Wildcat-Zirkular Nr. 62 - Februar 2002 - S. 32-36 [z62situa.htm]


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Zur Kraft der Situationistischen Kritik und ihrer Rezeption in Deutschland

Ab den 80er Jahren galt in weiten Teilen der Linken Kritik dieser Verhältnisse als die Addition von diversen Unterdrückungsmomenten. Verschiedene »Antis« sollten erfüllt sein, wenn keines fehlt, hatte man scheinbar die Gesellschaftskritik in der Tasche. Die Mitte der neunziger Jahre auftauchende »Antiglobalisierungsbewegung« war teilweise noch von diesem Politikverständnis geprägt, teilweise versuchte sie diesen Rahmen zu überschreiten, wollte wieder das Ganze kritisieren. Auch in Teilen der zerbröckelnden Antifa-Bewegung machte sich dieses Bedürfnis breit. Der Begriff der Totalität tauchte wieder auf, und es wurde Interesse an »Antikapitalismus« bekundet. Wenn sich der Begriff jedoch nur in die Kette der anderen Antis einreiht, dann ist damit eher eine neue Identitätspolitik angezeigt, als der Versuch, sich auf eine tatsächliche Bewegung zu beziehen, die sämtliche Formen unseres Lebens umzustürzen trachtet.

Gegen eine Politik der Trennung, gegen das Aufspalten des Lebens in verschiedene Sphären war in der Nachkriegszeit die Situationistische Internationale entstanden. Ursprünglich in der Künstler-Szene beheimatet, emanzipierte sie sich von diesem Milieu, begriff auch die »Kunst« und den »Künstler« als ein Produkt der kapitalistischen Trennung und rezipierte Marx. Die Situationistische Internationale nahm bereits in den 50ern und frühen 60er Jahren einiges vorweg, was 1967 über die alte Welt hineinbrach: eine fundamentale Infragestellung der kapitalistischen Gesellschaft.

Heutzutage kramen Leute, die in Genua, Prag und Göteborg waren, wieder Texte der Situationisten hervor. Diese Texte machen die Begrenzungen der Anti-Globalisierungsbewegung deutlich: sie schafft es nicht, eine Kritik des Alltags zu formulieren, wie es die SI tat. Ihre Aktivität, Praxis und Kritik bleibt auf die wenigen Events beschränkt und droht damit ein kalkulierbares Spektakel abzugeben.

In Deutschland waren die Situationisten in der Studentenbewegung in einigen Kreisen diskutiert worden, Ende der 70er Jahre hatte die Edition Nautilus Schriften von ihnen auf Deutsch veröffentlicht. Ende der 90er Jahre werden Texte der SI in Deutschland erneut gelesen; von der AAB bis zu den Antideutschen bedient man sich des Zitatenschatzes der SI. Doch die Aufnahme erfolgt mit typischen Beschränkungen. Hervorgehoben wird ihre Kritik der Ware - ganz in Übereinstimmung mit den Leitthesen der Neuen Deutschen Wertkritik. [1]

Diese Beschränkungen der SI hat Gilles Dauvé bereits 1979 kritisiert. Seine Kritik der Situationistischen Internationale wurde aber erst 20 Jahre später auf deutsch veröffentlicht. [2] Er kritisiert darin verschiedene Aspekte der Situationistischen Ideologie, die ebenso auf die Neue Deutsche Wertkritik [3] zutreffen:

»Die SI hatte keine Analyse des Kapitals: sie hat es verstanden, aber durch seine Auswirkungen. Sie hat die Ware kritisiert, nicht das Kapital - oder genauer gesagt, sie hat das Kapital als Ware kritisiert und nicht als Verwertungssystem, das die Produktion wie auch den Tausch beinhaltet ... Die SI sah das Kapital in der Form der Ware und ignorierte den Zyklus als Ganzes. Vom Kapital bewahrt Debord nur den ersten Satz, ohne ihn zu verstehen: das Kapital erscheint als eine Warensammlung, aber es ist mehr als das. Die SI sah die Revolution eher als eine Infragestellung der Distributionsverhältnisse (vgl. die Aufstände in Watts) als der Produktionsverhältnisse. Sie war mit der Ware vertraut, aber nicht mit dem Mehrwert.« (S. 129f.)

