Wildcat-Zirkular Nr. 34/35 - März 1997 - S. 66-92 [z34holl2.htm]


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Krise, Fetischismus, Klassenzusammensetzung

von John Holloway (in: Open Marxism, Vol. II: Theory and Practice (1992), Kapitel 5)

Die Welt verändert sich schnell. Veränderung ist oft der Gegenstand von Konflikten. Diejenigen, die sich der Veränderung widersetzen, werden oft als unvernünftig dargestellt, als dumme Menschen, die sich dem Unvermeidlichen in den Weg stellen und die Kämpfe vergangener Tage ausfechten. Gesellschaftliche Trends werden für unausweichlich gehalten.

Diese Argumente waren in den letzten paar Jahren immer wieder zu hören, nicht nur von Rechten, sondern auch von Linken. Von vielen wird behauptet, der Kapitalismus würde in ein neues Stadium eintreten, das oft als Neo- oder Post-Fordismus bezeichnet wird. Sozialisten müßten sich dieser neuen Realität anpassen und die Bedeutung von Sozialismus überdenken.

Aber tritt der Kapitalismus in eine neue Phase? Und wenn, wie kommt er dahin? Ersetzt eine Phase, eine unausweichliche Tendenz, einfach eine andere? Und wenn nicht, was ist das Wesen des Übergangs? Diese Frage ist wichtig: theoretisch und politisch.

Schon der Begriff einer »Phase« des Kapitalismus unterstellt, daß es sich um einen qualitativen Wendepunkt handelt, einen Bruch im normalen Prozeß der Veränderung. Gesellschaftliche Veränderung, ein ständiger Prozeß, nimmt derart zu, daß am Ende etwas qualitativ anderes als bisher herauskommt.

Krise

Ein qualitativer Wendepunkt, ein Bruch im normalen Prozeß der Veränderung, ist eine Krise. Das Wort »Krise« stammt aus der Medizin. In seiner ursprünglichen griechischen Bedeutung bezog es sich auf den Wendepunkt bei einer Krankheit, »wenn sich Tod oder Erholung in der Schwebe befinden« (Rader 1979, S. 187, zitiert bei O'Connor 1987, S. 55). Es wurde gesagt, eine Krise träte ein, »immer wenn die Krankheit intensiver wird oder verschwindet, sich in eine andere Krankheit verwandelt oder ganz verschwindet« (Stern 1970, zitiert bei O'Connor 1987, S. 55). Im medizinischen Sinne ist eine Krise demnach nicht notwendigerweise etwas Schlechtes. Sie verweist vielmehr auf die ungleichmäßige Entwicklung einer Krankheit, auf die Unterbrechung der relativ homogenen Entwicklungsformen durch Momente, in denen sich der Wandel zum Besseren oder Schlechteren intensiviert, in denen ein Entwicklungsmuster abbricht und (vielleicht) ein neues auftaucht: eine Zeit der Angst und eine Zeit der Hoffnung.

Auf die gesellschaftliche und historische Entwicklung angewandt, bezieht sich der Begriff der Krise nicht einfach auf »Wirtschaftskrisen«, Zeiten«, sondern auf Wendepunkte. Er lenkt die Aufmerksamkeit auf die Diskontinuität von Geschichte, auf Einschnitte in den Entwicklungspfaden, auf Brüche in einem Bewegungsmuster, auf Schwankungen in der Intensität von Zeit. Im Begriff der Krise ist enthalten, daß die Geschichte nicht ruhig oder vorhersehbar ist, sondern voll von Richtungswechseln und Zeiten intensivierter Veränderungen.

Wenn die Geschichte kein ruhiger, gleichmäßiger Entwicklungsprozeß ist, dann folgt daraus, daß der Begriff der Krise im Zentrum jeder Theorie gesellschaftlicher Veränderung stehen muß. Wie O'Connor (1979) es sagt: »Die Vorstellung der Krise steht im Mittelpunkt aller ernsthaften Diskussionen über die moderne Welt.« (S. 49)

Zeiten intensivierter gesellschaftlicher Veränderung lassen sich aus zwei Richtungen betrachten: als Zeiten der gesellschaftlichen Restrukturierung, Zeiten, in denen die gesellschaftlichen Verhältnisse des Kapitalismus reorganisiert und auf eine neue Basis gestellt werden; oder als Zeiten des Bruchs, des möglichen Zusammenbruchs, Zeiten, in denen der Kapitalismus an seine Grenzen stößt. Entsprechend der medizinischen Analogie kann der Patient genesen oder nicht. Der Arzt sieht sich die Krise an und untersucht sie im Hinblick auf die Genesung; der Totengräber sieht sich die Krise an und hat dabei etwas völlig anderes im Kopf. Die Krise des Kapitalismus hat eine ganz besondere Bedeutung für diejenigen, die die Totengräber des Kapitalismus sein wollen. Für den gleichgültigen Beobachter ist die Krise eine Zeit der intensivierten Veränderung, die den einen oder anderen Weg einschlagen kann; den Menschen, der eine radikal andere Zukunft will, interessiert an ihr das Element des Bruchs.

Obwohl der Begriff der Krise für jede Theorie gesellschaftlicher Veränderung wichtig ist, ist er für jede Theorie, die den Kapitalismus vom Standpunkt seiner radikalen Überwindung aus betrachtet, zentral. Dies gilt besonders für die marxistische Tradition. Was den Marxismus am deutlichsten von anderen Formen radikalen Denkens unterscheidet, ist die Vorstellung, daß er den Kapitalismus nicht nur im Sinne der Wünschbarkeit oder Notwendigkeit einer anderen Form der gesellschaftlichen Organisation versteht, sondern auch im Sinne ihrer Möglichkeit. Die radikale Umwälzung der Gesellschaft ist möglich, weil der Kapitalismus in sich instabil ist, und diese Instabilität drückt sich in seinen periodischen Krisen aus, in denen der Kapitalismus seiner eigenen Sterblichkeit begegnet. Der Begriff der Krise steht im Mittelpunkt des Marxismus. Es ist keine Übertreibung zu sagen, daß der Marxismus eine Theorie der Krise ist, eine Theorie der strukturellen gesellschaftlichen Instabilität. Während sich andere radikale Traditionen auf die unterdrückerische Natur der kapitalistischen Gesellschaft konzentrieren, unterscheidet sich der Marxismus von ihnen dadurch, daß er nicht nur eine Theorie der Unterdrückung ist, sondern auch und vor allem eine Theorie der gesellschaftlichen Instabilität.

Wenn der Marxismus eine Theorie der Krise ist, dann ist er eine offene Theorie. Marx selbst hat keine ausgearbeitete Theorie der Krise hinterlassen, und seit der Veröffentlichung des Kapital sind die Debatten über die Theorie der Krise immer weitergegangen. Innerhalb der marxistischen Theorie gibt es große Unterschiede in der Krisentheorie, zwischen Disproportionalitätstheorie, Unterkonsumtionstheorie, Überakkumulationstheorie usw. Diese Debatten werden oft in scheinbar technischen, ökonomischen Kategorien geführt: aber worum es in jeder Diskussion über die Krise geht, ist das Verständnis der kapitalistischen Instabilität und die Möglichkeit des Übergangs zu einer radikal anderen Art von Gesellschaft. Die Theorie der Krise kann nicht getrennt werden von unserem Verständnis der kapitalistischen Gesellschaft und dessen, was zu ihrer Veränderung führt.

Der Begriff der gesellschaftlichen Veränderung bei Marx

Der Kapitalismus ist instabil, weil er eine antagonistische Gesellschaft ist. Der gesellschaftliche Antagonismus ist die Quelle der Veränderung in der Gesellschaft. Wie Marx im berühmten Einleitungssatz des Kommunistischen Manifests schrieb: »Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.«

Innerhalb der marxistischen Tradition gibt es allerdings verschiedene Arten, gesellschaftliche Veränderung zu begreifen. Manchmal werden die Unterschiede als Unterscheidung zwischen dem jungen Marx und dem alten Marx dargestellt. Demzufolge habe der junge Marx den Kampf und das subjektive Handeln als Quelle der historischen Veränderungen betont, während der reifere Marx, der Marx des Kapital, die gesellschaftliche Entwicklung als »objektive Gesetze der kapitalistischen Entwicklung« analysiert habe. In den letzten Jahren ist diese Unterscheidung am striktesten von Althusser und der strukturalistischen Schule des Marxismus gemacht worden, aber die (explizite oder implizite) Trennung des Kampfs von den Gesetzen der kapitalistischen Entwicklung ist in der marxistischen Tradition weitverbreitet. Dies geschieht sehr oft so, daß die Bedeutung des Klassenkampfs zwar wahrgenommen, er aber den Gesetzen der kapitalistischen Entwicklung untergeordnet oder als ein Ereignis innerhalb ihres Rahmens betrachtet wird.

Die unterschiedlichen Betonungen finden sich nicht nur in Unterschieden zwischen dem »jungen Marx« und dem »reifen Marx«, sondern in seinem gesamten Werk. Der Text, der lange Zeit als die klassische Darstellung der Marxschen Theorie betrachtet wurde, ist der Abschnitt im Vorwort seiner Schrift von 1859 Zur Kritik der politischen Ökonomie, in der Marx die Schlußfolgerungen aus seinen früheren Studien wiedergibt:

»Das allgemeine Resultat, das sich mir ergab und, einmal gewonnen, meinen Studien zum Leitfaden diente, kann kurz so formuliert werden: In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewußtseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozeß überhaupt. Es ist nicht das Bewußtsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewußtsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau langsamer oder rascher um.« (1859, S. 8f.)

