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Vorsicht! Neokoloniale Antisemitismustherapeuten!
von Dieter Elken
Die in Teilen der Linken geführte Auseinandersetzung um den vorgeblich auch in der Linken grassierenden Antisemitismus nimmt allmählich groteske Züge an. In einer "Hamburger Erklärung gegen den Antisemitismus" [1] und einer vom Plenum der Hamburger Flora verabschiedeten Resolution[2] werden Positionen offenbart, die an pseudointellektueller Niveaulosigkeit kaum noch zu unterbieten sind:
1. Das zentrale Element des Antisemitismus in der Linken soll nach der "Hamburger Erklärung" eine "verkürzte Kapitalismuskritik" und der Versuch sein, "das abstrakte Kapital als Judentum zu konkretisieren". Weiter heißt es, die "verkürzte Kapitalismuskritik gründet sich im Wesentlichen auf zwei Erklärungsmuster: Erstens wird der böse Kern des Kapitalismus allein im abstrakten Finanzkapital bzw. in der kapitalistischen Zirkulation ausgemacht, während konkrete Lohnarbeit bzw. kapitalistische Produktion unkritisiert bleiben (so z.B. in der Gegenüberstellung von 'schaffendem' und 'raffendem Kapital')".
Angemerkt sei, daß es keine vollständige oder "unverkürzte" Kritik des Kapitalismus gibt. Marx hat sich darauf beschränkt, Beiträge zur Kritik der politischen Ökonomie zu schreiben und mit der Analyse des Kapitalverhältnisses begonnen. Fertig ist er damit bekanntlich nicht geworden. Die Schriften späterer Theoretiker sind allesamt in der Linken nicht unumstritten. Eine Gesamtkritik des Kapitalismus hat überhaupt niemand versucht. Was also - das darf der neugierige Leser schon einmal fragen - soll eine "unverkürzte" Kritik des Kapitalismus sein? Oder dient der hochtrabende terminologische Blödsinn nur dazu, alle Kapitalismuskritiker unter den Generalverdacht des Antisemitismus zu stellen? Bezeichnenderweise wittern die Hamburger Antisemitismusexperten in der Linken fast überall Antisemitismus. Sie vergessen aber, auch nur einen einzigen Beleg dafür zu liefern, daß irgendein linker Theoretiker oder irgendeine der linken Organisationen oder Gruppen das von ihnen als Zentralelement des Antisemitismus ausgemachte ideologische Konstrukt so oder mit anderen Worten formuliert hat.
Mit Marx hat ihr Konstrukt sowieso nicht das geringste zu tun. Ihr Konstrukt ist auch kein unvollständiger, aus dem Zusammenhang gerissener Teil der Marxschen Analyse; denn der Begriff des Kapitals beschreibt bei Marx zunächst einmal ein (gesellschaftliches) Verhältnis, das sich historisch entwickelt. Es kann überhaupt nicht als Judentum "konkretisiert" werden. Daß das Judentum in früheren Zeiten nach den Vorurteilen der vor- und frühkapitalistischen Ära mit dem Geldkapital und speziell mit dem Wucher identifiziert wurde, hat historische Ursachen und nichts mit "Kapitalismuskritik" zu tun. Tatsache ist auch, daß Teile der faschistischen Bewegung die Verzweiflung und Wut des durch die kapitalistische Krise ruinierten Kleinbürgertums und des Lumpenproletariats der Zwischenkriegszeit durch Rückgriffe auf alte antisemitische Vorurteile auf das Judentum lenkten. Das Judentum wurde mit dem modernen, vorgeblich "jüdischen" Finanzkapital gleichgesetzt, in dem die alten jüdischen Wucherer weiterexistieren sollten, und es wurde für die tiefe Krise des Kapitalismus mit allen ihren verheerenden Folgen verantwortlich gemacht.
Mit linker oder gar marxistischer Kritik hat diese faschistische Demagogie nichts zu tun. Die Hamburger Antisemitismusexperten unterstellen großen Teilen der Linken schlicht und ergreifend, sie befänden sich auf dem Niveau faschistischer Agitation und unterstellen ohne jeden Beleg eine "Schnittmenge zwischen eigenen linken und neofaschistischen Vorstellungen von Kapital". Eine Auseinandersetzung mit den wirklichen Positionen der (antizionistischen) Linken findet nicht statt. Es wird diffamiert statt argumentiert.