Die SI hielt der »toten Warenwelt« oftmals einen radikalen Subjektivismus entgegen, eine vitalistische positive Utopie, die besonders in den Schriften von Raoul Vaneigem zum Ausdruck kommt [4].

»Vaneigem war die schwächste Seite der SI und enthüllt all ihre Schwächen. Die positive Utopie ist revolutionär als Forderung, als Spannung, denn sie kann innerhalb der Gesellschaft nicht verwirklicht werden. Sie wird lächerlich, wenn man versucht, sie heute zu leben ... Wie jede Moralität war Vaneigems Position unhaltbar und mußte beim Kontakt mit der Wirklichkeit zerbrechen.« (S. 126f.)

Teilweise wirken auch die Subversionsstrategien der SI und vor allem ihrer Nachfolger lächerlich [5]. Längst hat die Werbeindustrie das situationistische Motiv der Verfremdung aufgenommen, und wo die Situationisten als Subversionsstrategie noch Werbe-Girlies Marx-Zitate in den Mund legten, hat die Werbeindustrie selbst das Situationen-Schaffen, das Unvorhersehbare, die Lüste und die Revolution zu Werbezwecken entdeckt. Zeichen sind in der Tat austauschbar.

Warum solche Leute sich für die Sitationisten begeistern können, hat Dauvé ebenfalls treffend beschrieben:

Die SI »stellt sich die Gesellschaft und ihren Umsturz aus dem Zusammenhang nicht-lohnabhängiger Gesellschaftsschichten vor«. Der revolutionäre Funke liege nicht mehr in der Ausbeutung, sondern im Elend der sozialen Beziehungen. Mit solcher Theorie werde die SI »zum Futter für ein Publikum von Scheusalen, die weder Arbeiter noch Intellektuelle sind, und die nichts tun ... Wenn Leute zusammenkommen, ohne irgendetwas zu tun, haben sie nichts gemeinsam außer ihrer Subjektivität... Die SI vermittelt ihnen den Eindruck, daß die wesentliche Realität in den unmittelbaren Beziehungen zwischen den Subjekten liegt, und daß die revolutionäre Aktion darin besteht, auf dieser Ebene eine Radikalität zu entwickeln, insbesondere durch die Flucht aus der Lohnarbeit« (S. 145f.).

In der deutschen Rezeption der Situationisten in den 90er Jahren ist das auf die Spitze getrieben. Kritik und Ablehnung der Arbeit verbindet sich hier mit einer Ablehnung der Arbeiterinnen und Arbeiter, die nur als »Arbeitskraftbehälter« oder vom Sozialdarwinismus geleitete »Konkurrenzsubjekte« wahrgenommen und verachtet werden.

Der Bezug der SI auf den Klassenkampf und aufs Proletariat wird entweder unterschlagen, oder als arbeiterbewegungsmarxistisch abgelehnt. Bei der SI ist der Proletariatsbegriff, der den Frühschriften von Marx entnommen wurde, gekoppelt an den Gedanken der Arbeiterselbstverwaltung und der Arbeiterräte, wie sie von der französischen Gruppe Socialisme ou Barbarie propagiert wurden. [6] Eine Kritik dessen, was selbstverwaltet werden sollte, blieb aus. Der Bezug der SI auf »Räte« war lediglich ein ideologisches Versatzstück.

»Dort, wo Kommunikation vorhanden ist, gibt es keinen Staat«. [7] An dieser Begeisterung für die Räte kritisiert Dauvé, daß die Situationisten die Staatsmacht unterschätzen, wenn sie meinen, man könne sie durch eine schrittweise Ausbreitung von Selbstverwaltung brechen.

