Reale Abstraktionen
Der Fetisch im Spektakel
Zur Gesellschaftskritik Guy Debords. Von Stephan Grigat
Guy Debord und die Situationistische Internationale erfahren in den letzten Jahren auch im deutschsprachigen Raum vermehrte Aufmerksamkeit. Zum einen wurde Debords Hauptwerk »Die Gesellschaft des Spektakels« 1996 erneut aufgelegt. Zum anderen wurde das Augenmerk einer größeren Öffentlichkeit durch Ausstellungen wie beispielsweise jene in Wien Anfang 1998 auf die Aktivitäten der Situationisten gelenkt.
In der Regel ging diese verstärkte Rezeption mit einer Reduzierung der Anliegen Debords und anderer Situationisten auf kunst-, kultur- oder auch medientheoretische Fragestellungen einher. Je größer die Begeisterung und das Interesse für die kunst- und kulturkritischen Schriften Debords wird, desto weniger Beachtung findet die radikale Gesellschaftskritik, die Debords Kunst- und Kulturkritik zugrunde liegt. Debord selbst hat darauf hingewiesen, dass die Ersetzung seines Begriffs »Spektakel« durch weitläufige Betrachtungen zum Mediensektor seinen Intentionen nicht mehr entspricht, da so die eigentliche Grundlage des Spektakels, die kapitalistische Warenproduktion, nahezu zwangsläufig affirmiert wird.
Während früher noch Linkskommunisten mit Kritiken daran aufwarteten, dass Debord das Spektakel zum Subjekt des Kapitalismus mache, anstatt zu zeigen, »wie es vom Kapitalismus produziert wird«, (1) versucht man heute meistens, den Kritiker des modernen Warenspektakels selbst zum kritischen Bestandteil des Spektakels zu machen.
Als exemplarisch für solch eine Art der Beschäftigung mit Debord sei hier nur Sebastian Reinfeld genannt, der nach der Lektüre von Louis Althusser und Nicos Poulantzas zielsicher im Umfeld der Grünen gelandet ist und sich in der Zeitschrift der Grünen Bildungswerkstatt in Österreich für die »wunderschönen Texte« der Situationisten begeistert, ohne den in ihnen propagierten radikalen Bruch mit der bürgerlichen Gesellschaft ernst zu nehmen. Stattdessen macht Reinfeld sich vor dem Hintergrund situationistischer Praktiken lieber Gedanken über etwas, das Debord Zeit seines Lebens verabscheut hat: »die besseren Konzepte und ihre zähe Umsetzung«, (2) also konstruktive Oppositionsarbeit.
Debords Kritik sträubt sich weitgehend gegen Vereinnahmungen. In der Linken machte er sich vor allem dadurch unbeliebt, dass er sich entgegen aller Moden weigerte, positiv auf irgendein existierendes staatssozialistisches Modell Bezug zu nehmen, gleichzeitig aber auch sämtliche Kritiker und Kritikerinnen der Staatssozialismen aufs Korn nahm, sobald sie dem realen Sozialismus einen idealen als Identitätsersatz entgegenstellten. Debord gehörte schon früh zu den wenigen, die es schafften, sich sowohl gegen Stalin als auch gegen Trotzki und Lenin zu wenden. Er kritisierte früh das maoistische China wie auch die europäischen Maoisten und Maoistinnen. Aber auch am Anarchismus und am Strukturalismus hatte er genügend auszusetzen.
Auch jene Theoretiker, auf die er sich mitunter bezieht, und deren Einfluss auf sein Denken in seinen Schriften recht deutlich wird, sind, wie beispielsweise Georg Lukács, Gegenstand kritischer Auseinandersetzungen. So zeigte sich dann auch die deutschsprachige Linke weitgehend desinteressiert an der Kritik und den praktischen Experimenten der Gruppe situationistischer Theoretiker und Antipolitiker, die, wie Andreas Benl richtig anmerkte, »keine der zahlreichen linken Ikonen anerkannte, die Revolution neu erfinden wollte und jede populistische Verwässerung ihrer Kritik zurückwies«. (3)
Bei den universitären Theorieverwaltern und -verwalterinnen machte er sich durch seine konsequente Kritik an der akademischen Wissensproduktion nachhaltig unbeliebt. So wie Marx seine Kritik schon früh von der interesselosen Wissenschaft klar abgegrenzt hat, indem er postulierte, dass die Kritik in ihrem Gegenstand ihren Feind erblickt, den sie »nicht widerlegen, sondern vernichten will«, (4) so war sich Debord, der sich nachdrücklich gegen die Einteilung des Denkens in Wissenschaftsdisziplinen aussprach, über die zwangsläufige Unwissenschaftlichkeit seines beabsichtigten praktischen Unterfangens im Klaren: »Das Projekt, die Wirtschaft zu überwinden, von der Geschichte Besitz zu ergreifen, kann nicht selbst wissenschaftlich sein, auch wenn es die Wissenschaft der Gesellschaft kennen - und zu sich zurückführen - muss« (»Die Gesellschaft des Spektakels«, S. 67). (5) Die modernen Sozialwissenschaften betrieben nur mehr eine »spektakuläre Kritik des Spektakels« (S. 168). Das akademische Denken des Spektakels hat sich dadurch zu einer »allgemeinen Wissenschaft des falschen Bewusstseins« (S. 167) herausgebildet.