In den letzten Jahren ist das Vorwort von 1859 vielfach kritisiert worden: dies war Teil einer allgemeineren Kritik an der »Orthodoxie« der kommunistischen Parteien und eines Wandels in der internationalen Bewegung der kommunistischen Parteien seit den 60er Jahren. Diese Kritik betont im allgemeinen die »relative Autonomie« des Überbaus mit dem Hinweis darauf, daß die Ökonomie nur »in letzter Instanz« bestimmend ist. Auf diese Weise gibt es einen größeren Spielraum für die Erreichung gesellschaftlicher Veränderungen durch die politische, ideologische oder rechtliche Ebene, als es nach dem Vorwort von 1859 anscheinend möglich wäre.

Diese Kritik scheint einen radikalen Bruch mit dem ökonomischen Determinismus im Text von Marx zu vollziehen. Bei genauerer Betrachtung zeigt sich aber, daß hier derselbe begriffliche Rahmen reproduziert wird, der im 1859er Vorwort enthalten ist. Die Gesellschaft wird immer noch als - ökonomische, politische und ideologische - Struktur untersucht. Der Unterschied besteht nur in der Autonomie, die jeder dieser Strukuren zugeschrieben wird.

Es gibt eine grundsätzlichere Kritik an dem 1859er Vorwort, die sogar in noch stärkerem Maße auf viele Kritiken des Vorworts angewandt werden kann. Das Problematische in der Formulierung von Marx ist nicht so sehr das Verhältnis zwischen den verschiedenen Strukturen, sondern die Abwesenheit des Antagonismus in der Basis-Überbau-Metapher. Der einzige Konflikt, der in diesem Abschnitt erwähnt wird, ist der Konflikt zwischen den materiellen Produktivkräften der Gesellschaft und den existierenden Produktionsverhältnissen - ein Konflikt, der seinen Verlauf völlig unabhängig vom menschlichen Willen nimmt, sofern wir es von dieser einzelnen Textstelle aus beurteilen. Die Marxsche Formulierung dadurch abzuändern, daß wir von der »relativen Autonomie« des Überbaus sprechen, ändert daran wenig: dasselbe leblose Modell wird dadurch nur in anderer Form reproduziert.

Dem Vorwort von 1859 kann eine andere Stelle bei Marx gegenübergestellt werden, an der auch die Zentralität der Produktion betont wird, aber in einer ganz anderen Weise:

»Die spezifische ökonomische Form, in der unbezahlte Mehrarbeit aus den unmittelbaren Produzenten ausgepumpt wird, bestimmt das Herrschafts- und Knechtschaftsverhältnis, wie es unmittelbar aus der Produktion selbst hervorwächst und seinerseits bestimmend auf sie zurückwirkt. Hierauf aber gründet sich die ganze Gestaltung des ökonomischen, aus den Produktionsverhältnissen selbst hervorwachsenden Gemeinwesens und damit zugleich seine spezifische politische Gestalt.« (Kapital Bd. 3, S. 799)

Der Schlüssel ist hier die Produktion, nicht weniger als in dem Abschnitt aus dem 1859er Vorwort, aber die Produktion ist hier nicht die ökonomische Basis, sondern der unaufhörliche Antagonismus. Im Herzen jeder Klassengesellschaft steht ein antagonistisches Verhältnis, ein Konfliktverhältnis: das Herauspumpen der Mehrarbeit aus den unmittelbaren Produzenten. Der Konflikt hört nie auf; wenn die herrschende Klasse nicht mehr herauspumpt, bricht die Gesellschaft zusammen. Die Form, die dieser beständige Antagonismus annimmt, ist der Schlüssel zum Verständnis jeder Klassengesellschaft.

Diese Textpassage aus dem Kapital liefert uns einen ganz anderen Ausgangspunkt als die üblichen Interpretationen des 1859er Vorworts. Das Vorwort von 1859 läßt uns hilflos zurück, als bloße Objekte historischer Veränderungen, wenn die Produktivkräfte und die Produktionsverhältnisse hoch über unseren Köpfen zusammenstoßen. Die andere Textstelle stellt uns in den Mittelpunkt der Analyse, als Teile eines unaufhörlichen Klassenantagonismus, aus dem es kein Entkommen gibt, weil wir alle in irgendeiner Weise mit der Reproduktion der Gesellschaft und dem Auspumpen der Mehrarbeit, von der sie abhängt, verbunden sind.

Form und Fetischismus

Klassenkampf ist also für den Marx des Kapital nicht weniger zentral als für den Marx, der fast zwanzig Jahre zuvor das Kommunistische Manifest geschrieben hatte. Was beobachtet werden kann, ist nicht ein Übergang vom Klassenkampf zu den »Gesetzen der kapitalistischen Entwicklung«, sondern ein Übergang vom Klassenkampf im allgemeinen zu der spezifischen Form, die der Klassenkampf in der kapitalistischen Gesellschaft annimmt. Die Bedeutung des Kapital liegt nicht darin, daß es eine Untersuchung der ökonomischen Basis oder der »objektiven Gesetze der kapitalistischen Entwicklung« ist, sondern darin, daß es eine Analyse des Kampfs ist.

Damit soll nicht gesagt werden, daß es im Kapital hauptsächlich darum geht, die Zentralität des Kampfs zu behaupten. Das war bereits in früheren Schriften geschehen und den Leuten, für die Marx schrieb, ohnehin klar. Marx geht es vielmehr darum zu verstehen, was das Besondere am Klassenantagonismus in der kapitalistischen Gesellschaft ist. Das Kapital ist eine Formuntersuchung des Kampfs in der kapitalistischen Gesellschaft, eine Analyse der Formen, die die antagonistischen gesellschaftlichen Verhältnisse annehmen. Einerseits ist dies der Grund, warum für den Leser die geballte Faust nicht immer offensichtlich ist; aber dies ist auch der Grund, warum alle Kategorien des Kapital Kategorien des Kampfs sind.

Von Anfang an sind die Kategorien des Kapital Kategorien des Antagonismus. Das heißt nicht, daß Marx unmittelbar vom Ausbeutungsverhältnis ausgeht, wie er es zum Beispiel nach Ansicht von Negri (1984) hätte tun sollen: die Analyse der Produktion des Mehrwerts - der Form, in der Mehrarbeit im Kapitalismus aus den unmittelbaren Produzenten herausgepumpt wird - beginnt erst im 7. Kapitel. Stattdessen beginnt das Kapital mit der Analyse der Ware und des Werts. Dies hat zu vielen ökonomistischen Interpretationen verleitet, die im Kapital das Lehrbuch einer marxistischen Wirtschaftstheorie gesehen haben - eine Annahme, die stillschweigend sogar von vielen übernommen wurde, die den ökonomistischen Interpretationen des Marxismus kritisch gegenüberstehen (Negri 1984). Ihre Bedeutung haben diese Kategorien in der Marxschen Argumentation jedoch nicht als Basis einer marxistischen Ökonomie, sondern weil sie grundlegende Formen sind, in denen sich die antagonistischen gesellschaftlichen Verhältnisse darstellen.

Einleitend wird uns im Kapital gesagt, daß der Reichtum in der kapitalistischen Gesellschaft sich uns als »eine ungeheure Warensammlung« darstellt, und daß »die Ware (...) zunächst ein äußerer Gegenstand« ist. In der scheinbar harmlosen Bemerkung, daß die Ware »ein äußerer Gegenstand« ist, werden wir gleich zu Anfang mit dem gewalttätigsten aller Antagonismen konfrontiert: der Kapitalismus ist die Verneinung unserer Identität, die Herrschaft von Dingen.

Die Ware ist natürlich nicht einfach ein »äußerer Gegenstand«. Im Verlauf des ersten Kapitels entwickelt Marx, daß die Waren Produkte menschlicher Arbeit sind und daß die Größe ihres Werts (die Grundlage des Verhältnisses, in dem sich Waren austauschen) durch die zu ihrer Produktion erforderliche Menge gesellschaftlich notwendiger Arbeit bestimmt ist. Die Ware ist kein »äußerer Gegenstand«, sie ist die Frucht unserer (kollektiven) Arbeit, denn nur aus dieser entspringt ihr Wert.

Im Kapitalismus jedoch stellt die Ware sich uns als »äußerer Gegenstand« dar, bzw. sie ist es »zunächst«. Weder haben wir Macht über die Dinge, die wir produzieren, noch erkennen wir sie als unser Produkt. In einer Gesellschaft, in der Dinge für den Tausch statt für den Gebrauch produziert werden, werden die Verhältnisse zwischen den Produzenten durch den Wert der produzierten Waren hergestellt. Nicht nur das: die Verhältnisse zwischen den Waren treten an die Stelle der Verhältnisse zwischen den Produzenten, die sie produziert haben: die Verhältnisse zwischen den Produzenten nehmen die Form von Verhältnissen zwischen Sachen an. Dies bezeichnet Marx als den Warenfetischismus: Wie Götter sind die Waren unsere eigenen Schöpfungen, aber sie erscheinen uns als fremde Mächte, die unser Leben beherrschen. Im Kapitalismus wird unser Leben von Waren (einschließlich des Geldes) beherrscht als der Form, die die Verhältnisse zwischen den Produzenten annehmen. Der freie Fluß der Verhältnisse zwischen den Menschen, die »reine Unruhe des Lebens«, wie Hegel sagt (Phänomenologie, S. 46), wird gefangen gehalten in der fixierten Form von Dingen - Dinge, die uns beherrschen, Dinge, die die Einheit des Lebens in so viele getrennte Teile zertrümmern und die Zusammenhänge unfaßbar machen.