Zuweilen stießen die Situationisten selber gegen ihren rätefetischistischen Bezugsrahmen:

»Die Selbstverwaltung der Warenentfremdung würde aus allen Menschen bloße Programmierer ihres eigenen Überlebens machen: Die Quadratur des Kreises. Folglich würde die Aufgabe der Arbeiterräte nicht die Selbstverwaltung der bestehenden Welt, sondern ihre ununterbrochene, qualitative Umwandlung sein: die konkrete Aufhebung der Ware (als gigantische Umlenkung der Produktion des Menschen durch sich selbst). Diese Aufhebung impliziert selbstverständlich die Abschaffung der Arbeit und ihre Ersetzung durch einen neuen Typ freier Tätigkeit, also die Abschaffung einer der grundsätzlichen Spaltungen der modernen Gesellschaft in eine zunehmend verdinglichte Arbeit und passiv konsumierte Freizeit.« [8]

Bereits zur Zeit der SI brachte der Massenarbeiter in der Großindustrie seine umfassende Ablehnung der Arbeit als solcher zum Ausdruck - im Gegensatz zur Selbstverwaltungsperspektive der Facharbeiter. Nicht der Bezug auf die Ausbeutungskategorie und das Klassenverhältnis ist der SI vorzuwerfen (wie es Vertreter der Neuen Deutschen Wertkritik zu tun pflegen [9]), sondern im Gegenteil ihr rein ideologischer Bezug auf die Räteidee, die ihrer idealistischen Kritik der spektakulären Gesellschaft nur beigefügt ist.

Die Warenkritik der SI und ihr Bezug auf den Klassenkampf stehen äußerlich nebeneinander. Die SI hat nämlich nirgends ausgeführt, daß die Lohnarbeit, die mehrwertkonstitutiv ist, der Verallgemeinerung der Warenform zugrunde liegt. Die Lohnarbeit als »abstrakte Arbeit« verweist aber auf das antagonistische Klassenverhältnis.

Wenn Guy Debord in seinen späten Schriften den Kapitalismus als völlig integriertes Spektakel bezeichnet und auch die Proletarier als integrierten Bestandteil desselben, so behandelt er hier das Spektakel, wie andere heutzutage den Wert. Der späte Debord wird so auch in der deutschen Rezeption gegen die Schriften ausgespielt, in denen sich die SI positiv auf Arbeiterkämpfe bezog.

»Erst später, in den neunziger Jahren, erkannte er, auch wenn er sich von der Vorstellung vom Proletariat als Vollender der Emanzipation nicht gänzlich verabschiedete, daß die Klassenherrschaft, wie er in der Vorrede zur dritten französischen Ausgabe der Gesellschaft des Spektakels formulierte, 'mit einer Versöhnung geendet hat', daß das Proletariat, statt die Feindschaft zu Staat und Kapital zu entwickeln, auf die volle Integration in das fetischistische Warenspektakel gesetzt hat, und daß die falsche Totalität der Gesellschaft nunmehr ohne Negation, ohne Einspruch existiert.« [10]

Was hier als Debords Lernprozeß verkauft wird, war jedoch schon angelegt in seinen früheren Schriften und der Warenkritik der SI, die nie den Widerspruch von Stoff und Form, die im fixen Kapital besteht und in der kapitalistischen Kooperation sich ausdrückt, aufnehmen wollte.

Die »falsche Totalität«, die als widerspruchloses Ganzes behauptet wird, ist dem Denken der Frankfurter Schule entliehen. Die Kritische Theorie, der sich fast alle linken Publizisten, die sich neuerdings mit der SI befassen, verpflichtet sehen, behauptete eine blind herrschende, negative Totalität. Nichts könne in dieser verdinglichten Gesellschaft überleben, was nicht seinerseits verdinglicht wäre. Damit wird der Totalitätsgedanke ohne den Praxis-Begriff und ohne den Widerspruchs-Begriff, der für Marx Grundlage der kapitalistischen Totalität ist, gedacht und zu einem geschlossenen System verdinglicht. Das Prozeßhafte und Widersprüchliche in der Gesellschaft wird kassiert. Die Oberfläche - bei der Kritischen Theorie die Kulturindustrie, bei Debord »das Spektakel« - beherrscht in diesen Vorstellungen die Gesellschaft total, der fundamentale Widerspruch, der in der Ausbeutung der lebendigen Arbeit liegt, erscheint als pazifiziert.

