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KARL MARX
FRIEDRICH ENGELS Die angeblichen Spaltungen in der Internationale Vertrauliches Zirkular des Generalrats der Internationalen Arbeiterassoziation
Situationistische
Internationale
Die wirkliche Spaltung
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Thesen über die
Situationistische
Internationale
und ihre Zeit
Die Situationistische Internationale hat sich in einem Moment der Weltgeschichte als das Denken des Zusammenbruchs einer Welt durchgesetzt; ein Zusammenbruch, der jetzt unter unseren Augen begonnen hat.
Der Innenminister Frankreichs und die italienische Anarchistenföderation sind darüber gleichermaßen aufgebracht: nie hat ein So extremistisches Projekt, das sich in einer Epoche ankündigte, die ihm so feindlich zu sein schien, in so kurzer Zeit seine Hegemonie im Kampf der Ideen demonstriert, als Produkt der Geschichte der Klassenkämpfe. Die Theorie, den Stil, das Beispiel der S.I. haben heute Tausende von Revolutionären in allen bedeutenden entwickelten Ländern angenommen, aber viel wesentlicher noch: die gesamte moderne Gesellschaft ist es, die sich von der Wahrheit der situationistischen Perspektiven überzeugt zu haben scheint, sei es, um sie zu verwirklichen oder sei es, um sie zu bekämpfen. Bücher und Texte der S.I. werden überall übersetzt und kommentiert. Ihre Forderungen werden in den Fabriken von Mailand wie in der Universität von Coimbra angeschlagen. Ihre Grundthesen sickern, von Kalifornien bis Kalabrien, von Schottland bis Spanien, von Belfast bis Leningrad, im Untergrund ein oder werden in offenen Kämpfen proklamiert. Die unterwürfigen Intellektuellen, die heute am Anfang ihrer Karriere stehen, sehen sich ihrerseits gezwungen, sich als gemäßigte oder halhe Situationisten zu verkleiden, nur um zu zeigen, daß sie befähigt sind, den letzten Moment des Systems zu begreifen, das sie beschäftigt. Wenn überall der diffuse Einfluß der S.I. aufgezeigt werden kann, dann deshalb, weil die S.I selbst nichts anderes ist als der konzentrierte Ausdruck einer geschichtlichen Subversion, die überall ist.
Was die „situationistischen ldeen" genannt wird, ist nichts anderes als die ersten Ideen der Periode, in der die moderne revolutionäre Bewegung wieder in Erscheinung tritt. Was an ihnen radikal neu ist, entspricht genau dem neuen Charakter der Klassengesellschaft, der wirklichen Entwicklung ihrer vorübergehenden Erfolge, ihrer Widersprüche, ihrer Unterdrückung. Was den ganzen Rest betrifft, so ist es offensichtlich das in den letzten zwei Jahrhunderten entstandene revolutionäre Denken, das in die gegenwärtigen Verhältnisse zurückgekehrt ist wie zu sich nach Hause; nicht auf der Grundlage seiner eigenen früheren, den Ideologen als Problem vermachten Positionen „revidiert", sondern von der heutigen Geschichte verwandelt. Die S.I. war lediglich darin erfolgreich, daß sie „die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt" ausgedrückt hat, und daß sie sie auszudrücken verstanden hat: das heißt, daß sie es verstanden hat, damit zu beginnen, bei dem subjektiv negativen Teil des Prozesses, seiner „Schattenseite", seiner eigenen unbekannten1 Theorie Gehör zu verschaffen, der Theorie, die diese Seite der sozialen Praxis hervorbringt, und die sie zunächst nicht kennt. Die S.I. gehörte selbst zu dieser „Schattenseite". Letztlich handelt es sich daher nicht um eine Theorie der S.I, sondern um die Theorie des Proletariats.
Jeder Moment dieses geschichtlichen Prozesses der modernen Gesellschaft, der die Welt der Ware vollendet und abschafft, und der auch den antigeschichtlichen Moment der als Spektakel konstituierten Gesellschaft enthält, hat die S.I. dazu gebracht, alles zu sein, was sie sein konnte. In dem, was die soziale Praxis wird, in dem Moment, der sich jetzt als eine neue Epoche manifestiert, muß die S.I. immer mehr ihre Wahrheit erkennen; muß sie wissen, was sie gewollt hat und was sie getan hat, und wie sie es getan hat.
Die S.I. hat nicht nur die moderne proletarische Subversion kommen sehen; sie ist mit ihr gekommen. Sie hat sie nicht als ein äußeres Phänomen angekündigt, durch die starre Extrapolation der wissenschaftlichen Berechnung: sie ist ihr entgegengegangen. Wir haben durch keine fremde Beeinflussung „in alle Köpfe" unsere Ideen gesetzt, wie es allein, aber ohne dauerhaften Erfolg, das bürgerliche oder bürokratisch-totalitäre Spektakel fertigbringt. Wir haben die Ideen ausgesprochen, die gezwungenermaßen bereits in diesen proletarischen Köpfen vorhanden waren, und dadurch, daß wir sie ausgesprochen haben, haben wir dazu beigetragen, solche Ideen zu aktivieren und so die aktive Kritik mehr zu Theoretikern zu machen und entschlossener, die Zeit zu ihrer Zeit zu machen. Das, was zunächst in dem Geist der Leute zensiert wird, wird natürlich auch von dem Spektakel zensiert, sobald das gesellschaftlich zum Ausdruck kommen konnte. Diese Zensur findet sicher auch heute noch nahezu über die Totalität des revolutionären Projekts und des revolutionären Wunsches in den Massen statt. Doch schon haben die aktive Kritik und Theorie eine unvergeßliche Bresche in die spektakuläre Zensur geschlagen.
Wie es sich allgemein in den vorrevolutionären Momenten ereignet hat, hat die S.I. offen ihre Ziele erklärt, und fast alle wollten glauben, daß es sich um einen Scherz handelte. Das in dieser Beziehung von den Spezialisten auf Beobachtungsposten der Gesellschaft und den Ideologen der Arbeiterentfremdung zehn Jahre lang bewahrte Schweigen - eine sehr kleine Zeitspanne, an der Größe solcher Ereignisse gemessen-‚ das allerdings zum Ende hin durch den Widerhall einiger Skandale gestört wurde, die zu Unrecht als peripher und folgenlos betrachtet wurden, hat das falsche Bewußtsein der unterwürfigen Intelligentsia nicht darauf vorbereitet, das, was in Frankreich im Mai 1968 hervorbrach, und was sich seitdem nur noch vertieft und verbreitet hat, vorauszusehen oder zu begreifen2. Damals hat die Demonstration der Geschichte, und gewiß nicht die situationistische Redekunst, in diesem Punkt und in vielen anderen die Bedingungen der Unwissenheit und der künstlichen Sicherheit umgestoßen, die von der spektakulären Organisation des Scheins aufrechterhalten wurden. Man kann auf keine andere Weise dialektisch beweisen, daß man Recht hat, als daß man sich in dem Moment der dialektische Vernunft manifestiert. Die Bewegung der Besetzungen ist, so wie sie sogleich ihre Anhänger in den Betrieben aller Länder rekrutiert hat, den Herrn der Gesellschaft und ihren ausführenden Intellektuellen im Augenblick als ebenso unbegreiflich wie erschreckend erschienen. Die Eigentümer zittern immer noch vor ihr, aber begreifen sie schon besser. Dem obskuren Bewußtsein der Spezialisten der Macht hat sich diese revolutionäre Krise auf Anhieb allein in der Gestalt der rein Negation ohne Denken präsentiert. Das Projekt, das sie zum Ausdruck brachte, die Sprache, die sie führte, waren unübersetzbar für sie, die Geschäftsführer des Denkens ohne Negation, das durch mehrere Jahrzehnte mechanischen Monologs bis zum äußersten verarmt ist; wo sich die Unzulänglichkeit von sich selbst imponieren läßt als das „non plus ultra" wo die Lüge schließlich nur noch an sich selbst glaubt. Dem, der durch das und in dem Spektakel herrscht, das heißt mit der praktischen Macht der Produktionsweise, die „sich von sich selbst abgehoben und sich ein selbständiges Reich im Spektakel fixiert hat", präsentiert sich die wirkliche Bewegung, die außerhalb des Spektakels geblieben ist, und die es zum erster Mal unterbricht, als die realisierte Irrealität selbst. Aber was in diesem Moment so laut in Frankreich gesprochen hat, war nichts anderes als die gleiche revolutionäre Bewegung, die sich überall anders im Stillen zu manifestieren begonnen hatte. Der französische Zweig der Heiligen Allianz der Besitzer der Gesellschaft hat in diesem Alptraum zunächst sein drohendes Ende gesehen; danach hat er sich endgültig gerettet geglaubt; dann hat er diese beiden Irrtümer eingesehen.3 Für sie wie für ihre Teilhaber hat eine andere Zeit begonnen. Man entdeckt jetzt, daß die Bewegung der Besetzungen unglücklicherweise einige Ideen hatte, und daß es situationistische Ideen waren: gerade die, die sie nicht kennen, scheinen ihre Positionen auf ihrer Grundlage zu bestimmen. Die Ausbeuter rechnen noch damit, sie zurückhalten zu können, aber sie geben bereits die Hoffnung auf, sie vergessen zu können. Die Bewegung der Besetzungen war der Entwurf einer „situationistischen" Revolution, aber sie war nur ihr Entwurf, sowohl als Praxis einer Revolution als auch als situationistisches Geschichtsbewußtsein. In diesem Moment hat eine Generation international begonnen, situationistisch zu sein.
Die neue Epoche ist zutiefst revolutionär, und sie weiß, daß sie das ist. Auf allen Ebenen der Gesellschaft der ganzen Welt kann und will man nicht mehr so weitermachen wie bisher. Oben kann man nicht mehr friedlich den Lauf der Dinge lenken, weil man dabei entdeckt, daß die ersten Früchte der Aufhebung der Ökonomie nicht nur reif sind: sie haben zu faulen begonnen. An der Basis will man nicht mehr hinnehmen, was geschieht, und die Forderung des Lebens ist gegenwärtig ein revolutionäres Programm geworden. Die Entschlossenheit, seine Geschichte selbst zu machen, das ist das Geheimnis aller „wilden" und „unverständlichen" Negationen, die die alte Ordnung verhöhnen.
Die Welt der Ware, die wesentlich unbewohnbar war, ist es sichtbar geworden. Diese Erkenntnis wurde durch zwei aufeinander einwirkende Bewegungen erzeugt. Einerseits will das Proletariat sein ganzes Leben besitzen, und es als Leben besitzen, als Totalität seiner möglichen Verwirklichung. Andererseits berechnet die herrschende Wissenschaft, die Wissenschaft der Herrschaft, künftig exakt das ständig beschleunigte Wachstum der inneren Widersprüche, die die allgemeinen Überlebensbedingungen in der Gesellschaft des Besitzentzuges aufheben.
Die Symptome der revolutionären Krise häufen sich zu Tausenden und sie sind so schwerwiegend, daß das Spektakel jetzt gezwungen ist, von seinem eigenen Ruin zu sprechen. Seine falsche Sprache zeigt seine wirklichen Feinde und sein wirkliches Desaster.4
Die Sprache der Macht ist jetzt mit aller Gewalt reformistisch. Sie zeigte bisher nur das Glück, das überall zur Schau gestellt und überall preisgünstig zu haben ist; sie erklärt jetzt die allgegenwärtigen Mängel ihres Systems. Die Besitzer der Gesellschaft haben plötzlich entdeckt, daß alles an ihr unverzüglich zu ändern ist, die Ausbildung wie der Städtebau, die Art, die Arbeit zu erleben genauso wie die Zielsetzungen der Technologie. Kurz, diese Welt hat das Vertrauen all ihrer Regierungen verloren; sie nehmen sich deshalb vor, sie aufzulösen und eine andere zu bilden. Sie machen lediglich darauf aufmerksam, daß sie eher als die Revolutionäre qualifiziert sind, eine solche Umwälzung zu unternehmen, die so große Erfahrung und so große Mittel verlangt; die eben sie besitzen und die sie gewohnt sind. Da haben wir also die Computer, die sich mit der Hand auf dem Herzen für die Programmierung des Qualitativen engagieren, und die Manager der Umweltverschmutzung, die sich als erste Aufgabe der Säuberung in ihren eigenen Reihen stellen. Aber schon vorher, gegenüber den früheren Fehlschlägen der Revolution, hat sich der moderne Kapitalismus als ein Reformismus präsentiert, der Erfolg gehabt hat. Er rühmte sich, die Freiheit und das Glück der Ware hergestellt zu haben. Eines Tages müßte es ihm gelingen, seine Lohnsklaven, wenn auch nicht von der Lohnarbeit, so doch von den von seiner Bildungsperiode hinterlassenen reichlichen Überresten von Entbehrungen und übermäßigen Ungleichheiten zu erlösen - oder genauer noch von den Entbehrungen, die er selbst als solche anerkennen zu müssen glaubte. Heute verspricht er, sie dazu noch von all den neuen Gefahren und Unannehmlichkeiten zu erlösen, die er gerade dabei ist, als wesentliches Merkmal der modernsten in ihrer Gesamtheit genommenen Ware massiv zu produzieren; und dieselbe, bisher so häufig als das von allem letzte Korrektiv gepriesene expandierende Produktion soll sich selbst korrigieren, stets unter der ausschließlichen Kontrolle derselben Bosse. Die Pleite der alten Welt erscheint voll in dieser lächerlichen Sprache der aufgelösten Herrschaft.5
Die Sitten verbessern sich. Die Bedeutung der Worte nimmt daran teil. Überall ist der Respekt vor der Entfremdung verlorengegangen. Die Jugend, die Arbeiter, die Farbigen, die Homosexuellen, die Frauen und die Kinder kommen darauf, alles zu wollen, was ihnen verboten war; gleichzeitig mit der Ablehnung des Hauptteils der erbärmlichen Resultate, die ihnen die alte Organisation der Klassengesellschaft zu erreichen und zu ertragen gestattete. Sie wollen keine Chefs mehr, keine Familie, keinen Staat. Sie kritisieren die Architektur und lernen, miteinander zu sprechen. Indem sie sich gegen hundert einzelne Unterdrückungen wenden, rebellieren sie tatsächlich gegen die entfremdete Arbeit. Was jetzt auf die Tagesordnung kommt, das ist die Abschaffung der Lohnarbeit. Jeder Ort eines sozialen Raums, der immer direkter von der entfremdeten Produktion und ihren Planern gestaltet wird, wird daher ein neuer Kampfplatz, von der Grundschule über die Beförderung durch öffentliche Verkehrsmittel bis hin zu den psychiatrischen Anstalten und Gefängnissen. Alle Kirchen lösen sich auf. Auf die alte Tragödie der Enteignung der Arbeiterrevolutionen durch die bürokratische Klasse, die sich in den vergangenen zwanzig Jahren noch einmal als bloße exotische Komödie abgespielt hat, fällt der Vorhang inmitten allgemeinen Gelächters. Die Hanswürste geben ihre Abschiedsvorstellungen auf ihre Weise. Castro ist Reformist in Chile geworden, während er bei sich die Parodie der Moskauer Prozesse inszenierte, nachdem er 1968 die Bewegung der Besetzungen und die mexikanische Revolte verurteilt, aber nachdrücklich die Aktion der russischen Panzer in Prag gebilligt hatte; die burleske doppelköpfige Gang Mao und Lin Piao fällt gerade in dem Moment, wo ihre letzten treuen westlichen bourgeoisen oder Linksradikalen Zuschauer endlich die Vollendung ihres Triumphs in dem langen Kampf meldeten, der die Ausbeuter Chinas teilt6, wieder in die terroristische Unordnung dieser in Stücke gebrochenen Bürokratie zurück (es ging keineswegs darum, ob mit den Vereinigten Staaten verhandelt werden sollte oder nicht, sondern allein um die Frage, wer in Peking Nixon und seinen Beistand in Empfang nehmen sollte). Wenn sich so die Menschheit freudig von ihrer Vergangenheit trennen kann, dann deshalb, weil der Ernst wieder in die Welt gekommen ist mit der Geschichte selbst, die sie wieder in ihrer Wahrheit vereinigt. Zweifellos besitzt die Krise der totalitären Bürokratie, als Teil der allgemeinen Krise des Kapitalismus, Merkmale, die ihr eigentümlich sind, infolge der besonderen sozial-rechtlichen Aneignungsweisen der Gesellschaft durch die als Klasse konstituierte Bürokratie, wie aufgrund ihres offensichtlichen Rückstandes in der Entwicklung der Warenproduktion. Die Bürokratie erhält ihren Platz in der Krise der modernen Gesellschaft hauptsächlich aufgrund der Tatsache, daß sie ebenfalls vom Proletariat zerschlagen werden wird. Die Drohung der proletarischen Revolution, die in Italien seit drei Jahren die gesamte Politik der Bourgeoisie und des Stalinismus beherrscht und zu einer offenen Verbindung ihrer gemeinsamen Interessen führt, hängt in demselben Moment auch über der als sowjetisch bezeichneten Bürokratie; die Stunde der Erhebung der Arbeiter Rußlands hinauszuzögern, ist die einzige wirkliche Sorge ihrer weltweiten Strategie - die von dem tschechoslowakischen Prozeß alles und von der Selbständigkeit der rumänischen Bürokratie nichts befürchtete wie die ihrer Polizisten und Psychiater. Entlang den baltischen Küsten haben die Matrosen und die Hafenarbeiter bereits begonnen, sich ihre Erfahrungen und ihr Projekt mitzuteilen. In Polen ist es den Arbeitern durch den aufständischen Streik vom Dezember 1970 gelungen, die Bürokratie ins Wanken zu bringen und den Handlungsspielraum der Ökonomen noch weiter einzuschränken: die Preiserhöhungen wurden rückgängig gemacht, die Löhne wurden erhöht, die Regierung ist gefallen, die Agitation ist geblieben.7
Die Ausbeuter und viele ihrer Opfer, die endgültig auf ihr eigenes Leben verzichtet haben, indem sie der herrschenden Ordnung ein neurotisches Einverständnis erteilten, empfinden den Niedergang und den Fall dieser Ordnung mit Angst und Wut. Bei diesen Emotionen stehen im Vordergrund eine Furcht vor der und ein Haß auf die Jugend, die in diesem Ausmaß beispiellos sind. Aber im Grunde haben sie nur Angst vor der Revolution. Nicht die Jugend als vorübergehender Zustand ist es, die die gesellschaftliche Ordnung bedroht; es ist die, tätige und theoretische, moderne revolutionäre Kritik, die sich Jahr für Jahr erweitert, von einem geschichtlichen Ausgangspunkt aus, den wir eben erlebt haben. Sie beginnt in der Jugend eines Moments, aber sie altert nicht. Dieses Phänomen ist in keiner Weise zyklisch, es ist kumulativ. Noch vor kurzem hat die Jugend niemanden in Schrecken versetzt, als sich ihre Agitation auf das Studentenmilieu zu beschränken schien; und daraus rekrutiert sich in der Tat der neobürokratische Linksradikalismus, der lediglich die „nursery" der alten Welt ist, wo man sich unter dem Waffenrock einiger Heldenväter versteckt, die tatsächlich zu den Begründern der bestehenden Gesellschaft zählen. Die Jugend ist furchterregend geworden, als man feststellte, daß die Subversion auf die Masse junger Arbeiter übergegriffen hatte; und daß sie sich von der hierarchischen Ideologie des Linksradikalismus nicht integrieren lassen würde. Diese Jugend ist es, die ins Gefängnis kommt; und die in den Gefängnissen rebelliert. Es ist eine Tatsache, daß die Jugend, obwohl ihr noch viel zu begreifen und zu erfinden bleibt, und sie, vor allem unter den verschiedenen Arten von Lehrlingen einer Berufsrevolution, noch an zahlreichen Rückständigkeiten festhält, nie so intelligent, nie so entschlossen war, die etablierte Gesellschaft zu zerstören (die Poesie, die in der S.I. vorhanden ist, kann jetzt von einem jungen Mädchen von 14 Jahren herausgelesen werden, in diesem Punkt ist der Wunsch Lautreamonts voll erfüllt). Diejenigen, die die Jugend unterdrücken, wollen sich in Wirklichkeit gegen die proletarische Subversion verteidigen, mit der sie sich weitgehend identifiziert, und mit der sie sie noch weitgehender identifizieren, und gerade die, die diese Verbindung herstellen, fühlen, wie sehr sie sie verurteilt. Die Panik vor der Jugend, die man sich unter so vielen ungereimten Analysen und pompösen Beschwörungen zu verbergen bemüht, gründet sich auf dieses einfache Kalkül: in nur 12 bis 15 Jahren werden die jungen erwachsen, die Erwachsenen alt, die Alten tot sein. Die Verantwortlichen der Klasse an der Macht stehen daher vor der absoluten Notwendigkeit, in wenigen Jahren den tendenziellen Fall des Prozentsatzes ihrer Kontrolle über die Gesellschaft umzukehren, und sie haben allen Grund zu der Annahme, daß ihnen diese Umkehrung nicht gelingen wird.
Während die Welt der Ware von den Proletariern in einem Grad von Gründlichkeit angefochten wurde, den ihre Kritik niemals erreicht hatte, und der allein ihren Zwecken - einer Kritik der Totalität - gerecht wurde, hat das Funktionieren des ökonomischen Systems selbst, aus seiner eigenen Bewegung heraus, den Weg zur Selbstzerstörung eingeschlagen. Die Krise der Ökonomie, das heißt des gesamten ökonomischen Phänomens, eine Krise, die in den letzten Jahrzehnten immer handfester geworden ist, hat eine qualitative Schwelle überschritten Selbst die frühere Form der bloßen ökonomischen Krise, die es dem System in derselben Periode zu überwinden gelang - bekannt ist, wie -‚ erscheint von neuem als eine Möglichkeit der nahen Zukunft. Das ist die Auswirkung eines doppelten Prozesses. Einerseits setzen die Proletarier nicht nur in Polen, sondern auch in England8 oder in Italien, in der Gestalt von Arbeitern, die sich der Gewerkschaftskontrolle entziehen, Forderungen nach höheren Löhnen und besseren Arbeitsbedingungen durch, die an sich schon die Prognosen und Entscheidungen der Staatsökonomen, die für den störungsfreien Lauf des konzentrierten Kapitalismus sorgen, schwer beeinträchtigen. Die Ablehnung der heutigen Organisation der Arbeit in den Betrieben ist bereits eine direkte Ablehnung der Gesellschaft, die sich auf diese Organisation gründet, und mit dieser Bedeutung sind einige italienische Streiks gerade einen Tag, nach dem die Unternehmer sämtliche Forderungen akzeptiert hatten, ausgebrochen. Doch die bloße Lohnforderung zeigt, wenn sie mit ziemlicher Häufigkeit erneut vorgebracht wird, und jedesmal, wenn sie für die Erhöhung einen ausreichenden Prozentsatz festsetzt, klar, daß sich die Arbeiter des Elends und der Entfremdung bewußt werden, die sich auf die Gesamtheit ihrer sozialen Existenz erstrecken, und die kein Lohn jemals kompensieren kann Da zum Beispiel der Kapitalismus ganz nach seinem Belieben das Wohnen der Arbeiter außerhalb der Stadt angeordnet hat, werden sich diese bald dazu veranlaßt sehen, die Bezahlung der beschwerlichen Fahrzeiten als das zu verlangen, was sie tatsächlich sind: wirkliche Arbeitszeit. In all diesen Kämpfen, die die Lohnarbeit noch anerkennen, muß die Gewerkschaft selbst in ihrem Prinzip noch akzeptiert werden; sie wird jedoch lediglich als eine Instanz akzeptiert, die augenscheinlich überfordert ist und immer wieder übergangen wird. In einer solchen, sozialpolitischen Konjunktur kann die Existenz der Gewerkschaften jedoch nicht von unendlicher Dauer sein; und sie fühlen, daß sie sich abnutzen. In den Reden der bourgeoisen Minister und der stalinistischen Bürokraten findet dieselbe Angst dieselben Worte: „Ich stelle die Frage: Wird das wieder anfangen wie in 1968? Ich antworte: Nein, das darf nicht wieder anfangen" (Erklärung des Generalsekretärs der kommunistischen Partei Frankreichs Georges Marchais in Straßburg am 25.2.1972). Andererseits verursachen die Proletarier der Gesellschaft des Warenüberflusses in der Gestalt von Konsumenten, die der armseligen beschränkt haltbaren Güter, die sie lange satt bekommen haben, überdrüssig werden, bedrohliche Schwierigkeiten für den Absatz der Produktion. So daß sich das einzige eingestandene Ziel der heutigen Wirtschaftsentwicklung, das tatsächlich für alle die einzige Überlebensbedingung im Rahmen des Systems bildet, das auf der Arbeit als Ware beruht, die Schaffung von neuen Arbeitsplätzen, auf das Unternehmen hinausläuft, Arbeitsplätze zu schaffen, die die Arbeiter nicht mehr einnehmen wollen; um diesen wachsenden Teil von Gütern zu produzieren, die sie nicht mehr kaufen wollen. Doch es gilt zu begreifen, daß die Warenwirtschaft mit ihrer präzisen Technologie, deren Entwicklung untrennbar von der ihrigen ist, aus sehr viel tieferen Gründen jetzt im Todeskampf liegt. Daß jüngst im Spektakel eine Flut von moralisierenden Reden und von Versprechen auf Abhilfe im Detail zu einem Thema erscheint, das die Regierungen und ihre „mass media" Umweltverschmutzung nennen, soll diese eindeutige Tatsache verschleiern und muß sie Zugleich enthüllen: der Kapitalismus hat schließlich den Beweis erbracht, daß er die Produktivkräfte nicht mehr entwickeln kann.
Die Gesellschaft, die alle technischen Mittel besitzt, um die biologischen Grundlagen auf der ganzen Erde anzugreifen, ist ebenso die Gesellschaft, die durch dieselbe getrennte technischwissenschaftliche Entwicklung über alle Mittel der Kontrolle und mathematisch unzweifelhafter Vorausberechnung verfügt, um exakt zu bestimmen mit welchem Vorsprung vor welcher Auflösung des menschlichen Milieus - und zu welchem Zeitpunkt je nachdem, ob eine optimale Fortführung möglich ist oder nicht - das Wachstum der entäußerten Produktivkräfte der Klassengesellschaft ihr Ziel erreichen kann. Ob es sich um die chemische Verseuchung der Atemluft oder um die Verfälschung von Lebensmitteln handelt, um die nicht rückgängig zu machende Akkumulierung der Radioaktivität durch die industrielle Nutzung nuklearer Energie oder um die Verschlechterung der Regenerationsfähigkeit des Wasserkreislaufs vom Grundwasser zu den Ozeanen, um die urbanistische Lepra, die sich immer weiter an der Stelle dessen ausbreitet, was einst Stadt und Land waren, oder um die „Bevölkerungsexplosion", die Zunahme der Selbstmorde und der Geisteskrankheiten9 oder die Schwelle, der sich die Gesundheitsgefährdung durch den Lärm nähert, überall zeigen die partiellen Kenntnisse der entsprechend den Umständen mehr oder weniger drängenden und mehr oder weniger tödlichen Unmöglichkeit, noch weiterzugehen, als spezialisierte wissenschaftliche Schlußfolgerungen, die einfach nur nebeneinandergestellt bleiben, ein Bild des allgemeinen Verfalls und der allgemeinen Ohnmacht. Diese klägliche Aufnahme der Karte des Territoriums der Entfremdung kurz vor seinem Untergang wird natürlich in derselben Weise vorgenommen, in der das Territorium selbst errichtet wurde: nach getrennten Sektoren. Ohne Zweifel müssen diese Kenntnisse des Stückweisen aufgrund des unglücklichen Zusammentreffens all ihrer Beobachtungen künftig notgedrungen wissen, daß jede wirksame und kurzfristig rentable Modifizierung in einem bestimmten Punkt Rückwirkungen auf die Totalität der Kräfte hat, die im Spiel sind, und in der Folge zu einem entscheidenderen Verlust führen kann. Eine solche Wissenschaft, wie sie der Produktionsweise und den von ihr produzierten Aporien des Denkens dient, kann sich jedoch keine wirkliche Umkehrung des Laufs der Dinge vorstellen. Sie kann nicht strategisch denken, was im übrigen niemand von ihr verlangt; und sie besitzt auch nicht die praktischen Mittel zur Intervention. Sie kann daher lediglich den Fristablauf diskutieren, und die besten Linderungsmittel, die, würden sie streng angewandt, diesen Fristablauf verzögern würden. Diese Wissenschaft zeigt so auf höchst karikaturale Weise die Nutzlosigkeit des unbrauchbaren Denkens und die Nichtigkeit des nicht dialektischen Denkens in einer Epoche, die von der Bewegung der geschichtlichen Zeit davongetragen wird. Das alte Schlagwort „die Revolution oder der Tod" ist daher nicht mehr der lyrische Ausdruck des revoltierenden Bewußtseins, sondern das letzte Wort des wissenschaftlichen Denkens unseres Jahrhunderts. Aber dieses Wort kann nur von anderen gesagt werden; und nicht von diesem alten wissenschaftlichen Denken der Ware, das die ungenügend rationalen Grundlagen seiner Entwicklung in dem Moment enthüllt, wo sich alle Anwendungsweisen in der Macht der sozialen Praxis entfalten, die vollständig irrational ist. Das Denken der Trennung ist es, das unsere materielle Beherrschung nur auf den methodologischen Wegen der Trennung vergrößern konnte, und das am Ende diese vollendete Trennung in der Gesellschaft des Spektakels und in ihrer Selbstzerstörung findet.