Vor dem Hintergrund dieser Akademismus- und Wissenschaftskritik gelangt Debord zu einem Wahrheitsbegriff, der im eklatanten Widerspruch zu jedem übergesellschaftlichen und überhistorischen Wahrheits- und Erkenntnisbegriff steht: »Die Wahrheit dieser Gesellschaft ist nichts anderes als die Negation dieser Gesellschaft« (S. 178).
Diese Kritik am bürgerlichen Wahrheits- und Rationalitätsbegriff findet sich auch im Umfeld der Situationisten wieder. Emile Marenssin etwa wendet sich in seiner Schrift aus dem Jahr 1972 nachdrücklich gegen einen Vernunftbegriff, der losgelöst von der eigenen kritisch-praktischen Intention existiert: »Vom Standpunkt des Kapitals aus betrachtet, wird der Kommunismus die Gesellschaft des Irrationalen sein, die Gesellschaft der Verrückten.. (...) Die Rationalität des Kommunismus wird die Irrationalität des Kapitalismus sein.« (6)
Setzen sich das Feuilleton oder die Sozialwissenschaft heute mit Debord auseinander, wird er vor allem als weitsichtiger Kritiker des Medienzeitalters rezipiert oder auch als großartiger Stilist, der aber leider ein wenig zu radikal war. Dagegen soll der Vordenker der Situationisten hier als Fetischkritiker präsentiert werden, der sich explizit auf die Kategorien der Marxschen Werttheorie bezogen hat.
Henri Lefebvre als Stichwortgeber
Debords Thesen zum Zustand der Warengesellschaft im Jahre 1967 sind nicht im luftleeren Raum entstanden. Zum einen sind sie vorm Hintergrund der sich bereits ankündigenden Ereignisse des Jahres 1968 zu sehen. Zum anderen stehen sie in einer bestimmten Theorietradition, die von Debord selbst deutlich dokumentiert wurde. Stark geprägt wurde er sowohl von der Lektüre Lukács' als auch von den Schriften Henri Lefebvres. Anfänglich standen die Situationisten in engem Kontakt mit Lefebvre. Später wurde er zum Ziel einiger Polemiken Debords und anderer Mitglieder der Situationistischen Internationale.
Lefebvre orientierte sich stark an den »Ökonomisch-philosophischen Manuskripten« von Marx. Deswegen hat er in seinem Hauptwerk den Entfremdungsbegriff ins Zentrum seiner Überlegungen gestellt. Lefebvre versucht aber, die Entfremdung immer wieder auf den Fetischismus zu beziehen. Bei ihm finden sich Ansätze, die Kritik des Fetischismus über die Analyse des Waren-, Geld- und Kapitalfetischs auszudehnen. So spricht er beispielsweise vom »Fetischismus des Staates«. (7) Er führt aus, dass gewisse »menschliche Produkte gegenüber der menschlichen Wirklichkeit als eine undurchdringliche, nicht beherrschte Natur (funktionieren), die von außen auf sein Bewusstsein und seinen Willen wirkt.« Das sei in der Regel zwar nur scheinbar so, aber dieser Schein sei zugleich immer auch Realität. Nicht nur die Ware, das Geld und das Kapital, sondern auch »der Staat, die Rechtsinstitutionen, die ökonomischen und politischen Apparate, die Ideologien, (...) funktionieren als Wirklichkeiten, die außerhalb des Menschen sind.« (8) Sie stehen den Menschen als eigengesetzliche Wirklichkeiten gegenüber, obwohl sie nur Produkte der Menschen sind.
Wegen der zentralen Stellung, welche die Begriffe Entfremdung und Fetischismus in Lefebvres »Kritik des Alltagslebens« einnehmen, kann der nach dem Zweiten Weltkrieg aus der französischen KP ausgeschlossene Philosophieprofessor als einer der wichtigsten Stichwortgeber von Debord gelten. Seine Orientierung am jungen Marx, seine teilweise widersprüchliche Begriffsverwendung wie auch seine Betonung der Unerlässlichkeit der Kategorie der Totalität dürften Debord nachhaltig beeinflusst haben.