Die Arbeitswerttheorie ist eine Theorie des Fetischismus. Bei der Diskussion der Waren stellt Marx heraus, daß der Wert einer Ware in seiner Größe durch die Menge der zu ihrer Produktion erforderlichen gesellschaftlich notwendigen Arbeit bestimmt ist. Aber da gibt es noch eine grundlegendere Frage. Es geht nicht nur darum zu verstehen, was hinter dem Wert steckt, sondern auch darum, warum die Arbeit in einer kapitalistischen Gesellschaft die sonderbare, mystifizierte Form des Werts annimmt. Das unterscheidet Marx zufolge seine Methode von der Methode klassischer politischer Ökonomen wie Smith und Ricardo. Diese konzentrieren sich nur auf die Frage, wodurch die Wertgröße bestimmt ist; die zweite Frage: warum die Arbeit die Form des Werts annimmt, kommt ihnen nicht einmal in den Sinn, weil ihre Perspektive auf die kapitalistische Gesellschaft beschränkt ist, in der sie leben. Für Marx, der die kapitalistische Gesellschaft als eine historisch vorübergehende Gesellschaft auf dem Weg zur kommunistischen Gesellschaft mit einer völlig anderen Organisation der Arbeit betrachtet, lautet die grundlegende Frage, welche Formen die Verhältnisse zwischen den Produzenten annehmen. Aus genau demselben Grund, aus dem alle Theorien, die von der Dauerhaftigkeit der bürgerlichen gesellschaftlichen Verhältnisse ausgehen, die Frage der Form nicht sehen und als Frage überhaupt nicht stellen, ist sie für Marx fundamental: denn diesen Formen (Ware, Wert usw.) steht »es auf der Stirn geschrieben (...), daß sie einer Gesellschaftsformation angehören, worin der Produktionsprozeß die Menschen, der Mensch noch nicht den Produktionsprozeß bemeistert« (Kapital Bd. 1, S. 95). Die bloße Tatsache, daß die Arbeit vom Wert ausgedrückt wird und daß die gesellschaftlichen Verhältnisse zwischen den Produzenten die Form von Wertverhältnissen zwischen Waren annehmen, bedeutet schon Unfreiheit: daß die Menschen keine Macht über ihr eigenes Leben haben.

Die Theorie des Werts ist eine Theorie des Fetischismus, und die Theorie des Fetischismus ist eine Theorie der Herrschaft. Das Thema des Kapital ist von Anfang an die Unfreiheit: Wir leben in einer Welt, in der wir von Waren umgeben sind, von »äußeren Gegenständen«, die wir produziert haben, die wir aber nicht wiedererkennen und über die wir keine Macht haben. Die Formen, die die Verhältnisse zwischen den Menschen annehmen, sind selber Ausdruck der Tatsache, daß »der Produktionsprozeß die Menschen, der Mensch noch nicht den Produktionsprozeß bemeistert«. Schon die Tatsache an sich, daß die reine Unruhe des Lebens in Formen erstarrt ist, die den Menschen gegenüberstehen, die als uns »äußere Gegenstände« erscheinen, ist die Negation von Freiheit im Sinne einer kollektiven Selbstbestimmung.

Die drei Bände des Kapital entwickeln das Thema des Warenfetischismus. Ausgehend vom Tauschverhältnis zeigt Marx, wie die Gleichheit im Tauschverhältnis die Ausbeutung im Produktionsprozeß verbirgt, und wie sich dann eine Schicht der Mystifikation über der anderen bildet, wodurch das Ausbeutungsverhältnis immer mehr dem Blick entzogen wird. Der Kapitalismus ist eine »verzauberte, verkehrte und auf den Kopf gestellte Welt« (Kapital Bd. 3, S. 838) aus fetischisierten Formen. Er ist eine fragmentierte Welt, in der die Zusammenhänge zwischen den Menschen dem Blick verborgen sind. Wir sehen die Welt nicht nur durch ein geschwärztes Glas, sondern durch ein in Millionen verschiedene Bruchstücke zersplittertes Glas.

Aber nicht nur unsere Wahrnehmung ist fragmentiert, sondern auch die Realität selbst. Die Formen, in denen die gesellschaftlichen Verhältnisse unter dem Kapitalismus erscheinen, sind nicht bloße Erscheinungsformen. Die gesellschaftlichen Verhältnisse erscheinen nicht nur in der zersplitterten Form der Dinge, sie sind tatsächlich zersplittert und vermittelt durch Dinge. In dieser Form existieren sie. Wenn wir z.B. ein Auto kaufen, dann nimmt das Verhältnis zwischen dem Produzenten des Autos und unserer eigenen Arbeit die Form eines Verhältnisses zwischen unserem Geld und dem Auto an: das gesellschaftliche Verhältnis erscheint als ein Verhältnis zwischen Dingen. Aber selbst wenn wir das verstanden haben, wird das Verhältnis zwischen uns und den Autoarbeitern weiterhin durch den Warentausch vermittelt. Die Fragmentierung der Gesellschaft existiert nicht nur in unserem Kopf; sie beruht auf der gesellschaftlichen Praxis und wird ständig durch sie reproduziert.

Fetischismus und Klassen-Zersetzung [Class Decomposition]

Die Marxsche Theorie des Warenfetischismus ist nicht getrennt von seiner Klassentheorie. Die beherrschende Rolle der Ware als Vermittler der gesellschaftlichen Verhältnisse ist nicht losgelöst vom Charakter der Ausbeutung; im Gegenteil: erst dadurch, daß die Ausbeutung in der kapitalistischen Gesellschaft über den Kauf und Verkauf der Ware Arbeitskraft läuft, verallgemeinert sich das Warenverhältnis. Im Mittelpunkt steht die Form, »in der unbezahlte Mehrarbeit aus den unmittelbaren Produzenten ausgepumpt wird.

Der Kapitalismus beruht wie andere Klassengesellschaften auch auf dem Auspumpen von Mehrarbeit aus den unmittelbaren Produzenten. Was die kapitalistische Form der Ausbeutung von anderen Formen der Ausbeutung unterscheidet, ist ihre Vermittlung durch den Tausch. Die ArbeiterInnen sind in dem doppelten Sinne frei, daß sie frei von persönlichen Knechtschaftsverhältnissen sind und daß sie keine Kontrolle über die Produktionsmittel haben: der erste Aspekt ihrer Freiheit erlaubt es ihnen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, der zweite zwingt sie dazu, um zu überleben. Im Austausch erhalten sie den Wert ihrer Arbeitskraft in Form des Lohns. Der Kapitalist bringt die ArbeiterInnen ans Arbeiten und sie produzieren einen Wert, der größer als der ihrer Arbeitskraft ist: diesen zusätzlichen Wert oder Mehrwert eignet sich der Kapitalist in Form des Profits an.

Indem die Ausbeutung in einer kapitalistischen Gesellschaft durch den Kauf und Verkauf der Arbeitskraft als Ware vermittelt ist, wird mindestens in zweierlei Hinsicht verborgen, daß das Verhältnis zwischen Kapitalist und Arbeiter ein Klassenverhältnis ist. Erstens ist das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit fragmentiert. Es nimmt die Form von lauter verschiedenen Arbeitsverträgen zwischen lauter einzelnen ArbeiterInnen und lauter einzelnen Unternehmern an. Das sorgt für Spaltungen nicht nur zwischen verschiedenen Kapitalgruppen, sondern auch unter den ArbeiterInnen, die von verschiedenen Kapitalisten beschäftigt werden. Die allgemeine Fragmentierung der gesellschaftlichen Realität spiegelt sich in der (scheinbaren und wirklichen) Fragmentierung der Klassenverhältnisse wider. Die Gesellschaft erscheint nicht in Form von antagonistischen Klassen, sondern von lauter verschiedenen Gruppen mit ihren jeweils besonderen Interessen. Die Gesellschaft erscheint - und ist - atomisiert und fragmentiert.

Zweitens erscheint das Verhältnis zwischen Kapital und Arbeit überhaupt nicht mehr als Ausbeutungsverhältnis, sondern als ungleiches und (möglicherweise) ungerechtes Verhältnis. Das Ausbeutungsverhältnis erscheint als Tauschverhältnis zwischen dem (reichen) Unternehmer und dem (armen) Beschäftigten. Nicht der unmittelbare Antagonismus der Ausbeutung, der unaufhörliche Konflikt, der mit dem Herauspumpen der Mehrarbeit aus den unmittelbaren Produzenten verbunden ist, erscheint, sondern eine Gesellschaft, in der es Ungleichheit, Ungerechtigkeit, Reichtum und Armut gibt. Das Ausbeutungsverhältnis erscheint als Problem einer falschen Verteilung. Die kapitalistische Gesellschaft scheint aus (reicheren und ärmeren) Individuen zu bestehen, und nicht aus dem unaufhörlichen Antagonismus zwischen ausbeutender und ausgebeuteter Klasse. Kämpfe um gesellschaftliche Veränderung nehmen nicht die Form eines Angriffs auf die Ausbeutung an, sondern die Form von Forderungen nach mehr sozialer Gerechtigkeit, Kampagnen gegen die Armut, Aufrufen zu mehr »Freiheit, Gleichheit, Eigentum und Bentham« (Kapital Bd. 1, S.189).