Da die Klasse, die den wirtschaftlichen Profit hamstert, kein anderes Ziel hat, als die Diktatur der unabhängigen Wirtschaft über die Gesellschaft aufrechtzuerhalten, mußte sie bisher die unaufhörliche Vervielfachung der Produktivität der industriellen Arbeit so betrachten und steuern, als handele es sich immer noch um die agrarische Produktionsweise. Sie hat ständig das rein quantitative Produktionsmaximum in der Art der früheren Gesellschaften verfolgt, die, tatsächlich unfähig, jemals die Grenzen der wirklichen Knappheit hinauszuschieben, in jeder Saison alles ernten mußten, was geerntet werden konnte. Diese Identifizierung mit dem Agrarmodell kommt in dem pseudo-zyklischen Modell der Überflußproduktion der Waren zum Ausdruck, bei dem absichtlich in die produzierten Gegenstände und in ihre spektakulären Bilder der Verschleiß eingebaut wurde, um künstlich den saisonalen Charakter des Konsums aufrechtzuerhalten, der die unaufhörliche Wiederaufnahme der produktiven Anstrengung rechtfertigt und die Nähe zur Knappheit aufrechterhält. Doch die kumulative Wirklichkeit dieser Produktion, die der Nützlichkeit und der Schädlichkeit gegenüber gleichgültig ist, die tatsächlich ihrer eigenen Macht gegenüber gleichgültig ist, die sie ignorieren will10, hat sich nicht vergessen lassen und kehrt in der Form der Umweltverschmutzung zurück. Die Umweltverschmutzung ist daher ein Unglück des bürgerlichen Denkens; das die totalitäre Bürokratie lediglich bescheiden imitieren kann. Sie ist die höchste Stufe der materialisierten Ideologie, der tatsächlich verseuchte Überfluß der Ware und der elende wirkliche Niederschlag des illusorischen Glanzes der spektakulären Gesellschaft.
Die Umweltverschmutzung und das Proletariat sind heute die beiden konkreten Seiten der Kritik der politischen Ökonomie. Die universelle Entwicklung der Ware hat sich ganz und gar als Vollendung der politischen Ökonomie erwiesen, d. h. als „Verzicht auf das Leben"! In dem Moment, wo alles in die Sphäre der Wirtschaftsgüter geraten ist, sogar das Quellwasser und die städtische Luft, ist alles das ökonomische Übel geworden. Bereits die bloße unmittelbare Empfindung der „Beeinträchtigungen" und der Gefahren, die jedes Trimester bedrückender werden, und die zunächst und hauptsächlich die große Mehrheit, das heißt die Armen attackieren, bildet einen ungeheuren Faktor der Revolte, eine vitale Forderung der Ausgebeuteten, die ebenso materialistisch ist, wie es der Kampf der Arbeiter des 19. Jahrhunderts für die Möglichkeit zu essen war. Schon sind die Heilmittel für die Gesamtheit der Krankheiten, die die Produktion auf dieser Stufe ihres Warenreichtums erzeugt, zu teuer für sie. Die Produktionsbeziehungen und die Produktivkräfte haben schließlich einen Punkt radikaler Unvereinbarkeit erreicht, denn das bestehende Gesellschaftssystem hat sein Schicksal mit der Fortsetzung einer buchstäblich unerträglichen Verschlechterung aller Lebensbedingungen verknüpft.
Mit der neuen Epoche erscheint dieses bewundernswerte Zusammentreffen: die Revolution wird in einer totalen Form gewollt, gerade in dem Moment, wo sie nur in einer totalen Form durchgeführt werden kann, und wo die Totalität des Funktionierens der Gesellschaft absurd und außerhalb dieser Durchführung unmöglich wird. Die grundlegende Tatsache besteht nicht mehr so sehr darin, daß alle materiellen Kräfte für die Konstruktion des freien Lebens einer klassenlosen Gesellschaft zur Verfügung stehen; sie besteht viel eher darin, daß die blinde Unterbeschäftigung dieser Kräfte durch die Klassengesellschaft weder aussetzen noch weitergehen kann. Nie hat es in der Geschichte der Welt eine solche Verbindung gegeben.
Die größte Produktivkraft ist die revolutionäre Klasse selbst. Die zurzeit größtmögliche Entwicklung der Produktivkräfte ist ganz einfach der Gebrauch, den die Klasse des geschichtlichen Bewußtseins in der Produktion der Geschichte als Raum der menschlichen Entwicklung von ihnen machen kann, indem sie sich die praktischen Mittel dieses Bewußtseins gibt: die künftigen revolutionären Räte, in denen die Totalität der Proletarier über alles zu entscheiden hat. Die notwendige und ausreichende Definition des modernen Rats - um ihn von seinen schwachen primitiven Ansätzen zu unterscheiden, die stets vernichtet wurden, bevor sie der Logik ihrer eigenen Macht folgen und sie dadurch kennenlernen konnten - ist die Erfüllung des Minimums seiner Aufgaben; dieses Minimum ist nichts weniger als die definitive praktische Regelung aller Probleme, die die Klassengesellschaft gegenwärtig nicht zu lösen fähig ist. Der brutale Sturz der vorgeschichtlichen Produktion, wie ihn allein die soziale Resolution erreichen kann, von der wir sprechen, ist die notwendige und ausreichende Bedingung für den Beginn einer Ära der großen geschichtlichen Produktion; die unentbehrliche und dringende Produktion des Menschen durch ihn selbst. Das Ausmaß der gegenwärtigen Aufgaben der proletarischen Revolution kommt gerade in der Schwierigkeit zum Ausdruck, auf die sie stößt, die ersten Mittel der Formulierung und der Kommunikation ihres Projekts zu erobern: sich auf autonome Weise zu organisieren und durch diese bestimmte Organisation die Totalität ihres Projekts zu begreifen und ausdrücklich in den Kämpfen zu formulieren , die sie bereits führt11. Denn in diesem zentralen Punkt des spektakulären Monopols des sozialen Dialogs und der sozialen Aufklärung, der als letzter fallen wird, gleicht die ganze Welt Polen: wenn sich die Arbeiter frei und ohne Vermittler versammeln können, um ihre wirklichen Probleme zu erörtern, beginnt der Staat sich aufzulösen. Die Kraft der proletarischen Subversion, die seit vier Jahren überall wächst, läßt sich auch an dieser negativen Tatsache ablesen: sie bleibt weit unterhalb der ausdrücklichen Forderungen, die einst proletarische Bewegungen aufstellten, die weniger weit gingen, und die ihre Programm zu kennen glaubten, sie jedoch als geringere Programme kannten. Nicht irgendein intellektuelles Talent oder irgendeine ethische Berufung oder die Lust an der Verwirklichung der Philosophie bringt das Proletariat dazu, die „Klasse des Bewusstseins" zu sein, sondern ganz einfach die Tatsache, daß es keine andere Lösung hat, als sich der Geschichte in der Epoche zu ermächtigen, in der sich die Menschen „gezwungen sehen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen" ( Kommunistisches Manifest).Was die Arbeiter zu Dialektikern macht, ist nichts anderes als die Revolution die sie diesmal selbst führen müssen.
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20 Richard Gombin stellt in „Les Origines du gauchisme" (Die Ursprünge des Linksradikalismus) fest, „das sich die marginalen Sekten der jüngsten Zeit zu einer sozialen Bewegung auswachsen" die jedenfalls bereits demonstriert hat, dass der „organisierte Marxismus-Leninismus" nicht mehr die revolutionäre Bewegung ist. Gombin lehnt es folglich legitimer weise ab, zu dem, was er mit dem sehr unangemessenen Begriff des „gauchisme" bezeichnet, die neubürokratischen Wiederauflagen, von den zahlreichen Trotzkismen bis hin zu den verschiedenen Maoismen, zu zählen. Obwohl er sich so wohlwollend wie möglich gegenüber den paar halben Kritiken zeigt, die einen Augenblick lang in der unterwürfigen lntelligentsia der letzten dreißig Jahre hervorgestottert wurden, findet Gombin im Ursprung der neuen revolutionären Bewegung, mit Ausnahme der Rückkehr der pannekoekistischen Tradition des Rätekommunismus, lediglich die Situationistische Internationale.12 Obwohl es schon „ihre ungeheuren Ambitionen verdienen, daß man von ihr spricht"‚ ist es doch, nach Gombin, offenbar keineswegs sicher, daß die gegenwärtige Subversion zur Beherrschung der Gesellschaft der ganzen Welt gelangen wird. Er erwägt die Möglichkeit, daß auch das Gegenteil eintreten könnte, nämlich die absolute Perfektionierung der „Ära des Managements, so daß diese Subversion lediglich als letztes Aufflammen einer vergeblichen Revolte gegen „ein Universum, das zur rationellen Organisation aller Aspekte des Lebens tendiert", geschichtlich in Erscheinung treten würde. Da sich jedoch, überall anders als in dem Buch von Gombin, leicht feststellen läßt, daß dieses Universum, trotz seiner edlen Absichten und seiner trügerischen Rechtfertigungen, unaufhörlich den Weg zu einer galoppierenden Irrationalisierung verfolgt, die in der gegenwärtigen Erstickung kulminiert, besitzt die Endalternative, die dieser Soziologe formuliert, kein einziges bißchen Wirklichkeit. Man kann kaum, wenn man solche Themen behandelt, gemäßigter sein als Gombin; und nur das Unglück der Zeit konnte die Soziologie dazu zwingen, darüber Untersuchungen anzustellen. Und dennoch gelingt es Gombin, aufgrund seiner Ungeschicklichkeit, seinen Lesern keine andere mögliche Schlußfolgerung zu lassen, als eine kühne Versicherung der Unvermeidbarkeit des Sieges der Revolution.
Wenn sich alle Bedingungen des sozialen Lebens verändern, sieht die S.I., im Zentrum dieser Veränderung, die Bedingungen, unter denen sie gehandelt hat, schneller verwandelt als alles übrige. Keines ihrer Mitglieder konnte das übersehen oder dachte daran, das zu leugnen, aber tatsächlich wollten viele von ihnen „nicht an der S.I. rühren". Es war nicht einmal die vergangene situationistische Aktivität, die sie bewahren wollten, sondern ihr Bild.
Ein unvermeidlicher Teil ihres geschichtlichen Erfolgs hat die S.I. dahin gebracht, ihrerseits angeschaut zu werden, und in dieser Anschauung ist die konzessionslose Kritik alles Bestehenden dahin gekommen, von einem stets ausgedehnteren Sektor der prorevolutionär gewordenen Ohnmacht selbst positiv bewertet zu werden. Auch die gegen das Spektakel ins Feld geführte Kraft des Negativen fand sich von Zuschauern knechtisch bewundert. Das vergangene Verhalten der S.I. war ganz und gar von der Notwendigkeit beherrscht gewesen, in einer Epoche zu handeln, die zunächst nichts von ihr hören mochte. Von Schweigen umgeben hatte die S.I. keinerlei Stütze, und zahlreiche Elemente ihrer Arbeit wurden nach und nach ständig gegen sie integriert. Sie mußte den Moment erreichen, wo sie beurteilt werden konnte, nicht „auf den Grundlage der oberflächlich skandalösen Aspekte einiger Demonstrationen, sondern aufgrund ihren wesentlich skandalösen zentralen Wahrheit" („I.S." Nr. 11, Oktober 1967). Die ruhige Behauptung des allgemeinsten Extremismus, wie die zahlreichen Ausschlüsse unwirksamer oder nachsichtigen Situationisten, waren die Waffen der S.I. für diese Schlacht; und nicht, um eine Autorität oder eine Macht zu werden. So war der stolze schneidende Ton legitim, der in einigen Formen der situationistischen Ausdrucksweise hinreichend verwandt wurde, sowohl aufgrund den Tatsache der Ungeheuerlichkeit der Aufgaben als auch insbesondere deswegen, weil er seine Funktion erfüllt hat, indem er ihre Weiterentwicklung und ihren Erfolg gestattete. Er wurde jedoch unangemessen, seit sich die S.I. einer Epoche zu erkennen geben konnte, die ihr Projekt keineswegs mehr als eine Unwahrscheinlichkeit betrachtet13; und gerade deshalb, weil der S.I. das gelungen war, ist dieser Ton für uns, wenn auch nicht für die Zuschauer, unmodern geworden. Zweifellos ist der Sieg der S.I. dem Anschein nach genauso diskutabel, wie es derjenige sein kann, den die proletarische Bewegung schon einzig aufgrund der Tatsache errungen hat, daß es den Klassenkrieg wieder aufgenommen hat - der sichtbare Teil der Krise, die im Spektakel zum Vorschein kommt, ist unvergleichbar mit seiner Tiefe -‚ und er wird, wie auch dieser Sieg, solange unentschieden bleiben, bis die vorgeschichtlichen Zeiten ihr Ende gefunden haben; aber für den, der „das Gras wachsen hören kann, ist er auch indiskutabel. Die Theorie der S.I. hat Eingang in die Massen gefunden. Sie läßt sich nicht mehr in ihrer ursprünglichen Einsamkeit liquidieren. Gewiss kann sie noch verfälscht werden, aber unter sehr veränderten Bedingungen. Kein geschichtliches Denken kann sich von vornherein gegen jedes Unverständnis und jede Verfälschung absichern. Sie beansprucht schon nicht, ein für alle Zeiten zusammenhängendes und vollendetes System hervorzubringen; um so weniger kann sie hoffen, sich als das, was sie ist, auf so vollkommen rigorose Weise zu präsentieren, daß sich die Dummheit und die Hinterhältigkeit bei jedem von denen ausgeschlossen fände, die mit ihr zu tun haben werden, derart, daß eine wahrhaftige Lektüre universell geboten sei. Ein solcher idealistischer Anspruch hält sich nur durch einen Dogmatismus, der stets zum Scheitern verurteilt ist. Der Dogmatismus ist bereits die beginnende Niederlage eines solchen Denkens. Die geschichtlichen Kämpfe, die jede Theorie dieser Art berichtigen und verbessern, sind ebenfalls der Boden herabsetzender Interpretationsfehler wie - häufig eigennütziger - Weigerungen, den eindeutigsten Sinn zuzugeben. Hier kann sich die Wahrheit nur durchsetzen indem sie zur praktischen Kraft wird. Sie manifestiert, daß sie Wahrheit ist, erst dadurch, daß sie nur ganz geringe praktische Kräfte braucht, um sehr viel größere zur Auflösung zu bringen. So daß die Theorie der S,I., auch wenn sie künftig noch oft mißverstanden oder verfälschend übersetzt werden kann wie es bisweilen mit den Theorien von Marx und Hegel geschehen ist, ohne weiteres in aller ihrer Echtheit jedesmal dann wiederkehren wird, wenn geschichtlich ihre Stunde gekommen ist, von heute angefangen. Wir haben die Epoche verlassen, wo wir ohne Berufung verfälscht oder ausgestrichen werden konnten, denn unserer Theorie ist künftig, auf Gedeih und Verderb, die Mitarbeit der Massen gewiß.
Jetzt wo die revolutionäre Bewegung überall allein dabei ist, ernsthaft von der Gesellschaft zu sprechen, muß sie in sich selbst den Krieg finde, den sie vorher - einseitig - an der enfernten Peripherie des sozialen Lebens führte, wobei sie auf den ersten Blick allen Ideen vollständig fremd gegenüberzustehen schien, die diese Gesellschaft damals über das vorbringen konnte, was sie zu Sein glaubte. Wenn die Subversion auf die Gesellschaft übergreift und ihren Schatten im Spektakel größer werden läßt, manifestieren sich die spektakulären Kräfte der Gegenwart auch im inneren unserer Partei – „die Partei im großen historischen Sinn" -‚ weil sie effektiv die Totalität der bestehenden Welt auf sich nehmen mußte, und damit auch ihre Unzulänglichkeiten, ihre Unwissenheit und ihre Entfremdungen. Sie erbt das ganze Elend, das intellektuelle Elend mit eingeschlossen, das die alte Welt erzeugt hat; denn letztlich ist das Elend ihr wahres Anliegen, obwohl sie für ein solches Anliegen mit Größe eintreten mußte.
Unsere Partei betritt das Spektakel als Feind, aber als Feind, der jetzt bekannt ist. Der frühere Gegensatz zwischen der kritischen Theorie und dem apologetischen Spektakel „ist in das höhere siegende Element erhoben worden, worin er geläutert sich darstellt." Diejenigen, die die revolutionären Ideen und Aufgaben, und ganz besonders die S.I., nur anschauen, in dem Fanatismus einer puren wehrlosen Billigung, bringen hauptsächlich diese Tatsache zum Ausdruck, daß in einem Moment, wo die Gesamtheit der Gesellschaft gezwungen ist, revolutionär zu werden, ein großer Sektor es noch nicht zu sein Versteht.
Begeisterte Zuschauer der S.I. hat es von 1960 an gegeben, aber zunächst in sehr kleiner Zahl. In den letzten fünf Jahren sind sie eine Menge geworden. Dieser Prozeß hat in Frankreich begonnen, wo sie sich volkstümlich als Prosituationisten bezeichnet sehen, aber diese neue „französische Krankheit" hat auf sehr viele andere Länder übergegriffen. Ihre Zahl vervielfacht nicht ihre Leere: alle lassen wissen, daß sie vollständig der S.I. beipflichten, und daß sie nichts anderes zu tun wissen. Obwohl sie zahlreich werden, bleiben sie identisch: wer einen von ihnen gelesen oder gesehen hat, hat sie alle gelesen und hat sie alle gesehen. Sie sind ein bezeichnendes Produkt der gegenwärtigen Geschichte, aber sie produzieren sie in keiner Weise ihrerseits. Das prosituationistische Milieu stellt anscheinend die zur Ideologie gewordene Theorie der S.I. dar - und die passive Welle einer solchen absoluten und absolut unbrauchbaren Ideologie bestätigt durch das Absurde die offensichtliche Tatsache, daß die Rolle der revolutionären Ideologie mit den bürgerlichen Revolutionen zu Ende ist -‚ in Wirklichkeit aber drückt dieses Milieu den Teil der wirklichen modernen Revolution aus, der noch ideologisch bleiben mußte, Gefangener der spektakulären Entfremdung und nur in ihren Begriffen unterrichtet. Der Druck der Geschichte ist heute so stark geworden, daß die Träger einer Ideologie der geschichtlichen Gegenwart gezwungen sind, vollkommen abwesend zu bleiben.
Das prosituationistische Milieus besitzt nichts als seine guten Absichten, rind möchte sofort illusorisch von deren Zinsen leben, in der alleinigen Form der Stellung seiner gehaltlosen Ansprüche. Dieses prosituationistische Phänomen wurde in der S.I. von allen mißbilligt, insofern als in ihm eine subalterne äußere Imitation gesehen wurde, aber es wurde nicht von allen begriffen. Es kann nicht als ein oberflächlicher und paradoxer Vorfall erkannt werden, sondern nur als die Manifestation einer tiefen Entfremdung des unaktivsten Teils der modernen Gesellschaft, die undeutlich revolutionär wird.14 Wir mußten diese Entfremdung als eine wirkliche Kinderkrankheit des Erscheinens der neuen revolutionären Bewegung kennen lernen; zunächst deswegen, weil die S.I., die in keiner Weise außerhalb oder überhalb dieser Bewegung stehen kann, von dieser Art von Mangel nicht unbetroffen sein konnte und nicht beanspruchen konnte, der Kritik zu entgehen, die sie erfordert. Hätte andererseits die S.I., unter anderen Umständen, ihr Spiel weiterhin so getrieben wie zuvor, hätte sie zu der letzten spektakulären Ideologie der Revolution werden, und eine solche Ideologie garantieren können. Die S.I. hätte dann riskiert, die wirkliche situationistische Bewegung zu behindern: die Revolution.
Das Anschauen der S.I. ist nur eine zusätzliche Entfremdung der entfremdeten Gesellschaft; aber allein die Tatsache, daß es möglich ist, bringt umgekehrt die Tatsache zum Ausdruck, daß sich gegenwärtig eine wirkliche Partei im Kampf gegen die Entfremdung bildet. Die Prosituationisten zu begreifen, d. h. sie zu bekämpfen, anstatt sich darauf zu beschränken, sie abstrakt zu verachten, wegen ihrer Nichtigkeit und weil sie keinen Zugang zur situationistischen Aristokratie hatten, war für die S.I. eine Notwendigkeit von größter Wichtigkeit. Wir mußten gleichzeitig begreifen, wie das Bild dieser situationistischen Aristokratie entstehen konnte, und welche untere Schicht der S.I. sich damit begnügen konnte, sich nach außen hin diesen Anschein hierarchischer Aufwertung zu geben, der ihnen lediglich aufgrund eines Titels zukam: diese Schicht sollte selbst die allein durch das Diplom der Zugehörigkeit zur S.I. angereicherte Nichtigkeit sein. Und solche Situationisten gab es nicht nur offenkundig; sie erwiesen sich auch in der Erfahrung als diejenigen, die nichts anderes wollten, als an ihrer diplomierten Unzulänglichkeit festhalten. Sie kommunizierten mit den Prosituationisten, obwohl sie sich als hierarchisch stark unterschieden definierten, in dem egalitären Glauben, nach dem die S.I. ein idealer Monolith sein könnte, wo jeder auf Anhieb über alles denkt wie alle anderen und ebenso meisterhaft handelt: diejenigen, die in der S.I. weder dachten noch handelten, forderten so ein mystisches Statut, und an dieses Statut waren die prosituationistischen Zuschauer bestrebt heranzukommen. Alle, die die Prosituationisten verachten, ohne sie zu begreifen - angefangen bei den Prosituationisten selbst, unter denen sich jeder den anderen gegenüber als gewaltig überlegen hinstellen möchte -‚wollen einfach sich und anderen vormachen, daß sie durch irgendeine revolutionäre Vorherbestimmung erlöst worden sind, die es ihnen erläßt, ihre eigene geschichtliche Wirksamkeit unter Beweis zu stellen. Die Teilnahme an der S.I. war ihr Jansenismus, wie die Revolution ihr „heimlicher Gott" ist. Solchermaßen vor der geschichtlichen Praxis geschützt und im Glauben, durch wer weiß was für eine weltliche Gnade dem Elend der Prosituationisten enthoben zu sein, sahen sie in diesem Elend nur das Elend, anstatt in ihm auch den winzigen Teil einer tiefen Bewegung zu sehen, die die alte Gesellschaft über den Haufen werfen wird.
Die Prosituationisten haben in der S.I. nicht eine bestimmte kritisch-praktische Aktivität gesehen, die die sozialen Kämpfe einer Epoche erklärten oder ihnen vorausgingen, sondern bloß extremistische Ideen; und nicht so sehr extremistische Ideen als die Idee des Extremismus; und letztlich weniger die Idee des Extremismus als das Bild extremistischer Helden, die in einer triumphierenden Gemeinschaft versammelt sind. Bei „der Arbeit des Negativen" fürchten die Prosituationisten das Negative, und auch die Arbeit. Nach ihrem Plebiszit für das Geschichtsdenken bleiben sie trocken, weil sie nicht die Geschichte begreifen, und das Denken auch nicht. Um zur Behauptung, die sie sehr reizt, einer autonomen Persönlichkeit zu gelangen, fehlt ihnen nur die Autonomie, die Persönlichkeit, und das Talent, auch nur irgendetwas zu behaupten.
Die Prosituationisten haben, in ihrer Masse, gelernt, daß es keine revolutionären Studenten mehr geben kann, und bleiben Studenten der Revolutionen. Die Ehrgeizigsten verspüren die Notwendigkeit zu schreiben und ihre Schriften sogar zu veröffentlichen, um abstrakt ihre abstrakte Existenz bekannt zu geben, wobei sie glauben, ihr dadurch einigen Bestand zu verleihen.
Während es die S.I. stets verstanden hat, unbarmherzig die Unschlüssigkeit, die Schwäche und das Elend ihrer ersten Versuche zu verspotten, indem sie in jedem Moment die Hypothesen die Gegensätze und die Brüche aufzeigte, die ihre Geschichte selbst bildeten - insbesondere indem sie 1971 der Öffentlichkeit die ungekürzte Neuherausgabe der Revue Internationale Situationniste vorlegte, in der dieser ganze Prozeß festgehalten ist -, haben dagegen die absolut untereinander gespaltenen Prosituationisten alle ständig wie ein Block beansprucht, die S.I. bewundern zu dürfen. Sie hüten sich, in die überall lesbaren Details der Auseinandersetzungen und der Entscheidungen zu gehen, um sich darauf zu beschränken, vollständig dem zuzustimmen, was geschehen ist. Und gegenwärtig gehen alle Prosituationisten, obwohl sie alle etwas zutiefst Vaneigemistisches haben, dem am Boden liegenden Vaneigem den Eselsfußtritt, wobei sie vergessen, daß sie niemals auch nur den hundertsten Teil seines früheren Talents bewiesen haben; und sie Sabbern auch noch angesichts der Kraft, die sie nicht besser verstehen.
Wenn sich die S.I. anfänglich dafür entschieden hat, den Akzent auf den kollektiven Aspekt ihrer Aktivität zu legen und den größten Teil ihrer Texte relativ anonym zu präsentieren, dann deswegen, weil wirklich ohne diese kollektive Aktivität nichts von unserem Projekt hätte formuliert und ausgeführt werden können, und weil es die Herausstellung einiger persönlicher Berühmtheiten unter uns zu verhindern galt, die das Spektakel dann gegen unser gemeinsames Ziel hätte manipulieren können: das ist gelungen, weil keiner unter denen, die die Mittel besaßen, eine persönliche Berühmtheit zu erwerben, sie gewollt hat, zumindest solange er in der S.I. war; und weil die, die sie wollen konnten, nicht die Mittel dazu besaßen. Doch dadurch wurde zweifellos die Grundlage dafür geschaffen, daß später in der Mystik der Situphilen, die Gesamtheit der S.I. zum kollektiven Star erhoben wurde.