Auch Lefebvres Hauptanliegen, die Orientierung am Alltag, wird von Debord fortgesetzt. Beide betrachten den Alltag als jene Sphäre, in der die Veränderung ansetzen muss. In der Alltäglichkeit des Lebens der Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft materialisiere sich der Fetischismus der objektiven Gedankenformen aus der Ökonomie. Daher soll er nach Lefebvre und Debord auch dort, im Alltagsleben der bürgerlichen Subjekte, durchbrochen werden.
Vollendeter Fetischismus
Debords Beschreibung der Totalität des Fetischismus und der Ware beginnt in unmittelbarer Anlehnung an das Marxsche »Kapital«, dessen ersten Satz er paraphrasiert: »Das ganze Leben in den Gesellschaften, in welchen die modernen Produktionsbedingungen herrschen, erscheint als eine ungeheure Sammlung von Spektakeln.« (S. 13) Eine feststehende Definition des Begriffs Spektakel gibt Debord in seiner Schrift von 1967 nicht. Er umkreist ihn vielmehr und beschreibt ihn in seinen realen Erscheinungen. Er begreift das Spektakel als gesteigerte Form des Fetischismus: »Das Prinzip des Warenfetischismus ist es (...), das sich absolut im Spektakel vollendet, wo die sinnliche Welt durch eine über ihr schwebende Auswahl von Bildern ersetzt wird, welche sich zugleich als das Sinnliche schlechthin hat anerkennen lassen.« (S. 31f.)
Marx hat die Verwandlung menschlicher Beziehungen in die Beziehungen von Dingen beschrieben. Debord greift dies auf und beschreibt die Verwandlung der menschlichen Beziehungen in die Beziehung zwischen Bildern, die den Menschen noch äußerlicher erscheinen als die Dinge. Anders als in einigen postmodernen Diskursen hingegen, die dazu tendieren, alles in Bilder aufgelöst zu sehen, und die daher keine Realität mehr kennen, die in ihrer Gesamtheit kritisiert werden könnte, bleibt das Bild bei Debord auf die gesellschaftliche fetischistische Totalität, auf die materielle Realität bezogen.
Eine Formulierung, die als zusammenfassende Definition des modernen Spektakels gelesen werden kann, findet sich erst in Debords Text »Kommentare zur Gesellschaft des Spektakels«, der aus dem Jahr 1988 stammt, also 21 Jahre nach der Erstveröffentlichung der »Gesellschaft des Spektakels« erschienen ist und in die deutsche Neuauflage von Debords Hauptwerk übernommen wurde. Dort fasst Debord zusammen, was unter dem Begriff des Spektakels zu verstehen sei: »die Selbstherrschaft der zu einem Status unverantwortlicher Souveränität gelangten Warenwirtschaft und die Gesamtheit der neuen Regierungstechniken, die mit dieser Herrschaft einhergehen«. (S. 194)
Ein Grundmoment des Marxschen Warenfetischs, die Substitution menschlicher Beziehungen durch die reale wie scheinhafte Beziehung von Dingen, ist bei Debord - auch wenn er die diffizile Marxsche Analyse dieser Substitution weder referiert noch explizit das merkwürdige Verhältnis von Schein und Realität bezüglich des Fetischismus reflektiert - konstitutiver Bestandteil des Spektakels: »Der fetischistische Schein reiner Objektivität in den spektakulären Beziehungen verbirgt deren Charakter als Beziehung zwischen Menschen und zwischen Klassen: eine zweite Natur scheint unsere Umwelt mit ihren unvermeidlichen Gesetzen zu beherrschen.« (S. 22) So wie Georg Lukács die rein kontemplative, die nur betrachtende, anschauende Sichtweise des bürgerlichen Denkens beschrieben und kritisiert hat, sieht Debord die Menschen im Spektakel auf die Rolle von Zuschauern reduziert.
Debords Orientierung an den Marxschen Kategorien ist eindeutig. Das Kapital ist bei Debord nicht primär als selbstbewusste Macht, sondern als automatisches Subjekt gegenwärtig, als »sich selbst bewegende Wirtschaft« (S. 27). Im Spektakel ist eine ähnliche irre machende Gleichzeitigkeit von Wirklichkeit und verkehrtem Schein, der aber ebenso wirklich ist, gegenwärtig, wie sie Marx bereits in der einfachen Warenform aufgezeigt hat: »Das Spektakel, das das Wirkliche verkehrt, wird wirklich erzeugt« (S. 16).