Fetischismus und Fetischisierung

Daraus ergibt sich ein deprimierendes Bild. Die Gesellschaft beruht auf Ausbeutung, auf dem Aussaugen unbezahlter Mehrarbeit aus der Masse der Bevölkerung, aber die Form, die diese Ausbeutung annimmt, führt dazu, daß die Gesellschaft fragmentiert wird und als nicht-ausbeuterisch erscheint. Die kapitalistische Gesellschaft stellt sich uns als Ansammlung von Bruchstücken dar, die auf abstrakte Weise in den Begriffen Wert, Geld, Miete, Profit, Staat, Technologie, Interessengruppen usw. verallgemeinert werden. Den Zusammenhang zwischen diesen Begriffen können wir nur begreifen, wenn wir sie als historisch spezifische Formen der gesellschaftlichen Verhältnisse sehen, aber wie wir gezeigt haben, ist dieser Weg der bürgerlichen Theorie verbaut; nicht unbedingt aus Unredlichkeit oder Dummheit, sondern einfach, weil der Begriff der Form nur dann einen Sinn ergibt, wenn wir die kapitalistische Gesellschaft vom Standpunkt ihrer Überwindung aus betrachten. Daher kann bürgerliche Theorie (d.h. eine Theorie, die das Weiterbestehen der bürgerlichen gesellschaftlichen Verhältnisse für selbstverständlich hält) zwangsläufig nur von den einzelnen, abgetrennten Formen ausgehen, in denen sich die gesellschaftlichen Verhältnisse darstellen. Abtrennung, Teilen und Herrschen, Fragmentierung - auf diesen Prinzipien beruht die theoretische Abstraktion in der bürgerlichen Theorie bei der Konstruktion ihrer getrennten Disziplinen (Politische Wissenschaft, Ökonomie, Soziologie, Recht, Computerwissenschaft usw.), mit denen sie die Gesellschaft verstehen will. Das führt dazu, daß sie nicht die Zusammenhänge zwischen den fragmentierten Formen der gesellschaftlichen Realität aufzeigt, sondern ihre Fragmentierung befestigt. Je weiter die Soziologie ihre Theorien der Gruppen entwickelt, je weiter die politische Wissenschaft ihre Theorien des Staates entwickelt, je weiter die Ökonomie ihre Theorie des Geldes entwickelt, desto schlüssiger wird die Fragmentierung der Gesellschaft, desto undurchsichtiger werden ihre Zusammenhänge.

Aber die Zusammenhänge simd nicht völlig undurchdringbar. Als Kritik der bürgerlichen Theorie ist das Kapital eine Kritik der fragmentierten Erscheinungsform der Gesellschaft. Der Begriff der Form beinhaltet, daß den Formen Zusammenhänge zugrundeliegen. Daß der Zusammenhang in der Produktion und in der Art und Weise, in der sich die Menschen auf diese beziehen, in den Produktionsverhältnissen besteht. Der Selbstdarstellung der Gesellschaft als einer aus mehr oder weniger gleichen Individuen zusammengesetzten Gesellschaft liegt der Zusammenhang dieser »Individuen« durch die Produktion zugrunde: Die Art und Weise, in der die Produktion organisiert ist, führt zur Konstitution der Individuen und ihrer scheinbar zufälligen Ungleichheit. Der Aufsplitterung in eine Unmenge von verschiedenen Produktionsprozessen liegt die Bewegung des Werts zugrunde. Sie ist der Faden, der die Welt zusammenhält, der die scheinbar völlig getrennten Produktionsprozesse voneinander abhängig macht, der die Kämpfe der Bergarbeiter in Großbritannien mit den Arbeitsbedingungen der Autoarbeiter in Mexiko verbindet und umgekehrt.

Wenn wir die Zusammenhänge zwischen den Bruchstücken der Gesellschaft verstehen, heißt das aber nicht, daß die Zersplitterung überwunden ist; das »verscheucht keineswegs den Nebel, durch den der gesellschaftliche Charakter der Arbeit uns als objektiver Charakter der Produkte selber erscheint« (Kapital Bd. 1, S. 88 [hier rückübersetzt aus dem Englischen, da die Formulierungen abweichen und nur so der stilistische Anschluß von Holloway an das Zitat möglich ist; »Nebel« ist die Übersetzung von »mist«, was im Unterschied zu »fog« eher ein feiner Nebel, ein Dunst ist, Anm.d.Ü.]), denn dieser Nebel ist ein Produkt der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse. Aber welche Möglichkeiten gibt es für eine radikale gesellschaftliche Veränderung, solange der Nebel existiert, solange die Gesellschaft zersplittert ist? Eine antikapitalistische Revolution ist nur möglich, wenn die Klassenverhältnisse auch als solche erscheinen, wenn die Fragmentierung (oder Zersetzung) der Arbeiterklasse überwunden wird. Der Kapitalismus ist eine Klassengesellschaft, die nicht als Klassengesellschaft erscheint; aber wie sollen wir uns eine Revolution der Arbeiterklasse vorstellen, wenn er nicht als Klassengesellschaft erscheint? Wie sollen wir uns die für den Umsturz der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse notwendige Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse vorstellen, wenn die Zersetzung der Klasse als Aspekt des Warenfetischismus den kapitalistischen Verhältnissen innewohnt?

Auf dieses Dilemma sind verschiedene Antworten möglich, und in der marxistischen Tradition tauchen alle auf. Eine Antwort ist die des tragischen Intellektuellen: obwohl wir, die marxistischen Intellektuellen, die fetischisierten Erscheinungsformen durchdringen und die Vorgänge beurteilen können, wird die Gesellschaft um uns herum mehr und mehr fetischisiert. Die Arbeiterklasse ist soweit zersetzt oder atomisiert, daß sie in keiner Weise mehr als revolutionäres Subjekt betrachtet werden kann. Wir können - und müssen - gegen die uns umgebende ausbeuterische, zerstörerische Gesellschaft protestieren, aber jeder Optimismus wäre völlig unrealistisch. Diese Position - der marxistische Intellektuelle als professionelle Kassandra, die vergeblich vor den kommenden Katastrophen warnt - hat seit der Frankfurter Schule eine lange Tradition, und verständlicherweise ist sie im Moment sehr verbreitet.

Eine zweite Antwort auf dieses Dilemma besteht darin zu sagen, daß wir als marxistische Intellektuelle, die die fetischisierten Erscheinungsformen durchdrungen haben, eine besondere Verantwortung dafür tragen, die Arbeiterklasse durch den Nebel zu führen und ihr die Zusammenhänge klarzumachen, um ihr zu zeigen, was unter der Oberfläche liegt. Das ist grob gesagt die Vorstellung, die Lenins Unterscheidung zwischen revolutionärem und gewerkschaftlichem Bewußtsein und der sich daraus ergebenden Rolle, die er der revolutionären Partei zuschreibt, zugrundeliegt.

Trotz der offensichtlichen Unterschiede ist beiden Antworten gemeinsam, daß sie dem Intellektuellen eine privilegierte Rolle beimessen. In beiden Fällen wird angenommen, daß die fetischisierte Undurchdringbarkeit der kapitalistischen Verhältnisse eine unumstößliche Tatsache ist und daß wir nur mithilfe intellektueller Tätigkeit, durch Nachdenken, durch den Nebel hindurchsehen können. Die Rolle der marxistischen Theorie ist die einer Fackel, die den Weg nach vorn beleuchtet (oder uns zeigt, daß es einen solchen nicht gibt).

Es könnte aber auch argumentiert werden, daß der »Nebel« des Fetischismus nicht so undurchdringlich ist, wie diese Theorien unterstellen. Das Kapital war eine Kritik der bürgerlichen Theorie, die die Verwurzelung dieser Theorie in den Produktionsverhältnissen aufzeigte. Das bedeutet nicht, daß jeder vollständig von den Begriffen der bürgerlichen Theorie durchdrungen ist. Wie Marx zeigt, sind die Zusammenhänge zwischen den gesellschaftlichen Phänomenen der »ordinären Vorstellung« klarer als den Theoretikern der Bourgeoisie:

»Es darf uns also nicht wundernehmen, daß sie [die Vulgärökonomie] gerade in der entfremdeten Erscheinungsform der ökonomischen Verhältnisse, worin diese prima facie abgeschmackt und vollkommene Widersprüche sind (...), sich vollkommen bei sich fühlt und ihr diese Verhältnisse um so selbstverständlicher erscheinen, je mehr der innere Zusammenhang an ihnen verborgen ist, sie aber der ordinären Vorstellung geläufig sind.« (Kapital Bd. 3, S. 825)

Das hieße, daß die fetischisierten Formen, in der die kapitalistischen Verhältnisse erscheinen, nicht eine völlig undurchsichtige Hülle bilden, die die Klassenausbeutung vor denen, die ihr unterworfen sind, verbirgt. Die scheinbare Neutralität und Zersplitterung der Formen, die mystifizierende Zusammenhangslosigkeit, gerät ständig damit in Konflikt, daß die ArbeiterInnen die Klassenunterdrückung erfahren. Geld, Kapital, Zins, Miete, Profit und Staat werden von den Menschen als Aspekte eines allgemeinen Systems der Unterdrückung erfahren, auch wenn sie die genauen Zusammenhänge nicht verstehen. Wenn wir bei der Marxschen Metapher vom Nebel bleiben, sollten wir den Nebel vielleicht nicht als einen statischen, undurchdringlichen Nebel ansehen, sondern als ständig in Bewegung befindliche Nebelbänke. Zusammenhänge tauchen auf und verschwinden wieder, wenn sich der Nebel lichtet und wieder zuzieht. Der Fetischismus ist nicht statisch, sondern ein beständiger Prozeß der Entfetischisierung und Refetischisierung.

Den Fetischismus als einen Prozeß der Entfetischisierung und Refetischisierung zu betrachten hat sowohl theoretisch wie politisch wichtige Konsequenzen. Wenn man den Fetischismus als feststehende Tatsache, als Nebeldecke sieht, muß man die Revolution als Ereignis, als von außen kommendes Ereignis verstehen, das entweder praktisch unmöglich ist (die pessimistische Position) oder den triumphalen Abschluß des Anwachsens der Partei darstellen wird. Bis dahin ist der Kapitalismus ein geschlossenes System und gehorcht den im Kapital analysierten »Bewegungsgesetzen«.