Der wahre Grund für das Unglück der Zuschauer der S.I. liegt nicht in dem, was die S.I. getan oder nicht getan hat; und selbst der Einfluß einiger stilistischer oder theoretischer Vereinfachungen des situationistischen Primitivismus spielt dabei nur eine ganz geringe Rolle.
Diejenigen, die das echt soziologische Phänomen der Prosituationisten als etwas Unerhörtes beschreiben, das vor der verblüffenden Existenz der S.I. sogar unvorstellbar war, sind recht naiv. Jedesmal, wenn extreme revolutionäre Ideen von einer Epoche anerkannt und aufgenommen worden sind, hat sich ihnen ein Teil einer bestimmten Jugend in einer in allen Punkten vergleichbaren Weise angeschlossen, namentlich unter deklassierten Intellektuellen oder Halbintellektuellen, die eine privilegierte gesellschaftliche Hölle anstreben, eine Kategorie, deren Zahl der moderne Unterricht vervielfacht wie er ihre Qualität noch vermindert hat. Zweifellos sind die Prosituationisten sichtbarer unzulänglich und unglücklich, weil die Forderungen der Revolution heute komplexer sind und die Krankheit der Gesellschaft schwerer zu ertragen ist. Doch der einzige grundlegende Unterschied zu den Perioden, in denen sich die Blanquisten, die Marxisten genannten Sozialdemokraten oder die Bolschewisten rekrutiert haben, liegt in der Tatsache, daß diese Art von Leuten zuvor von einer hierarchischen Organisation angeworben und eingesetzt wurden, während die S.I. die Prosituationisten massenhaft draußen gelassen hat.
Um die Prosituationisten zu begreifen, muß man ihre soziale Basis und ihre sozialen Absichten begreifen. Die ersten Arbeiter, die sich den situationistischen Ideen anschlossen - die im allgemeinen von der alten Ultralinken kamen und somit von der Skepsis gezeichnet waren, die aus ihrer langen Unwirksamkeit folgte, die anfänglich in ihren Fabriken sehr isoliert waren und sich infolge ihrer ohne Gebrauch gebliebenen, wenn auch manchmal recht subtilen Kenntnis unserer Theorien verhältnismäßig gekünstelt gaben -‚ haben in dem infra-intellektuellen Milieu der Prosituationisten verkehren können, nicht ohne es zu verachten, und dabei einige seiner Mängel übernehmen können; doch insgesamt werden die Arbeiter, die seitdem in wilden Streiks oder in jeder anderen Form der Kritik ihrer Existenzbedingungen kollektiv die Perspektiven der S.I. entdecken, in keiner Weise Prosituationisten. Und im übrigen sind, außerhalb der Arbeiter, alle diejenigen, die eine konkrete revolutionäre Aufgabe übernommen haben oder effektiv mit der herrschenden Lebensart gebrochen haben, ebensowenig Prosituationisten: der Prosituationist definiert sich zunächst durch seine Flucht vor solchen Aufgaben und vor einem solchen Bruch. Die Prosituationisten sind nicht alle Studenten, die in Wirklichkeit irgendeine beliebige Qualifizierung durch die Examina an der gegenwärtigen Subuniversität erstreben; und sie sind „a fortiori" nicht alle Bürgersöhne. Aber alle sind sie mit einer bestimmten Gesellschaftsschicht verknüpft, ob sie sich nun vornehmen, wirklich deren Status zu erwerben, oder sich darauf beschränken, die ihr eigentümlichen Illusionen im voraus zu konsumieren. Diese Schicht ist die der Kader oder der Führungskräfte. Obwohl sie im sozialen Spektakel gewiß die Schicht ist, die am stärksten in Erscheinung tritt, scheint sie für die Denker der linksradikalen Routine unbekannt zu bleiben, die ein unmittelbares Interesse daran haben, sich an die verarmte Zusammenfassung der Klassendefinition des 19. Jahrhunderts zu halten: sie wollen entweder die Existenz der bürokratischen Klasse, die herrscht oder die totale Herrschaft ansteuert, verschleiern, oder sie wollen, oft gleichzeitig, ihre eigenen Existenzbedingungen verschleiern, und ihre eigenen Bestrebungen als geringfügig privilegierte Führungskräfte in den von der heutigen Bourgeoisie beherrschten Produktionsbeziehungen.
Mit der Umwandlung der globalen gesellschaftlichen Arbeit hat der Kapitalismus fortlaufend die Klassenzusammensetzung modifiziert. Er hat Klassen geschwächt oder neu zusammengesetzt, abgeschafft oder gar geschaffen, die in der Produktion der Welt der Ware lediglich eine sekundäre Funktion haben. Allein die Bourgeoisie und das Proletariat, die ursprünglichen geschichtlichen Klassen dieser Welt, machen weiter ihr Geschick unter sich aus, in einer Auseinandersetzung, die im wesentlichen die gleiche bleibt. Doch die Umstände, der Dekor, die Komparsen und selbst der Geist der Hauptakteure haben sich mit der Zeit geändert, die uns zum letzten Akt geführt hat. Das Proletariat war nach Lenin, dessen Definition in der Tat diejenige von Marx korrigierte, die Masse der Arbeiter der Großindustrie; die fachlich Qualifiziertesten unter ihnen fanden sich sogar unter dem Begriff der „Arbeiteraristokratie" in eine suspekte Grenzsituation verwiesen. Zwei Generationen von Stalinisten und Dummköpfen haben auf dieses Dogma gestützt den Arbeitern, die an der Pariser Kommune teilgenommen hatten, und die sich noch in großer Nähe zum Handwerk und zur Kleinindustrie befanden, die Anerkennung als vollwertige Proletarier verweigert. Die gleichen Leute fragen sich auch nach dem Sein des heutigen Proletariats, das in vielfältig abgestuften Schichten verloren ist, vom „spezialisierten" Arbeiter der Montagebänder und dem „Gastarbeiter" am Bau bis hin zum Facharbeiter und zum Techniker oder zur technischen Hilfskraft; das geht so weit, daß spitzfindig untersucht wird, ob der Lokomotivführer persönlich Mehrwert produziert. Lenin hatte indessen darin recht, daß sich das Proletariat Rußlands zwischen 1890 und 1917 wesentlich auf die Arbeiter einer modernen Großindustrie reduzierte, die in der gleichen Periode mit der in dieses Land importierten jüngsten kapitalistischen Entwicklung auftrat. Außerhalb dieses Proletariats war in Rußland als städtische revolutionäre Kraft nur noch der radikale Teil der Intelligentsia vorhanden, während in den Ländern, wo der Kapitalismus mit der Bourgeoisie der Städte auf natürliche Weise gereift und auf ursprüngliche Weise aufgetreten war, alles sehr viel anders verlaufen war. Diese russische Intelligentsia, wie die ihr entsprechenden gemäßigteren Schichten überall anderswo, versuchte politische Kader für die Arbeiter zu bilden. Die russischen Verhältnisse begünstigten die Bildung von Kadern unmittelbar politischer Natur in den Betrieben: die Berufsvereinigungen wurden von einer Art „Arbeiteraristokratie" beherrscht, die der sozialdemokratischen Partei angehörte, und zwar häufiger der menschewistischen als der bolschewistischen Fraktion, während beispielsweise in England die gleichbedeutende Schicht der TradeUnionisten apolitisch oder reformistisch bleiben konnte. Daß es die Ausplünderung des Planeten dem Kapitalismus in seinem imperialistischen Stadium gestattet, eine große Zahl von besser bezahlten Facharbeitern zu unterhalten, ist eine Feststellung, die, unter einem moralischen Deckmantel, ohne jegliche Tragweite für die Bewertung der revolutionären Politik des Proletariats ist. Auch der letzte „spezialisierte Arbeiter" der heutigen französischen oder deutschen Industrie kommt, selbst wenn er ein besonders schlecht behandelter und bedürftiger „Gastarbeiter" ist, in den Vorteil der planetarischen Ausbeutung des Jute- oder Kupferproduzenten in den unterentwickelten Ländern, und ist nichtsdestoweniger ein Proletarier. Die Facharbeiter, die über mehr Zeit, Geld und Ausbildung verfügen, haben in der Geschichte der Klassenkämpfe mit ihrem Los zufriedene Wähler abgegeben, aber häufig auch extremistische Revolutionäre, im Spartakus wie in der iberischen Anarchistenföderation. Indem allein die Anhänger und Beschäftigten der reformistischen Gewerkschaftsführer als „Arbeiteraristokratie" betrachtet wurden, wurde durch eine pseudo-wirtschaftswissenschaftliche Polemik die wirkliche wirtschaftspolitische Frage nach der äußeren Kaderbildung für die Arbeiter verdeckt. Die Arbeiter haben für ihren unerlässlichen ökonomischen Kampf ein unmittelbares Bedürfnis nach Zusammenhalt. Die Erfahrung, wie sie diesen Zusammenhalt selbst herstellen können, beginnen sie in den großen Klassenkämpfen zu machen, die für alle im Konflikt befindlichen Klassen immer zugleich auch politische Kämpfe sind. In den täglichen Kämpfen jedoch - dem „primum vivere" der Klasse -‚ die lediglich Kämpfe wirtschaftlicher oder ökonomischer Natur zu sein scheinen, haben die Arbeiter diesen Zusammenhalt zunächst durch eine bürokratische Führung erhalten, die sich in diesem Stadium in der Klasse selbst rekrutiert hat. Die Bürokratie ist eine alte Erfindung des Staates. Die Bourgeoisie hat, als sie sich des Staates bemächtigte, zunächst die staatliche Bürokratie in ihren Dienst gestellt und erst später die Bürokratisierung der Industrieproduktion durch Manager entwickelt, diese beiden Formen der Bürokratie gehörten zu dem ihr eigenen Bereich, dienten ihr direkt. Erst in einem späteren Stadium ihrer Herrschaft benutzte die Bourgeoisie auch die untergeordnete, rivalisierende Bürokratie, die sich auf der Grundlage der Arbeiterorganisationen gebildet hatte, und sogar, auf der Ebene der Weltpolitik und der Aufrechterhaltung des Gleichgewichts in der heutigen Aufgabenteilung des Kapitalismus, die totalitäre Bürokratie, die in mehreren Ländern die Wirtschaft und den Staat zu eigen besitzt. Von einem bestimmten Punkt der allgemeinen Entwicklung eines fortgeschrittenen kapitalistischen Landes und seines Vorhersehungs-Staates an, betrauen selbst die in der Auflösung befindlichen Klassen, die sich mit keiner Bürokratie ausstatten konnten, weil sie sich aus isolierten unabhängigen Produzenten zusammensetzten und lediglich die begabtesten ihrer Söhne in die niederen Grade der Staatsbürokratie entsandten - Bauern, handeltreibende Kleinbourgeoisie -‚ mit ihrer Verteidigung, angesichts der allgemeinen Bürokratisierung und Verstaatlichung der konzentrierten modernen Wirtschaft, einige besondere Bürokratien: Gewerkschaften „junger Landwirte", landwirtschaftliche Kooperativen, Verteidigungsbündnisse der Händler. Indessen bleiben die Arbeiter der Großindustrie - diejenigen, die, wie Lenin sich freute, die Disziplin der Fabrik auf mechanistische Weise auf militärischen Gehorsam, auf die Disziplin der Kaserne präpariert hätte, ein Weg, auf dem er selbst den Sozialismus in seiner Partei und in seinem Land zum Triumph verhelfen wollte, die Arbeiter, die dialektisch auch das ganze Gegenteil kennen gelernt haben -‚ sicherlich, auch ohne das ganze Proletariat zu sein, sein Zentrum selbst: weil in ihren Händen der wesentliche Teil der sozialen Produktion liegt, und weil sie sie am ehesten auf dem reinen Tisch der aufgehobenen ökonomischen Entfremdung neu aufbauen können. Jede lediglich soziologische Definition des Proletariats, ob sie nun konservativ oder linksradikal ist, verbirgt eine politische Entscheidung. Das Proletariat kann nur geschichtlich definiert werden, durch das, was es tun kann, und durch das, was es wollen kann und muß. Ebenso ist auch die marxistische Definition des Kleinbürgertums, die seitdem so häufig als blöder Witz gebraucht wurde, zunächst eine Definition, die auf der Stellung des Kleinbürgertums in den geschichtlichen Kämpfen seiner Zeit beruht, im Gegensatz zu derjenigen des Proletariats beruht sie jedoch auf dem Verständnis des Kleinbürgertums als schillernde und zerrissene Klasse, die nur nacheinander einander widersprechende Ziele wollen kann und die ständig nur den Umständen folgend von einem Lager in das andere wechselt. Das in seinen geschichtlichen Absichten zerrissene Kleinbürgertum war auch soziologisch die von allen am wenigsten definierbare und am wenigsten homogene Klasse: zu ihr konnte man einen Handwerker und einen Universitätsprofessor zählen, einen kleinen wohlhabenden Händler und einen armen Arzt, einen glücklosen Offizier und einen Briefträger, den niederen Klerus und den Schiffsführer. Heute aber ist das Kleinbürgertum, auch ohne daß all diese Berufe „en bloc" im Industrieproletariat verschmolzen sind, von der geschichtlichen Bühne abgetreten, um sich in den Kulissen aufzuhalten, wo sich die letzten Verteidiger des vertriebenen Kleinhandels Schlagen.
Die Führungskräfte sind heute die Metamorphose des städtischen Kleinbürgertums unabhängiger Produzenten, das lohnabhängig geworden ist. Auch diese Führungskräfte sind untereinander sehr verschiedenartig, die wirkliche Schicht der oberen Führungskräfte jedoch, die für die anderen das illusorische Modell und das illusorische Ziel bildet, ist auf tausendfache Weise mit der Bourgeoisie verknüpft, in der sie häufiger noch aufgeht als daß sie von ihr herkommt. Die große Masse der Führungskräfte besteht aus mittleren und unteren Führungskräften, deren reale Interessen noch weniger von denen des Proletariats entfernt sind als es die des Kleinbürgertums waren - denn die Führungskraft ist nie im Besitz des Werkzeugs ihrer Arbeit-, deren gesellschaftliche Konzeptionen und deren Aufstiegsträume sich jedoch eng an die Werte und Perspektiven der modernen Bourgeoisie anlehnen. Ihre ökonomische Funktion ist wesentlich mit dem tertiären Sektor verknüpft, mit den Dienstleistungen, und ganz besonders mit dem eigentlich spektakulären Bereich des Verkaufs, der Instandhaltung und der Lobpreisung der Waren, zu denen auch die Arbeitsware selbst zählt. Das Bild der Lebensart und der Geschmacksrichtungen, die die Gesellschaft ausdrücklich für sie, ihre Mustersöhne, fabriziert, beeinflußt weitgehend die Schichten kleiner Angestellter oder Kleinbürger, die nach ihrer Umwandlung in Führungskräfte streben; und ist nicht ohne Wirkung auf einen Teil der heutigen mittleren Bourgeoisie. Die Führungskraft sagt stets „einerseits; andererseits", denn sie weiß, daß sie als Arbeiter unglücklich ist, aber sie möchte sich vormachen, daß sie als Konsument glücklich ist. Mit Inbrunst glaubt sie an den Konsum, eben weil sie gut genug bezahlt wird, um etwas mehr zu konsumieren als die anderen, wenn auch die gleiche serienmäßige Ware: selten sind die Architekten, die die rückständigen Hochhäuser bewohnen, die sie gebaut haben, aber zahlreich sind die Verbkäuferinnen von Boutiquen des nachgemachten Luxus, die die Kleidung kaufen, für deren Vertrieb sie zu sorgen haben. Die repräsentative Führungskraft steht zwischen diesen beiden Extremen; sie bewundert den Architekten, und sie wird von der Verkäuferin imitiert. Die Führungskraft ist der Konsument „par excellence", das heißt der Zuschauer „par excellence". Die Führungskraft steht daher, immer unsicher und immer enttäuscht, im Zentrum des modernen falschen Bewußtseins und der gesellschaftlichen Entfremdung. Im Gegensatz zum Bourgeois, zum Arbeiter, zum leibeigenen, zum Feudalherrn fühlt sich die Führungskraft nie an ihrem Platz.
Das Verhalten der Prosituationisten entspricht vollständig den Strukturen dieser Existenz der Führungskräfte, und wie jenen gehört ihnen diese Existenz zunächst viel eher als ein anerkanntes Ideal anstatt als wirkliche Lebensart. Die moderne Revolution befindet sich, da sie die Partei des geschichtlichen Bewußtseins ist, im direktesten Konflikt mit diesen Anhängern und Sklaven des falschen Bewußtseins. Sie muß sie zunächst zur Verzweiflung bringen, indem sie die Schmach noch schmachvoller macht! Die Prosituationisten sind in einem Moment in Mode, wo jeder X-beliebige dafür ist, Situationen zu schaffen, die jede Umkehr unmöglich machen, und wo das Programm einer lächerlichen „sozialistischen" westlichen Partei keck behauptet, „das leben ändern" zu wollen. Der Prosituationist wird sich niemals scheuen zu sagen, daß er Leidenschaften erlebt, transparente Dialoge, daß er das Fest und die Liebe radikal erneuert, genauso wie die Führungskraft direkt beim Winzer ihren Wein kaufte den sie selbst auf Flaschen zieht, oder Station in Katmandu macht. Für den Prosituationisten wie für die Führungskraft sind Gegenwart und Zukunft allein vom Konsum ausgefüllt, der revolutionär geworden ist; hier handelt es sich vor allein um die Revolution der Waren, um die Anerkennung einer unaufhörlichen Reihe von Putschs, durch die die herrlichen Waren und ihre Forderungen ersetzt werden, dort handelt es sich hauptsächlich um die herrliche Ware der Revolution selbst. Überall dieselbe Einbildung der Echtheit in einem Spiels dessen von der ohnmächtigen Betrügerei noch erschwerten Bedingungen selbst von vornherein auch das geringste bißchen Echtheit absolut ausschließen. Dieselbe Künstlichkeit des Dialogs, dieselbe Pseudo-Kultur, die man sich schnell und von weitem anschaut. Dieselbe Pseudo-Befreiung der Sitten, die mit demselben Kneifen vor der Lust zusammentrifft: auf der Grundlage derselben radikalen kindischen, aber verschleierten Unwissenheit etabliert und institutionalisiert sich zum Beispiel die ständige tragik-komische Wechselwirkung von männlicher Einfältigkeit und weiblicher Verstellung. Aber über alle besonderen Fälle hinausgehend ist die allgemeine Vortäuschung ihr gemeinsames Element. Die Besonderheit des Prosituationisten liegt in der Hauptsache darin, daß er durch reine Ideen den Ramsch ersetzt, den die vollendete Führungskraft effektiv konsumiert. Den bloßen Klang der spektakulären Münze glaubt der Prosituationist leichter nachmachen zu können als diese Münze selbst; doch er wird in dieser Illusion durch die wirkliche Tatsache bestärkt, dass auch diese Waren, die der heutige Konsum zu bewundern vorgibt, mehr Lärm als Freude machen. Der Prosituationist möchte alle Eigenschaften des Horoskops besitzen: Intelligenz und Mut, Verführung und Erfahrung, etc., und wundert sich, er, der nie daran gedacht hat, diese Eigenschaften zu erlangen oder zu benutzen, daß die geringste Praxis immer noch seine märchenhafte Erzählung durch den traurigen Zufall über den Haufen wirft, daß er es nicht einmal verstanden hat, sie vorzutäuschen. Ebensowenig hat die Führungskraft jemals irgend einem Bourgeois oder irgendeiner Führungskraft weismachen können, daß sie mehr ist als eine Führungskraft.
Der Prosituationist kann natürlich die Wirtschaftsgüter nicht verschmähen, über die die Führungskraft verfügt, da sich sein gesamtes Alltagsleben nach demselben Geschmack richtet. Er ist darin revolutionär, daß er sie ohne zu arbeiten haben möchte; oder sie eher noch sofort haben möchte, indem er in der antihierarchischen Revolution „arbeitet", die die Klassen abschaffen wird. Von der leichten Entwendbarkeit der mageren Zuschüsse zum Studium getäuscht, mit deren Hilfe die heutige Bourgeoisie gerade ihre unteren Führungskräfte in den verschiedenen Klassen rekrutiert - wobei sie den Teil dieser Subsidien, der dem zeitweiligen Unterhalt von Leuten dient, die einmal aufhören, den vorgeschriebenen Weg zu gehen, ohne Schwierigkeitcn in die Gewinn- und Verlustrechnung einsetzt -‚ denkt der Prosituationist schließlich insgeheim, daß die gegenwärtige Gesellschaft ihn ganz gut ernähren müßte, obwohl er ohne Arbeit, Geld und Talent ist, allein aufgrund der Tatsache, daß er erklärt hat, ein reiner Revolutionär zu sein. Und er glaubt ferner, Anerkennung als Revolutionär zu finden, - weil er erklärt hat, Revolutionär im Reinzustand zu sein. Diese Illusionen vergehen schnell: sie dauern nur die zwei oder drei Jahre, in denen die Prosituationisten glauben können, daß sie, obwohl sie nicht wissen wie, irgendein wirtschaftliches Wunder als Privilegierte am Leben erhalten wird. Sehr wenige werden die Energie und die Fähigkeiten aufbringen, um so auf die Vollendung der Revolution zu warten, die sie unweigerlich zu einem Teil enttäuschen würde. Sie werden arbeiten gehen. Manche werden Führungskräfte sein, die meisten schlecht bezahlte Arbeiter. Von denen werden viele resignieren. Andere werden revolutionäre Arbeiter.
In dem Moment, wo die S.I. einige Aspekte ihres eigenen Erfolgs zu kritisieren hatte, der ihr zugleich gestattete und sie verpflichtete, weiter voranzugehen, war sie besonders schlecht zusammengesetzt und kaum zur Selbstkritik in der Lage. Viele ihrer Mitglieder enthüllten sich als unfähig, wenigstens an der einfachen Fortsetzung ihrer vorangegangenen Aktivitäten persönlich teilzunehmen: für sie war es daher näherliegend, die vergangenen Verwirklichungen schon recht beachtlich zu finden, die für sie bereits unerreichbar waren, anstatt sich in der Aufhebung noch schwierigere Aufgaben zu stellen. Von 1967 an war unsere Präsenz in verschiedenen Ländern vorrangig, in denen die praktische Subversion begann, die unsere Theorie suchte, und insbesondere waren wir vom Herbst 1968 an tätig, um die Erfahrung der Bewegung der Besetzungen17 und die wichtigsten Folgerungen aus ihr im Ausland ebenso bekannt zu machen wie sie es in Frankreich waren. Diese Periode hat die Zahl der Mitglieder der S.I. erhöht, aber keineswegs ihre Qualität. Von 1970 an wurde der wesentliche Teil dieser Aufgabe glücklicherweise von autonomen revolutionären Elementen aufgenommen und stark erweitert. Die Anhänger der S. I. befanden sich - fast überall - dort, wo die autonomen und extremistischen Arbeiterkämpfe begannen, eben in den Ländern, wo die Unruhe am größten ist. Den Mitgliedern der S. I. blieb jedoch die Aufgabe, die Verantwortung für die Position der S.I. selbst zu übernehmen; und aus der neuen Epoche die notwendigen Folgerungen zu ziehen.
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40 Viele Mitglieder der S.I. kannten in keiner Weise die Zeit, in der wir sagten, daß „seltsame Boten durch Europa reisen und weiter; sich treffen, unglaubliche Instruktionen überbringen" - („I. S.", Nr. 5, Dezember 1960). Jetzt, wo solche Instruktionen nicht mehr unglaublich sind, sondern komplexer und präziser werden, scheiterten diese Genossen fast überall dort, wo sie sie zu formulieren und zu verteidigen hatten; und mehrere zogen es sogar vor, es darauf erst gar nicht ankommen zu lassen. Neben denjenigen, die in der Tat niemals wirklich in die S.I. eingetreten waren, gab es zwei oder drei andere, die sich in ärmeren, aber ruhigeren Jahren verdient gemacht hatten, die, von dem Erscheinen selbst der von ihnen gewünschten Epoche völlig verbraucht, in der Tat aus der S.I. ausgetreten waren, aber ohne es eingestehen zu wollen. Somit mußten wir feststellen, daß mehrere Situationisten sich nicht einmal vorstellen konnten, was es hieß, neue Ideen in die Praxis einzuführen, und umgekehrt die Theorien an Hand der Tatsachen neu zu schreiben; das war es jedoch, was die S.I. fertiggebracht hatte.
Daß einige der ersten Situationisten es verstanden haben, zu denken, Risiken auf sich zu nehmen und zu leben, oder daß unter den vielen, die verschwunden sind, mehrere durch Selbstmord oder in den Heilanstalten geendet sind, konnte sicher nicht durch Erbfolge auf jeden derjenigen, die zuletzt gekommen waren, den Mut, die Originalität und den Sinn für das Abenteuer übertragen. Die mehr oder weniger vaneigemistische Idylle – „Et in Arcadia situ ego" - deckte durch eine Art juristischen Formalismus der abstrakten Gleichheit das Leben derjenigen, die ihre Qualität weder in der Teilnahme an der S.I. noch in irgendetwas ihrer persönlichen Existenz bewiesen haben. Indem sie diese noch bourgeoise Konzeption der Revolution aufnahmen, waren sie nichts als die Bürger der S.I. Sie waren in Wirklichkeit in allen Lagen ihres Lebens die Männer der Zustimmung; in der S.I. glaubten sie ihr Heil dadurch zu finden, daß sie alles in das schöne Zeichen der geschichtlichen Negation stellten; doch sie hatten sich damit begnügt, diese Negation selbst stillschweigend gutzuheißen. Die, die nie „ich" und „du" sagten, sondern immer „wir" und „man", befanden sich häufig noch unterhalb des politischen Aktivismus, während die S.I. von Anfang an ein sehr viel weitergestecktes und tiefergehendes Projekt war als eine bloß politische revolutionäre Bewegung. Zwei Wunder trafen zusammen die ihnen der Ordnung der Welt gemäß in ihrer diskreten, aber stolzen Ausdruckslosigkeit begründet erschienen: die S.I. sprach, und wurde von der Geschichte bestätigt. Die S.I. mußte alles für diejenigen sein, die in ihr tatenlos waren; und die selbst anderswo nicht viel erreichten. So stützten einander sehr verschiedene und sogar gegensätzliche Formen des Nichtvorhandenseins in der beschaulichen Einheit, die auf der Exzellenz der S.I. basierte; und die auch die Exzellenz dessen garantieren sollte, was an ihrer übrigen Existenz am deutlichsten mittelmäßig war.18 Die Trübsinnigsten sprachen von Spiel, die Resigniertesten sprachen von Leidenschaft. Dies wenn auch kontemplative, Zugehörigkeit zur S.I. sollte als Beweis genügen, denn anders wäre niemand auf die Idee gekommen, ihnen Glauben zu schenken. Obgleich viele Beobachter, Polizisten oder anderes die die unmittelbare Präsenz der S.I. bei Hunderten von Störaktionen meldeten, die sich überall in der Welt sehr gut ganz allein entwickeln, den Eindruck erwecken konnten, als hätten die Mitglieder der S.I. zwanzig Stunden am Tag gearbeitet, um den Planeten zu revolutionieren, müssen wir die Falschheit dieses Bildes unterstreichen. Die Geschichte wird im Gegenteil die bedeutsame Ökonomie der Kräfte verzeichnen, durch die es die S.I. verstanden hat, zu tun, was sie tut. Wenn wir also sagen, daß manche Situationisten wirklich zu wenig taten, so ist darunter zu verstehen, daß diese Leute buchstäblich fast nichts taten. Fügen wir noch eine Tatsache hinzu, die gut die dialektische Existenz der S.I. bestätigt: in ihr gab es keinerlei Gegensatz zwischen Theoretikern und Praktikern, der Revolution oder irgendetwas anderem. Die besten Theoretiker unter uns waren stets die besten in der Praxis, und die, die als Theoretiker die traurigste Figur abgaben, standen auch am hilflosesten vor jeder praktischen Frage.