Die Parallele zur Realabstraktion des Werts ist hier offensichtlich. Anselm Jappe hat zu Recht darauf hingewiesen, dass bei Debord das Spektakel »nicht nur eine Folge der Denkabstraktion, sondern vor allem der 'Realabstraktion' ist, auch wenn Debord diesen Unterschied nicht ausdrücklich macht«. (9) Während im Wert von jeder Gesellschaftlichkeit abstrahiert wird, obwohl er nichts anderes als Ausdruck bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse wie auch ihre Vermittlung mit sich selbst ist, abstrahieren die Bilder des Spektakels von allem Lebendigen, das Debord als positiven Gegenpol zur spektakulären Herrschaft betrachtet.
Weil im Lebendigen der positive Gegenpol zur toten, unmenschlichen Abstraktion gesehen wird, droht Debord allerdings - ähnlich wie andere Situationisten, insbesondere Raoul Vaneigem, bei dem diese Tendenz sehr viel stärker ausgeprägt ist und der dafür auch einige Kritik von Debord und dem italienischen Situationisten Gianfranco Sanguinetti erntete - zeitweise in Vitalismus, Anthropologie und Lebensphilosophie abzugleiten. Wohl nicht zuletzt wegen seiner Absage an die Kunst, die mitunter notwendige Distanz zu ermöglichen vermag, steht Debord vor dem Problem, dem Spektakel mit einem Konkretismus zu begegnen, der aber dennoch merkwürdig abstrakt bleibt. Denn was das Lebendige nun ausmacht, was also das demnach tote Spektakel negieren soll, bleibt selbstverständlich unklar.
Debord konstatiert, dass »in der wirklich verkehrten Welt das Wahre ein Moment des Falschen (ist)« (S. 16). Basiert die Gesellschaft auf einem falschen Prinzip, und ist dieses Prinzip in dem Sinne total, dass es alle Bereiche der Gesellschaft tendenziell durchdringt und strukturiert, so ist jede positiv gefasste Aussage über diese Gesellschaft insofern immer falsch, als ihr die Affirmation des falschen Grundprinzips der Wertform zugrunde liegt. Selbst der emanzipative Impuls verkehrt sich, wenn er sich der gesellschaftlichen Struktur, von der es sich zu emanzipieren gilt, nicht bewusst ist, in Affirmation.
Das Spektakel ist die materielle Wiederkehr des Vorgängers des Warenfetischs, der »materielle Wiederaufbau der religiösen Illusion« (S. 28). Mit seinen selbst geschaffenen Verfahrensformen ist es ein »Pseudo-Heiliges« (S. 23). Debord konstatiert Gemeinsamkeiten zwischen Religion und Warenfetischismus, tendiert aber dazu, den Warenfetischismus nicht mehr im streng Marxschen Sinne zu verstehen, sondern zu einem Begriff zu machen, in dem sich vor allem die fast libidinöse Beziehung von Menschen zu den in Warenform existierenden Dingen zeigt: »Wie bei dem krampfhaften Taumeln oder den Wunderheilungen der Schwärmer des alten religiösen Fetischismus gelangt auch der Warenfetischismus zu Momenten schwärmerischer Erregung« (S. 54).
Das keynesianische Akkumulationsmodell mit seiner Bindung an den Massenkonsum fungiert bei Debord als Grundlage für die Ausdehnung der fetischistischen Warenherrschaft von der Produktion in die Sphäre der Konsumtion. Anders als große Teile der kommunistischen und sozialistischen Linken in Frankreich und auch in anderen Ländern sah Debord im keynesianischen Wohlfahrtsstaat nichts zu Verteidigendes. In der sozialstaatlichen Alimentierung des Proletariats sah er vielmehr einen integralen Bestandteil des modernen Spektakels. Neben die Entfremdung in der Produktion trete »der entfremdete Konsum« als »eine zusätzliche Pflicht für die Massen« (S. 35). Der produzierte Überschuss an Waren erfordert von den ihn Produzierenden »einen Überschuss an Kollaboration« (S. 36).
Bei Debord lassen sich Hinweise darauf finden, wie eine Kritik, welche die Fetischisierung einzelner Waren anprangert, mit einer allgemeinen Kritik des Fetischismus in Verbindung gebracht werden kann. In der Regel führt die Kritik an der Überbewertung einer bestimmten Ware zur Affirmation des Warendaseins der Dinge überhaupt. Die Rede vom »Fetisch Auto« etwa rührt in keiner Weise an den Produktionsbedingungen, unter denen Autos als Waren hergestellt und deshalb mit Radiergummis, Eisbechern und Topfpflanzen vergleichbar werden. Wenn Debord hingegen vom »Spektakel der Automobile« (S. 53) spricht, zeigt er anhand einer bestimmten, in der kapitalistischen Gesellschaft zumindest in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ausgesprochen wichtigen Ware die zerstörerische Kraft von Warenherrschaft im allgemeinen.
