkeit wird blitzartig sein - Schuß und Sonnenaufgang -, oder sie wird Oberhaupt nicht sein.

Im Augenblick haben unsere Formeln vielleicht nur die Kürze für sich. Der Tanz selbst muß erst losgehen, damit sie ihre ganze Klarheit kennen. Ein Tag wird kommen, der nicht mehr fern ist, wo alle Tanzmeister der Welt nicht mehr die Begegnung der Theorie der Publizität mit der Publizität der Theorie verhindern können.


Fußnoten:

(1) Das 'Institut de Préhistoire Contamporainet' (Paris, Postf. 20-05) bereitet zur zeit vor: "Encyclopédie des Apparences/Phénoménologie de l'Absence de l'Esprit".

(2) "Charakteranalyse”, 1933.

(3) Die kritische Situation, in der sich der Preis für diese Abwehr voll ermessen läßt, ist die Liebe. Es war ebenfalls das Verdienst Reichs, daß er zeigte, daß die Charakterabwehr der Angst in dieser Situation mit der Unfähigkeit zur Zärtlichkeit bezahlt wird, die er ärgerlicherweise orgastische Impotenz nannte. Auf dieser Ebene trifft sich der Charakter mit dem Symptom.

(4) Während Reich auf sehr zweifelhafte Weise zu der Auffassung gelangte, daß der Charakter ein Hindernis für die Arbeit ist, behaupten wir, daß der Charakter ein Hindernis für die Kritik der Arbeit ist.

(5) Der Leser wird hier das Klassenbewußtsein erkannt haben. Er wird es deshalb nicht mit dem Spektakel des Elends verwechseln, das die Werbe-Version der Publizität des Elends ist.

(6) Die Opposition des Ganzen zu den Individuen erfolgt, leider, mittels einzelner Teile des Ganzen. Wenn die Opposition der Individuen zu der Totalität "total" wird, werden die Dinge ganz klar.

(7) Der Arbeiter hat gegenüber dem Reichen den gleichen Vorteil wie der Sklave gegenüber dem Herrn. Der Sklave kennt die Furcht; der Arbeiter, die lebende Ware, kennt den Wert.

(8) "Was ist Klassenbewußtsein?" 1934 (unter dem Pseudonym Ernst Parell).

In diesem Büchlein erreicht Reich den Gipfel leninistischer Naivität. Er hebt dort, obwohl er es abstreitet, das spezialisierte geschichtliche Wissen in den Himmel. Man stößt dabei sogar auf einen seltsamen Entwurf einer maoistischen Erziehungskonzeption als Spektakel des Blends. "Massenpsychologie" und "Dialektischer Materialismus" sind durchzogen von einer mechanistischen Konzeption der Instinkte.

"Massenpsychologie des Faschismus", 1933/34.

(9) "Dialektischer Materialismus und Psychoanalyse", 1929.

(10) Nach dem Prinzip: "Was nicht aufgehoben wird, stirbt ab, was abstirbt, reizt zur Aufhebung", Raoul Vaneigem, "Handbuch der Lebenskunst für die jungen Generationen".

(11) Das Jahr 1968 hat uns zufälligerweise ein überreiches und sehr verschiedenartiges Material geliefert.

(13) Unverschämte Anzeige des Deutschen Sportbundes.

(14) Der Skandal von Straßburg wurde 1966 damit eingeleitet, daß die gewählten Studentenvertreter sämtliche Gelder entwendeten und für den Druck der Broschüre "Das Elend der Studenten" benutzten (Anm. d. übers.).


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