Die Kontemplativen in der S.I. waren die vollendeten Prosituationisten, denn sie sahen ihre eingebildete Aktivität von der S.I. und von der Geschichte bestätigt. Die Analyse, die wir von dem Prosituationisten, und von seiner sozialen Stellung gemacht haben, trifft voll auf sie zu, und aus denselben Gründen: Träger der Ideologie der S.I. sind alle die, die es nicht verstanden haben, selbst die Theorie und die Praxis der S.I. zu leiten. Die 1967 ausgeschlossenen „Garnautins" stellten den ersten Fall des prosituationistischen Phänomens in der S.I. selbst dar; aber dieses Phänomen hat sich in der Folge noch verbreitet. Die neidvolle Unruhe des vulgären Prosituationisten ersetzten unsere Kontemplativen anscheinend durch den ungestörten Genuß. Doch die Erfahrung ihres eigenen Njchtvorhandenseins, die in Widerspruch zu den Forderungen nach geschichtlicher Aktivität tritt, die in der S.I. vorhanden sind - nicht allein in ihrer Vergangenheit, sondern auch vervielfacht durch die Ausweitung der gegenwärtigen Kämpfe führte zu ihrer ängstlichen Verstellung; bewirkte, daß sie noch übler dran waren als die Prosituationisten draußen. Die Rangordnung, die in der S.I. existierte, war von einem neuen Typ, war verkehrt: die, die sich ihr fügten, verschleierten sie. Sie hofften, in Angst und Sorge vor ihrem drohenden Ende, sie solange wie möglich dauern zu lassen, in fälschlicher Leichtfertigkeit und scheinbarer Unschuld, denn mehrere glaubten auch zu spüren, daß die Zeit für einige geschichtliche Belohnungen kommt; und sie haben sie nicht gehabt.
Wir waren da, um das Spektakel zu bekämpfen, nicht um es zu regieren. Die Verschlagensten unter den Kontemplativen glaubten, daß die Verbundenheit aller mit der Soiree verlangte, daß ihre Zahl oder, in ein oder zwei Fällen, ihr Ansehen geschont würde. Da, wie überall anders, haben sie sich getäuscht. Dieser „Parteipatriotismus" hat in der wirklichen revolutionären Aktion der S.I. keine Grundlage. -„Die Situationisten sind keine besondere Partei. (...) Sie haben keine von den Interessen des ganzen Proletariats getrennten Interessen." ("Avviso al proletariato italiano sulle possibilita presenti della rivolutione Soziale", 19. November 1969) -‚und nie ist die S.I. etwas gewesen, das der Schonung bedarf19; um so weniger in der gegenwärtigen Epoche. Die Situationisten haben sich in einem sehr rauhen Jahrhundert frei eine sehr harte Spielregel gegeben; und sie haben sich ihr normalerweise gefügt. Es galt daher die unnützen Schwätzer hinauszuwerfen, die nur zu sprechen wußten, um über das zu lügen, was sie waren, und um gloriose Versprechen über das zu wiederholen, was sie niemals sein konnten.
Wenn es der S.I. passiert ist, daß sie als revolutionäre Organisation an sich angeschaut wurde, die die geisterhafte Existenz der reinen Idee der Organisation besitzt, und die für viele ihrer Mitglieder eine äußere Einheit bildete, gesondert von dem, was die S.I. tatsächlich erreicht hat, und zugleich gesondert von dem, was sie persönlich nicht erreicht haben, aber von hoch oben diese widersprüchlichen Wirklichkeiten überdeckte, dann offensichtlich deswegen, weil solche Schauleute weder begriffen haben noch wissen wollten, was eine revolutionäre Organisation sein kann, und nicht einmal, was die ihrige hätte sein können. Dieses Unverständnis wurde seinerseits durch die Unfähigkeit erzeugt, in der Geschichte zu denken und zu handeln, und durch den individuellen Defätismus, der eine solche Unfähigkeit beschämt anerkennt und sie nicht überwinden, sondern verschleiern möchten Diejenigen, die anstatt ihre wirklichen Persönlichkeiten in der Kritik und der Entscheidung über das, was die Organisation in jedem Moment tut und tun könnte, zu behaupten und zu entwickeln, faul die systematische Zustimmung wählten, haben nichts anderes gewollt, als diese Äußerlichkeit durch ihre eingebildete Identifizierung mit dem Ergebnis zu verbergen.
Die Unwissenheit über die Organisation ist die zentrale Unwissenheit über die Praxis; und wenn sie gewollte Unwissenheit ist, drückt sie lediglich die ängstliche Absicht aus, sich aus dem geschichtlichen Kampf herauszuhalten und dabei trotzdem mit Vorliebe an den Sonn- und Urlaubstagen als unterrichtete und anspruchsvolle Zuschauer abseits spazieren zu gehen. Der Irrtum über die Organisation ist der zentrale praktische Irrtum. Wenn er beabsichtigt ist, zielt er darauf ab, die Massen zu benutzen Wenn nicht, ist er zumindest vollständiger Irrtum über die Bedingungen der geschichtlichen Praxis. Er ist folglich grundlegender Irrtum in der Theorie selbst der Revolution.
Die Theorie der Revolution ist sicher nicht die alleinige Domäne wissenschaftlicher Kenntnisse im eigentlichen Sinn, und noch weniger hat sie es mit der Herstellung eines spekulativen Werks oder der Ästhetik der Brandrede zu tun, die sich in dem Schein ihrer Lyrik selbst beschaut und findet, daß es bereits wärmer ist. Diese Theorie hat effektive Existenz nur durch ihren praktischen Sieg: hier „müssen die großen Gedanken große Wirkungen haben; sie müssen wie das Licht der Sonne sein, das erzeugt, was es bescheint". Die revolutionäre Theorie ist die Domäne der Gefahr die Domäne der Ungewißheit; sie ist denen verwehrt, die die beruhigenden Gewißheiten der Ideologie wollen, einschließlich der offiziellen Gewißheit, standhafte Feinde jeder Ideologie zu sein.
Die revolutionäre Organisation der proletarischen Epoche wird von den verschiedenen Momenten des Kampfs definiert, in dem sie, jedesmal, erfolgreich sein muß; und sie muß auch, in jedem dieser Momente, darin erfolgreich sein, daß sie keine getrennte Macht wird. Man kann von ihr nicht sprechen, wenn man von den Kräften abstrahiert, die sie hier und jetzt einsetzt, oder von der umgekehrten Aktion ihrer Feinde. Jedesmal, wenn sie zu handeln versteht, vereint sie die Praxis und die Theorie, die ständig auseinander hervorgehen, aber nie glaubt sie, das durch einfache voluntaristische Proklamation der Notwendigkeit ihrer totalen Fusion bewerkstelligen zu können. Wenn die Revolution noch sehr weit entfernt ist, ist die schwierige Aufgabe der revolutionären Organisation vor allem die Praxis der Theorie. Wenn die Revolution beginnt, ist ihre schwierige Aufgabe, mehr und mehr, die Theorie der Praxis; dann aber hat die revolutionäre Organisation ein ganz anderes Gesicht.
Dort, wo sie sich als die Form selbst der sich revolutionierenden Gesellschaft organisieren, sind die proletarischen Versammlungen egalitär, nicht weil sich in ihnen alle Individuen mit dem gleichen Grad geschichtlicher Intelligenz befänden, sondern weil sie gemeinsam wirklich alles zu tun haben, und weil sie gemeinsam alle Mittel dazu besitzen. Die totale Strategie eines jeden Moments ist ihre unmittelbare Erfahrung: dabei haben sie alle ihre Kräfte einzusetzen und sofort auch alle Risiken auf sich zu nehmen. In den Erfolgen und Mißerfolgen des konkreten gemeinschaftlichen Unternehmens, indem sie gezwungen waren, ihr ganzes Leben aufs Spiel zu setzen, zeigt sich die geschichtliche Intelligenz ihnen allen.
Die S.I. hat sich nie als ein Modell der revolutionären Organisation präsentiert, sondern als eine bestimmte Organisation, die sich in einer genau umrissenen Epoche mit genau umrissenen Aufgaben beschäftigt hat; aber selbst insoweit hat sie nicht alles zu sagen gewußt, was sie warm und wußte sie nicht alles zu Seine was sie sagte. Die organisatorischen Irrtümer der S.I. in ihren eigenen konkreten Aufgaben hatten ihre Ursache in den objektiven Unzulänglichkeiten der vorangegangenen Epoche, und auch in den Subjektiven Unzulänglichkeiten bei unserem Begreifen der Aufgaben einer derartigen Epoche, der Grenzen, auf die wir stießen, und der Kompensationen, die sich viele Individuen auf halbem Weg zu dem geschaffen haben, was sie tun möchten und was sie tun können. Die S.I., die die Geschichte besser als irgendwer sonst in einer anti-geschichtlichen Epoche begriffen hat, hat dennoch die Geschichte zu wenig begriffen.
Die S.I. war immer anti-hierarchisch gewesen, hat es jedoch fast nie verstanden, egalitär zu sein. Sie hat insofern recht gehabt, als sie ein anti-hierarchisches Organisationsprogramm vertrat und beständig selbst formell egalitäre Regeln befolgte, durch die allen Mitgliedern ein gleiches Entscheidungsrecht zuerkannt wurde und durch die sogar ein heftiger Druck auf sie ausgeübt wurde, von diesem Recht in der Praxis Gebrauch zu machen; aber sie hat insofern sehr unrecht gehabt, als sie die in diesem Bereich angetroffenen, teilweise unvermeidlichen und teilweise auf die Umstände zurückzuführenden Hindernisse nicht besser gesehen und nicht besser zum Ausdruck gebracht hat.
Die Gefahr der Hierarchie, die in jeder wirklicher Avantgarde zwangsläufig präsent ist, läßt sich geschichtlich am ehesten an den Beziehungen einer Organisation nach außen ermessen, zu den Individuen oder den Massen, die diese Organisation dirigieren oder manipulieren kann. In diesem Punkt gelang es der S.I. in keiner Weise eine Macht zu werden: indem sie Hunderte ihrer erklärten oder möglichen Anhänger draußen ließ, sie oft genug zur Autonomie zwang. Wie bekannt ist, wollte die S.I. stets nur eine sehr kleine Anzahl von Individuen zulassen. Die Geschichte hat gezeigt, daß das nicht genug war, um bei allen ihren Mitgliedern im Stadium einer so weitgehenden Aktion „die Beteiligung an ihrer totalen Demokratie (...)‚ die Erkenntnis und die Selbstaneignung des Zusammenhangs ihrer Kritik (...) in der kritischen Theorie im eigentlichen Sinn und in der Verbindung dieser Theorie mit der praktischen Aktivität" („ Minimumdefinition revolutionärer Organisationen", angenommen von der 7. Konferenz der S.I., Juli 1966) zu garantieren. Diese Beschränkung sollte jedoch vielmehr dazu dienen, die S.I. gegen die verschiedenen Möglichkeiten der Kommandogewalt zu garantieren, die eine revolutionäre Organisation, wenn sie Erfolg hat, außerhalb ausüben kann. Die S.I. mußte sich also weniger deswegen auf eine sehr kleine Zahl von Individuen, deren Gleichheit vermutet wurde, beschränken, weil sie anti-hierarchisch ist; vielmehr war die S.I. gerade deswegen, weil sie nicht mehr als diese sehr kleine Anzahl unmittelbar in ihrer Aktion zum Einsatz bringen wollte, im wesentlichen ihrer Strategie tatsächlich anti-hierarchisch.
Was die Ungleichheit betrifft, die sich so häufig in der S.I. manifestiert hat, und mehr als je zuvor, als sie ihre jüngste Säuberung nach sich zog. So gerät sie einerseits zur Anekdote, da es sich traf, daß eben die Situationisten, die faktisch eine hierarchische Position akzeptierten, die schwächsten waren: dadurch, daß wir in der Praxis ihr Nichts aufdeckten, haben wir noch einmal den triumphalistischen Mythos der S.I. bekämpft und ihre Wahrheit bestätigt. Andererseits muß daraus eine Lektion gezogen werden, die allgemein für die Perioden avantgardistischer Aktivitäten gilt - die wir gerade erst verlassen -, Perioden, wo die Revolutionäre sich, selbst wenn sie es ignorieren wollen, gezwungen sehen, mit dem Feuer der Hierarchie zu spielen, und nicht alle wie die S.I. die Kraft haben, sich dabei nicht zu verbrennen: die geschichtliche Theorie ist nicht der Boden der Gleichheit, die Perioden der Gleichheit sind leere Blätter in ihr.
Künftig sind die Situationisten überall, und ihre Aufgabe ist überall. Alle diejenigen, die es zu sein denken, brauchen lediglich den Beweis für „die Wahrheit, i. e. Wirklichkeit und Macht, Diesseitigkeit" ihres Denkens anzutreten, vor der Gesamtheit der proletarischen revolutionären Bewegung, überall dort, wo sie ihre Internationale zu schaffen beginnt; und nicht mehr allein vor der S.I.. Was uns betrifft, so brauchen wir in keiner Weise mehr zu garantieren, daß solche Individuen Situationisten sind oder daß sie keine sind; denn das haben wir nicht mehr Ob ‚ und das war niemals nach unserem Geschmack. Doch die Geschichte ist ein noch strengerer Richter als die S.I. Dagegen können wir garantieren, daß diejenigen keine Situationisten mehr sind, die gezwungen waren, die S.I. zu verlassen, ohne in ihr das gefunden zu haben, was sie in ihr zu finden lang und breit versichert haben - die revolutionäre Verwirklichung ihrer selbst -, und die in ihr folglich ganz normal lediglich den Knüppel gefunden haben, um von ihm geschlagen zu werden. Der Begriff selbst des „Situationisten" wurde von uns lediglich deshalb verwandt, um bei der Wiederaufnahme des sozialen Kriegs eine gewisse Anzahl von Perspektiven und Thesen durchzubringen. Jetzt, wo das geschehen ist, mag dieses situationistische Etikett in einer Zeit, die noch Etiketten braucht, gut für die Revolution einer Epoche bleiben, aber auf ganz andere Weise. Wie im übrigen eine gewisse Anzahl von Situationisten Veranlassung finden mag, sich unmittelbar untereinander zu assoziieren - und zwar zunächst für die aktuelle Aufgabe des Übergangs aus der ersten Periode der von den Massen aufgenommenen revolutionären Parolen zu dem geschichtlichen Begreifen der Gesamtheit der Theorie, und zu ihrer notwendigen Entwicklung -, das werden die Modalitäten des praktischen Kampfes bestimmen, und kein organisatorischer Apriorismus.
Die ersten Revolutionäre, die zu der jüngsten Krise in der S.I. intelligent geschrieben und sich dem Begreifen ihrer geschichtlichen Bedeutung am besten angenähert haben, haben bisher eine grundlegende Dimension des praktischen Aspekts der Frage vernachlässigt: die S.I. besitzt tatsächlich, aufgrund dessen, was sie getan hat, eine gewisse praktische Stärke, die sie immer nur für ihre Selbstverteidigung benutzt hat, die jedoch, falls andere sie für sich ausnutzen, unser Projekt verderben könnte. Die Anwendung der Kritik, die die S.I. so treffend auf die alte Welt angewandt hat, auf sie selbst ist ebensowenig allein eine Sache der Theorie auf einem Boden, wo unsere Theorie zudem keine Gegner fand: sie ist eine präzise kritisch-praktische Aktivität, die wir unternommen haben, indem wir die S.I. zerschlagen haben. Eine sehr kleine Anzahl von Erfolgsjägern konnte sich beispielsweise, indem sie sich die routinemäßige Unterstützung einiger redlicher Genossen sicherte, die sich allerdings von ihrer Schwäche selbst geleitet wenig scharfsichtig und wenig anspruchsvoll zeigten, daran versuchen, eine Zeitlang die Kontrolle über die S. 1. zu behalten, zumindest als Gegenstand eines Prestige, mit dem sich handeln läßt. Diejenigen, die überall anderswo so wehrlos und unbedarft waren, fanden da ihre einzige Waffe und ihre einzige Bedeutung. Nur das Bewußtsein des Übermaßes ihrer Unfähigkeit hielt sie davon ab, sich ihrer zu bedienen; doch sie konnten sich dazu letzten Endes gezwungen fühlen.
Die Orientierungsdebatte des Jahres 1970, ebenso wie die praktischen Fragen, die gleichzeitig zu lösen waren, hatten gezeigt, daß die Kritik der S.I., die bei allen eine sofortige prinzipielle Zustimmung fand, nur dadurch wirkliche Kritik werden konnte, daß sie bis zum praktischen Bruch ging, denn der absolute Widerspruch zwischen dem wiederholt bekräftigten Einverständnis und der Paralyse vieler in der Praxis -einschließlich der minimalsten Praxis der Theorie - war das Zentrum selbst dieser Kritik. Nie war in der S.I. ein Bruch so sehr vorauszusehen. Und deshalb war dieser Bruch dringend geworden. Im Verlauf der Entwicklung dieser Debatte sahen sich diejenigen, die die damals vorhandene Mehrheit der Mitglieder der S.I. bildeten eine Mehrheit, die im übrigen formlos, uneinig, untätig und ohne nennenswerte Perspektive war, von einer extremen Minderheit sehr schlecht behandelt. Auf diese Leute konnte man keine große Rücksicht mehr nehmen, ohne Lügen zu müssen. Und bekanntlich muß man „die Menschen sehr rücksichtsvoll behandeln oder beseitigen, denn sie rächen sich für leichte Beleidigungen und für schwere können sie es nicht mehr."
Es genügte danach zu erklären, daß eine Spaltung notwendig geworden war. Jeder hatte sich für seine Partei zu entscheiden; und jeder hatte übrigens seine Chance, denn das zu lösende Problem lag unendlich tiefer als die ins Auge springende Unzulänglichkeit des einen oder anderen Genossen. Die Tatsache, daß diese erzwungene Spaltung auf der anderen Seite keinen einzigen Spalter erzeugt hat, der sich halten konnte, ändert nichts an ihrem Charakter einer wirklichen Spaltung; sondern bestätigt ihren Inhalt selbst. In der S.I. nahm in dem Maße, wie die Zahl schrumpfte, die Handlungsfähigkeit derjenigen ab, die gerne etwas vom Status quo beibehalten hätten. Die Tatsache selbst, daß das Programm dieser Spaltung darin bestand, nicht mehr die Bequemlichkeit der Situationisten zuzulassen, die nichts von dem durchführten, was sie vorbrachten oder gegenzeichneten, machte es den anderen immer unmöglicher, in derselben Art des Bluffs weiterzumachen, ohne daß sogleich daraus die Schlüsse gezogen wurden. Diejenigen, die nicht die Mittel haben, um für das zu kämpfen, was sie wollen, oder gegen das, was sie nicht wollen, können nur kurze Zeit zahlreich sein.
Im Gegensatz zu den vorangegangenen Säuberungen, die, unter weniger günstigen geschichtlichen Umständen, bezwecken sollten, die S.I. zu stärken, und die sie jedesmal stärker gemacht haben, bezweckte diese, sie zu schwächen. Es gibt keinen Erlöser: noch einmal war es an uns, das zu zeigen. Die Methode und die Ziele dieser Säuberung wurden natürlich von den revolutionären Elementen außerhalb gebilligt, und zwar ohne jede Ausnahme.
Die wirkliche Spaltung in der S.I. war eben die, die sich jetzt in der weiten und formlosen Bewegung der heutigen Rebellion vollziehen muß: die Spaltung zwischen einerseits der ganzen revolutionären Wirklichkeit der Epoche und andererseits allen Illusionen über sie.
Weit davon entfernt, auf andere die ganze Verantwortung für die Fehler der S.I. zu schieben, oder sie mit Hilfe der psychologischen Besonderheiten einiger unglücklicher Situationisten erklären zu wollen, akzeptieren wir diese Fehler als einen Teil des geschichtlichen Unternehmens, das die S.I. geführt hat. Wer die S.I. schafft, wer Situationisten schafft, hat auch ihre Fehler erzeugen müssen. Wer der Epoche zu entdecken hilft, was sie vermag, ist nicht vor den Mängeln der Gegenwart sicherer und an dem unschuldig, was an Verhängnisvollem noch kommen kann. Die ganze Wirklichkeit der S.I. erkennen wir an, und insgesamt freuen wir uns, daß sie das ist.
Man möge aufhören, uns zu bewundern, als könnten wir über unserer Zeit stehen und möge die Epoche vor sich selbst erschrecken, indem sie sich für das bewundert, was sie ist.
Wer das Leben der S.I. betrachtet, findet darin die Geschichte der Revolution.