Aber auch wenn Debord die Kritik an einzelnen Waren und am jeweiligen Verlangen nach ihnen immer in eine allgemeine Kritik an der Warenförmigkeit der Dinge bettet, bleibt die Selbstverständlichkeit, mit der er von der »Künstlichkeit« (S. 37) bestimmter Bedürfnisse spricht, problematisch. Mit seiner Abqualifizierung von »Pseudobedürfnissen« (S. 40) suggeriert er, die eigentliche Bedürfnisstruktur menschlicher Individuen zu kennen.
Mit der Kritik angeblich falscher Bedürfnisse geht ein unkritischer Bezug auf den Gebrauchswert einher. Debord sieht den Gebrauchswert mit der fortschreitenden Entwicklung der Warengesellschaft zusehends verkümmern. Dem »tendenziellen Fall des Gebrauchswerts« (S. 38) auf der einen Seite, von dem auch Marenssin mehrfach spricht, stehen bei Debord die bereits vorhandenen Bedingungen für die autonome Herrschaft des Tauschwerts gegenüber, der nur zu seiner Durchsetzung des Gebrauchswerts bedurft habe. Der Gebrauchswert als immer schon und immer noch konstituierender Bestandteil der Ware gerät bei Debord, der eben keine explizite Unterscheidung zwischen einem historisch-emphatischen und einem trivialen Begriff des Gebrauchswerts trifft, sondern ihn immer schon stillschweigend im historisch-emphatischen Sinne begreift, aus dem Blick.
In einem merkwürdigen Widerspruch zu Debords Ausführungen zum Spektakel als nochmals gesteigerter Form der Mystifikation, als potenziertem oder vollendetem Fetischismus, der die Menschen zu Zuschauern degradiert, steht seine Bezugnahme auf die Marxschen Ausführungen aus dem »Manifest der Kommunistischen Partei«. Debord schreibt, eine Formulierung aus dem »Manifest« übernehmend: »Indem sie in die Geschichte geworfen sind, indem sie an der Arbeit und an den Kämpfen, aus denen diese Geschichte besteht, teilnehmen müssen, sind die Menschen gezwungen, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen« (S. 61). Gleichzeitig beschreibt er ausführlich und eindrucksvoll, wie die Augen der Menschen nur mehr auf das sich scheinbar völlig unabhängig von ihnen abspielende Spektakel gerichtet sind. Während bei Marx die Formulierungen des »Manifests« zur angeblichen Klarsicht der Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft daraus erklärbar sind, dass er zu dieser Zeit seine Werttheorie und die in ihr enthaltene Kritik des Fetischismus noch nicht entwickelt hatte, bedient sich Debord, der die Fetischkritik aus dem »Kapital« kennt, je nach Erfordernis beim frühen oder beim späten Marx - was an sich noch nicht zu kritisieren wäre, aber dann problematisch wird, wenn sich die jeweiligen Textstellen inhaltlich widersprechen.
Spektakel und Staat
Debord denkt die Darstellung der Totalität der fetischistischen Warenwelt im Spektakel immer im Zusammenhang mit der politischen Gewalt, mit dem staatlichen Souverän: »Die verallgemeinerte Entzweiung des Spektakels ist untrennbar vom modernen Staat« (S. 22). Debord konstatiert zwar eine Verselb-ständigung der Ökonomie vom bewussten Handeln der Menschen, aber eben keine Verselbständigung der Wirtschaft vom Staat in dem Sinne, dass der Staat wieder als positiv eingreifender Regulator angerufen werden könnte.
Die spektakuläre Gesellschaft basiert zwar auf Verselbständigungen, aber gerade über diese Verselbständigungen konstituiert sie ihre Einheit. Debord reflektiert die notwendige Trennung der politischen Gewalt von der Ökonomie, die sie zu garantieren hat, ohne diese Gewalt positiv aufzuladen oder für völlig autonom zu erklären: »Wie die moderne Gesellschaft ist das Spektakel zugleich geeint und geteilt. Wie sie baut es seine Einheit auf der Zerrissenheit auf.«
Gegen das im staatsfetischistischen Marxismus gängige Ausspielen des freien Marktes gegen den Staat richtet sich Debord mit dem Verweis auf die gegenseitige Abhängigkeit der beiden die gesellschaftliche Totalität in der bürgerlichen Gesellschaft konstituierenden Instanzen: »Von jeder der beiden lässt sich sagen, dass sie die andere in der Gewalt hat. Sie einander gegenüberzustellen, zu unterscheiden, worin sie vernünftig und worin sie unvernünftig sind, ist absurd« (S. 284).