2. Auch die Autoren der Roten Flora greifen dieses Gefasel von der "verkürzten Kapitalismuskritik" auf und erläutern, letztere beruhe "auf allgemeinen gut-böse-Denkmustern". Die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus erreicht damit die lichten Höhen der Kritik biologisch verankerter, archetypischer Denkmuster. Denn, so lernen wir, dem Antisemitismus liegen nicht etwa fehlverarbeitete historische Erfahrungen, Vorurteile, soziale Interessen, gesellschaftliche Konflikte und Widersprüche zugrunde, sondern "Denkmuster und Mechanismen", die in der Psyche verankert sind. Nur, weil die Auseinandersetzung mit diesen "Denkmustern und Mechanismen nicht stattgefunden hat, konnte er unter der Oberfläche fortbestehen". Das Verhältnis zum Judentum, zu jüdischen Symbolen und zum Staat Israel sei in Deutschland nach 45 "gekennzeichet von Schuldabwehr. Die deutsche Gesellschaft setzt sich zum größten Teil aus direkten NachfahrInnen des TäterInnenkollektivs zusammen." Und: "Da die Tabuisierung des Antisemitismus weitestgehend bis heute wirksam ist, artikuliert er sich heute allerdings oft auf neuen Wegen, z.B. wenn er sich nicht direkt gegen Jüdinnen und Juden richtet, sondern gegen Israel als 'illegitimen Staat' oder gegen Entschädigungszahlungen an ZwangsarbeiterInnen".
Damit ist den Antisemitismusexperten die Offenlegung der Logik der typischen Argumentation des bürgerlichen mainstream-Journalismus gelungen: Unterstellt wird zunächst, daß ausnahmslos jeder Bürger dieses Landes antisemitische Denkmuster und Klischees verinnerlicht hat. Da der politisch korrekte Staatsbürger aber so infam ist, angesichts der Tabuisierung des Antisemitismus seine Einstellung nicht zu äußern und seinen Antisemitismus zu verdrängen, muß der Antisemitismus auf neuen Wegen an die Oberfläche drängen und sich in nicht erkennbar antisemitischen, d.h. antijüdischen Aussagen äußern. Hier tritt jedoch der gewöhnliche deutsche Antisemitismusexperte auf den Plan: Er entlarvt den unterirdischen Antisemiten mitsamt seinen unter der Oberfläche hochkochenden antisemitischen Klischees oder denunziert wenigstens sein Spiel mit antisemitischen Klischees.
Mit diesem plumpen Debattentrick erspart sich der (bürgerliche) Antisemitismusexperte im Meer der Unwissenheit die Mühsal der inhaltlichen Auseinandersetzung mit antizionistischer Kritik und die Trübsal der Beschäftigung mit historischen Fakten. Stattdessen betätigt er sich als politischer Psychoanalytiker, der jeden Antizionisten als pathologischen Fall entlarvt, der mit seiner kollektiven Erbschuld nicht fertig geworden ist.
3. Die "Hamburger Erklärung" stellt dann die These auf, in der Linken würden sich Verschwörungstheorien "großer Beliebtheit" erfreuen. Und weil viele Antisemiten an eine jüdische Weltverschwörung glauben, suggerieren sie, daß Verschwörungstheoretiker auch Antisemiten sein müssen. Das hat soviel Logik, wie der Schluß, daß, weil Kaiser Wilhelm II. Deutscher war, alle Deutschen Kaiser Wilhelm sein müssen.
4. Aus der Unempfindlichkeit gegenüber jeder Art von Logik wird pure Demagogie, wenn Antizionismus und Antisemitismus gleichgesetzt werden. Hier setzen die Hamburger Antisemitismusexperten auf die fehlenden Kenntnisse ihres Publikums im Hinblick auf die Entwicklung des Verhältnisses von zionistischer Bewegung und Judentum ebenso wie auf seine Uninformiertheit hinsichtlich der Geschichte der zionistischen Kolonisation Palästinas bis in die Gegenwart. Die seit Beginn der zionistischen Kolonisation andauernde, diskriminierende Rassentrennungspolitik gegenüber der arabischen Bevölkerung Palästinas, die spezielle Apartheid gegenüber der arabischen Minderheit in Israel und der völkerrechtswidrige und menschenverachtende Besatzungsterror gegen die Palästinenser der Westbank und des Gazastreifens und deren systematische Verdrängung durch die zionistische Kolonisation werden ignoriert. Die deshalb berechtigte Gleichsetzung von zionistischem Kolonialismus und Rassismus wird demgegenüber als moderne Variante des "Nazi-Motivs vom Juden als 'Völkerfresser" verleumdet.