Guy Debord,
Gianfranco Sanguinetti
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Anhang 1. Aufzeichnungen, die der Geschichte der S. 1. von 1969 bis 1972 dienen
Ungefähr einen Monat vor dem Erscheinen der Nummer 12 der französischen Revue, am 28Juli 1968, kündigte Debord in einem an alle Sektionen der S.I. gerichteten Brief an, daß er nach dieser Nummer aufhören würde, die „sowohl gesetzliche als auch redaktionelle Verantwortung" der Leitung dieser Revue zu übernehmen. Er erwähnte das „alte revolutionäre Prinzip wechselnder Aufgabenverteilung", dem er um so größeres Gewicht beimaß, „als mehrere Texte der S.I. stark den Akzent auf den Zusammenhang und die ausreichenden Fähigkeiten aller ihrer Mitglieder gelegt haben". Eine solchermaßen zur Schau getragene Zufriedenheit schien allerdings im Widerspruch zu der Tatsache zu stehen, daß in dem Maße, wie die Zahl der Mitglieder der französischen Sektion zunahm, diese es sich seltsamerweise zur Gewohnheit gemacht hatten, Debord die Herstellung eines immer größeren Teils der letzten Nummern zu überlassen. Ein Redaktionsausschuß wurde kurz darauf ohne Schwierigkeiten gewählt, um die nächste Nummer ein wenig kollektiver zu produzieren; wobei alle darin übereinstimmten, daß diese Nummer darüber hinaus eine Erneuerung von Form und Inhalt dieser Revue bringen sollte, um sie den komplexeren und fortgeschritteneren Bedingungen unserer Aktivität anzupassen. So blieb das erste Symptom einer Krise, der sich die S.I. mit Riesenschritten näherte, fast unbemerkt, in einem Klima voll von Euphorie, die bei einigen Genossen echt war, bei anderen vorgetäuscht. Die Konferenz von Venedig bildete ein zweites Symptom, das deutlicher und schwerwiegender war. Die VIII. Konferenz der S.I. wurde vom 25. September bis zum 1. Oktober 1969 in einem sehr gut ausgewählten Gebäude in einem Arbeiterviertel der Giudecca abgehalten. Sie war ständig von einer großen Zahl italienischer und von anderen Polizeien abgestellter Spitzel umringt und überwacht. Einem Teil dieser Konferenz gelang es, gute Analysen der revolutionären Politik in Europa und Amerika zu formulieren, und vor allem die Entwicklung der sozialen Krise Italiens in den folgenden Monaten vorauszusehen, sowie unsere Interventionsmöglichkeiten. Wenn eine solche Debatte auch sicherlich die extremistische und am besten informierte politische Gruppe am Werk zeigte, die es damals auf der Welt gab, so wurde aber auch sichtbar, daß die besten Aspekte dessen, was die S.I. ebenfalls bedeutete, als grundlegende Theorie, Kritik und Kreation in der Gesamtheit des Lebens, oder einfach nur als Fähigkeit zum wirklichen Dialog zwischen autonomen Individuen - als „Vereinigung, wo die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist" - dort völlig fehlten. Der „prosituationistische" Geist erschien in Venedig auf grandiose Weise. Während einige Genossen systematisch Vaneigems vorsichtiges Schweigen imitierten, verbrauchte die Hälfte der Teilnehmer dreiviertel der Zeit, um mit größter Entschlossenheit die gleichen vagen Gemeinplätze zu wiederholen, die jeder vorangegangene Redner bestätigt hatte; und alles wurde nach und nach ins Englische, ins Deutsche, ins Italienische und ins Französische übertragen. Jeder dieser redefreudigen Genossen verfolgte selbstverständlich allein das Ziel, hervorzuheben, daß er genauso Situationist war wie jeder andere; um gewissermaßen seine Anwesenheit bei dieser Konferenz zu rechtfertigen, so als wäre er rein zufällig dort und auch als würde eine nachträgliche geschichtliche Rechtfertigung nicht mit der alleinigen Verfolgung einer formellen Anerkennung aufgegeben, die als bereits gesichert betrachtet werden sollte. Kurz, die Situationisten waren achtzehn an der Zahl, aber sie hatten den Geist von vieren. Nach Venedig gelang es dem französischen Redaktionsausschuß, der sich aus Beaulieu, Riesel, Sebastiani und Vienet zusammensetzte, in mehr als einem Jahr nicht, auch nur zehn Zeilen zu produzieren, die brauchbar waren. Nicht, daß andere jemals verworfen hätten, was sie geschrieben hatten, sie vermochten einfach nur nichts zu schreiben, was sie selbst befriedigen konnte; was sie, in diesem Fall, wie man anerkennen muß, richtig erkannt haben. Mustapha Khayati, der zu den intelligentesten und wirksamsten Genossen während der vergangenen Jahre der S.I. gezählt hatte, hatte auf der Konferenz von Venedig seinen Rücktritt eingereicht, die ihn annahm, aber nicht ohne seine Perspektiven für später zutiefst zu mißbilligen. Er hatte sich zwei Monate zuvor unvorsichtigerweise auf eine Teilnahme an den Aktivitäten der Palästinensischen Demokratischen Befreiungsfront eingelassen, in deren Mitte er eine revolutionäre proletarische Fraktion auszumachen glaubte - und bekanntlich kann die S.I. keine doppelte Zugehörigkeit zulassen, weil dann die Manipulation nicht weit wäre. In der Folge zeigte Khayati in Jordanien, daß er als Revolutionär weniger sicher war, wenn er isoliert war - in einer Lage allerdings, die fast aussichtslos war, in die er sich aber selbst hinein-manövriert hatte -‚ als wenn er sich in guter Begleitung befand. Die proletarische Fraktion der F.P. D. L. P., wie auch den geringsten Ausdruck selbst ihrer autonomen Perspektiven, hatte es lediglich in der wohlmeinenden Vorstellung Khayatis gegeben, der sich im gewöhnlichen Führungsgremium dieses unterentwickelten linksradikalen Elends wiederfand. Alle palästinensischen Organisationen waren bewaffnet und erfreuten sich in Jordanien der Situation einer Doppelherrschaft, die jedoch genau nur auf lokaler Ebene zum Ausdruck kam. Die ganze Lächerlichkeit der arabischen Staaten, die gespalten und ohnmächtig waren und mit ihrer Einheit prahlten, fand sich konzentriert in den keimenden staatlichen Pseudo-Apparaten, die sich das jordanische Territorium teilten, das der Kontrolle des Husseinschen Staates allmählich entglitten war. Eine Doppelherrschaft kann nicht von Dauer sein, und trotzdem wollte keine palästinensische Organisation Hussein stürzen, und so verzichteten sie alle auf ihre einzige schwache Chance zu Siegen, weil sie nicht einmal sehen wollten, daß die letzte Stunde gekommen war, um alles aufs Spiel zu setzen: denn jede von ihnen befürchtete, der Einsatz würde einer rivalisierenden Organisation zugute kommen und dem sie beschützenden arabischen Staat. Man mußte schon in einer wahren ideologischen Hysterie befangen sein, um nicht festzustellen, daß wenige Staatschefs ständig soviel Entschlossenheit bewiesen haben wie Hussein, um sich koste es was es wolle und unter den schwierigsten Bedingungen an der Macht zu halten; und daß er über die solideste und zuverlässigste Armee aller arabischen Länder verfügt (was gewiß nicht viel heißt, aber genügte, um die unglückseligen Palästinenser abzuschlachten, die militärisch solchen Strategen gehorcht hatten). Das alles konnte Khayati nicht übersehen; aber er hat dazu buchstäblich nichts zu sagen gewußt, in keiner einzigen Form. Da die revolutionären Elemente der Palästinenser den Beitritt Khayatis verdient hatten, hatten sie es auch verdient, daß er ihnen gegenüber für eine minimale Perspektive eintrat, und daß er sie warnte. Er hat sich damit begnügt, stark enttäuscht nach Europa zurückzukehren, vor der unvermeidlichen Repression. Zwar hat er seitdem, am 1. August 1970, zusammen mit Lafif Lakhdar vierundzwanzig, übrigens sehr unzureichende Thesen veröffentlichen lassen, unter dem Titel „En attendant le massacre". Doch sind diese in der trotzkistischen Zeitschrift „An Nidhal" erschienen Thesen tatsächlich erst nach dem Massaker verfaßt worden, das vor dem Sommer begonnen hatte und im Herbst nur noch vollendet zu werden brauchte. So verschwand Khayati endgültig aus der S.I. - und seit er sie verlassen hat, ist er gewiß nicht der revolutionären Praxis nähergekommen; und hat uns keinen Anlaß gegeben, uns für das Können zu beglückwünschen, das die Genossen in ihr entfalten, die von der S.I. ausgebildet wurden. Die italienische Sektion der S.I. war unter fast ebenso gefährlichen praktischen Umständen sehr viel erfolgreicher; vor allem, indem es ihr gelang, sich den Ermittlungen der Polizei nach der Explosion der Bomben zu entziehen, die die Behörden für innere Sicherheit des italienischen Staates im Dezember 1969 benutzt hatten, um die Bewegung der wilden Streiks, die in diesem Moment eine Drohung unmittelbarer Subversion bildete, zu brechen oder hinauszuzögern. Auch veröffentlichte und verteilte sie sogleich im Untergrund das Flugblatt „Il Reichstag brucia?", das bereits mehrere Monate, bevor die italienischen Linksradikalen die ersten schüchternen Zweifel anmeldeten, dieses Manöver in der Hauptsache aufdeckte. Die Konferenz von Venedig hatte die Unruhen des folgenden Trimesters sehr klar kommen sehen und sogar im voraus zur Unterstützung der italienischen Sektion die Entsendung einiger - in Verwendung eines Ausdrucks des „Treuen Dieners" des Ritters ohne Furcht und Tadel aus der Zeit anderer Kriege Italiens – „französischer Abenteurer, alles Vorposten und Leute der Elite" - beschlossen. Diesmal jedoch gelang es dem Staat, kühn die Initiative wieder an sich zu reißen (der somit ein Beispiel für das gab, was sich leicht auch woanders wiederholen kann); und jetzt mußten die italienischen Genossen für einige Zeit nach Frankreich ins Exil gehen. Die Gesamtheit der oben angeführten Begebenheiten veranlaßte uns, Anfang des Jahres 1970 mit dieser Orientierungsdebatte zu beginnen, die entscheiden sollte, was die S.I. künftig zu tun hatte, und vor allem prüfen sollte, wie sie vorgegangen war, und warum einige dahin gekommen waren, überhaupt nichts zu tun. Diese Debatte, die fast ein Jahr lang dauerte, zeigte deutlich die Leere und die Abstraktion der Konzeption vieler kontemplativer Situationisten, und selbst die naiven Tricks einiger von ihnen. Einige sagten selbstsicher, daß man gerade das tun müsse, was sie selbst nicht zu tun vermochten; andere wiederholten unerschütterlich einige Pro jekte, mit deren Durchführung sie absolut nicht anfangen wollten. (Im Internationalen Institut für Sozialgeschichte in Amsterdam kann man die Masse uninteressanter Dokumente und den ungenießbaren Briefwechsel studieren, die in dieser Zeit diejenigen produziert hatten, die nichts anderes zu tun wußten.) Einige Unzulänglichkeiten und Irrtümer in dieser Debatte oder im praktischen Verhalten führten, noch vor dem allgemeinen Bruch, den wir im November 1970 einleiteten, dazu, daß sich eine gewisse Zahl von Mitgliedern der S.I. verschanzte. Nacheinander und aufgrund fünf verschiedener Affären wurden Chevalier, Chasse und Elwell, Pavan, Roth und Salvadori wegen schweren Verstoßes gegen die organisatorischen Regeln der S.I. ausgeschlossen. Beaulieu und Cheval mußten demissionieren, aber aus ganz entgegengesetzten Motiven: Beaulieu, weil man ihm seine Dümmlichkeit und seine Würdelosigkeit vorwarf; Cheval, weil er nach einer Trinkerei, die er schlechter verkraftet hatte als die anderen, versucht hatte, Sebastiani, den er nicht erkannt hatte, aus dem Fenster zu stürzen, der sich schließlich gezwungen sah, sich zu verteidigen (es liegt nahe, daß die S.I. gerade deshalb, weil sie eine gewisse Gewalttätigkeit einsetzt, nicht akzeptieren kann, daß sie zwischen denen vorkommt, die ihr angehören). Wir müssen abschließend noch hervorheben, daß Patrick Cheval, Eduardo Rothe und Paolo Salvadori trotz der bedauerlichen Vorfälle, die uns zwangen, uns von ihnen zu trennen, schätzenswerte Genossen sind, die ohne Zweifel einen bemerkenswerten Beitrag zu späteren Momenten des revolutionären Prozesses dieser Zeit leisten können. Die anderen nicht. Diese Vorfälle konnten, gerade weil sie nicht nur die Schlechtesten, und nicht einmal sämtliche Schlechtesten ausgelesen hatten, weder die Qualität unserer Denker noch den Schwung unserer Redakteure steigern. Obwohl sich alle immer wie ein Mann an die Verurteilung der Ausgeschlossenen gemacht hatten, tolerierten sich viele Situationisten weiterhin untereinander, obwohl die Bedingungen selbst, unter denen sie lebten, einen solchen Langmut verdächtig erscheinen ließen. Trotz der anerkannten Dringlichkeit machte die Kritik der Prosituationisten keineswegs schnellere Fortschritte als die Kritik der neuen Epoche oder die wirkliche Selbstkritik der S.I.. Denjenigen von uns, die die meisten Elemente für diese Aufgaben lieferten, wurde im Prinzip zugestimmt, aber ohne daß davon effektiv irgendetwas aufgenommen und verwandt wurde. Dabei konnte man sogar in den „Informations Correspondance Ouvrieres", ein im allgemeinen einfältigeres und verlogeneres Blatt, folgende bedeutungsvolle Zeilen lesen: „Seit zwei Jahren ist es allen Vaneigemisten bestens gelungen, den Kampf für das menschliche Abenteuer ins Stocken zu bringen, den die S.I. fünfzehn Jahre lange geführt hatte, in einer gegebenen Sphäre, und ohne dabei ganz allein zu sein. Der Kampf für das tägliche Lehen und der vorn täglichen Lehen ausging, war in einer `erbärmlichen Ästhetisierung´ `gewisser´ Beziehungen, `gewisser´ Verwandtschaften, `gewisser´ Wünsche erstarrt, und das alles stand unter einem gewissen Apolitismus, der Zweifel an ihrem Wunsch zu leben aufkommen läßt. Was ihre spielerischen und schöpferischen Möglichkeiten anbetrifft, so genügt es, in ihrer Nähe gewesen zu sein, um zu wissen, daß sie nicht über die der Lebemänner hinausgehen, die wir alle sind." (I.C.O., Beilage zur Nummer 97—98). Seit der Konferenz von Venedig, und während dieser ganzen Krise, bestand Einigkeit darüber, daß die S.I. keinen neuen Beitrittsgesuchen stattgeben würde, bevor sie nicht eindeutig Herr der Schwierigkeiten geworden war, die sie in sich selbst fand. Man hätte allerdings den Prozeß beschleunigen und eine gewisse Anzahl neuer Genossen in die S.I. aufnehmen können, die sich sofort daran gemacht hätten, die Unfähigen und die Altmodischen hinauszuwerfen. Dieses Verfahren hätte allerdings den schweren Nachteil gehabt, die S.I. zu stärken, während uns die allgemeinsten theoretischen Schlußfolgerungen, die sich bereits aus dieser Krise und der neuen Epoche abzeichneten, die Gewißheit verschufen, daß es richtiger war, die S.I. zu schwächen. Im übrigen hätte dieser Weg, zumindest im Anfangsstadium, zwangsweise eine gewisse Unterordnung dieser neuen Genossen unter unsere Perspektiven zur Folge gehabt, im Verlauf eines Kampfes, in dem sie unter den Situationisten mehrerer Länder triumphiert hätten; und wir wollen keine derartige, wenn auch nur momentane Unterordnung, jetzt, wo wir klar gesehen haben, was das heißt - und wir haben es eben deshalb so klar gesehen, weil uns die Epoche jetzt gestattet, ohne sie auszukommen. Diese Beitritte hätten uns folglich auf einen Holzweg geführt; und ihr Ergebnis wäre uns ungelegen gekommen. Andererseits kam es uns gelegen, daß die S.I. eine Zeitlang schwieg, besonders in Frankreich. Einmal um den konditionierten Reflex einer zuschauenden Menge zu unterbrechen - zu der gewiß mehr als die Hälfte Zehntausender unserer Leser zählten -‚ die nur auf die nächste Nummer der Revue wartete, an deren Konsum sie sich gewöhnt hatte, um ihre „Kenntnisse" auf den neuesten Stand zu bringen, und ihre erträumte Orthodoxie. Aber auch, weil die S.I. nie irgendetwas geschrieben hatte, was insgeheim dem widersprach, was sie insgesamt war. In dem Moment, wo die S.I. einen großen Teil ihres Elends kennen gelernt, aber noch nicht überwunden hatte, vermied ihr Schweigen die unverzeihliche Spaltung zwischen den Schriften, die versucht hätten, sich als teilweise oder vollständig richtig zu präsentieren, und dem wirklichen elenden Zustand, der unkritisiert geblieben wäre: die echten Schriften einiger von uns hätten die unechte Existenz schweigender Mitläufer gerechtfertigt. Eine solche verschleierte Spaltung hätte es unmöglich gemacht, gegen die chinesische Bürokratie oder den amerikanischen Linksradikalismus etwas zu sagen, was wirklich stimmte; alles wäre mit einem Lügenkoeffizienten belastet gewesen. Die S.I. hat ihre Wahrheit bewahrt, indem sie nichts gesagt hat, was indirekt eine Lüge oder eine Ungewißheit über sich selbst hätte verdecken können. Zweifellos hätten viele Situationisten - aus einem Erfolgsstreben oder bloßer persönlicher Eitelkeit heraus - gerne an der Ruhmesrolle einer S.I. festgehalten, die ihrem alten Stil einige schöne Seiten hinzugefügt hätte, selbst für den Preis einiger halben Kritiken über ihre nahe Vergangenheit und die zuletzt Ausgeschlossenen; und hätten so eine Verbesserung oder eine Aufhebung dargetan, die in ihnen selbst nicht begründet lag. Aber gerade die, die gerne diesen Stil der Veröffentlichungen beibehalten hätten, waren unfähig, sie zu verfassen. Die dagegen, die es konnten, ließen die Unfähigen lange genug vergebens herumwühlen, indem sie lediglich die organisatorischen Prinzipien der S.I. wörtlich nahmen (im allgemeinen gleiche Fähigkeiten ihrer Mitglieder), von denen eben dadurch deutlich sichtbar wurde, daß sie sich bei solchen Leuten und unter solchen Bedingungen nicht mehr bewähren konnten. Das war die „Neunerprobe", die zeigte, daß die Unzulänglichkeit in der Form gleich der Unzulänglichkeit im Inhalt war. Indem wir die S.I. auf diese Weise - lang genug - zum Schweigen brachten, haben wir - zunächst im Negativen ihre Krise zum Vorschein gebracht; und wir haben dadurch begonnen, dem Denken und der Aktion der wirklichen autonomen Kräfte zur Selbstbefreiung zu verhelfen. In einem späteren Stadium hielten wir es für noch besser, mit der Publikation einer Revue Schluß zu machen, die sich eines zu sehr zur Routine gewordenen Erfolgs erfreute. Andere situationistische Ausdrucksformen entsprechen besser der neuen Epoche. Sie werden noch wirksamer die Gewohnheiten der bequemen Zuschauer stören, die niemals die Antwort auf ihre gespannteste Erwartung kennen werden: für welchen metallenen Farbton der Revue Nr. 13 hatte man sich entschieden? Die in Frankreich „Internationale Situationniste" genannte Revue war 11 Jahre lang erschienen (und hat übrigens während dieser Zeit ihre zwei aufeinanderfolgende Drucker ruiniert). Sie hat diese Periode beherrscht, und sie hat ihr Ziel erreicht. Sie war außerordentlich wichtig, um in dieser Epoche unsere Thesen durchzubringen. Die zahlreichen prosituationistischen „Aficionados", die überhaupt nicht wissen, welchem Zweck diese Revue diente - und die selbst unfähig erscheinen, auf der Grundlage gleicher Autonomie, die sie uns zu Gefallen proklamiert hatten, etwas zu machen, was diesem Niveau entspricht - dachten zweifellos im Traum daran, daß wir ihnen bis zur Jahrhundertwende - und zu einem „interessanten Preis" von 3 Francs - die kleine Dosis für ihr intellektuelles „Fest" liefern würden. Irrtum! Falls sie Wert darauf legen, solche Revuen zu lesen, müssen sie sie von jetzt an selber schreiben. Die geschichtliche Ohnmacht der kontemplativen Situationisten, die sich im Licht der Erfahrung zeigte, entsprach im Herbst 1970 völlig ihrem Begriff. Sie mußten eingestehen, daß man in der revolutionären Theorie nicht die materiellen Grundlagen der bestehenden sozialen Beziehungen außer Acht lassen kann. Diese Kritik des wirklichen modernen Kapitalismus ist es, die die S.I. von dem gesamten Linksradikalismus trennt, und auch von den verlogenen lyrischen Seufzern verschiedener Vaneigemisten. Wir hatten die Kritik der politischen Ökonomie wiederaufzunehmen, indem wir die „Gesellschaft des Spektakels" genau begriffen und bekämpften. Und wir mußten damit ohne jeden Zweifel fortfahren, weil diese Gesellschaft seit 1967 die Bewegung ihres Verfalls beschleunigt fortgesetzt hat. Diejenigen Kontemplativen, die von sich selbst wußten, daß sie zu den Jämmerlichsten gehörten - Leute wie Beaulieu, Riesel und Vaneigem - und die sich dadurch trösteten, daß sie manchmal von oben herab, im Namen der S.I., einige Individuen behandelten, die nicht zu ihr gehörten, aber häufig mehr wert waren als sie selbst, konnten diese Arbeit weder ablehnen noch durchführen; und standen gelähmt vor den einfachsten Tätigkeiten. Und während dieser Zeit ging die Geschichte weiter, sie kam uns sogar entgegen. Hinzu kam, daß wir laufend Leute zu treffen hatten, Teste lesen, Briefe in zehn Länder schreiben, Übersetzungen machen mußten, etc. Der bloße Umgang mit all denjenigen, die nichts oder fast nichts davon zuwege brachten - oder es schlecht machten begann uns stark zu ermüden: ihre aufdringliche und langweilige Anwesenheit erhob fast den Anspruch, uns einen Teil von der Zeit dessen zu stehlen, was sie als unsere Vergnügungen und Ausschweifungen bezeichneten (Realitäten, die ebenfalls nicht dem Geist der S.I. zuwiderlaufen, obwohl auch das ihnen qualitativ einigermaßen unzugänglich blieb). Sie spürten mit Bitterkeit, daß sie zuwenig Beachtung im täglichen Lehen fanden, während sie doch dort eine noch trübere Erscheinung boten als beim politischen Gewäsch - Wenn „die Langeweile konterrevolutionär ist", wurde es die S.I. schnellen Schrittes, ohne daß es so viele Proteste gab, wie man hätte erwarten können. Am 11. November 1970 hatte sich in der S.I. eine Richtung gebildet, die in einer an diesem Tag verbreiteten „Erklärung" ihren Willen zum Ausdruck brachte, „vollständig mit der Ideologie der S.I. zu brechen", und zwar durch „eine radikale Kritik, d. h. eine Kritik ad hominem", und keine Antwort mehr zu akzeptieren, „die im Widerspruch zu der wirklichen Existenz desjenigen steht, der sie formuliert", und sobald wie möglich zu einer Spaltung zu gelangen, „deren Grenzen die bevorstehende Diskussion festlegen wird". Diese Richtung wollte im übrigen ein erster Schritt sein und sollte auch die Säuberung in ihren eigenen Reihen fortsetzen. Unsere „Erklärung" hatte sofortige praktische Wirksamkeit, weil sie mit der Ankündigung schloß, daß wir „unsere Positionen außerhalb der S.I. bekannt machen würden". Das Durcheinander der Kontemplativen begann auf der Stelle. Horelick und Verlaan, die letzten Reste der amerikanischen Sektion, wollten keine Spaltung. Doch eine Spaltung läßt sich nur vermeiden, wenn beide Teile die gleiche Absicht haben. Außer den Fehlern, die wir in ihrer Praxis und ihren Ansprüchen bezüglich unserer organisatorischen Praxis feststellen konnten, gaben wir ihnen zu verstehen, daß ihre Beteiligung an unseren Aktivitäten stets zu gering gewesen war, als daß wir uns weiterhin als mitverantwortlich für das betrachten könnten, was sie tun würden. Da sie selbst nicht längere Zeit als gespalten weitermachen wollten, wurden sie zu einer autonomen Gruppe mit dem Titel „Create Situations", in der zumindest Verlaan weiterhin tätig ist, indem er hauptsächlich frühere Texte der S.I. ins Amerikanische überträgt. In die Enge getrieben, mußte Vaneigem der Öffentlichkeit durch seine Rücktrittserklärung (die im Anhang zu dein vorliegenden Buch enthalten ist), in der seine Ungeschicklichkeit ebenso auffällt wie seine Schmach, zeigen, was aus ihm geworden war. Das arme Kind, dem man sein Spielzeug zerbrochen hatte, stampft noch einmal auf, bevor es geht: die S.I. war überhaupt nicht interessant! Na! Er findet somit zu einer Originalität zurück, die er seit einem guten Jahrfünft völlig verloren hatte, wenn auch in einer ganz und gar umgekehrten Position, denn er (und ausgerechnet er) ist heute zweifellos der einzige auf der Welt, der behauptet, man könne das beunruhigende geschichtliche und soziale Problem der S.I. mit einer so gelassenen Pseudoverachtung beiseite schieben. Es läßt sich sehr gut verstehen, wie es dazu kommen konnte, daß Vaneigem sich jetzt fragt, oh die S.I. überhaupt existiert hat: „The proof of the pudding is in the eating". Vaneigem hat in einer bestimmten Periode ein revolutionäres Buch geschrieben, ein Buch, das er weder in die Praxis umsetzen noch mit den Fortschritten der revolutionären Epoche zu korrigieren vermochte. Auf dieser Ebene läßt sich die Schönheit eines Buches nur nach derjenigen des Lebens beurteilen. Während zudem ein so „subjektives" Buch - das von überflüssigen vertraulichen Mitteilungen über ihn selbst und das, was er an höchster Radikalität braucht oder brauchte, überströmt - nur die Krönung eines großzügig aufs Spiel gesetzten und ausgekosteten Lebens sein kann, hat Vaneigem es lediglich als Vorwort zu seinem nicht vorhandenen Leben geschrieben. Jetzt schreibt er, seinem alleinigen Talent als Literat entsprechend, das Vorwort zu anderen. In einem Kommunique zu Vaneigem, das gleich danach von Debord und Vienet verfaßt worden ist, hat die S.I. Vaneigem öffentlich dazu aufgefordert, wenigstens eines der „taktischen Manöver" zu bezeichnen, die er angeblich festgestellt hat, und die er somit offensichtlich während der ganzen Zeit, wo er unter uns war, hat durchgehen lassen. Diese Person hat es jedoch vorgezogen, durch ihr Schweigen ihre üble Nachrede einzugestehen, anstatt sich der Gefahr auszusetzen, den Wahrheitsbeweis anzutreten. Besonders erwähnt werden muß der Genosse Sebastiani. Er hat in diesem Moment zwei aufeinanderfolgende Texte von unbestreitbarer Ehrlichkeit an uns gerichtet. Er übt darin Selbstkritik aufgrund der Tatsache, daß er viel zu inaktiv gewesen war, insbesondere im Schreiben. Aber man muß schon sehr kleinlich sein, um Christian Sebastiani, der kurz bevor er zu der S.I. kam, der Autor mehrerer der schönsten Inschriften des Mai 1968 war - und der sich somit hervorragend darum verdient gemacht hat, die originellsten Aspekte dieses historischen Moments zum Ausdruck zu bringen -‚ seine Faulheit angesichts der Schreibarbeiten weniger heißer Tage vorzuwerfen. Was wir ihm vorwarfen, und was leider zur Beendigung unserer Zusammenarbeit führen mußte, war, daß er sich nicht wirklich darangemacht hatte, wie er es hätte tun müssen, die S.I. selbst zu leiten; und daß er selbst gegen Ende dieser Krise anscheinend nicht in theoretischen Begriffen ihre ganze Tiefe erkannt hatte. Wir müssen ebenfalls mit aller Deutlichkeit klarmachen, daß er nicht mit dem geläufigen Bild des Prosituationisten - oder des prosituationistischen Mitglieds der S.I.- identifiziert werden kann, insofern, als die beherrschenden Merkmale dieses Bildes die Verschleierung, die Feigheit die fehlende Größe in allen Aspekten des Verhaltens und häufig auch die Jagd nach Erfolg sind. Sebastiani ist, auch wenn ihm manchmal bis zur Unüberlegtheit gehende Sorglosigkeit vorgeworfen werden kann, immer unter uns offen, mutig und großzügig gewesen. Er ist schätzenswert aufgrund der Würde seines Lebens, und es ist angenehm, mit ihm zu verkehren. Kurz nach dieser Spaltung, und zwar im Februar 1971, ist Rene Vienet „aus persönlichen Gründen" zurückgetreten. Schließlich und wie um dem Drama innerer Unruhen und Verbannungen wirklich etwas Shakespearehaftes zu verleihen, fehlte auch nicht die Figur des Narren: Rene Riesel. Mit Freude hatte er einige seiner Rivalen verschwinden sehen, denn er glaubte, dadurch in seiner Karriere voranzukommen. Doch die neue Situation zwang ihn, sich an verschiedene Aufgaben zu machen, für die er unfähiger war als irgendwer sonst. Ihm, der mit 17 (1968) Revolutionär war, war das seltene Mißgeschick passiert, alt geworden zu sein, bevor er 19 war. Nie hatte sich ein solcher Versager so verzweifelt einem so extremen Erfolgsstreber ergeben, zu dem ihm alle Mittel verwehrt sind. Er versuchte, diesen Erfolgsstreber zu verdecken und den bitteren Neid, den sein permanentes Scheitern verursachte unter dem Mantel der unsicheren Sicherheit des Schwachen zu verbergen, bei den man merkt, daß er ständig Angst vor einem harten Wort hat, oder vor einem Fußtritt. Doch damals konnte er seine höchste Ohnmacht, mit der er den Aktivitäten der S.I. gegenüberstand, nur noch dadurch einige zusätzliche Wochen lang verdecken, daß er die einen wie die anderen über den Stand des Fortschreitens oder der Fast-Vollendung seiner inexistenten Arbeiten erbärmlich belog. Gleichzeitig fielen ihm noch einige andere Unredlichkeiten zur Last; er hat sogar gemeint, bei einige Leuten, die er für gut ausgesucht gehalten hatte, heimlich für einige dicke Lügen einstehen zu müssen, mit denen seine burleske Ehefrau das Bild ihres gesellschaftliche Standes aufzubessern versuchte, die die ganze armselige Wirklichkeit ihres Haushalts offensichtlich unbefriedigt gelassen hatte. Das alles wurde natürlich schnellstens bekannt, womit jeder andere als dieser mittelmäßige Betrüger von vornherein hätte rechnen können. Riesel mußte gestehen, und wurde folglich, im September 1971, ausgeschlossen, unter Bedingungen, wie sie in der S.I. noch niemand erlebt hat, nicht einmal die Garnautins 1967. So sind die theoretisch-praktische Aktivität der S.I. und ihre Lust, die eingesch1afen waren, im Prozeß der Säuberung schnell wieder zu neuem Leben erwacht. Die leichten und oberflächlichen Aspekte dieser Affäre, und insbesondere die echt komische Wirklichkeit mehrerer, die dabei ihre tragischen Masken und ihre subversiven Konturen verloren, dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, daß es sich im Grunde, weil nämlich die Ergebnisse die S.I. betrafen und damit zugleich viele andere, um die Auseinandersetzung mit den allgemeinsten Bedingungen revolutionärer Kämpfe unserer Epoche handelte, und um die Auseinandersetzung mit der Geschichte selbst.
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2. Über die Auflösung unserer Feinde.