Debords Staatskritik geht einher mit einer Kritik der Politik. Politik müsste sich auf Widersprüche in der spektakulären Gesellschaft beziehen. Debord leugnet auch nicht, dass diese Widersprüche existieren, aber er desavouiert den Glauben an die systemtransformierende Kraft dieser Widersprüche: »Aber wenn der Widerspruch im Spektakel auftaucht, wird ihm seinerseits durch eine Umkehrung seines Sinnes widersprochen« (S. 45). Die Totalität ist bei Debord zwar widersprüchlich, aber die Widersprüche sind der Totalität immanent. Daher ist auch die Politik, die der Widersprüche bedarf, selbst dem Spektakel immanent und weist nicht über es hinaus.
Das Proletariat im Spektakel
Die Praxis des Proletariats als revolutionärer Klasse kann für Debord »nicht weniger sein als das geschichtliche Bewusstsein, das auf die Totalität seiner Welt wirkt« (S. 64). Damit ist aber noch nichts darüber gesagt, ob das Proletariat als real existierende und zunächst nicht besonders revolutionäre Klasse dieses geschichtliche Bewusstsein auch hat.
Dennoch bleibt für Debord - zumindest noch in der »Gesellschaft des Spektakels« - das Proletariat jene Menschengruppe, die als Klasse die Emanzipation zu verwirklichen hat. Subjektiv sei das Proletariat »noch von seinem praktischen Klassenbewusstsein entfernt (...)« (S. 102). Wenn aber das Proletariat entdeckt, »dass seine geäußerte eigene Kraft zur fortwährenden Verstärkung der kapitalistischen Gesellschaft beiträgt, (...) entdeckt es auch durch die konkrete geschichtliche Erfahrung, dass es die Klasse ist, die jeder erstarrten Äußerung und jeder Spezialisierung der Macht total feind ist« (S. 102f.).
Debord ist Ende der sechziger Jahre kritisch gegenüber dem gegenwärtigen Proletariat, aber durchaus zuversichtlich für die Zukunft. Die Emanzipation wird bei ihm noch mit dem Selbstbewusstsein des Proletariats zusammengedacht. Das Proletariat erschien Debord kurz vor den Ereignissen des Pariser Mai von 1968 als »einzige(r) Bewerber um das geschichtliche Leben« (S. 72).
Erst später, in den neunziger Jahren, erkannte er, auch wenn er sich von der Vorstellung vom Proletariat als Vollender der Emanzipation nicht gänzlich verabschiedete, dass die Klassenherrschaft, wie er in der Vorrede zur dritten französischen Ausgabe der »Gesellschaft des Spektakels« formuliert, »mit einer Versöhnung geendet hat« (S. 8), dass also das Proletariat, statt die Feindschaft zu Staat und Kapital zu entwickeln, auf die volle Integration in das fetischistische Warenspektakel gesetzt hat und dass die falsche Totalität der Gesellschaft nunmehr ohne Negation, ohne Einspruch existiert.
In den »Kommentaren« ist jener kritische Pessimismus, der auch die Texte anderer Gesellschaftskritiker seit dem Nationalsozialismus prägte, in potenzierter Form und mit den in solchen Zusammenhängen offensichtlich obligatorischen Übertreibungen anwesend: »Zum ersten Mal im modernen Europa versucht keine Partei oder Splittergruppe auch bloß vorzugeben, sie wolle es wagen, etwas von Belang zu ändern. (...) Es ist ein für alle Mal geschehen um jene beunruhigende Konzeption, die mehr als zweihundert Jahre vorgeherrscht hat und derzufolge man eine Gesellschaft kritisieren oder ändern, sie reformieren oder revolutionieren kann« (S. 213).
Die Vorstellung Debords, wie das Proletariat zu einem systemtransformierenden Bewusstsein gelangen kann, war aber schon in den sechziger Jahren beachtlich. So sehr er ein Freund der Spontaneität war, so sehr war ihm doch bewusst, dass ein unmittelbar und unreflektiert artikuliertes Unbehagen keineswegs von sich aus über das Spektakel hinausweist. Er war sich im Klaren darüber, »dass die Unzufriedenheit selbst zu einer Ware geworden ist« (S. 48).