5. Wer das Existenzrecht des Staates Israel unter Hinweis darauf in Frage stellt, daß erstens jeder marxistische Linke das Existenzrecht ausnahmslos jedes Staates ablehnt und zweitens jeder Staat, der sich dazu bekennt, ausschließlich der Staat nur der Angehörigen einer Religion und/oder einer Nationalität von mehreren Nationalitäten in seinen Grenzen zu sein, selbst aus bürgerlich-liberaler Sicht unakzeptabel ist, wird von den Hamburger Antisemitismusexperten als Antisemit denunziert. Dies ungeachtet der Tatsache, daß die gesamte internationale Linke, selbst rechte Sozialdemokraten, solche Staaten wie die südafrikanische Apartheidsrepublik oder die iranische islamische Republik stets eindeutig in Frage stellten. Mit der dabei stillschweigend unterstellten Mär, daß Israel die einzige Demokratie des Nahen Ostens sei und der Hort westlicher Werte, wird behauptet, die antizionistische Linke kritisieren an Israel, was allen Staaten gemein sei, die "nationale Souveränität, die das Gewaltmonopol nach innen wie nach außen beinhaltet".
Uns bleibt da nur die Überraschung, daß es Linke gibt, die das Gewaltmonopol bürgerlicher Staaten nach innen akzeptieren. Noch mehr wundern wir uns über die fulminante Logik der Aussage, daß alle Staaten ein Gewaltmonopol nach außen haben sollen.
Auch das Geplärre, daß sich die Antizionisten ausgerechnet mit Israel und nicht mit irgendwelchen anderen Staaten auseinandersetzen, trifft die marxistische Linke nicht. Die setzt sich hierzulande auch mit dem deutschen Staat auseinander - und läßt sich die Solidarität mit den Unterdrückten der Dritten Welt nicht verbieten. Wenn die Hamburger Antisemitismusexperten mit der bürgerlichen Staatenwelt ihren Frieden geschlossen haben, sollten sie aufhören, sich als Linke zu gebärden und unter eigener Flagge segeln.
6. Die Autoren der Hamburger Flora wollen nicht so weit gehen wie die der "Hamburger Erklärung" und halten es nach wie vor für richtig "Nationalstaaten" abzulehnen. Nur mit Israel wollen sie eine Ausnahme machen: "Gleichzeitig ist der Staat Israel nicht irgendein Staat."
Nun haben marxistische Linke noch niemals Nationalstaaten in Bausch und Bogen abgelehnt. Marx beispielsweise unterstützte den Kampf für einen deutschen Nationalstaat, die Kommunistische Internationale befürwortete den antiimperialistischen Kampf unterdrückter Nationen gegen die imperialistischen Mächte. Lenin akzeptierte sogar das Selbstbestimmungsrecht der Völker des nachrevolutionären Rußland und nahm die Bildung von Nationalstaaten im Baltikum hin. Sogar die Vereinten Nationen erkannten in den sechziger Jahren das Recht der Kolonialvölker auf nationale Befreiungskämpfe zur Schaffung von Nationalstaaten an. Vielleicht sollten sich diese Linken einmal mit dem Gedanken beschäftigen, daß Linke die Frage nach der Haltung zu bestimmten Staaten ausgehend vom Klassencharakter dieser Staaten und der um sie ringenden Kräfte als entscheidende Kriterien zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen beantworten.