„Damals tauchten zum erstenmal die beunruhigenden Gestalten der Situationistischen Internationalen auf. Wie viele sind es? Woher kommen sie? Keiner weiß es." Diese bewegte Entdeckung des „Republicain lorrain" vom 28. Juni 1957 hat seitdem während einer ganzen Periode von Kämpfen den Ton der Reaktion angegeben. Wenn die Polizisten Legitimerweise verärgert sind, weil sie nicht, wie anderswo, die S.I. durch Beobachter zu unterwandern vermochten, so sind die linksradikalen Organisationen, sehr zu Unrecht, besorgt im Hinblick auf eine eingebildete Unterwanderung durch Situationisten, die in ihren Reihen den zersetzendsten Einfluß ausübten. Zwar verfolgen die S.I. und ihre Epoche ihre zersetzende Aktion auf ganz andere Weise, aber man kann leicht verstehen, daß die Linksradikalen darüber am aufgebrachtesten sind: gerade in „ihrem Publikum", unter den besten der Individuen und Gruppen, die sie an sich ziehen wollen, stoßen sie wieder auf ihre alte Feindin: die proletarische Autonomie im ersten Stadium ihrer Bestätigung. Sie lassen uns ungewollt die Ehrung zuteil werden, sie als unter unserem Einfluß stehend zu denunzieren. Wenn sie wirklich zu einem gewissen Grad unseren Einfluß kennen kann, dann entspricht er ausgezeichnet ihrem Wesen selbst: sie lehnt jeden anderen Einfluß ab und läuft nicht Gefahr, unter dem unsrigen wie unter einer Kommandogewalt zu stehen. Die proletarische Autonomie kann nur von ihrer Zeit beeinflußt werden, von ihrer eigenen Theorie und von der ihr eigenen Aktion. Das extremste und das fabelhafteste Beispiel für diese Besessenheit von der Schlacht gegen die S.I., in der die „extremistischen" Apparate ihre wesentliche Aufgabe sahen, wurde zweifellos von dem Kongreß der italienischen Anarchistenföderation in Carrare im April 1971 geliefert. Diese Anarchistenföderation ist im italienischen Arbeitermilieu wirklich nichts Besonderes, aber andererseits befindet sich Italien in einer vorrevolutionären Situation. Welches ist also die vordringlichste theoretische und praktische Aufgabe, die sich diese Organisation stellt? Die S.I. zu bekämpfen, die Mitglieder der S.I. aus ihren Reihen auszumerzen, - von denen sich, wie sich von selbst versteht, nie auch nur irgendeiner dort befunden oder irgendeinen Kontakt zu ihr gehabt hat. Der ganze X. Kongreß der F.A.I. war dem offen gewidmet. Die gesamte Vorbereitung dieses Kongresses, d.h. die Polemik und der interne Kampf zwischen der Führung und den treuen oder rebellischen Aktivisten, war von dieser großen Sache beherrscht. Mit der sich das einzige „theoretische" und politische Dokument dieses Kongresses, das unter dem Titel „Die Situationisten und die Anarchisten" von der korrespondierenden Kommission der F. A.I. als Leitartikel der Nummer vom 15. Mai 1971 ihrer Zeitschrift „Umanita Nova" veröffentlicht wurde, ausschließlich befaßt. „Die Presse wurde rechtzeitig von der Entscheidung der Anarchisten in Kenntnis gesetzt", beginnt dieses Kommunique edelmütig, „von dem X. Kongreß der italienischen Anarchistenföderation (abgehalten in Carrare am 10., 11. und 12. April) die `Situationisten´ auszuschließen, die gelegentlich auch unrichtig als `Anarcho-Situationisten´, `Bordighisten-Situationisten´, `Rätekommunisten´, `Wildkatzen´ etc. bezeichnet werden. Diese von den auf dem Kongreß versammelten Anarchisten einstimmig beschlossene Maßnahme bedarf einiger Erklärungen." Auch ohne zu wissen, wer all diese Leute sein mögen, läßt sich bezüglich der richtigen Situationisten bereits feststellen, daß die F.A.I. genauso gut von ihrem Kongreß die Sioux, die ehemaligen Offiziere der indischen Armee, die Black Panthers oder die Menschenfresser hätte ausschließen können: sie hätte daraufhin keinen einzigen Fortgang irgendeines ihrer Mitglieder verzeichnet. Sehen wir uns also die Erklärungen an: „Der Einfluß der Situationistischen Internationalen, der sich besonders negativ auf zahlreiche außerparlamentarische Gruppierungen in Skandinavien, Nordamerika und Japan ausgewirkt hatte, wurde in Frankreich und Italien von 1967/68 an mit dem Ziel benutzt, die föderierte Anarchisten-bewegung dieser beiden Länder im Namen einer theoretischen Rede zu zerstören, die die Situationisten gewöhnlich mit einem Schwall von Unverschämtheiten, von ungenauen und geschraubten Sätzen begleiten." Diese Anarchisten sind zu gütig, uns nicht noch darüber hinaus einige weitere Manöver im Innern selbst der Parlamente zuzuschreiben. Dagegen sind die genauen und keineswegs geschraubten Sätze zu bewundern, mit denen sich diese kleinen Geister gelassen in den Mittelpunkt der Welt stellen, und uns in ruhiger Gewißheit das lächerliche Ziel zuschreiben, uns mit ihnen zu beschäftigen. Und nachdem sie so unser Wesen enthüllt haben, zeigen sie dessen Verwirklichung in geschichtlicher Gestalt: „Der Situationismus ist die Ausgeburt der fruchtbaren Phantasie einer Gruppe von Intellektuellen, die sich 1957 am runden Tisch versammelt hatten, um über Kunst und Städtebau zu diskutieren und dabei beschlossen, ihre kulturellen Kontakte auszunutzen, um eine pseudo-revolutionäre politische Bewegung zu gründen, eine Art qualunquistischer „revolutionärer Bewegung". Da sieht man, wohin die Diskussion über die Kunst und den Städtebau führen kann, und vielleicht jede Diskussion, wäre die F.A.I. nicht da, um dem Volk all solche intellektuellen Gewagtheiten zu ersparen. Diese Pfaffen gehen sogar noch weiter als die Stalinisten, die sich, solange wie die Linksradikalen nicht in ihren Gefängnissen sitzen, allgemein mit der Erklärung begnügen, daß diese „objektis" dem Kapitalismus dienen oder sich trotz ihres naiven guten Willens manipulieren lassen. Hier ist von Anfang an die perverse Absicht der Gründer der S.I. bekannt. Der Qualunquismus, die „Partei des Irgendwer", war im Nachkriegsitalien genau der Name, unter dem sich die Ex-Faschisten und die Neo-Faschisten verbargen. Doch was für gefährliche Künstler! Nie hatte die „Phantasie" die die Menschen dazu treibt, die Dogmen zu leugnen und die Welt zu verändern, schrecklichere Folgen, zumindest für ihr Zentrum selbst, eben die F.A.I.. Und als Gipfel der Frechheit wurde all das am runden Tisch beschlossen. Da haben wir das Verbrechen. Wir hatten demnach einen Tisch - aber keinerlei Beziehungen oder „kulturelle Kontakte". Der Tisch scheint übrigens völlig zu genügen, um unseren schlechten Charakter zu beweisen, und kurz darauf zu gestatten, uns mit der „privilegierten Jugend" zu identifizieren. Diese anarchistische Konklave, die offenbar eindeutig die Tribüne vorzieht, oder den Lehrstuhl, ignoriert somit, daß wahrscheinlich der wichtigste Teil menschlicher Aktionen, wenn man anerkennt, daß das Bett außer Konkurrenz steht, stets an Tischen stattgefunden hat, seitdem dieses Instrument erfunden wurde. Diese böswilligen Idioten gehen noch weiter: „Obwohl sie sich sehr wohl bewußt waren, daß die Koexistenz der Situationistischen Internationalen mit den anderen politischen Bewegungen unmöglich ist, beschlossen sie...". Hierzu muß bemerkt werden, daß wir niemals die Existenz der „anarchistischen Bewegung" in Betracht gezogen haben, sondern lediglich die der Realitäten unserer Epoche. Allerdings ist es richtig, daß wir langfristig die Perspektiven der S.I. mit der Existenz und den Ansprüchen „anderer revolutionärer politischer Bewegungen" für unvereinbar halten, einfach deswegen, weil wir, wenn sich die unbemittelte Anarchistenbürokratie heute an solche nicht präzisierten „anderen politischen Bewegungen« anhängt, diesen Bewegungen von unserer Seite aus in keiner Weise die Eigenschaft „revolutionärer Bewegungen" zuerkennen; und alles, was seitdem geschehen ist, bestärkt uns in unserer Ansicht. Doch was beschlossen 1957 die Situationisten, der F.A.I. von 1971 zufolge? „Sie beschlossen vor allem die Unterwanderung anderer revolutionärer politischer Bewegungen, um sie durch die Anschuldigung eines Ideologismus und eines organisatorischen Bürokratismus und durch die wahllose Benutzung der Verleumdung und der Provokation zu zerstören". Man sieht, wo sie der Schuh drückt. Die S.I. ist das schlechte Gewissen der Ideologen und der Bürokraten geworden, die sich überall bei sich zu Hause angegriffen sehen. Was Verleumdung und Provokation betrifft, so könnte man glauben, im Protokoll der Weisen Zions zu lesen, denn nirgends hat jemand auch nur irgendwann einmal ein einziges Beispiel von einem Mitglied der S.I. nennen können, das irgendeine Organisation unterwandert hätte. Und was ist, so entrüsten sich die Polizisten und Richter der F.A.I., mit den Tausenden unserer Agenten, die sie überall entlarvt haben, und „besonders" in ihrer eigenen Organisation? Diese vor Verfolgungswahn Besessenen bringen lediglich mit besonderer Einfalt die Besorgnis zum Ausdruck, die so viele andere bürokratische Organisationen diskreter auszutreiben versuchen. Doch sie fahren fort und lösen im Vorbeigehen die verwickelte Frage der Organisation selbst der S.I.. Während uns viele andere, ebenso fälschlich, vorwerfen, reine Spontaneisten zu sein, Feinde jeder organisatorischen Übereinkunft der Proletarier, enthüllt der Kongreß der italienischen Anarchisten „Ihre Kritik der Ideologien und der Organisationen gilt jedoch nicht für ihre eigene Ideologie und ihre eigene hierarchische Organisation. Die letztere gründet sich auf nationale Sektionen und auf örtliche Gruppen (die unter irgendeiner beliebigen Bezeichnung dem Anschein nach autonom sind), hinter denen sich jedoch in Wirklichkeit ein politisches Gehirn verbirgt, das aus einer kleinen Zahl von Intellektuellen besteht, die beliebig über Finanzierungsmittel unbekannter Herkunft verfügen." Was für Künstler! Wir müssen zugeben, daß die Chefs der F.A.I. wirklich das Zittern bekommen können, wo sie der Feindseligkeit solcher „condottieri" ausgesetzt sind, die so ohne jede Skrupel sind und so reichlich versehen mir Mitteln aller Art. Aus ihrer tugendhaften Entrüstung läßt sich bereits schließen, daß sie selbst niemals in die Exzesse eines Netschajews verfallen werden, und daß sie sich, wenn sie ihre F.A.I. auf bürokratische Weise führen, eher an eine P.S.U. anlehnen, als an das Modell der „Hundert Internationalen Brüder" Bakunins oder der Gruppe Durrutis in der spanischen C.N.T. Doch wenn dieser Punkt für die Leute interessant ist, die sich mit den gegenwärtigen doktrinären Konzeptionen des letzten Moments des italienischen Anarchismus befassen, so trifft er in keiner Weise auf die S.I. zu, und folglich läßt sich den Träumereien dieser Individuen diesbezüglich überhaupt nichts entnehmen, weder um uns zu tadeln noch um uns zuzustimmen. Daneben tauchte wieder das alte stalinistische und noch früher konterrevolutionäre Argument der „Finanzierungsmittel unbekannter Herkunft" auf. Hätten wir besonders bedeutende Finanzierungsmittel gebraucht, und sie uns sogar zu beschaffen gewußt, so wäre allerdings ihre Herkunft ganz ohne Zweifel den Polizisten der F.A.I. unbekannt geblieben. Doch wo konnte man uns jemals im Besitz von „Finanzierungsmitteln" sehen? Dort allein, wo die Tausende unserer Agenten gezählt wurden, die überall auf der Welt von uns Stipendien bekommen, um unparteiisch die Ruhe Breschnews und der F.A.I. zu stören, Nixons und des Fürstentums von Monaco. Wenn sie uns „verschiedene kostspielige Publikationen auf internationaler und lokaler Ebene" zuschreiben, deren Geldquelle ihnen „außergewöhnlich verdächtigt" erscheint, so tun sie als glaubten sie, daß wir die Rechnung auch nur für die Hälfte dieser Menge von Publikationen der Rebellion zu bezahlen hätten, die seit zwei oder drei Jahren jederzeit in den kleinsten Städten Europas und der Staaten gedruckt werden. In der Tat haben wir zur Zeit zwölf Verleger, und einige unter ihnen gehen sogar so weit, uns die Autorenrechte zu bezahlen. Was die — gar nicht so zahlreichen — Zeitschriften betrifft, die wir mit eigenen Mitteln finanziert haben, so wurden sie schon bald so sehr gelesen, daß sie kommerziell rentabel wurden, trotz ihres sehr niedrigen Verkaufspreises. Das war übrigens auch der Moment, wo wir entschieden, uns nicht auf dieser Art von Lorbeeren auszuruhen, und das Erscheinen der berühmtesten unter ihnen einzustellen. Kurz, es ist nicht eine Verschwörung, die an der alten Welt des Linksradikalismus nagt, es ist die Geschichte. „Der Situationismus ist fern der Welt der Arbeit", sagen diese Leute, die die Welt der Arbeit verstößt, wie die Anarchisten fern der privilegierten situationistischen Jugend sind, die — bewußt oder unbewußt, aufrichtig oder unaufrichtig — „eine provokatorische konterrevolutionäre Rolle spielen möchte...". Und um das Maß voll zu machen, behaupten sie, daß es „fünf skrupellose Vertreter der Situationistischen Internationalen in Italien" waren, die am „Abend des 14. April" in Florenz einen der Bürokraten der F.A.I. niedergeschlagen haben, und geben auch zu verstehen, daß wir zu dieser Zeit zu den Brandstiftern gehörten, die die Räume einer italienischen faschistischen Zeitung anzündeten, natürlich mit dem einzigen Ziel, der antianarchistischen Repression zu dienen. Und schließlich verurteilen sie, immer noch im Namen der Welt der Arbeit, die Aufständischen von Reggio-de-Calabre: solche Geschehnisse „sind nicht, wie die Situationisten betonen, die revolutionäre Manifestation eines Proletariats, dem es gelingt, sein Alltagsleben selbst zu verwalten. Es sind sanfedistische Demonstrationen...". Der Sanfedismus war eine vom Klerus geleitete Volksbewegung, die gegen die französischen Truppen der Ersten Republik gerichtet war, die das Königreich von Neapel besetzt hatten. Ebenso ernsthaft ließe sich behaupten, daß dieser unglückselige Kongreß der F.A.I. einen girondinischen, vom Golde Pitts gekauften Föderalismus zum Ausdruck bringt. Die S.I. hatte in Italien allein die Verteidigung der von der Regierung, dem Stalinismus und dem gesamten Linksradikalismus verleumdeten Proletarier Reggios übernommen, und zwar in der Broschüre „GIi operai d‘Italia e la rivolta di Reggio Calabria" (Mailand, im Oktober 1970), die überall einen außerordentlichen Erfolg hatte und mehrere Male im Ausland von anderen Rebellen neuaufgelegt wurde. Einige Zeit später hatten sich viele Linksradikale nach dem Wind gedreht. Sogar die italienischen Stalinisten waren gezwungen, ihre Verteufelung ein wenig abzustufen. Einzig die F.A.I. bleibt in dieser Angelegenheit der christlich-demokratischen Regierung treu und verleumdet, um uns zu beschimpfen, die kalabrischen Arbeiter mit demselben Glück, mit dem sie die S.I. qualifiziert hat. Die Anarchisten der F.A.I. begnügen sich nicht damit, ekelhaft und lächerlich um ihrer selbst willen zu sein; sie wollen exemplarisch sein. Sie denunzieren uns nicht nur öffentlich bei der Polizei — was nicht schwerwiegt, denn die kennt aus Erfahrung den schwachen Wert der Zeugenaussagen der Spitzel, die sie in diesem anarchistischen Milieu unterhält. Gleichzeitig unterrichten sie auch ihre linken Kollegen von der besten Art, den Dämon auszutreiben: „Der von dem Kongreß der F.A.I. angenommene Beschluß nimmt den Situationisten die Möglichkeit, ihre provokatorische Aktion — an erster Stelle in der F.A.I. — weiterzuentwickeln (Anm.: was gleichbedeutend mit der Wegnahme eines 33. Zahns oder des Rechts, in das ungarische Parlament gewählt zu werden, wäre) und kann den in der F.A.I. zusammengeschlossenen und anderen Gruppen und örtlichen Föderationen als Beispiel dienen, die die Situationisten zu unterwandern versuchen, um sie durch ideologische Zweideutigkeit und die Aktivität systematischen Widerspruchs zu ruinieren, die sehr stark an den Chauvinismus eines Sorel erinnern, der sich hinter den Prinzipien der Gewalt um der Gewalt willen verbarg. Von da aus sieht man, als wäre man dort, diese Situationisten, die alles unterwandern, „nur suchen, wen sie zerreißen" und wen sie ruinieren können, dank ihrer anti-ideologischen Dialektik und ihrer Aktivität systematischen Widerspruchs, die ihnen eine sehr starke Ähnlichkeit mit der Geschichte selbst gibt. Sie sind das Gesicht des geschichtlichen Bösen für alle Eigentümer, selbst für die, die kärglich bedacht sind und kein anderes Eigentum haben als die F.A.I. Fügen wir noch hinzu, daß Georges Sorel, der in Frankreich eher als ein Theoretiker des revolutionären Syndikalismus bekannt ist, in Italien einen ganz anderen Ruf hat aufgrund der Tatsache, daß die Anhänger Mussolinis in der ersten Phase behauptet hatten, von ihm inspiriert worden zu sein. Wie in zahlreichen anderen Fällen hatte die F.A.I. zwar keinen Situationisten in ihren Reihen, doch sie hat sie durch ihre schwachsinnige Repression geschaffen. Und wie stets wenden sich erst nach solchen Auseinandersetzungen in Sekten, die uns völlig unbekannt waren, gewisse Elemente an uns und teilen uns insbesondere die widerlichen „vertraulichen" internen Dokumente mit, durch die die Führung der F.A.I. ihren Kongreß vorbereitete, und deren einziges Ergebnis der Bruch mit all denen ist, die nicht mehr ertragen konnten, mit ihren Dummheiten und Niederträchtigkeiten solidarisch zu sein. Dort kommt dieses Geständnis eines seltsamen Pessimismus zum Ausdruck: „nur dadurch, daß die Situationisten aus unseren Gruppen geworfen werden, können wir das Überleben dieser Gruppen garantieren". Eines dieser Dokumente bezeichnet namentlich „Sanguinetti, Repräsentant der S.I. in Italien", als den Geheimagenten, der die Opposition und das Platzen dieses Kongresses von Carrare unmittelbar organisiert hat. Was den exklusiven und allgemeinen Haß angeht, den ihm „alle Vertreter der alten Welt und alle Parteien" entgegengebracht haben, so hat sich der Genosse Sanguinetti allein im Jahre 1971 eine Art Rekord gesichert, um den ihn alle Revolutionäre beneiden können. Stalinistische Handlanger haben ihn in Mailand ermorden wollen, als sie ihn mit dem Wagen zu zerquetschen versuchten, und nur dem Eingreifen von Arbeitern ist es zu verdanken, daß sie ihre Absicht nicht verwirklichen konnten. Die F.A.I. hat ihn, wenn auch sehr viel akademischer, als den Feind der Anarchie bezeichnet, der erledigt werden müsse. Und schließlich wurde er am 21. Juli vom Innenminister Frankreichs ohne Aufschub des Landes verwiesen, obwohl er dort niemals einen festen Wohnsitz hatte, mit der einzigen Begründung, daß seine Anwesenheit eine erhebliche Gefährdung der staatlichen Sicherheit darstelle. Die „show" der F.A.I. hat lediglich die Zusammenfassung einer kontersituationistischen Mythologie gegeben, die allerorten das Erzeugnis desselben eigennützigen Konfusionismus ist, und derselben Ohnmacht. Im Dezember 1970 konnte man in einem modernistischen Wisch, genannt „Actuel", eine Art Zeitschrift intellektueller Umweltverschmutzung, unter zehn anderen willkürlichen Erfindungen auf dasselbe phantastische Gebilde des unsichtbaren Reichs der S.I., eines Ku-Klux-Klan der Revolution stoßen: „Sie werden von den Polizeien Europas gesucht und gehetzt. Sie bleiben unfaßbar und untergründig, traditionelle Verschwörer, jede Legalität und jeden Konformismus lehnen sie ab. Sie üben keine Kollegialität gegenüber den anderen linksradikalen Gruppen, gesetzlose Aristokraten der Revolution". Es konnte nicht ausbleiben, daß diese Aristokratie ihren (Erb- oder Wahl-) König fand, nämlich Guy Debord: „ein kleiner Mann mit dem Aussehen eines Lehrers und mit schlecht sitzender Jacke. (...) Mit den Jahren sieht er sich immer stärker von seinen Feinden verfolgt, überall weist er Verrat und Skandale nach: er will sie nicht bekämpfen, sondern vernichten. Von ihm ist nur ein einziges Buch bekannt, „Die Gesellschaft des Spektakels", eine einzige, abgehackte Rede." Die Personenbeschreibung wird gewiß nicht denen helfen können, die uns „hetzen", denn dieser Journalist hat offensichtlich Debord nie gesehen, und es ist nicht einmal sicher, ob er weiß, wie heute ein Lehrer aussieht. Dagegen prägt die Jahrhunderte alte Mythologie der Revolutionen und ihrer Anführer, die im bürgerlichen Stil vorgetragen wird — „Sie nehmen sich das Geld da, wo es ist" —‚ hochgradig diese paar Zeilen. Die Dummheiten der Toten lasten wie ein Alp auf den Gehirnen der lebenden Schwachköpfe. Dieser kleine mausgraue Mann, der nach nichts aussieht, das ist Blanqui, das ist „der Alte", unnachgiebig und furchtbar, von seinen Fanatikern umringt, ihm ergeben und zu allem bereit. Es ist keineswegs schlecht, daß Revolutionäre immer weniger Nachsicht üben: so viele andere werden alt, indem sie immer zahmer werden, und manche haben sogar immer nur so getan, als lehnten sie irgendetwas ab. Doch Debords entsetzlicher Ruf, was Bruch und Ausschluß betrifft, stand bereits vor zwanzig Jahren fest, als er zwanzig Jahre alt war (das haben alle bemerkt, die über ihn geschrieben haben; z.B. Asgar Jorn und sogar Jean-Louis Brau). Es muß daher wohl zugegeben werden, daß er „mit den Jahren" — vorzeitig verbraucht, durch Orgien wahrscheinlich — wirklich an niemandem Verrat geübt hat! Bücher erscheinen in Deutschland, Amerika, Holland, Skandinavien, die alle bewundern, was die S.I. in den Jahren vor dem Mai 1968 gemacht hat, und lediglich beklagen, daß all diese schönen Möglichkeiten — die vor allem bezüglich der Rolle gesehen wurden, die irgendein lokaler, seit langem ausgeschlossener Situationist später in den Anfängen der deutschen und holländischen Rebellion mit noch größerer Mittelmäßigkeit hat spielen können — unaufhörlich mit eiserner Hand von dem beschnitten wurden, was ein kürzlich in Schweden erschienenes „nashistisches" Geschichtsbuch (zwei Worte, die sich bei ihrer Annäherung aufheben) die Diktatur des „General Debord" nennt, der ständig jedermann auf der Stelle ausgeschlossen hat. Es bliebe zu begreifen, wie und warum so viel auf diesen Weg hat verwirklicht werden können. Und warum gerade Debord, und nicht Nash, die Garnautins oder die Vaneigemisten, unaufhörlich Leute für den Ausschluß vorhanden fand, die immer wieder neu hinzukamen und marschbereit waren? Gibt es dafür nicht einen konkret geschichtlichen Grund? Und was soll das Gerede von einem autoritären Prestige, wo doch offenkundig ist, daß Debord stets von Mengen von Leuten belagert wurde, die für irgendetwas benutzt werden wollten; und daß er sie fast alle augenblicklich zurückgewiesen hat? Was diejenigen angeht, die alles durch einige beschränkte Feststellungen der „psychologisch genannten Reflexion" erklären wollen, so werden sie stets über dieses Mysterium stolpern: wie kommt es, daß er mit teuflischer Kunst all diese Leute in seinen Netzen zu fangen vermochte? Und wie kommt es, daß sie bereit waren, ihm überall zu folgen, wo er sie hinführen wollte? Andere subalterne Erfindungen vermehren sich fruchtbar auf diesem Boden, vor allem, um die fehlenden Informationen Zeilen schindender Autoren zu ersetzen. Einige Werke lassen Debord in Cannes das Licht der Welt erblicken: nach Paris beginnt damit wahrscheinlich eine Liste von sieben französischen Städten, die sich dieser sehr zweifelhaften Ehre rühmen. Hartnäckig wird, bis in die Staaten, das Gerücht verbreitet, er sei Sohn eines sehr reichen Industriellen — wo doch offenkundig ist, daß er das abenteuerlichste Lehen geführt hat, und daß er seine Kritik der Politischen Ökonomie entwickeln mußte, bevor er seinen Engels gefunden hatte. Mit demselben Ziel, den störenden Unbekannten auf den beruhigenden Bekannten zurückzuführen, wird gerne behauptet, Debord könne nur Lehrbeauftragter für Philosophie sein, während er nichts dergleichen ist, oder gar Angehöriger der Nationalen Kommission für Wissenschaft und Forschung. Und trotz allem, was gesagt wird, ist er auch nicht der Direktor einer Buchreihe bei dem Verlag Champ Libre.