Debord war seiner Zeit einerseits verhaftet, da er sich die Emanzipation nur als proletarische Revolution vorstellen konnte. Andererseits war er seiner Zeit voraus, da er die einzige Möglichkeit, dass die Revolution doch einmal Wirklichkeit werden könnte, in der massenhaften Aneignung kritischer Gesellschaftstheorie sah: »Die proletarische Revolution hängt gänzlich von der Notwendigkeit ab, dass die Massen zum ersten Mal die Theorie als Verständnis der menschlichen Praxis anerkennen und erleben müssen. Sie fordert, dass die Arbeiter zu Dialektikern werden und dass sie in die Praxis ihr Denken einschreiben« (S. 107).
Noch wenige Jahre zuvor war die Begeisterung für spontane Protest- und Widerstandsaktionen bei den Situationisten sehr viel ausgeprägter. Nach der ordnungsapologetischen und staatsfetischistischen Kritik fast aller linken Strömungen an den Krawallen in Watts 1965 schwang sich die Situationistische Internationale in der zehnten Nummer ihrer gleichnamigen Zeitschrift zu einer vehementen Verteidigung der Riots auf. Sie nahm die Aufständischen aber nicht nur einfach gegen die Angriffe der reformistischen und mit der Herrschaft fraternisierenden Linken in Schutz, sondern deklarierte die ganze Angelegenheit zu einer »Revolte gegen die Ware« und bescheinigte den Plünderern, dass sie den »Tauschwert und die Warenwirklichkeit« (10) ablehnen.
Den scheinbaren Subjektstatus der Ware sahen sie im Riot aufgehoben: »Der Mensch, der die Waren zerstört, zeigt dadurch seine Überlegenheit gegenüber den Waren.« (11) Diebstahl erscheint den Situationisten als antikapitalistischer, den Fetischismus der bürgerlichen Gesellschaft aufhebender Akt: »Sobald die Warenproduktion nicht mehr gekauft wird, wird sie kritisierbar (...). Nur wenn sie mit Geld (...) bezahlt wird, wird sie wie ein bewundernswerter Fetisch respektiert.« (12)
Die Problematik und die Ambivalenzen, die in jedem spontanen Widerstand gegen die fetischistische Warenherrschaft, der sich der Struktur und Funktionsweise von Ökonomie und Politik nicht bewusst ist, enthalten sind, wird nicht thematisiert. Die richtige Verteidigung der Respektlosigkeit gegenüber den Eigentumsverhältnissen wird hier zur falschen Annahme, diese Respektlosigkeit impliziere von sich aus eine Kritik am Eigentum überhaupt. Der Dieb kritisiert aber nicht die Ware, sondern eignet sie sich an. Diese Erkenntnis war inden siebziger Jahren auch im Kreis der Situationisten zu vernehmen war: »Der Diebstahl, auch wenn ihm die Verteilung folgt, stellt den Kapitalismus überhaupt nicht in Frage; er ist im Gegenteil eine seiner Ausdrucksformen.« (13)
Manipulation und subjektlose Herrschaft
In den neunziger Jahren sah Debord nochmals eine Steigerung der Mystifikation. Aber gerade in seinen späteren Texten bleibt es stets merkwürdig unklar, ob der Mystizismus und Fetischismus der Warengesellschaft, ob die spektakuläre Gewalt nun in erster Linie einer subjektlosen Herrschaft geschuldet ist oder permanent durch bewusste Manipulation hergestellt wird.
In den »Kommentaren« wird immer unklarer, was mit dem »generalisierte(n) Geheimnis« (S. 204), das hinter dem Spektakel steht, genau gemeint ist. Es scheint so, als ob in den »Kommentaren« mit dem Geheimnis des Spektakels nicht mehr ein Geheimnis im Sinne des Fetischcharakters der Ware gemeint ist, sondern ein von Geheimdiensten gehütetes spezielles Herrschaftswissen.
Debord droht, wie von mehreren Seiten kritisiert wurde, in seinen späteren Texten von seiner aktualisierten, die Transformationen der Gesellschaft im 20. Jahrhundert zumindest partiell reflektierenden Fetischkritik aus der »Gesellschaft des Spektakels« in Verschwörungs- und Manipulationstheorien abzugleiten: »Die Kritik der gesellschaftlichen Totalität des modernen Kapitalismus tritt zugunsten einer traditionellen Manipulationstheorie in den Hintergrund.« (14) Diese Manipulationstheorie lässt sich auch nicht damit rechtfertigen, dass es Manipulation und Verschwörung real gibt. Es käme gerade darauf an, diese in Beziehung zur fetischistischen Grundlage der Gesellschaft zu analysieren, was Debord nur noch in Ansätzen versucht.