Den Fetischismus als einen Prozeß der Entfetischisierung und Refetischisierung zu betrachten, betont die den kapitalistischen Gesellschaftsverhältnissen innewohnende Zerbrechlichkeit. Entfetischisierung/Refetischisierung ist ein ständiger Kampf. Der Prozeß der Entfetischisierung, das Zusammenfügen der Fragmente, ist zugleich ein Prozeß der Klassenneuzusammensetzung, in dem die Zersplitterung der Klasse überwunden wird. Durch die praktische Organisation und den Kampf der Arbeiterklasse werden gesellschaftliche Zusammenhänge hergestellt, in der Praxis und in der Wahrnehmung. Der Prozeß der Refetischisierung ist auch ein Prozeß der Klassenzersetzung, ein Zerreißen der hergestellten Verbindungen, in der Praxis und in der Theorie. Das Überleben des Kapitals hängt von der erfolgreichen Refetischisierung/Klassenzersetzung ab. Die Reproduktion des Kapitals geschieht nicht automatisch: sie wird durch den Kampf erreicht.

Wenn wir den Fetischismus als Prozeß verstehen, dann hat das zwangsläufig Folgen für das Verständnis der Marxschen Kategorien. Die von Marx analysierten Formen der gesellschaftlichen Verhältnisse sind nicht geschlossen. Wie wir sahen, ist der Wert nicht bloß eine Form gesellschaftlicher Verhältnisse, sondern eine Form antagonistischer gesellschaftlicher Verhältnisse. Aber wenn der Antagonismus irgendeine Bedeutung haben soll, dann muß dieser Kategorie ein Element der Unsicherheit, der Offenheit innewohnen. Wenn wir sagen, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse antagonistisch sind, meinen wir, daß sie sich durch Kämpfe hindurch entwickeln, daß sie daher niemals als vorherbestimmt betrachtet werden können. Um den Wert zu verstehen, müssen wir also die Kategorie aufbrechen, den Wert als Kampf verstehen, einen Kampf, in den wir unentrinnbar einbezogen sind. Im Sinne einer Verallgemeinerung ist es wahr, daß sich die Waren zu ihren Werten tauschen, aber dies ist sicher kein ruhiger und automatischer Prozeß. Nicht nur wegen der Modifikationen, die Marx einführt (die Unterscheidungen zwischen Preis, Produktionspreis, Wert usw.), sondern weil Waren sehr oft gestohlen werden. Der Wert stützt sich auf den Respekt vor dem Eigentum, und jeder, der mal ein kleines Kind beim Einkaufen mitgenommen hat oder kürzlich Musik, Software oder ein Buch kopiert hat, wird wissen, daß der Respekt vor dem Eigentum in unserer Gesellschaft tatsächlich sehr zerbrechlich ist. Das mehr oder weniger ruhige Funktionieren des Werts wird in der Praxis durch einen immensen Erziehungs- und Zwangsapparat aufrechterhalten. Wenn wir sagen, daß der Wert eine Form von gesellschaftlichen Verhältnissen ist, dann müssen wir uns den in dieser Feststellung enthaltenen Antagonismus klarmachen, die Stärke der Antithese zum Wert nicht nur in einer nachrevolutionären Gesellschaft, sondern innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft.

Vielleicht können wir eine Analogie herstellen zwischen den Formen gesellschaftlicher Verhältnisse, die Marx in den Kategorien des Werts, Geldes, Miete usw. analysiert hat, und der Ehe in einer traditionellen Gesellschaft. Es wäre zutreffend zu sagen, daß in einer solchen Gesellschaft die Ehe die Form war, in der die sexuellen Verhältnisse in dieser Gesellschaft organisiert wurden. Aber selbst in den traditionellsten Gesellschaften sprengte die reine Unruhe des Sex die Schranken der Ehe immer wieder aufs neue, in Gedanken und in der Praxis. Damit soll nicht gesagt werden, daß jeder außereheliche Geschlechtsverkehr oder jeder Diebstahl in einer kapitalistischen Gesellschaft revolutionär gewesen sei. Er kann im Gegenteil sogar als Bekräftigung der Institution der Ehe betrachtet werden. Aber es wäre offensichtlich falsch, die Behauptung, daß in dieser Gesellschaft die sexuellen Verhältnisse die Form der Ehe angenommen hatten, für bare Münze zu nehmen, ohne die Stärke der dazugehörigen Antithese zu sehen.

Die im Kapital analysierten Formen der gesellschaftlichen Verhältnisse sind Formen, die ihre eigene Antithese enthalten. Der Kapitalismus ist eine fetischisierte, entfremdete Gesellschaft, aber wir können das nur erkennen, wir können uns nur eine nichtentfremdete, nichtfetischisierte Gesellschaft ausdenken, weil die Antithese zu dieser Gesellschaft in ihr selbst enthalten ist. Die reine Unruhe des Lebens ist in den fetischisierten Formen, in einer Reihe von Dingen eingesperrt, aber sie ist ständig da, sie sprengt ständig ihre Fesseln und zwingt die fetischisierten Formen, sich erneut zu konstituieren, um sie eingesperrt zu halten.

Wir erfahren die kapitalistische Gesellschaft daher äußerst widersprüchlich. Wir erfahren die gesellschaftlichen Verhältnisse, so wie sie sich darstellen, aber gleichzeitig erfahren wir das Gegenteil. Geld ist Geld ist Geld - ein Ding. Aber Geld wird auch weithin als Macht erfahren, als Klassenverhältnis, wenn auch ungenau. Menschen sorgen sich um die »Gerechtigkeit« des Lohnvertrags (»ein gerechter Tageslohn für ein gerechtes Tagwerk« als klassischer Ausdruck des fetischisierten gewerkschaftlichen Bewußtseins), aber gleichzeitig drückt sich die Revolte gegen die Ausbeutung in der Arbeit auch äußerst direkt aus. Je stärker der gesellschaftliche Antagonismus wird, desto mehr Brüche werden die fetischisierten Selbstdarstellungen der gesellschaftlichen Verhältnisse bekommen. Die Schärfe, mit der sich die Mystifikationen der kapitalistischen Gesellschaft aufbrechen lassen, entsteht nicht aus der theoretischen Reflexion, sondern aus der Wut, die aus der Erfahrung der Unterdrückung herrührt. Die Theorie soll nicht führen, sondern folgen, auf den widersprüchlichen Charakter der Erfahrung hinweisen, die unklar wahrgenommenen Zusammenhänge deutlicher machen und die Lehren aus dem Kampf verbreiten.

Man könnte meinen, ein Nebel, der kommt und geht, ein ständiger Prozeß der Entfetischisierung/Refetischisierung sei eine völlig unstrukturierte und richtungslose Vorstellung; aber das stimmt nicht. Der sich verändernde Nebel verändert sich nicht richtungslos. Der Prozeß der Entfetischisierung/Refetischisierung und der Klassenneuzusammensetzung und -zersetzung ist ein historischer Prozeß mit bestimmten Rhythmen. In der Krise wird die scheinbar ruhige Selbstreproduktion der Gesellschaft unterbrochen. Der Antagonismus der Gesellschaft wird schärfer; neue Organisationen entstehen, und neue Kämpfe brechen aus; Verbindungen, die lange unsichtbar waren, werden sichtbar. Die Krise drückt die Entfetischisierung der kapitalistischen Gesellschaft aus, die Neuzusammensetzung der Arbeiterklasse.

Krise, marxistische Ökonomie und marxistische politische Wissenschaft

Die Krise ist nichts Ökonomisches, aber sie stellt sich so dar. Die Krise drückt die strukturelle Instabilität der kapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse aus, die Instabilität des grundlegenden Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit, auf der die Gesellschaft beruht. Sie erscheint als Krise der Ökonomie, mit möglichen Folgen für andere Bereiche des gesellschaftlichen Lebens.

Den Begriff der Ökonomie als eines getrennten Aspekts der Gesellschaft gibt es erst, seit es den Kapitalismus gibt. In vorkapitalistischen Zeiten bezog sich dieser Ausdruck auf Haushaltsangelegenheiten (vom griechischen oikos - das Haus), und es gab keine genaue Unterscheidung zwischen der Führung des Haushalts und der Ökonomie, oder zwischen der Politik und der Ökonomie, oder zwischen ökonomischer Theorie und Moralphilosophie. Daß die Ökonomie nicht als besonderer begrifflicher Bereich abgetrennt wurde, lag am Charakter der vorkapitalistischen Gesellschaftsverhältnisse. Die Verhältnisse zwischen Sklave und Herrn oder zwischen Leibeigenem und Feudalherrn waren ununterscheidbar politisch und ökonomisch zugleich: Der Feudalherr zog aus dem Leibeigenen nicht nur Mehrarbeit heraus, sondern er hatte auch die gerichtliche und »politische« Autorität über ihn. Erst seit es den Kapitalismus gibt und die Ausbeutung (durch den Kapitalisten) von der Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung (durch den Staat) getrennt wurde, entstehen »Ökonomie« (zuerst als »politische Ökonomie«) und »Politik« als verschiedene Begriffe. Ihre Befestigung als Begriffe (und später als universitäre Fachbereiche) beruht auf dieser Trennung.

Die Begriffe »Politik« und »Ökonomie« sind daher spezifisch für den Kapitalismus. Sie sind fetischisierte oder Oberflächenkategorien, weil sie die Fragmentierung der Gesellschaft an der Oberfläche widerspiegeln. Die Abtrennung der Ausbeutung von der Aufrechterhaltung der Ordnung ist ein Aspekt der »spezifische[n] (...) Form, in der unbezahlte Mehrarbeit aus den unmittelbaren Produzenten ausgepumpt wird»: Die Vermittlung der Ausbeutung durch den Kauf und Verkauf der Ware Arbeitskraft beinhaltet die Trennung zwischen dem unmittelbaren Prozeß der Ausbeutung und dem gesellschaftlichen Zwang, der zur Sicherung der Stabilität in einer Klassengesellschaft zwangsläufig erforderlich ist. Die Trennung zwischen dem Ökonomischen und dem Politischen ist also ein Moment der kapitalistischen Klassenverhältnisse, oder anders gesagt, das Ökonomische und das Politische sind aufgrund der sie konstituierenden Trennung Momente des kapitalistischen Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit, spezifische Formen des Kapitalverhältnisses. Wenn die Unterscheidung zwischen Ökonomie und Politik für selbstverständlich gehalten wird, dann ist dies also Blindheit gegenüber der Frage der Form und befestigt den in diesen Begriffen enthaltenen Fetischismus. Marx hat das Kapital nicht als Ausarbeitung einer ökonomischen Theorie geschrieben, und auch nicht als Grundlegung für eine alternative Ökonomie der Arbeiterklasse, sondern als Kritik der politischen Ökonomie, in der gezeigt wird, daß die Begriffe der politischen Ökonomie nur die Erscheinungsformen der kapitalistischen Klassenverhältnisse zum Ausdruck bringen.