Die, wie gezeigt, mit Beleidigungen überschütteten Prosituationisten können nicht alle ewig Bewunderer der S.I. bleiben; und wenn sie sich gezwungen sehen, sich zu unseren Verleumdern zu gesellen, sind sie manchmal noch belustigender als die F.A.I. Was wurde uns nicht alles vorgeworfen. Einige behaupten, wir hätten die Mengen von Barrikadenbauern im Mai 68 manipuliert und die Versammlungen in der Sorbonne. Es wäre uns gelungen, die fortgeschrittenen Arbeiter Glasgows irrezuleiten und die Rocker von Paris zu verderben. Wir hätten die wild streikenden Arbeiter von FIAT in Turin manövriert sowie die radikalsten Elemente unter den bewaffneten Palästinensern (wir haben gesehen, durch welchen geschickten Mittelsmann). Unseretwegen haben demnach die letzteren blind auf ihr Ende gewartet, und ohne uns hätten die Bergarbeiter Rirunas das erste Räte-Territorium des Polarkreises befreit; und ohne uns hätten die Arbeiter von Reggio nicht zu den Waffen gegriffen, oder sie hätten in 48 Stunden den italienischen Staat zerschlagen. Einerseits hätten wir fast alle Unruhen angezettelt, an denen die moderne Gesellschaft so reich geworden ist; andererseits hätten unsere sektiererischen und stets ungeschickten Anweisungen sie auf dem kürzesten Weg zu all ihren Mißerfolgen geführt. Fahren wir fort. Auf einer etwas praktischeren Ebene wird diese dumme Unverschämtheit sogar noch überboten, und zwar von einigen Verlegern, die zwischen dem Haß, den wir mit Grund in ihnen erregen, und dem Neid, den die Vorstellung von einer zusätzlichen Geldquelle oder der leichten Aufbesserung ihres traurigen Rufs, falls sie uns jetzt publizieren, in ihnen erweckt, schwanken und zerrissen werden. Gegen Ende 1971 erbat sich der Verlag Feltrinelli die Übersetzungsrechte für die Revue „Internationale Situationiste" Die Revolutionäre konnten von den Texten der S.I. stets alles nachdrucken, was sie wollten; und nie haben wir uns in irgendeiner Weise den mehrfachen Raubdrucken unserer Texte in zahlreichen Ländern widersetzt. Aber das Haus Feltrinelli ist nicht einmal eines Rauhdrucks würdig. Und selbst Euch würden wir uns, falls Ihr unsere Weigerung übergehen solltet, auf keinem rechtlichen oder bürgerlichen Weg widersetzen, da könnt Ihr sicher sein. Du bist es, Gian Piero Brega, der Du so verwegen warst, Dich mit diesem Brief hervorzuwagen, den wir für irgendeine Herausgabe unserer Texte durch das Haus Feltrinelli persönlich verantwortlich machen werden. Und an Deiner eigenen Person würden wir uns schadlos halten." (Dieser Briefwechsel wurde sogleich in Italien gedruckt und angeschlagen unter dem Titel „Corrispondenza con un editore".) Es konnte danach nicht ausbleiben, daß einige andeuteten, es sei die S.I. gewesen, die einige Tage später Feltrinelli mit Dynamit ermordet hat. In dem "Corriere d´Informazione" vom 18./19. März wird sogar behauptet, die S.I. hätte Feltrinelli mit einer Geldbuße belegt, und zwar gleich mit nicht weniger als einer Milliarde Lire, was die Schlußfolgerung erlaubt: „der Mord ist dann der nächste Schritt". Im Frühjahr 1971 hat es der Verlag BuchetChastel bei der 3. Auflage von „Die Gesellschaft des Spektakels" gewagt, einseitig und überraschend einen Untertitel einzufügen: „Die situationistische Theorie". Dieser Zusatz, der unvereinbar mit den Gepflogenheiten des Verlages ist — und sogar ausdrücklich mit dem bürgerlichen Recht — war im vorliegenden Fall um so ungeheuerlicher, als das Wert „situationistisch" in diesem Buch nur ein einziges Mal gebraucht wurde (in der These 191); und das ganz bewußt zur Unterscheidung von so vielen Revolutionären im Schafspelz, die die Radikalität ihrer Prosa dadurch zu garantieren meinten, daß sie sie mit Verweisen und Ruhmesreden auf die S.I. spickten. Wie gesagt ist es nicht unser Stil, uns auf die Ebene der bürgerlichen Justiz durch die Anstrengung eines Prozesses gegen den Verlag Buchet-Chastel zu begeben, den dieser mit Sicherheit verloren hätte. Es war würdiger, „Die Gesellschaft des Spektakels" durch einen anderen Pariser Verleger neu herausbringen zu lassen; was der Verlag Champ Libre unverzüglich zu tun beabsichtigte. Seitdem konnte man das reizvolle Abenteuer des fälschenden Verlegers verfolgen, der vor Gericht ging und die Beschlagnahme der authentischen Ausgabe von Champ Libre erwirkte. Aber natürlich genügt das nicht, um ihm dieses Buch zurückzubringen oder seinen Autor Die französische Ausgabe, die danach auch in Holland nachgedruckt worden ist, ebenso wie die in den Staaten, in Dänemark und Portugal herausgebrachten Übersetzungen, lehnen es ab, moralische wie finanzielle Verpflichtungen gegenüber Buchet anzuerkennen (der folglich lediglich die bei De Donato publizierte italienische Ausgabe aushandeln konnte, die im übrigen eine so fehlerhafte Übersetzung enthält, daß mit ihr zweifellos demnächst in Italien ein genauerer Raubdruck konkurrieren wird). Mit dem Abstand einiger Jahre hat sich die Bewegung der Besetzungen von 1968 in den Augen aller — und sogar für ihre Feinde, die es nur langsam zugeben wollen, aber schnell gespürt haben — einen Platz in der langen Reihe der französischen Revolutionen erobert: sie hat gut und gerne, als bloßer Entwurf der Wesenszüge der modernen Revolution, ihren wirklichen Inhalt zum Vorschein gebracht. Und mit der Zeit sind die Bücher, die weiterhin über den Mai erscheinen, gezwungen, der S.I. einen immer größeren Platz einzuräumen. Aber noch immer werden sie von der Mythologie beherrscht. Das jüngst erschienene Buch von Raspaud und Voyer „L´lnternationale situationniste" ist die einzige ernsthaft zu nennende Untersuchung, die allerdings auf dem Boden der Chronologie und der Bibliographie stehenbleibt, ohne den eigentlich geschichtlichen Aspekt anzugehen. Viele dieser Bücher, wie das dümmliche »Image-action de la société (Seuil, 1970), das Alfred Willemer und seine Mannschaft von Sub-Soziologen herausgespuckt haben, versuchen eine Unterscheidung vorzunehmen zwischen den Situationisten, als brilliante Vorläufer und Theoretiker, und denjenigen, die 1968 tatsächlich an der praktischen Bewegung teilgenommen haben. So erscheint von neuem die alte schulische Nuance zwischen denen, die eine „geschichtliche Strömung" ausdrücken und denen, die sie in die Tat umsetzen. Doch der zentrale Skandal, den diese Forscher verbergen möchten, ist eben der, daß diese selben Situationisten da waren: auf den Barrikaden, in der Sorbonne, in den Fabriken. Wir haben dort die Theorie des Moments selbst gemacht. Die Geschichte, selbst die Universitätsgeschichte, und selbst mit den besten Forschern wie Adrien Dansette oder A. Willemer, wird keine besseren Texte finden, die das Ereignis so gut begreifen und deutlicher die Folgen vorhersehen, als die wesentlichen Texte, die damals von der S.I. und dem „Rat für die Aufrechterhaltung der Besetzungen" massenweise verteilt wurden, wozu insbesondere die „Adresse an alle Arbeiter" vom 30. Mai 1968 gehört, von der wir sofort einige tausend Exemplare ins Ausland bringen ließen, und die wir damals, was immer auch kommen mochte, als das Testament der gesamten Bewegung der Besetzungen betrachteten. Der alte akademische Streit um die Frage, bis zu welchem Punkt die Geschichte jemals von denjenigen vorhergesehen werden kann, die sie leben, wurde hier einmal mehr durch die revolutionäre Erfahrung entschieden. Der revolutionäre Moment konzentriert alles geschichtlich Mögliche der Gesamtheit der Gesellschaft in nur drei oder vier Hypothesen, von denen klar zu erkennen ist, wie sich ihr Kräfteverhältnis allmählich entwickelt, ihr Anwachsen und ihr Umkippen- während gewöhnlich die Routine der Gesellschaft unvorhersehbar ist — außer in ihrer allgemeinen Wahrheit, in der sie als diese bestimmte Routine erkannt werden kann, und in der sich somit auch vorhersehen läßt, in welcher Hauptrichtung sie verläuft — weil diese Routine das Produkt einer unendlichen Zahl von auseinanderlaufenden Prozessen ist, deren einzelne Entwicklungen und Interaktionen im voraus unberechenbar sind. Diejenigen, die an den gewöhnlichen Tagen nicht denken, beginnen in solchen Momenten nach der Logik gewöhnlicher Tage zu denken. Die Linksradikalen sahen nur Smolny wieder, oder den Langen Marsch, und operierten folglich im Paris von 1968 noch ungeschickter als sie es, ohne Lenin, im Smolny getan hätten. Die Massen fühlten — als bereits gegenwärtig — die mögliche Verwandlung ihres Lebens. Und trotzdem gab es von allen linksradikalen, die in den Versammlungen ihre Meinung kundtaten, nicht einen, der den geringsten Blick nicht nur für das hatte, was folgte, sondern auch für das, was folgen konnte (viele haben nicht einmal ermessen, wie wenig an einer äußersten Repression gefehlt hat, als die Bewegung zurückging). Seitdem konnte man in Frankreich die amüsante Dialektik des Linksradikalen und des Spektakels beobachten. Jedesmal, wenn das Spektakel wieder eingestehen muß, daß die Arbeiter unaufhörlich subversiver werden, tut es, als entdecke es von neuem die linksradikalen als die Verantwortlichen für dieses ärgerliche Ergebnis; es macht ihnen Vorhaltungen, und mit den Vorhaltungen sich Mut. In der Tat kontrollieren wie alle Welt weiß, die linksradikalen Parteien zusammengenommen von den 150.000 Personen, die für die Beerdigung Overneys auf die Straße gegangen waren, nicht einmal den zehnten Teil. Der Linksradikalismus hat seit vier Jahren ständig gezeigt, was es an außerirdischem Irrealismus geben kann. Es ist skandalös, daß die linksradikalen Parteien, mit Ausnahme der Maoisten, aber einschließlich der französischen anarchistischen „Organisationen", die denselben Weg gehen wie die ihnen entsprechenden italienischen Gruppen, die offizielle stalinistische Partei ständig schonen. Die Maoisten — man braucht nicht zu erwähnen, daß sie die Stücke eines „Situationismus", die sie unter ihre revolutionäre Brühe rühren, weder begreifen noch gebrauchen können — greifen diese Partei sehr offen an, aber im Namen eines anderen Stalinismus — eines pseudo-chinesischen insbesondere —‚ der sehr viel kämpferischer, aber auch noch aufgelöster ist als der bürokratische Konservatismus eines Marchais; und der sich dauernd mit seinen „Volkstribunalen" und seinen „Volksgefängnissen« lächerlich macht, ohne einen Augenblick lang begreifen zu können, was wirklich in Frankreich und der Welt geschieht. Die Beobachter der Regierung, ebenso wie die der kommunistisch genannten Partei, sprechen von dem, was die Arbeiter sind — und stellen jedesmal wieder fest, wie sehr die Arbeiter nicht revolutionär sind, denn allein die Tatsache, daß sie es sagen können, bestätigt empirisch ihre Analyse. Auf demselben Boden der bürgerlichen Methodologie, aber noch extravaganter, glauben die Maoisten, daß die Arbeiter ganz und gar revolutionär sind — und noch dazu auf die groteske maoistische Art! — und aufrichtig wollen sie ihnen helfen, es zu sein: wie 1927 in Kanton. Doch das geschichtliche Problem liegt nicht darin, zu begreifen, was die Arbeiter „sind" — heute sind sie nur Arbeiter —‚sondern was sie werden. Dieses Werden ist die einzige Wahrheit des Seins des Proletariats, und der einzige Schlüssel, um zu begreifen, was die Arbeiter bereits sind. In diesem Moment ereignet sich zum Beispiel ein beachtliches Phänomen, das den spezialisierten Beobachtern und fast allen Aktivisten noch entgeht, und das ihnen schlechte Tage verspricht: wie im vergangenen Jahrhundert beginnen die Arbeiter wieder zu lesen, und sie werden selbst begreifen, was sie tun. Einige vorsintflutliche Arbeiterideologen, die allem gegenüber wehrlos sind, und es auch bleiben wollen, haben der S.I. vorgeworfen, im Mai 1968 eine Strategie angewandt zu haben. Es stimmt, daß wir entschlossen einigen strategischen Zielen gemäß gehandelt haben, aber wir haben es nicht für uns getan. Wir haben es für die Bewegung getan, die bereits da war. Und in dieser Bewegung haben wir niemanden betrogen. Wir bekommen gesagt, daß sie gescheitert ist. Doch wir hatten ihren sofortigen Erfolg in Frankreich nie als wahrscheinlich hingestellt — was auch in unseren Texten des Moments nachgeprüft werden kann —‚ während all die verwunderten Jünger der „Universitätsrevolution", die Geismars und die Penious, glaubten, noch zehn Jahre lang in den Vorzimmern der Macht palavern zu können. Zudem hatte sie einige Chancen, ein Erfolg zu werden; und wenn eine solche Bewegung begonnen hat, muß man bei ihr sein und in ihr das Maximum seiner verwendbaren Talente einsetzen. Aber vor allem: nach uns war die Mai-Bewegung ein Erfolg. Wir wollten sie wenigstens halb so weit gehen sehen, wie sie gegangen ist — was bereits ein Sieg auf weltweiter Ebene war. Was folgte, hat uns Recht gegeben. Was Vaneigem betrifft, so hat er jüngst die bescheidene Gelegenheit einer Präsentation ausgewählter Texte von Ernest Coerderoy, der nichts dafür kann, benutzt, um ihnen recht willkürlich seine eigene Meinung über die Revolution aufzupfropfen. Es ist der typische Text des vulgären Presituationisten, der nichts zu sagen hat, aber signieren möchte, der so gut wie möglich den geringen Werbewert seines Namens auf der Titelseite des Buches eines anderen verkaufen möchte. Doch um zu signieren, muß er auch selbst über Fragen sprechen, mit denen er nichts anzufangen weiß. So daß sich völlige Hohlformeln und lange Reihen unbrauchbarer Konzepte in einer Pfuscharbeit häufen, die wie eine schlechte Imitation des Vaneigem von 1962 aussehen. Das Spektakel, ganz wie Vaneigem, würde sich unaufhörlich verstärken, indem es sich abschwächt, und wenn es das Unglück will, daß es keine Revolution gibt, so wird es immer häufiger terroristische Auseinandersetzungen zwischen den einen und den anderen geben; und versteckt gibt er zu verstehen, daß sich die S.I. durchaus am extremistischen Pol dieses Terrorismus wiederfinden könne, und zwar auf der Seite des Linksradikalismus. Mit ein paar Krümeln „Theorie" bestreut er seine erstarrten archaischen Abstraktionen. Fr zeigt einen gewissen Konflikt zwischen der „reichen und führenden Bourgeoisie" auf, die für ihn einfach und allein die „Technokraten, Gewerkschaftsbosse, Politiker, Bischöfe, Generäle, Polizei-Chefs« darstellen, mit der „armen und ausgebeuteten Bourgeoisie der Dienststellenleiter, subalternen Polizisten, kleinen Händler, kläglichen Pfaffen, leitenden Angestellten": und damit die Schärfe und die Präzision seiner Analyse. Und etwas später entdeckt er, daß es nicht mehr das Kapital ist, was auf uns lastet, sondern die Logik der Ware" - Er weiß sehr wohl, daß Marx nicht erst auf ihn gewartet hat, um zu beweisen, daß das Kapital nichts anderes als „die Logik der Ware" ist; aber naiv hat er sich ausgerechnet, daß sein Satz modern aussieht. Ebenso ist es aufgrund eines Einfall des vereinsamten Vaneigemismus nicht mehr „die Macht eines Mannes oder einer sich ihrer Vorherrschaft bewußten Klasse", die auf uns lastet. Aber wem will er das weismachen? Die herrschende Klasse ist sich überall so ihrer Vorherrschaft bewußt wie Vaneigem sich selbst seiner Unterlegenheit bewußt ist. Der Ton seiner hastigen Infragestellungen erinnert nicht an Bernstein, nicht einmal an Edgar Morin, sondern an Louis Pauwels. Wie ein besser unterrichteter Lefebvre oder ein weniger trickreicher Nash, die sich durch Auslassungen zu retten glaubten, tritt Vaneigem stark für das „situationistische Projekt" ein und hofft dabei, daß der Leser übersieht, wie wenig er es selbst verdient hat, und daß er nicht sofort sieht, daß seine paar Seiten dafür den belastenden Beweis erbringen. Wie wenig Vaneigem seinem unglücklichen Leser erspart (um überleben zu können, muß die Schwäche voraussetzen, daß die anderen fast überall eine gleiche oder größere Schwäche besitzen), das zeigen zwei enorme Details: Vaneigem sagt schnell und im Vorübergehen, daß er im November 1970 für die S.I. nur noch „Gleichgültigkeit" empfand. Vaneigem glaubt, die Angelegenheit ohne weitere Erklärung als ein plötzliches Mysterium ausgeben zu können. Aber genauso wenig wie daran etwas mysteriös ist, war daran etwas plötzlich (vgl. hier den Bericht über die VII. Konferenz der S.I. 1966). Und obwohl er die — aus seiner Feder etwas zynische — Wahrheit einfließen läßt, daß „die Theorie nicht radikal erfaßt wird, solange sie nicht ausprobiert wird", benutzt er wieder seinen alten platten Bluff und tut dabei, als sei nichts gewesen, wenn er das Loblied auf die singt, die im Mai 1968 „die Aufständischen des Willens zu leben" waren. Wir haben gezeigt, daß die S.I. in der Bewegung der Besetzungen, wie vorher auch, weniger vage und präziser geschichtlich war. Aber das Kommuniqué der S.I. zu Vaneigem vom 9. Dezember 1970 enthüllt auch, daß der Wille zu leben Vaneigems von diesem Aufstand bereits ein wenig entfernt war.
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3. Bericht Guy Debords auf der VII. Konferenz der S. I. in Paris (Auszüge)
Die Theorie der S.I. ist zumindest in einem Punkt klar: es muß von ihr Gebrauch gemacht werden. Da sie sich bereits als kollektive Plattform präsentiert und wirklich nur Sinn in der Perspektive einer bedeutenden Erweiterung hat, zwingt sie zur Beantwortung dieser Frage: wenn wir zusammen sind, dann um tatsächlich was zu tun? Diese Frage stellt sich auf eine sehr reale Weise, weil die Theoriengesamtheit der S.I. die das Gegenteil einer intellektuellen Spezialisierung ist, eine ziemlich große Komplexität von Elementen von ungleichem Gewicht umfaßt; und, da das Einverständnis unter uns ursprünglich lediglich theoretisch ist, vor allem, weil seine ganze Realität letztlich von der Art und Weise abhängt, wie wir den Gebrauch dieser Theorie verstehen und realisieren. Worin muß diese gemeinsame Aktivität bestehen, für uns und in Richtung auf die anderen? Diese Frage ist eins. Die falsche Antwort, nämlich daß wir ein unmittelbares Gefühl für die Totalität haben, und daß darin bereits eine totale qualitative Haltung liegt, die uns großartig über alles zu reden erlaubt, wäre eindeutig eine Äußerung vorhegelianischen Idealismus, weil dieser Konzeption der Ernst fehlt und die Arbeit des Negativen. Unsere Aktivität kann nicht dieses Absolute sein, diese Nacht, wo alle Kühe radikal schwarz sind, das heißt auch diese Ruhe. In derselben Bewegung kann unser gemeinsames Begreifen teilweise inaktiv bleiben, und können die individuellen Aktivitäten teilweise unbegriffen bleiben von denen, die sich mit ihnen begnügen. Wenn wir die S.I. nicht korrekt beurteilen, täuschen wir uns proportionell über den gesamten Rest. (...)
Ich berücksichtige hier einige Diskussionen, die fragmentarisch unter uns in den letzten Monaten stattfanden. Ich berücksichtige mehr noch einige individuelle Unsicherheit, die manchmal eine Art von Wehrlosigkeit zum Ausdruck brachten angesichts der praktischen Übersetzung dessen, was wir zusammen ohne weiteres bejahten. Daraus folgen mehr oder weniger klar zwei parallele Positionen, die besser sofort klargestellt werden: te des Klassenkampfes in der modernen Gesellschaft sind es, die um uns herum, und selbst unter uns, neuidealistische Hoffnungen auf eine intellektuelle Apokalypse bezüglich der konkret existierenden S.I. erzeugen können; und zwangsweise Enttäuschungen, die eben aus dieser Erwartung entstanden. Die Entwicklung dieser Kampfbewegung allein wird die wahren Probleme verwandeln, und die falschen Probleme obendrein. Unsere Sache ist vor allem die Konstitution einer globalen kritischen Theorie und (daher untrennbar) ihre Kommunikation bei allen Sektoren, die objektiv bereits mit einer Negation begonnen haben, die subjektiv fragmentarisch bleibt. Die Definition, das Experimentieren, die langwierige Arbeit bezogen auf diese Frage der Kommunikation ist unsere hauptsächliche wirkliche Aktivität als organisierte Gruppe. Die diesbezüglichen Mängel fassen alle unsere Mängel (als Gruppe) zusammen. Der Rest ist Geschwätz.(...) Nicht eine theoretische Garantie des alten deutschen Denkens, sondern die Revolte im wirklichen Leben heute und für uns führt zum gemeinsamen Begreifen der kritischen Kultur parallel zum Marxismus ihrer Zeit (zum Beispiel der modernen Poesie als Selbstverneinung der Kunst) genauso wie aller Formen des gegenwärtigen Jahrhunderts, die wir konkret kritisieren müssen, über eine bloße Denunzierung der Publizität der Waren hinaus. Die vollständige Teilnahme an dem, was ich unsere hauptsächliche Aktivität im augenblicklichen Stadium nenne, setzt offensichtlich die individuellen Fähigkeiten voraus, und verstärkt sie, sowohl in dem theoretischen Bewußtsein als auch im gegenwärtigen Gebrauch des Lebens. Wir sind jedoch keinesfalls berechtigt, als unsere gemeinsame Aufgabe eine raffinierte Studie rein theoretischer Probleme vorzugeben, weil sich unsere Theorie des Dialogs nicht mit einem bloßen Dialog der Theorie begnügen kann: die Theorie des Dialogs ist, von ihrem Anfang bis zu ihrer höchsten Entwicklung, eine Kritik der Gesellschaft. Im Gegensatz zu dem, was einige zu glauben scheinen, ist es nicht so schwer, uns theoretisch zu begreifen, wenn man mit uns in Kontakt steht und wenn man dazu neigt, die Realitäten, von denen wir sprechen, so zu nehmen wie wir. Es ist nicht obligatorisch, noch einmal Machiavelli und Kautsky zu lesen. Es muß leichter sein, uns jetzt zu begreifen, als zum Beispiel vor fünf Jahren. (...) Es ist also weniger schwer, die Theorien der S.I. genau zu begreifen, als — notfalls grob — etwas aus ihnen zu machen. Das ist es, was uns vor allem beschäftigen muß. Die S.I. muß deshalb darauf achten, nicht mehr sich selbst zu loben. Es gilt damit aufzuhören, unter uns und um uns herum eine bewundernde Zufriedenheit zu entwickeln, die sich auf das gründet, was wir in der Vergangenheit gemacht haben (geben wir zu, daß es zugleich viel und sehr wenig war); wir müssen im Gegenteil überlegen, wie wir davon jetzt Gebrauch machen können. Und was für praktische Fähigkeiten diesbezüglich die Leute haben, die an uns herantreten. Wenn wir auf verschiedenen Wegen, darunter durch Ausschlüsse, den Titel „situationistisch" verteidigt haben, dann einzig und allein um zu verhindern, daß er gegen uns aufgewertet wird. Es ist nicht unser Ziel, ihn für uns selbst aufzuwerten. Wir müssen daran erinnern, auf welche kommende Bewegung wir setzen. Die vielfältige (theoretische und praktische) Aktivität die aus diesem zentralen Punkt der, im weitesten Sinn begriffenen fortgeschrittenen revolutionären Kommunikation hervorgeht, ist das, was allein über die Weise entscheiden kann, in der Situationisten zusammen sind, wie über alle Kriterien, die es uns gestatten, den Zusammenhang und die Fähigkeiten unserer möglichen Kameraden zu beurteilen. Ich bitte zu beachten, daß es selbst bei den „subjektivsten" Geschmäckern und Haltungen kein persönliches Merkmal gibt, das nicht eine direkt meßbare Wirkung auf diesem Boden unserer Kommunikation nach außen hin hat. Hier erscheint zum Beispiel ein mangelndes Talent im Ausdruck als gefährliche Stammelei oder als Verbreitung von Teilwahrheiten, die zu Lügen werden. Hier kann das konformistische Verhalten von einem von uns in gleich welchem Aspekt seines eigenen Lebens sicherlich dazu dienen, alle theoretischen Ansprüche der S.I. zu diskreditieren. Und das um so schneller, je kompromißloser sie aussehen. Wir müssen uns zumindest auf der Höhe der Befreiung befinden, die sich fast überall ohne theoretisches Bewußtsein zu zeigen beginnt; und lediglich das theoretische Bewußtsein zusätzlich haben. So selbstverständlich wie wir die Prestigerolle in der S.I. ablehnen müssen, müssen wir auch jeden zurückweisen, der unter uns und außerhalb das Gegenteil des Prestiges vorweisen würde: die Unzulänglichkeit bezüglich der Grundlagen, von denen wir ausgehen. Jüngst wurde gesagt, die Situationisten könnten untereinander keine pensionierten Denker anerkennen. Das ist vollkommen richtig, denn das würde uns in eine intellektuelle Gilde verwandeln zum Zwecke der Verbreitung und der Anerkennung unserer „Meisterwerke" und der festgelegten Doktrin, die aus ihnen abgeleitet und dann gelehrt werden könnte. Ich glaube allerdings, daß diese Warnung einen gloriosen Utopismus teilt, würde sie als die Hauptgefahr hingestellt werden. Zunächst deswegen, weil das Risiko viel größer ist, „Denker in Kinderschuhen" zu versammeln (was nicht schlimm ist, unter der einzigen Bedingung, daß sie schnell aus den Kinderschuhen herauskommen). Aber vor allem deswegen, weil wir in keiner Weise „Denker" als solche brauchen, das heißt Leute, die Theorien außerhalb des praktischen Lebens produzieren. Soweit mir unsere in der Entstehung begriffenen Theorien so richtig wie nur möglich erschienen, im Moment und unter der Bedingungen, mit denen wir es zu tun haben, stimme ich zu, daß jede theoretische Entwicklung, die den Zusammenhang der „situationistischen Rede" teilt, aus dem praktischen Leben kommt, sich daraus legitim ableitet. Formeln müssen ins praktische Leben zurückkehren, sonst sind sie nicht eine Viertelstunde Mühe wert. Zwei Punkte sind zu beachten: 1. die sichtbare Übereinstimmung Zwischen der Theorie und dem Leben des Trägers dieser Theorie, soweit sie sich nur praktisch verwirklichen läßt; 2. die Benutzung dieser Theorie, soweit sie den Kräften mitgeteilt werden kann, die praktisch auf der Suche nach dieser Theorie sind (dort, wo „die Wirklichkeit ihre Theorie sucht", entsprechend einer klassischen Formulierung). Der Mangel im ersten Fall ergibt klar den unbewußten Ideologen, der mit sich selbst nicht übereinstimmt. Im zweiten Fall ergibt er die utopistische Sekte, wo es sicherlich eine wirkliche Übereinstimmung zwischen den Teilnehmern gibt, aber einzig und allein zwischen ihnen. Für uns ist dieser erschwerende Umstand aufgeschoben, wenn wir die geschichtliche Ablehnung der Ideologie proklamieren, und die Aufhebung jeder Utopie durch die mögliche Stärke des Gegenwärtigen. Das Maß des Realisierbaren, und folglich des Mangels in den beiden Fällen, kann sehr gut durch die Praxis selbst der Situationisten festgestellt — und stets erweitert werden, wenn sie konsequent die elementaren Banalitäten anwenden, zu denen sie sich bereits bekennen. (...) Ich weise ebensosehr die Zufriedenheit oder die angedrohte Unzufriedenheit bezüglich der S.I. zurück, die sich um die Forderung herum äußern könnte, wonach wir gewissermaßen Organisatoren von Festtagen zu sein hätten. Wir brauchen einem solchen Verlangen nach besonderen Festen nicht nachzukommen. Wir müssen diese Dimension den Individuen überlassen, d.h. wir dürfen niemanden durch einen Kollektivismus einschränken, der auf diesem Gebiet zwangsweise schwachsinnig wäre. Was wir bei den gegenwärtigen Verhältnissen von der Kunst erben müssen, ist ein tieferes Kommunikationsniveau und nicht der Anspruch auf irgendein nicht einmal ästhetisches Vergnügen. (...) Wir müssen dahin kommen, wieder das Wort zu ergreifen, das in der Kultur liegt, aber ohne ihr „Prestige" oder irgendeinen Ersatz ihres Prestiges. (Gegen die „Prestigerollen", die manche von der S.I. ausgehend einnehmen mögen — von der erbärmlichen Art des „Denk-„ oder „Lebenskünstlers" — müssen wir uns durch eine systematische Untergrabung Jeder auf Prestige ausgehenden Haltung wehren.) Die Suche nach einer Art von Fest in der S.I. liefe auf eine triviale Praxis der Vergnügung in Gesellschaft hinaus, die an sich sicher nicht schlecht ist, aber die für uns schlecht wäre, weil sie in eine Ideologie des Spielerischen gekleidet wäre: das heißt, sie wäre ein Versuch kollektiven Spiels, aber ohne seine Mittels nur erschwert durch eine Art von Doktrin des Spiels. Wo also finden sich all die gegenwärtigen und zukünftigen Mittel zu seiner Verwirklichung? Eben in unserer Praxis der Kommunikation mit der „wirklichen Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt". Wie könnte ohne sie eine Versammlung von Situationisten unter solchen Bedingungen abstrakter Gewichtigkeit überhaupt unterhaltsam sein? In der Entfremdung des Alltagslebens sind die leidenschaftlichen und spielerischen Möglichkeiten durchaus noch wirklich vorhanden, und die S.I. würde meines Erachtens eine schwerwiegende Verkehrung der Tatsachen vornehmen, würde sie zu verstehen geben, daß das Leben außerhalb der situationistischen Aktivität vollkommen versteinert ist (die damit auf mystische Weise eine Erlösung durch den Begriff wäre — einige Leute wenden sich zurzeit mit diesem Eindruck an uns). Ganz im Gegenteil: dieser freie Raum scheint mir normalerweise außerhalb unserer gemeinsamen Aktivität zu liegen, die eine gewisse Erschöpfung mit sich bringt. Das erscheint mir besonders offensichtlich, wenn ich die persönliche theoretische Arbeit betrachte, zu der die Teilnahme am situationistischen Projekt führen kann. Die Entwicklung der situationistischen Theorie ging durch unzählige Interaktionen, von denen einige Fälle spektakulären Plagiats lediglich amüsante anekdotische Aspekte bilden — mit der Entwicklung der herrschenden Kulturwelt selbst einher. Die Idee des einheitlichen Urbanismus, das Experiment des Sich-treiben-lassens müssen heute in ihrem Kampf mit den modernen Formen utopischer Architektur begriffen werden, den Biennalen von Venedig oder den Happenings. So muß sich auch unser möglicher Gebrauch einer „Kommunikation, die ihre eigene Kritik enthält", gegen den integrierten Neodadaismus durchsetzen oder gegen die kombinatorische Neoästhetik (gegen eine „Gruppe visueller Kunst" z.B., die in den Straßen von Paris Situationen konstruiert, etc.). Die Tatsache jedoch, daß die Versuche, die unternommen wurden, die S.I. „en bloc" in diese Kulturwelt zu integrieren, abgewiesen wurden, rechtfertigt diese ersten Momente unseres Experiments: wir sind der Möglichkeit der Radikalisierung gefolgt, die sie beinhalteten. Und deswegen hebt die Aufhebungsbewegung, von der wir sprechen, sie nicht auf. Und aufgrund eben dieser -. weiterzuführenden Experimente gehört die Aufgabe der Kommunikation unserer Theorie, die ich als unsere hauptsächliche praktische Verbindung auffasse, in keiner Weise in den Bereich des politischen Aktivismus, sondern ist auf radikale Weise Feind aller Überbleibsel dieses Aktivismus von Spezialisten. Die einzige Position jedoch, die die notwendige Kritik der Spezialisten völlig diskreditiert, ist die Inaktivität im Namen der Totalität, von der ich zu Beginn gesprochen habe. Die Frage der Kommunikation einer in der Entstehung begriffenen Theorie mit den radikalen Strömungen, die selbst in der Entstehung begriffen sind, hängt von der „politischen Erfahrung" ab (der Organisation, der Repression) und von der formellen Erfahrung der Sprache (von der Kritik des Wörterbuchs bis zum Gebrauch des Buchs, des Flugblattes, einer Zeitschrift, des Kinos und des Gesprächs im Alltagsleben). Gleich danach stellt sich hier die keineswegs belanglose Frage der Finanzierung. Ich setze entschieden voraus, daß die Frage der Aufrechterhaltung irgendeiner Bequemlichkeit für uns alle belanglos ist. Es ist sicher, daß dort, wo wir beginnen, mit einer gewissen Kommunikation über das, was wir sagen wollen, Erfolg zu haben, das Ergebnis auf uns in recht unbequemer Form zurückfallen kann, wie im Fall der Bombe bei Martin. Aber die am wenigsten belanglose Frage ist die unserer Fähigkeit, bei verschiedenen Gelegenheiten unsere praktischen Möglichkeiten zu beurteilen. Zum Beispiel ist unser Kurier in Algerien neulich mit einer sehr optimistischen Einschätzung unserer Möglichkeiten zurückgekehrt, eine Verteilung zu organisieren, ohne die die besten Analysen direkt an das Internationale Institut für Sozialgeschichte gesandt werden können. In der Folge zeigte sich, daß er in seiner Begeisterung übertrieben hatte. Unter den Bedingungen des Untergrunds wird natürlich die Zahl derer, unter denen man wählen muß, wem man vertraut und wem nicht, sehr gering. Denn je nachdem, was diese Leute tun werden oder nicht, kann man zu Ergebnissen kommen oder zu nichts. Doch ihr wißt, wie sich dieses Problem für uns überall stellt, und deshalb finde ich dieses Beispiel einer Verschwörung im Vorbeigehen interessant. Die ganze Welt ist für uns wie dieses Algerien, wo alles davon abhängt, was wir mit denen machen können, die zuerst kommen, und wo wir folglich alle immer fähiger sein müssen, sie praktisch zu beurteilen und die Bedingungen für solche Begegnungen zu schaffen. Wir verfügen nicht über die „mass media", und keine radikale Strömung wird in absehbarer Zeit über sie verfügen. Wir müssen lernen, in jedem Moment die anderen Wege zu erkennen und zu beschreiten. Wenn wir in diesem Moment einen gewissen theoretischen Vorsprung haben, dann ist das das ärgerliche Produkt des vollständigen Fehlens der praktischen Kritik der Gesellschaft in der Epoche, die wir verlassen, und ihrer nachfolgenden theoretischen Auflösung. Da es jedoch so scheint, daß das Wiederauftauchen der Kämpfe unter einer neuen Form unsere grundlegende Hypothese zu bestätigen beginnt, müssen wir unsere Positionen den neuen Strömungen, die sich in der Politik und der Kultur suchen, zur Kenntnis bringen, in dem Maße, wie wir ihre eigene unbekannte Theorie sind. Diese Aufgabe scheint nur unsere ganze gegenwärtige Aktivität zu definieren, und umgekehrt läßt sich wirklich nichts definieren, was darüber hinausgeht. Denn ebensowenig, wie es darum gehen kann, ein Monopol kritischer Exzellenz auf irgendeinem Gebiet zu behaupten, dürfen wir in der Perspektive denken, irgendein Monopol theoretischen Zusammenhangs auf längere Zeit zu erhalten. (Juli 1966) |
