ZUR DIALEKTISCHEN METHODE
If linked: [English] [French] [Italian] [Spanish]
Zur dialektischen Methode
Dialektik und Metaphysik
Idealistische und wissenschaftliche Dialektik
Die Negation der Negation
Kategorien und »Formen a priori«
Die Negation des kapitalistischen Eigentums
Die Erkenntnistheorie
Notes
Source
Die vorliegenden Anmerkungen weisen auf die bekannten, von Marx in den ökonomischen und geschichtlichen Darlegungen benutzten Begriffe zur dialektischen Methode hin und sollen zu einer umfassenderen Untersuchung überleiten, dessen Thema sich nur ungenau mit: »marxistische Philosophie, philosophischer Teil des Marxismus« überschreiben lässt. Eine derartige Bezeichnung widerspräche der klaren Aussage Engels': Der dialektische Materialismus
»braucht keine über den andern Wissenschaften stehende Philosophie mehr. (...) Was von der ganzen bisherigen Philosophie dann noch selbständig bestehn bleibt, ist die Lehre vom Denken und seinen Gesetzen - die formelle Logik und die Dialektik. Alles andre geht auf in die positive Wissenschaft von Natur und Geschichte« (1).
Folgendes setzte sich an einem entscheidenden Wendepunkt durch: Im gleichen Mass, wie die Erscheinungen der physischen Natur - statt wie bis anhin durch Offenbarung und Spekulation - vermittelst der Experimentalforschung untersucht worden sind, wobei die Wissenschaft die »Naturphilosophie« ablöste, so müssen die Tatsachen der menschlichen Welt: Ökonomie, Soziologie, Geschichte, ihrerseits vermittelst der wissenschaftlichen Methode untersucht werden, wobei jede willkürliche Prämisse übersinnlicher und spekulativer Apriorismen ausgeschlossen wird.
Da die positive wissenschaftliche und experimentelle Forschung überhaupt keinen Sinn hätte, wenn man sich darauf beschränken würde, Resultate zu finden, ohne sie zu vermitteln und weiterzugeben, sind die Fragen der Darstellung genauso wichtig wie die der Forschung. Die Philosophie konnte - zumindest der Form nach - ein individuelles Produkt sein; die Wissenschaft ist kollektive Tatsache und Tätigkeit.
Die Zuordnungs- und Darstellungsmethode der Daten (durch Sprache und andere modernere Symbolismen) ist also auch für Marxisten eine allgemeine Disziplin.
Diese Methode unterscheidet sich jedoch wesentlich von der der bürgerlichen philosophischen Schulen, die im Laufe ihres kritischen Kampfes gegen die religiöse und scholastische Kultur zur Entdeckung der Dialektik gelangten. In diesen Schulen, vor allem bei Hegel, findet und offenbart sich die Dialektik im menschlichen Geist, durch reine Denkvorgänge, und ihre innere Gesetzmässigkeit besteht schon vor der äusseren, natürlichen oder historischen Welt, auf die sie angewandt wird.
Für bürgerliche Materialisten existiert zwar die physische Welt vor dem Denken, das eben diese Welt erforscht und entdeckt, aber ihnen fehlt die Kraft, sich in der Gesellschafts- und Geschichtswissenschaft auf dasselbe Niveau zu schwingen sowie in der physischen Welt die Bedeutung der fortwährenden Veränderung zu erfassen.
Wir haben schon in den »Grundzügen der marxistischen Wirtschaftslehre« darauf hingewiesen, dass das Studium, auf das wir uns beziehen und das nicht mit »Philosophie des Marxismus« überschrieben werden soll, »Marxismus und Erkenntnistheorie« genannt werden könnte.
Ein solches Studium muss einerseits die von Engels im »Anti-Dühring« und von Lenin in »Materialismus und Empiriokritizismus« angegebenen fundamentalen Themen mit den wissenschaftlichen Ergebnissen der den beiden Klassikern nachfolgenden Zeit verknüpfen; andererseits muss es sich der herrschenden Tendenz im heutigen »Denken« entgegenstellen, das - aus Klassengründen - dem dialektischen Determinismus in den Gesellschaftswissenschaften den Kampf angesagt hat und, sich auf die jüngsten Errungenschaften der Naturwissenschaft berufend, die Ablehnung des Determinismus überhaupt verlangt.