Es ist daher in sich selbst widersprüchlich, von einer marxistischen Ökonomie oder einer marxistischen politischen Ökonomie zu sprechen. Marx' Kritik richtete sich nicht nur gegen besondere Theorien, sondern gegen den Aufbau einer Theorie auf der Grundlage der oberflächlichen Formen, in denen die Klassenverhältnisse erscheinen. Die Ökonomie ist die Erforschung von Dingen, von Kräften (wie Geld, Wert, Miete, Zins usw.), die das Leben der Menschen beherrschen, und sie behandelt sie als solche und nicht als Formen von gesellschaftlichen Verhältnissen, denen es »auf der Stirn geschrieben steht, daß sie einer Gesellschaftsformation angehören, worin der Produktionsprozeß die Menschen, der Mensch noch nicht den Produktionsprozeß bemeistert«. Indem die Ökonomie ihre Kategorien als Dinge behandelt und nicht als Ausdrucksweisen gesellschaftlicher Verhältnisse, behandelt sie die Menschen zwangsläufig als abstrakte, passive Objekte der gesellschaftlichen Veränderungen.

Die bürgerlichen Ökonomen akzeptieren ihre Kategorien so, wie sie sich darstellen. Geld ist Geld ist Geld; die Aufgabe der Ökonomen ist es, sein Verhältnis zu anderen ökonomischen Kategorien und die Gesetze, die seine Bewegung bestimmen usw. zu verstehen. Da das Geld nicht als Form gesellschaftlicher Verhältnisse betrachtet wird, versuchen sie nicht, die Kategorien aufzubrechen, »den Ursprung der ökonomischen Entwicklungen in den konkreten Handlungen der Männer und Frauen in ihrem gesellschaftlichen Leben« zu entdecken (Clarke 1980, S. 5).

Aber weder verschwindet der Fetischismus mit der Kritik an seiner Existenz, noch verschwindet der begriffliche Einfluß des bürgerlichen Denkens mit der Erkenntnis seiner Oberflächlichkeit. Marx selbst hat das Wort »Ökonomie« zweideutig oder widersprüchlich benutzt (wie zum Beispiel in dem 1859er Vorwort), und es gibt eine einflußreiche Tradition »marxistischer Ökonomie« - was die Widersprüche zwischen der Lektüre des Kapital und einer Arbeit im universitären Bereich glättet.

Wenn wir Wert und Krise mit den Augen einer marxistischen Ökonomie ansehen, bekommen wir ein anderes Bild als das eben von uns dargestellte. Sobald wir die marxistischen Kategorien als ökonomische betrachten, gehen viele Annahmen der bürgerlichen Theorie unhinterfragt in die Diskussion dieser Kategorien ein. Die Kategorien bleiben geschlossen. Obwohl angemerkt wird, daß Wert eine gesellschaftliches Verhältnis ist, nimmt man doch an, daß sich der Wert innerhalb der kapitalistischen Grenzen als eine ökonomische Theorie behandeln läßt. Dadurch wird z.B. bei der Diskussion des Werts der Wertgröße viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt und die Frage der Form mehr oder weniger ignoriert. Dies gilt nicht nur für die Neo-Ricardianer, sondern auch für Theoretiker, die sich selbst als Marxisten sehen und weithin dafür gehalten werden. So wird üblicherweise behauptet, daß das Wertgesetz zeige, »wie die wechselnden Mengen der zur Herstellung der Waren erforderlichen gesellschaftlichen notwendigen Arbeit die Preise regulieren« (Itoh 1980, S. 132). Die Kritik des Werts als Form geht damit verloren, die Starrheit des bürgerlichen Denkens bleibt bestehen. Obwohl gesagt wird, daß der Wert ein gesellschaftliches Verhältnis ist, tritt sein gesellschaftlicher Aspekt in den Hintergrund und soll erst nach der Revolution eine Rolle spielen, »wenn die unmittelbaren Produzenten wieder zum Subjekt geworden sind, statt Objekt der Produktion zu sein« (Itoh 1980, S. 135f.). Wenn die ArbeiterInnen nur Objekte der Produktion sind, wenn folglich der Fetischismus total ist, dann hat Itoh völlig recht. Dann muß man die Kategorie des Werts nicht aufbrechen (außer daß man ihn als etwas Historisches betrachtet), und man kann den Kapitalismus durch seine »Bewegungsgesetze« verstehen. Aber wenn die ArbeiterInnen bloße Objekte der Produktion sind, dann müßte die Revolution begrifflich und theoretisch als eine Unmöglichkeit erscheinen, bzw. dann könnten wir sie uns nur als ein äußerliches Ereignis vorstellen.

Diese Annahmen finden sich in großen Teilen der Diskussion über die marxistische Theorie der Krise wider. Wir sind oben davon ausgegangen, daß der Unterschied zwischen dem Marxismus und anderen Formen des radikalen Denkens nicht so sehr in seiner Analyse der kapitalistischen Unterdrückung oder seiner Vision vom Sozialismus liegt, sondern darin, daß er eine Theorie der gesellschaftlichen Instabilität ist. Der Kapitalismus ist unterdrückerisch, aber er ist eine in sich widersprüchliche und instabile Form der Unterdrückung. Eine Theorie der Krise ist eine Theorie dieser Instabilität und daher eine Theorie der Beweglichkeit von Klassenverhältnissen. Viele Diskussionen über die Krise behandeln sie aber als eine den Klassenverhältnissen und dem Klassenkampf äußerliche Frage. Bestenfalls liefert die Analyse der Krise einen Rahmen, innerhalb dessen Kämpfe stattfinden - eine Erinnerung an die Sterblichkeit des Kapitalismus, aber keine Theorie der Klassenverhältnisse. Zum Beispiel wird argumentiert, daß die Krise unvermeidlich aus der Wirkungsweise des Gesetzes vom tendenziellen Fall der Profitrate folgt; daß die Krise mit einer Intensivierung des Klassenkampfs verbunden ist und Möglichkeiten der Revolution eröffnet; aber die Krise als solche und das Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate werden nach wie vor als vom Klassenkampf getrennte ökonomische Prozesse analysiert. Wie O'Connor kommentiert, »betont die traditionelle Theorie zumindest, daß die menschliche Arbeitskraft mit Erfolg so behandelt wird, als sei sie ein bloßes Objekt von Tausch und Arbeit, und daß die ArbeiterInnen daher kaum oder keine Macht haben, den Prozeß des sich selbst ausweitenden Kapitals umzukehren oder gar neu zu bestimmen, außer im Falle einer sozialistischen Revolution« (1987, S. 91).

Was eine Theorie der kapitalistischen Instabilität sein sollte, wird damit paradoxerweise zu einer Theorie der kapitalistischen Reproduktion. Oft ist das mit äußerst funktionalistischen Untertönen verbunden: die kapitalistische Reproduktion wird zu einem geschlossenen Kreislauf - bis zum Moment der sozialistischen Revolution natürlich. Die Bewegungsgesetze des Kapitalismus bestimmen im voraus einen bestimmten Gang der Evolution, und bis zum Tag der Revolution sind die ArbeiterInnen nichts als Objekte der Herrschaft.

In den letzten Jahren hat es einen Versuch gegeben, dem Determinismus und Funktionalismus der traditionellen marxistischen Ökonomie durch die Entwicklung einer »marxistischen politischen Wissenschaft« zu entkommen.

Der Versuch, eine gesonderte marxistische politische Theorie zu entwickeln, geht auf die Kritik an Marx' Aussage über seine Methode im 1859er Vorwort zurück, die wir oben diskutiert haben. Solange dieses Vorwort für die endgültige Aussage über die marxistische Methode gehalten wurde, wie es lange Jahre in der marxistischen »Orthodoxie« der kommunistischen Parteien der Fall war, wurde die theoretische Diskussion des Staats mehr oder weniger ignoriert, da das Politische als bloßer Teil des Überbaus betrachtet wurde. Mit der Krise der kommunistischen Parteiorthodoxie seit den 60er Jahren wurde das 1859er Vorwort jedoch dafür kritisiert, daß es dem Überbau, insbesondere den politischen und ideologischen Ebenen, keine ausreichende Autonomie zugestand. Vor allem die Argumentation von Poulantzas, die relative Autonomie der verschiedenen Ebenen mache es möglich, eine eigene marxistische politische Wissenschaft zu entwickeln, mit der sich die von Marx im Kapital entwickelte marxistische Ökonomie ergänzen ließe, fand viele AnhängerInnen. Nach dieser Sichtweise liegt das Problem der traditionellen marxistischen Ökonomie darin, daß sie unvollständig ist und ihr zu großes Gewicht gegeben wird. Nach der Logik dieses Ansatzes soll sich der Marxismus von einer ökonomischen Theorie der Gesellschaft zu einer interdisziplinären Theorie der Gesellschaft entwickeln (wobei die Ökonomie natürlich nach wie vor das in letzter Instanz bestimmende ist).