4. Rücktrittserklärung Raoul Vaneigems Genossen!
Die Richtung, die sich am 11. November 1970 in der französischen Sektion gebildet hat, hat das Verdienst, die letzte Abstraktion zu sein, die in der, für die und im Namen der S.I. formuliert werden konnte. Wenn auch wahr ist, daß die Gruppe nie mehr war als die Summe der, sehr ungleichmäßig verteilten Fähigkeiten und Schwächen ihrer Mitglieder, so gibt es doch in diesem Moment, der uns beschäftigt, keine scheinbare Gemeinschaft mehr und auch keine Richtung, die darüber hinwegtäuschen könnte, daß jeder allein für sich selbst einzustehen hat. Wie konnte sich das, was an Leidenschaftlichkeit in dem Bewußtsein eines gemeinsamen Projekts vorhanden war, in ein Unbehagen verwandeln, zusammen zu sein? Das werden die Historiker feststellen. Ich fühle mich nicht zum Historiker berufen und auch nicht zum Denker — mit oder ohne Pension —‚ um Veteran zu werden. Zudem wäre die leichte Analyse der geringen Durchsetzung der situationistischen Theorie im Arbeitermilieu und der geringen Durchsetzung der Arbeiter im situationistischen Milieu augenblicklich lediglich ein Vorwand für das falsche gute Gewissen unseres Scheiterns. |
5. Kommuniqué der S. I. zu Vaneigem
Endlich dazu gezwungen, ernsthaft etwas Präzises über das zu sagen, was die S.I. ist und was sie zu tun hat, hat Raoul Vaneigem sie sogleich insgesamt verworfen. Bis zu diesem Augenblick hat er ihr in allem stets zugestimmt. An diesem Punkt angelangt, spielt Vaneigem gegen uns auf „mehr oder weniger geschickte, aber stets widerwärtige taktische Manöver" an. Er wird mit Sicherheit niemandem vormachen können, daß es erforderlich ist, eine Taktik zu haben, mehr oder weniger geschickt zu sein oder auf irgendeine Weise zu manövrieren, um einen Genossen, der so viele Jahre Mitglied einer immer als egalitär behaupteten Organisation gewesen ist, zu zwingen, effektiv an den Entscheidungen dieser Organisation und an ihrer Durchführung teilzunehmen; oder aber schnellstens einzugestehen, daß er nicht kann und nicht will. Die Abwesenheit und das Schweigen Vaneigems oder anderer können sich zweifellos recht lange Zeit erfolgreich verbergen, finden sich aber sofort eliminiert, sobald irgendwer ankündigt, sie nicht mehr dulden zu wollen. Und dabei muß die kontemplative Position ihrerseits eingestehen, daß sie wirklich nichts anderes auf der Welt wollte, als unter uns geduldet zu werden. Doch Vaneigem gebraucht die Mehrzahl, die nahelegt, daß es eine Vergangenheit gibt, wo solche „stets widerwärtigen" Manöver noch nicht auf Vaneigem oder seine derzeitige Nachahmer abzielten. Wir geben uns nicht damit zufrieden, daran zu erinnern, daß Vaneigem, der sich dieses angeblichen „Manövern" niemals, weder schriftlich noch auf einer einzigen Zusammenkunft und nicht einmal soweit wir wissen — in irgendeinem persönlichen Gespräch mit einem Mitglied der S.I., widersetzt hat, nie auf irgendeine Weise auf ihre Existenz oder ihre Möglichkeit hingewiesen hat und deshalb ihr unentschuldbarer und elender Komplice gewesen sein muß. Selbstverständlich gehen wir noch weiter: wir fordern ihn formell und zur Beurteilung durch alle Revolutionäre, die es heute bereits gibt, auf, sofort ein einziges dieser „taktischen Manövers zu nennen, die er in der S.I. hat feststellen können, und durchgehen lassen, während der zehn Jahre, wo er ihr Mitglied war. Vaneigem, der so tut, als glaube er, daß die S.I. verschwinden wird, weil sich seine Abwesenheit aus ihr zurückzuziehen gezwungen ist („wollte ich eine Gruppe noch retten", „die französische Sektion neuzubilden"), stellt fest, daß er „aus ihr nichts von dem zu machen wußte, (was er wirklich wollte), das sie war". Wir bezweifeln gewiß nicht, daß Vaneigem die S.I. zu einer Organisation machen wollte, die nicht nur revolutionär ist, sondern von höchster und vielleicht sogar absoluter Exzellenz (vgl. sein „Handbuch der Lebenskunst", etc.). Andere Genossen haben seit Jahren gesagt, daß der wirkliche geschichtliche Erfolg der S.I. dennoch nicht so weit ging, und vor allem zu häufig vermeidbare Fehler aufwies (deren Bestehen übrigens den Mythos bewundernswerter Perfektion der S.I., kraft dessen Hunderte stupider Zuschauer draußen — und leider auch einige Zuschauer unter uns — ihren Schwachsinn fördern, um so ärgerlicher macht). Doch Vaneigem, der jetzt Post festum den Ton eines getäuschten Anführers annimmt, der aus dieser Gruppe nichts von dem, was er wollte, zu machen wußte, vergißt, sich diese grausame Frage zu stellen: was hat er jemals zu sagen und zu machen versucht, durch Argumentation oder das eigene Beispiel, damit die S.I. noch besser wird oder seinem proklamierten persönlichen Geschmack, den er so sehr an ihr fand, näher kam? Vaneigem hat nichts in diesem Sinn gemacht, obwohl die S.I. unterdessen wirklich nicht dabei stehengeblieben ist, nichts zu sein! Angesichts der Evidenz dessen, was die S.I. gemacht hat, macht Vaneigem sich heute für jedes Individuum, das denken kann, vollkommen unglaubwürdig, wenn er auf so kindische Weise die possenhafte und miesmachende Unwahrheit eines vollständigen Scheiterns der S.I. kundtut, und die seines eigenen Scheiterns noch dazu. Vaneigem hat in der Aktion der S.I. nie einen Teil Mißerfolg anerkennen wollen, eben weil er sich zu eng mit diesem Teil Mißerfolg verknüpft wußte, und weil seine wirklichen Mangel ihm ständig als Abhilfe nicht ihre Aufhebung zu verlangen schienen, sondern die einfache zwingende Behauptung, alles stände zum Besten. Jetzt, wo er nicht mehr weitermachen kann, wird der Teil Mißerfolg, dessen Bestehen er wohl zugeben muß, ungeachtet aller Wahrscheinlichkeit als totales Scheitern präsentiert, als die absolute Inexistenz unserer Theorie und unserer Aktion während der letzten zehn Jahre. Dieser schlechte Scherz richtet ihn. In dieser fundamentalen Posse erscheint die sehr soziologie-journalistische Anspielung Vaneigems auf die „geringe Durchsetzung der situationistischen Theorie im Arbeitermilieu" lediglich als besonders belustigendes Detail; insbesondere seine schlagartige Entdeckung im unerwarteten Licht dieses Jüngsten Gerichts der S.I., das für ihn sein Abgang bezeichnet, daß kein Situationist in einer Fabrik arbeitet! Denn, hätte Vaneigem es früher gewußt, wo er doch so viel Gewicht darauf zu legen scheint, hätte er das Problem sicherlich aufgezeigt, und auch irgendeine radikale Lösung. Dazu muß bemerkt werden, daß Vaneigem, wenn es ihm ernst war, nicht nur die bewundernswerten Ziele zum Ausdruck brachte, die er der S.I. vorbehielt. Derjenige von uns, der am ausgiebigsten von sich selbst gesprochen hat, von seiner Subjektivität und von seinem „Geschmack an der radikalen Lust", hatte auch bewundernswerte Ziele für sich selbst. Aber hat er sie verwirklicht, hat er wenigstens konkret für ihre Verwirklichung gekämpft? Keineswegs. Für Vaneigem wie für die S.I. wurde das Programm Vaneigems lediglich formuliert, um sich alle Mühen und alle kleinen geschichtlichen Risiken der Verwirklichung zu ersparen. Da das Ziel total ist, wird es nur in einer reinen Gegenwart ins Auge gefaßt: es ist insgesamt bereits da, solange man sich selbst einredet, das den anderen einreden zu können, oder aber es ist einfach nur unerreichbar geblieben: dann war man eben erfolglos, es zu definieren oder ihm näherzukommen. Das Qualitative, wie der Geist bei den spiritistischen Sitzungen, hatte den Glauben erweckt, daß es da war, doch es muß zugegeben werden, daß das nur ein langer Irrtum war! Vaneigem entdeckt schließlich, daß die Mayonnaise, an der er sich zu laben vorgab, nicht fest geworden ist. Gewiß kann man in einem solchen metaphysischen Licht auf den reinen Moment der Revolution warten und es dabei ruhig ihr überlassen, „die Ihrigen zu erkennen" (aber dennoch müssen auch die Ihrigen sie erkennen können, diese Revolution, und zum Beispiel ihre Urlaubsbuchungen annullieren, falls diese beiden Erscheinungen unglücklicherweise zusammentreffen). Wenn man jedoch dort, wo es sich um Fragen dreht, die in unmittelbarer Beziehung zu unserem Bewußtsein und unserer direkten Aktion stehen? wie um die der S.I. und Vaneigem in Person, behauptet, daß alles, was gewollt ist, bereits in der Totalität verwirklicht ist, sinkt die Mystik zum Bluff herab. Was man als perfekt behauptet hat, muß man folglich eines Tages als total inexistent behaupten. Eine fröhliche Entdeckung, die in nichts die ganz und gar außergeschichtliche Radikalität Vaneigems beeinträchtigt. Wenn Vaneigem heute seinen totalen Irrtum über die S.I. anerkennt, so bemerkt er nicht, daß er damit auch einen totalen Irrtum über sich selbst anerkannt hat. Er glaubt immer noch, im Jahr 1961 zu sein, zehn Jahre sind wie ein bloßer Traum vergangen, ein belangloser Alptraum der Geschichte, nach dem Vaneigem sein stets sich selbst gleiches Projekt, „absolut (seinen) eigenen Zusammenhang neu herzustellen", einzig und allein „verschoben" wiederfindet. Wenn jedoch die S.I. noch nicht existiert hat, hat Vaneigem auch noch nicht existiert. Doch vielleicht eines Tages bald schon? Doch wie die geschichtliche Gerechtigkeit, ganz genauso wie die wirkliche Aktion in der Geschichte, nicht zu Vaneigems Gedanken gehört, wird er sich selbst nicht gerecht. Vaneigem hatte in der Geschichte der S.I. einen wichtigen und unvergeßlichen Platz, Nachdem er 1961 zu der in den ersten Jahren der S.I. gebildeten theoretisch-praktischen Plattform gestoßen war, hat er sofort die extremsten Positionen geteilt und entwickelt, diejenigen, die damals die neuesten waren, und die sich zum revolutionären Zusammenhang unserer Zeit hinbewegten. Wenn auch die S.I. in diesem Moment gewiß einen wesentlichen Beitrag dadurch geleistet hat, daß sie Vaneigem die Gelegenheit, den Dialog, einige Grundthesen und das Tätigkeitsfeld gab, um zu werden, was er an Echtem und zutiefst Radikalem sein wollte und konnte, ist es ebenso wahr, daß Vaneigem einen sehr bemerkenswerten Beitrag geleistet hat: er besaß viel Intelligenz und Kultur, eine große Kühnheit in den Ideen, und das alles wurde von dem wahrsten Zorn gegen die bestehenden Verhältnisse beherrscht. Vaneigem war damals genial, weil er in allem, was er zu tun wußte, vollkommen bis zum Äußersten zu gehen wußte. Und das, was er nicht zu tun wußte, hatte er einfach mangels Gelegenheit noch nicht in Angriff nehmen können. Er brannte darauf, zu beginnen. Die S.I. der Jahre 1961 — 1964, eine wichtige Periode für die S.I. wie für die Ideen der modernen Revolution, waren stark von Vaneigem geprägt, mehr vielleicht als von irgendwem anders. In dieser Periode hat er nicht nur das „Handbuch" geschrieben und andere Texte, die er in der Revue „I.S." gezeichnet hat, er war auch weitgehend an den anonymen kollektiven Texten der Nummern 6 bis 9 beteiligt, und sehr kreativ an allen Diskussionen dieser Epoche. Wenn er das jetzt vergißt, wir vergessen es nicht. Wenn er sich jetzt in sein eigenes Essen spucken will, was soll‘s, die revolutionäre Generation, die sich in den darauf folgenden Jahren gebildet hat, hat sich bereits bedient. Diese Periode der ersten 60-iger Jahre war die Periode der allgemeinen Formulierung des totalsten revolutionären Programms. Die Revolution, deren Rückkehr und neue Forderungen wir ankündigten, war damals in keiner Weise präsent, weder als wirklich moderne Theorie noch als Individuen und Gruppen, die konkret im Proletariat kämpften, durch neue radikale Aktionen und für neue Ziele. Eine gewisse Allgemeinheit, eine gewisse Abstraktion, selbst der gelegentlich verwendete Ton lyrischer Übertreibung, waren die unvermeidlichen Produkte genau dieser Bedingungen und waren insoweit sogar notwendig, gerechtfertigt, exzellent. Wir waren nicht viele in diesem Moment, Vaneigem war mit dabei, wußte und wagte zu sagen, was wir sagten. Wir haben richtig gehandelt. Glücklicherweise ist der Lauf der modernen Gesellschaft, immer sichtbarer, dem Weg gefolgt, den wir sie haben einschlagen sehen; und zugleich hat die neue revolutionäre Strömung, die sich mit logischer Folge ebenfalls manifestiert hat, viel von unserer Kritik aufgenommen, sich teilweise mit unserer Theorie bewaffnet (die sich selbstverständlich weiterhin entwickelte und präzisierte), oder sich sogar von einigen Beispielen unserer konkreten Kämpfe inspirieren lassen. Wir mußten genauere Analysen machen, und auch verschiedene möglich gewordene Aktionsformen ausprobieren. Die Situationisten haben, mit ihrer Epoche, an diesen immer konkreteren Kämpfen teilgenommen, die sich bis 1968 vertieften, und danach sogar noch mehr. Vaneigem war bereits nicht mehr da. „Wie", so fragt er sich heute, „konnte sich das, was an Leidenschaftlichkeit in dem Bewußtsein eines gemeinsamen Projekts vorhanden war, in ein Unbehagen verwandeln, zusammen zu sein?" Doch er hütet sich wohl, auf seine Frage zu antworten, die somit rein elegisch bleibt. Wie konnte sich das pure Gold in gemeines Blei verwandeln? In diesem Fall ganz einfach dadurch, daß das Bewußtsein eines gemeinsamen Projekts aufgehört hat, in einer gemeinsamen Praxis zu bestehen — in dem, was die gemeinsame Praxis der S.I. wurde. Einige erlebten die Praxis der S.I., mit ihren Schwierigkeiten und ihren Unannehmlichkeiten, wobei die schlimmste sicherlich in der Schwerfälligkeit lag, die die kontemplative und sich selbst bewundernde Richtung mehrerer Situationisten in die gemeinsame Aktivität brachte. (Vgl. Die Organisationsfrage für die S.I., Text vom April 1968, enthalten in „I.S." Nr. 12). Vaneigem dagegen behielt lediglich das reine „Bewußtsein" der abstrakten Generalität dieses Projekts; und infolgedessen ein mit der fortschreitenden Erweiterung der konkreten Aktion immer unmoderneres und verlogeneres Bewußtsein, das falsche Bewußtsein auf dem angeblichen Boden des gemeinsamen geschichtlichen Bewußtseins, einfache Unredlichkeit. Unter diesen Bedingungen war es immer weniger mitreißend, mit Vaneigem zusammenzutreffen (und mit anderen, die allerdings niemals auch nur irgendwen mitzureißen vermochten). Vergeblich die gleiche Kritik zu wiederholen und dann von ihr abzulassen, gefällt niemandem. Und es war sicherlich noch ermüdender für Vaneigem, jahrelang in einem völlig veränderten Stil mit Genossen zusammenzutreffen, von denen er sehr wohl wußte, daß sie seine Mängel fast ebensogut kannten, wie er sie selbst kannte. Vaneigem hat es jedoch vorgezogen, formell weiterhin unter uns zu sein, gestützt auf die Erinnerung an eine echte Beteiligung und das in immer weitere und abstraktere Ferne gerückte Versprechen zukünftiger Erfüllung, und dabei die kümmerlichen Reste eines freundschaftlichen Dialogs zu strapazieren und sich schwerhörig zu stellen. So wie der President de Brosses einen Charakter dieser Art beschrieb: „Man kann sich nicht dazu entschließen, Partei gegen einen Kollegen zu ergreifen, gegen einen sehr liebenswerten Menschen, der so sanft ist, daß er nie antwortet, was immer man ihm auch sagen mag. Das Schlimme ist, daß die, die so sanft sind, von allen am unempfindlichsten und am hartnäckigsten sind. Nie bestreiten sie einem irgend etwas. Doch weder lassen sie sich bereden noch festlegen." In den Jahren 1965 — 1970 manifestierte sich die Verflüchtigung Vaneigems quantitativ (an unseren Publikationen hat er lediglich durch die drei kleinen Artikel in den letzten drei Nummern der S.I. teilgenommen, und häufig blieb er sogar den Versammlungen fern, auf denen er allgemein schwieg) und besonders qualitativ. Seine sehr seltenen Interventionen in unseren Debatten trugen das Zeichen der allergrößten Unfähigkeit, konkrete geschichtliche Kämpfe ins Auge zu fassen; war geprägt von den dürftigsten Ausflüchten in Bezug auf die Verbindung zwischen dem, was man sagt und dem, was man tut; und sogar vom lächelnden Vergessen des dialektischen Denkens. Auf der VII. Konferenz der S.I. 1966 mußte zwei Stunden lang gegen eine seltsame Behauptung Vaneigems argumentiert werden: er hielt für sicher, daß unser „Zusammenhang" stets in gleich welcher Debatte eine praktische Aktion aufzeigt, und nach ausführlichen Diskussion den einzig richtigen, von vornherein eindeutig erkennbaren Weg. So daß eine Minorität von Situationisten, die sich ans Ende dieser Diskussion nicht völlig überzeugt erklärte, dadurch beweisen würde, daß sie nicht den Zusammenhang der S.I. besitzt oder daß sie unaufrichtig verbotene Ziele der Sabotage verfolgt oder zumindest eine verschleierte theoretisch-praktische Opposition betreibt. Wenn die anderen Genossen selbstverständlich die Rechte und Pflichten jeder Minorität in einer revolutionären Organisation — mit hundert konkreten Beispielen —‚ und einfacher noch die Rechte der Realität verteidigt haben, muß man anerkennen, daß Vaneigem in der Folge nie riskiert hat, sich in diesem Punkt zu widersprechen, denn auch nicht zehn Minuten hat er sich der Gefahr ausgesetzt, in auch nur dem kleinsten von der S.I. debattierten Problem als „Minderheit" zu gelten. Gegen Ende 1968 haben wir gegen Vaneigems Rat das Recht anerkannt, gegebenenfalls Richtungen in der S.I. zu bilden. Vaneigem schloß sich bereitwillig dieser Mehrheit an, gab jedoch an, daß er sich nicht einmal vorstellen könnte, wie es jemals eine Richtung unter uns geben könnte. Im Frühjahr 1970 hatte sich eine Richtung gebildet, um schnell und klar einen praktischen Konflikt zu lösen, Vaneigem trat ihr selbstverständlich sofort bei. Es ist unnütz, weitere Beispiele anzuführen. Die fortwährende Weigerung Vaneigems, eine wirkliche geschichtliche Entwicklung ins Auge zu fassen, die durch seine Kenntnis, und seine Hinnahme einer relativen persönlichen Unfähigkeit (die folglich immer schlimmer wurde) erzeugt wurde, ging natürlich bei ihm mit einer begeisterten Betonung jeder Karikatur einer Totalität, in der S.I. und in der Revolution, einher, der magischen Fusion, die eines Tages zwischen der endlich befreiten Spontaneität (der Massen und Vaneigems) mit dem Zusammenhang stattfindet. Bei einer solchen Hochzeit der Identifizierung werden die vulgären Probleme der wirklichen Gesellschaft und der wirklichen Revolution augenblicklich abgeschafft, noch bevor man sich die Unannehmlichkeit gemacht hat, sie zu betrachten, was natürlich eine liebenswerte Perspektive für eine Geschichtsphilosophie zum Schluß des Banketts ist. Vaneigem hat das Konzept des Qualitativen tonnenweise verwandt und dabei entschieden vergessen, was Hegel in der „Wjssenschaft der Logik" die „tiefste und wesenhafteste Qualität" nennt, den Widerspruch. Denn die Identität ihm gegenüber ist nur die Bestimmung des einfachen Unmittelbaren, des toten Seins; nur insofern etwas in sich selbst einen Widerspruch hat, bewegt es sich, hat Trieb und Tätigkeit". Vaneigem hat, außer am Anfang, nicht das Leben der S.I. geliebt, sondern ihr totes Bild, ein ruhmreiches Alibi für sein beliebiges Leben und eine abstrakt totale Zukunftserwartung. Da er sich gut mit einem solchen Phantom abgefunden hat, fällt es ihm begreiflicherweise leicht, es mit einer Handbewegung völlig zu vertreiben, eben am 14. November 1970, als er seiner Unzufriedenheit Ausdruck geben mußte, weil die Einstellung des zufriedenen Schweigens nicht mehr aufrechtzuerhalten war. Gewiß haben wir in keiner Weise zu verstehen gegeben, daß Vaneigem womöglich „verborgene Absichten" hatte. Unsere Erklärung vom 11. November ist bei weitem nicht Vaneigem allein gewidmet; und er weiß sehr gut, daß die amerikanischen Situationisten kurz zuvor drei Briefe an uns gerichtet hatten, die einander völlig widersprachen, und von denen es kein einziger für nötig hielt, den vorangegangenen zu zitieren oder zu korrigieren, was uns dazu zwingt, in diesem Fall die Hypotilese „verborgener Ziele" dieser Genossen aufzustellen, denn wir glauben nicht einen Augenblick an ihre Geistesschwäche. Doch Vaneigems Verhalten war unter uns stets gut bekannt und von einer unbestreitbaren, unglücklichen Transparenz. Die ganze — mit der Zeit unbedeutender werdende — Frage war, ob das, was so oft Vaneigem in der S.I. Kritik und Gelächter eingebracht hat, letztlich überwunden oder bis zum Ende bleiben würde. Heute ist die Antwort bekannt. Die Debatte konnte Vaneigem (oder sonst irgendwen) sicher nicht unvorbereitet treffen, denn mehrere Texte, in denen sich niemand zurückgehalten hat, versicherten seit Monaten, daß sie en es fehlt leider hier text !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!! |