H., Freiburg


Fußnoten:

[1] Folgende Texte versuchen, sich die Situationisten im Lichte der eigenen Wertkritik anzueignen: Stephan Grigat, Der Fetisch im Spektakel. Zur Gesellschaftskritik Guy Debords, Dossier in: jungle world 20/01; Anselm Jappe, Politik des Spektakels - Spektakel der Politik, in: krisis 20/98. Der Artikel von Andreas Benl, Eine Situation schaffen, die jede Umkehr unmöglich macht. Guy Debord und die Situationistische Internationale (in: jour fixe-Initiative Berlin (Hrsg.), Kritische Theorie und Poststukturalismus, Berlin 1999) ist nur noch um akademische Anschlußfähigkeit der Situationisten zu kritisch-theoretischen oder postmodernen Theorien bemüht und reißt die SI vollständig aus dem Rahmen revolutionärer Agitation heraus.

[2] Der Text wurde nur in English von red eye publiziert http://www.geocities.com/~johngray/barsit.htm); auf deutsch erschien er in: Robert Orth (Hrsg.), Das grosse Spiel. Die Situationisten zwischen Politik und Kunst, Hamburg 1999. Die Kurzfassung des Textes, die wir für dieses Zirkular übersetzt haben, erschien 2000 in The Bad Days Will End Nr. 3

[3] Siehe dazu »Neue Deutsche Wertkritik - Marxismus in Zeiten des Neoliberalismus« in diesem Zirkular.

[4] Raoul Vaneigem, Handbuch der Lebenskunst für die junge Generation, Hamburg 1972 (1967).

[5] Vgl.: autonome a.f.r.i.k.a. Gruppe, Handbuch der Kommunikationsguerilla, Berlin-Göttingen 1995.

[6] Ab Anfang der 50er Jahre propagierte SoB eine konkrete Analyse des Proletariats. Ihre Methode der Untersuchung nannte sie témoignages (Zeugnis, Beweis). Sie zielte darauf ab, daß die Arbeiter ihre Lage selbst erforschen sollten. Diese Form der praktischen, untersuchenden Kritik regte auch die Arbeiteruntersuchungen der italienischen Operaisten an. Bei SoB verblieb die Kritik jedoch in einem produktivistischen Rahmen. Den Situationisten fiel es so leicht, sich von SoB abzugrenzen, wobei sie aber auch das Konzept der Untersuchung verwarfen. (Ausführlich zum Untersuchungskonzept von SoB: Andrea Gabler, Die Despotie der Fabrik und der Vor-Schein der Freiheit, in: Archiv für die Geschichte des Widerstands und der Arbeit, Nr. 16, 2001.

[7] Situationistische Internationale Nr. 8 (1963).

[8] Aus: Über das Elend im Studentenmilieu (1966).

[9] So will der krisis-Autor Anselm Jappe die Situationisten in die Neue Deutsche Wertkritik eingemeinden, und dichtet ihnen die idealistische krisis-Position zur »Aufhebungsperspektive« an. »Debords Definition des Proletariats ist jedoch schwankend: manchmal meint sie ganz klassisch die Fabrikarbeiter, andere Male hingegen schließt sie all die ein, an denen das »Unrecht schlechthin« verübt worden ist, »an den Rand des Lebens gedrängt zu sein«, und die jede Macht über die Bestimmung ihres Lebens verloren haben«, was eher in die Richtung eines wertkrtitischen Begriffs der 'Antiklasse' zu gehen scheint«. 'Antiklasse' steht für Jappe und krisis in keinerlei Verhältnis zur Produktion dieser Verhältnisse, und so schließt der krisis-Autor auch, es ginge hauptsächlich darum, seinen Leidenschaften zu folgen: »Ein Liebesabenteuer kann genauso dazu gehören wie der Pariser Mai, das Leben eines Banditen ebenso wie die französische Adelsrevolte der 'Fronde' im 17. Jahrhundert.« aus: Anselm Jappe, Politik des Spektakels - Spektakel der Politik, in: krisis 20/1998.

[10] Stefan Grigat, a.a.O. S. 18.


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