Das Problem bei einem interdisziplinären marxistischen Ansatz ist, daß er einfach nur einen Fetischismus durch einen zweiten ergänzt. Der ökonomische marxistische Ansatz ist nicht unvollständig, sondern oberflächlich in dem Sinne, daß er die Trennung der gesellschaftlichen Verhältnisse in ökonomische und politische Verhältnisse als gegeben hinnimmt. Diesen Ansatz durch eine Analyse des Politischen zu ergänzen, in der gleichermaßen »das Politische« als Ausgangspunkt der Analyse vorausgesetzt wird, vervielfältigt nur die Oberflächlichkeit und versteckt damit noch mehr die so zersplitterten gesellschaftlichen Verhältnisse. Wenn zum Beispiel gesagt wird, die Krise sei nicht nur ökonomisch, sondern ökonomisch und politisch, dann ist das wenig hilfreich, solange nicht der Charakter des Ökonomischen und des Politischen selbst in Frage gestellt wird. In der Praxis sieht das oft so aus, daß die »politische« Analyse einfach den von den Ökonomen gelieferten Rahmen als gegeben hinnimmt.

Oft werden die funktionalistischen Annahmen eines Großteils der marxistischen Analyse (und insbesondere der Tradition einer marxistischen Ökonomie) auf den Begriff der Krise selbst übertragen. Wie wir oben gesehen haben, bedeutet Krise nicht einfach einen Zusammenbruch, sondern einen Wendepunkt, eine Intensivierung der Veränderung. Die Theorie der Krise hat zwei Seiten, die beide von Marx im Kapital diskutiert werden. Auf der einen Seite drückt die Krise den Zusammenbruch eines bestimmten Akkumulationsmusters aus und konfrontiert das Kapital mit der Drohung seiner eigenen Sterblichkeit: Die fallende Profitrate »bezeugt die Beschränktheit und den nur historischen, vorübergehenden Charakter der kapitalistischen Produktionsweise« (Kapital Bd. 3, S.252). Auf der anderen Seite zwingt die Krise zur Umstrukturierung des Kapitals: Durch die Zerstörung des weniger effizienten Kapitals und durch die Steigerung der Ausbeutung wird die Grundlage für eine neue Phase der Kapitalakkumulation geschaffen. Die Krise ist sowohl Zusammenbruch wie Umstrukturierung, sowohl Instabilität wie erneute Stabilisierung der Klassenverhältnisse. Die Frage ist, wie wir den Zusammenhang zwischen diesen beiden Seiten verstehen.

Zu unterschiedlichen Zeiten werden unterschiedliche Seiten der Krise betont. In den späten 60er und frühen 70er Jahren, als noch nicht allen klar war, daß Keynes die Probleme der kapitalistischen Krise nicht gelöst hatte, wurde in der Diskussion die Unvermeidlichkeit der Krise betont, wobei die Krise als Bruch im Akkumulationsprozeß begriffen wurde. Als die Krise offensichtlich wurde und klar wurde, daß die Revolution nicht unmittelbar bevorstand, verschob sich der Schwerpunkt der Diskussion auf die Krise als Prozeß der Umstrukturierung, und man versuchte, die aktuellen Veränderungen in der Gesellschaft als Umstrukturierung des Kapitals zu verstehen. Was beim Wechsel vom einen Schwerpunkt zum anderen verlorenging, war die Frage nach dem Verhältnis zwischen den beiden Seiten der Krise, zwischen Zusammenbruch und Umstrukturierung.

Oftmals wird davon ausgegangen, daß die beiden Seiten tatsächlich identisch und untrennbar sind. Die Zerstörung eines Akkumulationsmusters schafft die Grundlage für ein anderes: Die Krise ist eine »schöpferische Zerstörung«, um den Ausdruck von Schumpeter zu gebrauchen (Perez 1983, S. 159). Schumpeter ist hier von Bedeutung, weil in der Sichtweise von Negri (der zwar weit davon entfernt ist, ein orthodoxer ökonomischer Marxist zu sein, aber dennoch viele Annahmen der marxistischen Ökonomie akzeptiert) Schumpeter für die Bourgeoisie feststellt, was Marx schon viele Jahre zuvor erkannt hatte: daß die Krise ein integraler Teil der kapitalistischen Entwicklung ist (Negri 1968/1988). Sowohl Negri als auch viele andere Krisentheoretiker scheinen anzunehmen, die Krise sei ein Prozeß der »schöpferischen Zerstörung« und die beiden Aspekte der Krise könnten einfach zusammenfallen. Aber genau dies verlängert nur den Funktionalismus der bürgerlichen Ökonomie: Wenn die Krise zwangsläufig zugleich die Neustrukturierung des Kapitals ist, dann ist die Reproduktion des Kapitals in der Tat ein geschlossener Kreis, aus dem es kein Entkommen gibt.

Krise, Fetischismus und Klassenzusammensetzung

Die zwei Aspekte der Krise sind nicht identisch: zwischen der Krise als Bruch und der Krise als Neustrukturierung liegt eine ganze Weltgeschichte des Kampfs.

Die Krise ist zuallererst ein Bruch, ein Zusammenbrechen der gefestigten Muster von Klassenverhältnissen. Vor der Krise scheint es eine Zeitlang so, als sei die Welt stabil geworden, als seien die größten Probleme gelöst, als gehöre der Klassenkampf vergangenen Zeiten an. Bestimmte Dinge werden als »normal« akzeptiert: Muster der internationalen Beziehungen, des politischen Konflikts, der Beschäftigung und der Klassenorganisation, der Verhältnisse zwischen Frauen und Männern und zwischen Erwachsenen und Kindern, der kulturellen Ausdrucksformen. Eingedämmte Konflikte erscheinen als Harmonie. Und dann gibt es einen Bruch: Konflikte brechen offen aus, gefestigte Machtstrukturen werden angegriffen. Der Damm bricht. Die unterdrückte Wut wird nicht mehr unterdrückt.

Jede Klassengesellschaft, jede Gesellschaft, in der die Mehrheit der Bevölkerung in ihren alltäglichen Handlungen den Interessen einer Minderheit unterworfen ist, ist instabil. Die gesamte Geschichte ist von Revolten unterbrochen, schon lange bevor der Kapitalismus oder die kapitalistische Krise auf die Welt kamen. Im Kapitalismus folgt der Bruch einem festen Muster, einem bestimmten groben Rhythmus, der sich in Krisentheorien, in Wirtschaftszyklen, langen Wellen usw. widerspiegelt. Die aufgestaute, aber unterdrückte Wut kann in diesen Umwälzungen ausbrechen, aber das erklärt nicht die rhythmische Regelmäßigkeit der Krisen. Die zu jeder Klassengesellschaft gehörende Instabilität nimmt im Kapitalismus eine besondere Form an, die sich nur aus den Besonderheiten des Verhältnisses zwischen Kapital und Arbeit erklären läßt. Um die Krise als Bruch in den Herrschaftsstrukturen zu verstehen, genügt es nicht, sie einfach (wie die Disproportionalitätstheorien) aus der Beziehung zwischen den Kapitalen oder (wie die Unterkonsumtionstheorien) aus den Verteilungsverhältnissen in der Gesellschaft zu erklären. Um die Krise als Ausdruck der spezifischen strukturellen Instabilität des Kapitalismus als Form der Klassenherrschaft zu verstehen, müssen wir nach dem Riß, nach der geologischen Verwerfung im Ausbeutungsverhältnis selbst, in der »spezifische[n] (...) Form, in der unbezahlte Mehrarbeit aus den unmittelbaren Produzenten ausgepumpt wird«, suchen.

Marx untersucht diese grundlegende Instabilität des Kapitalverhältnisses in seiner Analyse des Mehrwerts. Im Unterschied zur herrschenden Klasse in allen vorhergehenden Klassengesellschaften werden die Kapitalisten durch die Konkurrenz ständig dazu getrieben, die Menge der unbezahlten Mehrarbeit zu steigern, die sie aus den unmittelbaren Produzenten herauspumpen. Es ist dieser »Werwolfheißhunger nach Mehrarbeit« (Kapital Bd. 1), der dem Kapitalismus seine besondere Instabilität verleiht. Wie Marx im Kapital analysiert, nimmt die kapitalistische Gier nach Mehrwert zwei grundlegende Formen an. Die erste ist der absolute Mehrwert, der Kampf des Kapitals um die Verlängerung des Arbeitstages zur Vergrößerung des produzierten Mehrwerts. Dies führt zu einem Punkt, an dem das bloße Überleben der ArbeiterInnen und damit auch das Überleben des Kapitals bedroht ist. Die Fabrikgesetzgebung zur Begrenzung des Arbeitstages zwingt das Kapital, andere Wege zur Befriedigung seiner Gier zu suchen. Statt den Arbeitstag ständig zu verlängern, versucht es, den Anteil am Arbeitstag zu senken, in dem die Arbeitskraft des Arbeiters reproduziert wird. Dies wird hauptsächlich durch technische Innovationen und das Streben nach Effizienz erreicht. Wenn die Waren schneller produziert werden, fällt entsprechend ihre Wertgröße (die durch die zu ihrer Produktion gesellschaftlich notwendige Arbeit bestimmt ist). In dem Maße, wie auch die vom Arbeiter verbrauchten Waren im Wert fallen, sinkt auch der Wert der Arbeitskraft, selbst wenn der Lebensstandard steigt. Damit wird bei konstanter Länge des Arbeitstages weniger Zeit für den Wert der Arbeitskraft und mehr Zeit für die Produktion des Mehrwerts verwendet. Diese Form der Maximierung des Mehrwerts bezeichnet Marx als relativen Mehrwert.

Der relative Mehrwert unterstellt das beständige Streben nach technologischer Erneuerung und die ständige Reorganisation des Produktionsprozesses. Er beinhaltet auch eine Veränderung im Verhältnis zwischen lebendiger Arbeit (der Arbeiter in Aktion) und toter Arbeit (Maschinerie und Rohstoffe, das Produkt vergangener Arbeit): Mit dem Fortschritt der Technologie entsteht die Tendenz, daß jeder Arbeiter eine immer größere Masse an Maschinerie und Rohstoffen in Bewegung setzt. In bezug auf die Kapitalzusammensetzung drückt sich dies so aus, daß der in konstantes Kapital (Maschinerie und Rohstoffe) gesteckte Kapitalteil relativ steigt und das variable Kapital (der Kapitalteil, der in den Kauf von Arbeitskraft investiert wird) relativ sinkt: es kommt zu einer, wie Marx sagt, steigenden organischen Zusammensetzung des Kapitals.