Der größte Mangel Debords jedoch besteht - neben seiner unkritischen Bezugnahme auf das Marxsche Frühwerk bei gleichzeitiger weitgehender Ausblendung der Implikationen der Marxschen Wertformanalyse und ihrer Implikationen für einen Begriff des Kapitals - in seiner Ignoranz gegenüber dem Nationalsozialismus und seinem spezifischen Vernichtungsantisemitismus, welche der leisen Tendenz zu Verschwörungs- und Manipulationstheorien sicherlich nicht im Wege stand.
Debord erörtert zwar in knappen Worten den Beitrag des Faschismus zur Herausbildung des modernen Spektakels, kann ihn aber nur mit einem totalitarismustheoretischen Vokabular beschreiben. Die gleichzeitige Kritik an faschistischer und stalinistischer Herrschaft zeigt zwar eine Parallele beispielsweise zu Adorno und Horkheimer auf, aber die Ausblendung des spezifisch nationalsozialistischen Antisemitismus markiert in diesem Zusammenhang eine der deutlichsten Differenzen der Situationisten zur Kritischen Theorie. In Debords Hauptwerk, das »immerhin das Wesen der Gegenwart auf den Begriff zu bringen verspricht, findet sich kein Wort über Antisemitismus, Nazismus, Massenvernichtung«. (15)
Dennoch: Debord hat mit seinem Versuch, die Marxsche Kritik des Fetischismus und die an ihr orientierte Gesellschaftskritik aufzugreifen, weiterzuentwickeln und zu einer zeitgemäßen Kritik fetischistischer, sich spektakulär darstellender Warenherrschaft zu verdichten, neben der Kritischen Theorie eine der wichtigsten Kritiken der bürgerlichen Gesellschaft im 20. Jahrhundert geliefert. Er hat damit in Frankreich früh eine fetischkritische Tradition begründet, die fortzuführen heute von einigen kleinen Zirkeln versucht wird.
Sie unterscheidet sich angenehm vom politiksüchtigen Althusser-Marxismus, der mit Fetischkritik noch nie so recht etwas anzufangen wusste und wohl nicht zuletzt deswegen im akademischen Marxismus bei weitem einflussreicher wurde als die kaum mit universitären Ansprüchen kompatible Kritik Debords.
Anmerkungen:
(1) Dauvé, Gilles: Kritik der Situationistischen Internationale. in: Orth, Roberto (Hg.): Das große Spiel. Die Situationisten zwischen Politik und Kunst. Hamburg 2000 (1979), S. 117.
(2) Reinfeld, Sebastian: Ein unabgeschlossenes Forschungsvorhaben. in: Planet, Nr. 4, 1998, S. 14.
(3) Benl, Andreas: Eine Situation schaffen, die jede Umkehr unmöglich macht. Guy Debord und die Situationistische Internationale. in: jour-fixe-initiative berlin (Hg.): Kritische Theorie und Poststrukturalismus. Theoretische Lockerungsübungen. Berlin - Hamburg 1999, S. 63.
(4) Marx, Karl: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung. in: Marx-Engels-Werke, Bd. 1, Berlin 1988 (1844), S. 380, Herv. im Orig.
(5) Debord, Guy: Die Gesellschaft des Spektakels. Berlin 1996 (1967), S. 67. Die Seitenangaben im Text beziehen sich auf diese Ausgabe. Alle Hervorhebungen im Original.
(6) Marenssin, Emile: Stadtguerilla und soziale Revolution. Über den bewaffneten Kampf und die Rote Armee Fraktion. Freiburg i. Br. 1998 (1972), S. 110.
(7) Lefebvre, Henri: Kritik des Alltagslebens. Grundrisse einer Soziologie der Alltäglichkeit. Frankfurt/M. 1987 (1947) S. 441.
(8) Ebd., S. 173.
(9) Jappe, Anselm: Politik des Spektakels - Spektakel der Politik. Zur Aktualität der Theorie von Guy Debord. in: Krisis, Nr. 20, 1998, S. 109.
(10) Niedergang und Fall der spektakulären Warenökonomie. in: Der Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten. Hamburg 1995, S. 176. Herv. i. Orig.
(11) Ebd., S. 177.
(12) Ebd.
(13) Marenssin, a.a.O., S. 132.
(14) Benl, a.a.O., S. 75.
(15) Bruhn, Joachim: Der Untergang der Roten Armee Fraktion. Eine Erinnerung für die Revolution. in: Marenssin, a.a.O., S. 24.
Jungle World, Bergmannstraže 68, 10961 Berlin, Germany
Tel. ++ 49-30-61 28 27 31
Fax ++ 49-30-61 8 20 55
E-Mail:
redaktion@jungle-world.com