Israel soll jedenfalls deshalb eine Ausnahme sein, weil "die zentrale Motivation für die Gründung Israels eine andere als bei allen anderen Staaten war." Nachdem "der Versuch der totalen Vernichtung des europäischen Judentums fast vollständig umgesetzt wurde und die Jüdinnen und Juden vom größten Teil der Welt nicht davor geschützt wurden", wurde die Forderung nach einer sicheren Heimstatt "von den Vereinten Nationen anerkannt". Hier verschwenden die Hamburger Gutmenschen keinen Gedanken an die Legitimität der Existenz von Völkerbunds- bzw. UN-Mandatsgebieten. Ebensowenig ist die Mißachtung der palästinensischen Bevölkerung und ihrer Rechte durch die UN-Kolonialverwaltung einen Gedanken wert. Aber an diese imperialistische Ignoranz hat man sich ja beinahe schon gewöhnt. Nicht aber daran, daß Linke die nachträgliche zionistische Rechtfertigungsideologie für die Staatsgründung Israels zum Motiv des UN-Beschlusses zur Aufteilung des UN-Mandatsgebietes Palästina machen wollen.
Das ist nicht nur naiv, sondern offenkundige Geschichtsklitterei. Und zwar im doppelten Sinne: Das zionistische Kolonialprojekt wurde entworfen und praktisch in die Tat umgesetzt, als es noch gar keine faschistische Bewegung gab und noch kein Mensch etwas vom Holocaust ahnte. Der Schicksal der Holocaustüberlebenden interessierte die Staatsgründer Israels nur am Rande, vgl. Tom Segev, Die siebte Million - Der Holocaust und Israels Politik der Erinnerung, Hamburg 1995. Leider würde es den Rahmen dieses Artikels sprengen, die unterschiedlichen Interessenlagen der Weltmächte zu skizzieren, die zum UN-Teilungsplan von 1947 geführt haben. Immerhin zeigt schon die oberflächliche und summarische Beschäftigung mit der Haltung der UNO zur Teilung Palästinas, daß die These von einem geschlossen vertretenen Motiv der Vereinten Nationen bzw. der (der imperialistischen Propaganda entsprungenen ideologischen Figur der) Völkergemeinschaft nichts als eine dem Wunschdenken der Hamburger Antisemitismusexperten entsprungene Fiktion ist, vgl. z.B. (zur Einführung) Walter Hollstein, Kein Frieden um Israel, Berlin/Wien 1984, S. 143-149.
Es ist aber auch völlig unakzeptabel, die Haltung zu einem gegebenen Staat von den Motiven seiner Gründer anstatt von deren tatsächlicher Politik vor, während und nach der Staatsgründung abhängig zu machen. Den Antisemitismusexperten erspart dieser Blödsinn aber die Auseinandersetzung mit der Frage, ob die Vorstellung romantischer Frühzionisten, es könne in Palästina eine rein jüdische Gesellschaft als "sichere Heimstatt" geschaffen werden, richtig war oder ob sich die marxistische, von der überwältigenden Mehrheit der europäischen Juden geteilte Kritik an diesem Projekt bestätigt hat, daß es keine menschliche Emanzipation auf der Basis eines Staates geben kann, der die autochthone Bevölkerung unterdrückt, verdrängt und gewaltsam niederhält.
7. Die prozionistische Demagogie findet ihren Höhepunkt in der These der "Hamburger Erklärung", die antizionistische Linke würde mit der Infragestellung des israelischen Staates antisemitischen Vernichtungsphantasien nachgehen und das "Verbindungsglied" sein zu arabischen Organisationen, die die Vernichtung nicht nur des Staates Israel fordern, sondern auch seiner "EinwohnerInnen". Auch da vergessen die glorreichen Hamburger Antisemitismusexperten Roß und Reiter zu nennen und ihre abstrusen Behauptungen zu belegen. Auch hier hofft der neugierige Leser vergeblich zu hören, welche Organisationen das fordern.
Unter dem Strich bleibt, daß sich unsere Experten darstellen als Verteidiger und Schönredner der rassistischen Kolonisationspolitik und des Besatzungsterrors, als Propagandisten eines jüdisch-klerikal geprägten Kolonialsiedlerstaates, dessen Gewaltmonopol gegenüber den von ihm Unterdrückten verteidigt wird. Es ist an der Zeit, daß von der Linken zu diesen Leuten und ihrer neokolonialen Rechtfertigungspolitik ein klarer Trennungsstrich gezogen wird.
28.09.04
[1] | http://www.nadir.org/nadir/aktuell/2004/08/03/25012.html |
[2] | Hamburg:Diskussionspapier der Roten Flora zu Antisemitismus - The Good and the Evil, in: http://www.linkeseite.de/print.php?nr=2372 |