Das Streben nach relativem Mehrwert bedeutet also, daß das Kapital nie zur Ruhe kommt. Es ist immer ruhelos, sucht immer die Veränderung, im Unterschied zu den herrschenden Klassen früherer Klassengesellschaften. Relativ betrachtet wirft es auch ständig die einzige Quelle seiner eigenen Existenz, die lebendige Arbeit, aus dem Produktionsprozeß heraus. Nur die lebendige Arbeit produziert Wert, und in dem Maße, wie sich das Kapital mit toter Arbeit belastet, fällt tendenziell das Verhältnis zwischen dem (von der lebendigen Arbeit) produzierten Mehrwert und der Gesamtinvestition des Kapitalisten. Die Jagd nach dem relativen Mehrwert ist also mit einer Tendenz zum Fall der Profitrate verbunden.

Der tendenzielle Fall der Profitrate, den Marx im dritten Band des Kapital analysiert, ist daher ein ökonomischer Ausdruck für die beständige Veränderung in der Organisation des Produktionsprozesses. Dieselben Veränderungen bewirken, daß der Antagonismus zwischen Arbeit und Kapital höchst lebendig bleibt. Widerstand und latente Revolte gehören zu jedem Herrschaftsverhältnis. Selbst zwischen dem demütigsten Sklaven und dem mächtigsten Herren besteht ein aktiver Antagonismus, eine (vielleicht unausgedrückte) Spannung wechselseitiger Abhängigkeit, die dem Verhältnis eine Dynamik verleiht. Die Abhängigkeit des Kapitals von der beständigen Veränderung in der Produktion, von der ständigen Jagd nach der Steigerung des Mehrwerts sorgt dafür, daß der Antagonismus zwischen Arbeit und Kapital andauert und offen bleibt, selbst in Zeiten relativer Stabilität. Die ArbeiterInnen organisieren sich: defensiv oder offensiv; der Kampf der Kapitalisten um die Aufrechterhaltung ihrer Kontrolle ist nicht zu trennen von ihrem Kampf um die Maximierung des Mehrwerts. Der relative Mehrwert drückt sich in der Dynamik des Klassenkampfs aus, in den wechselnden Formen des Angriffs und Gegenangriffs, in der wechselnden Zusammensetzung sowohl der Arbeit wie des Kapitals. Hier tritt wiederum die besondere instabile Dynamik des Kapitalismus in den Vordergrund. Je erfolgreicher das Kapital Mehrwert akkumuliert, desto mehr wächst die Arbeit als eine zerstörerische Kraft in seiner Mitte. Eine Phase erfolgreicher Akkumulation drückt sich möglicherweise in der anwachsenden Stärke der Arbeiterklasse und ihrer Organisation aus, wenn die Arbeitslosigkeit sinkt und die Verhandlungsposition der Arbeit stärker wird. Je erfolgreicher das Kapital ist, desto stärker tritt der eine grundlegende Widerspruch seiner Existenz in den Vordergrund: seine Abhängigkeit von der Arbeit. Alle Herren hängen in ihrer Existenz von ihren Dienern ab. Dem Kapital zwingt sich diese grundlegende Tatsache des Lebens gerade dann auf, wenn es sich am stärksten fühlt.

Die relative Mehrwertproduktion enthält in sich die Kraft zu ihrer eigenen Zerstörung, was sich sowohl im tendenziellen Fall der Profitrate als auch in der zunehmenden Klassenzusammensetzung der Arbeiterklasse ausdrückt. In Phasen schneller Akkumulation wird die Arbeiterklasse tendenziell organisatorisch stärker und kämpferischer, und die Profitrate fällt tendenziell. Es wird für die Kapitalisten sowohl schwieriger, die erwarteten Profitraten zu bekommen, als auch den Produktionsprozeß in der gewünschten Art und Weise zu reorganisieren. Der Antagonismus nimmt zu, die Widersprüche des Kapitalismus werden offensichtlicher, die Zusammenhänge zwischen den bisher getrennten Erscheinungen werden deutlicher, und der Kapitalismus als eine Form der gesellschaftlichen Organisation wird offener und breiter kritisiert.

Der Kapitalismus scheint in der Krise zu stecken. Dies wird als eine ökonomische Krise wahrgenommen: Die Profite fallen, die Konkurrenz verstärkt sich, Firmen gehen bankrott, und ganze Sektoren und Industrien verfallen. Aber sie wird nicht nur als ökonomisch Krise, sondern auch als Krise des Staats wahrgenommen: Während der Staat bisher scheinbar die ruhige Entwicklung der Gesellschaft sichern konnte, scheint er jetzt nicht mehr dazu in der Lage zu sein. Die Kapitalistenklasse hat sehr das Gefühl, daß es nicht so weitergehen kann. Der dem Kapitalismus ständig innewohnende Veränderungsprozeß scheint nicht mehr auszureichen: etwas Radikaleres ist nötig. Der frühere Veränderungsprozeß wird als Teil eines Musters betrachtet, und es wird klar, daß dieses Muster am Ende ist.

Das ist die Krise: ein Zusammenbruch der gefestigten Muster gesellschaftlicher Verhältnisse. Der Kapitalistenklasse erscheint die Zukunft unsicher und gefährlich. Es gibt keinen klaren Weg nach vorn, außer die Stärke der organisierten Arbeit und jeden der Subversion Verdächtigen anzugreifen und eine Rückkehr zu Moral, Diziplin und Ordnung zu fordern. Das ist keine Restrukturierung: das ist der Bruch.

Natürlich kann der Bruch die Möglichkeit der Restrukturierung enthalten. Für Teile der Kapitalistenklasse gibt es keine Zukunft: Die Pleiten vervielfachen sich, mit den früheren gesellschaftlichen Mustern verbundene politische Parteien gehen unwiderruflich unter. Aber alte Industrien lassen sich durch neue ersetzen, und der ökonomische Niedergang eines Landes läßt sich durch den Aufstieg eines anderen ausgleichen. Der Weg nach vorne ist nicht klar, aber es gibt alle möglichen Experimente mit neuen Managementformen, neuen Technologien, neuen Beziehungen zwischen Staat und Industrie, neuen Mustern politischer Organisation. Möglicherweise kann die Zusammensetzung der Arbeiterklasse durch eine Kombination aus Gewalt, gesetzlichen Einschränkungen und ökonomischer Reorganisation wirksam zerschlagen werden. Und möglicherweise kann das Kapital dann alle gewünschten Veränderungen in der Produktion durchsetzen. All das ist möglich, aber es ist nicht vorherbestimmt.

Vielleicht faßt das Kapital nach einiger Zeit wieder Vertrauen in die Zukunft und erkennt eine mögliche Grundlage für ein neues relativ stabiles Akkumulationsmuster. In dieser Situation befinden wir uns zur Zeit. Genau an diesem Punkt wird der »marxistische« Funktionalismus am heimtückischsten. Eine ganze Welt von neuen akademischen Analysen eröffnet sich: Die neuen Akkumulationsmuster werden theoretisiert, die neue Form der Herrschaft bekommt einen Namen, und damit werden die neuen Formen befestigt. Die Krise als Bruch ist vergessen, oder man erinnert sich an sie nur als Vorspiel der Restrukturierung. Die neuen Muster werden als gefestigt betrachtet, als neu »entstandene« Realität, der man sich anpassen muß - statt in ihnen ein Projekt zu sehen, das vom Kapital erst in harten Kämpfen durchgesetzt werden muß. Sobald der Kampf vergessen ist, wird aus dem Marxismus als einer Theorie des Kampfes leicht eine Theorie der Herrschaft.

Das kann nicht sein. Der Zusammenbruch eines Musters von gesellschaftlichen Verhältnissen beinhaltet weder die sofortige noch die erfolgreiche Restrukturierung. Es kann sein, daß der Bruch die Möglichkeit der Restrukturierung in sich trägt. Vielleicht wird diese Möglichkeit so wie in der Vergangenheit realisiert werden. Aber das ist - selbst heute - nicht sicher. Und wenn sich ein neues Muster relativ stabiler kapitalistischer Gesellschaftsverhältnisse festigt, dann entsteht dies nicht einfach, sondern es ist das Ergebnis eines langen und blutigen Kampfs. Zwischen der Krise als Bruch und der Krise als Restrukturierung liegt ein Abgrund von Möglichkeiten, ein Salto mortale für das Kapital ohne Garantie einer sicheren Landung, eine ganze Geschichte der Welt im Kampf.


Literatur:

Clarke, S.(1980) »The Value of Value: Rereading Capital«, Capital & Class, No. 10.

Hegel, G.W.F. (1977) Phänomenologie des Geistes

Itoh, M. (1980) Value and Crisis (London)

Marx, K. (1859) Zur Kritik der politischen Ökonomie

Marx, K. (1867) Das Kapital, Bd. 1

Marx, K. (1894) Das Kapital, Bd. 3

Negri, A. (1984) Marx Beyond Marx (South Hadley, Mass.)

Negri, A. (1968/88) »Marx on Cycle and Crisis«

O'Connor, J. (1987) The Meaning of Crisis (Oxford, New York)

Perez, C. (1983) »Structural Change and Assimilation of New Technologies in the Economic and Social Systems«, Futures (October)

Rader, M. (1979) Marx' Interpretation of History (New York)

Stern, R. (1970) »Historians and Crisis«, Past & Present, No. 52.


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