Daher ist es zunächst einmal notwendig, dass sich die Kampfgenossen der Bedeutung der Dialektik zuwenden. In der Dialektik gelten sowohl für die Darstellung der Naturprozesse als auch für die des Geschichtsprozesses dieselben Gesetze und Zusammenhänge. Jede idealistische Prämisse wird negiert: wie z.B. den - jedem Forschungsbereich stillschweigend vorauszusetzenden - Anspruch, unwiderrufliche Normen im Kopf des Menschen (oder eines »systemschaffenden« Autoren) vorzufinden. Im Kausalnexus werden die Empfindungs- und Denkweisen durch die physischen und materiellen Lebensbedingungen der Menschen und der Gesellschaft bestimmt und fortwährend verändert. Aber für die Dialektik bestehen auch Kräfte (in der Tätigkeit von Menschengruppen unter analogen materiellen Bedingungen), die auf die gesellschaftliche Situation einwirken und dahin gelangen, sie zu verändern. Hier liegt der wahre Sinn des Marxschen Determinismus. Nicht ein Apostel oder ein Aufklärer, sondern eine »Klassenpartei« konnte, in einer bestimmten historischen Situation, in der gesellschaftlichen Wirklichkeit, nicht im Kopf, die Gesetze einer zukünftigen historischen Gesellschaftsform, die die bestehende zerstören wird, »auffinden«. In all den bekannten Formulierungen:
»Allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift« (2);
»Die deutsche Arbeiterbewegung ist die Erbin der deutschen klassischen Philosophie« (3);
»Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt drauf an, sie zu verändern« (4),
ist der wirkliche und positive Inhalt der Methode vollständig enthalten. Und folgerichtig ist die These erbarmungslos zurückzuweisen, dergemäss es durch reine Denkvorgänge möglich sei, Gesetze festzulegen, denen sowohl Natur als auch Geschichte »verpflichtet« seien, sich zu beugen.
Es liegt also nichts Mysteriöses und Eschatologisches im Übergang von der Notwendigkeit zum revolutionären Willen, von der nüchternen Analyse dessen, was geschah und geschieht, zum Aufruf für den »gewaltsamen Kampf«.
Anhand eben der Texte über den historischen Verlauf in den Marx- und Engelsschen Untersuchungen und Studien muss dieses alte beabsichtigte Missverständnis beseitigt werden, muss die klare Kohärenz ihres Aufbaus geltend gemacht und sowohl auf dem Gebiet der Natur als auch auf dem der Gesellschaft anhand der jüngsten Daten verteidigt werden; beide Gebiete sind heute mehr denn je der metaphysischen Pedanterie und den idealistischen Phantastereien abhanden gekommen - und beide sind heute mehr denn je explosiv... und revolutionär.
Wir machen daher zu all dem einige grundlegende Anmerkungen. Sie knüpfen an die bekannte Textstelle im I. Kapitalband an, letzter Abschnitt, 24. Kapitel, wo die »Negation der Negation« angeführt wird, um dem Übergang: Handwerkertum - Kapitalismus - Sozialismus, Rechnung zu tragen; eine Textstelle, die Gegenstand der äusserst lebhaften Polemik Engels' gegen Dühring war.
Dialektik bedeutet Zusammenhang, heisst Beziehung. Wie es eine Beziehung zwischen Dingen gibt, zwischen Geschehnissen der wirklichen Welt, so gibt es auch eine Beziehung zwischen - mehr oder weniger abstrakten - Abbildern dieser wirklichen Welt in unserem Denken und zwischen von uns verwendeten Formulierungen, um sie zu beschreiben und um die erworbenen Kenntnisse zu speichern und uns praktisch zunutze zu machen. Daher kann unsere Art der Darstellung, der Überlegung, der Induktion und Deduktion nach bestimmten, der treffenden Auslegung der Wirklichkeit entsprechenden Regeln geordnet und geleitet werden. Insofern diese Regeln die Denkvorgänge leiten, bilden sie die Logik, und in einem weit emminenteren Sinn bilden sie die Dialektik, insofern sie der Methode dienen, die erworbenen wissenschaftlichen Kenntnisse in einen Zusammenhang zu stellen. Logik und Dialektik helfen uns, nicht auf Abwege zu geraten, wenn wir, nachdem wir bestimmte, in der Realität aus Beobachtung gewonnene Resultate formuliert haben, dahin kommen wollen, weitere daraus abzuleitende Eigenschaften auszudrücken. Erweisen sich diese auf experimentellem Gebiet als gültig, heisst das, unsere Formeln und unsere Methode, sie zu transformieren, waren ausreichend genau.
Die dialektische Methode stellt sich der metaphysischen entgegen. Letztere (die in religiösen, auf dogmatischer Offenbarung gegründeten Auffassungen wurzelt und ein zählebiges Erbe der alten Art und Weise ist, das Denken zu formulieren) stellt die Begriffe von den Dingen als unveränderlich, absolut, ewig und auf einige erste Prinzipien zurückführbar dar, wobei die Begriffe sich fremd gegenüberstehen und eine Art autonomen Daseins führen. Für die dialektische Methode sind alle Dinge in Bewegung; und nicht nur das: in ihrer Bewegung wirken sie wechselseitig aufeinander ein, so dass auch ihre Begriffe, d.h. die Reflexionen der Dinge in unserem Denken, miteinander verknüpft und verbunden sind. Die Metaphysik verfährt nach Antinomien, d.h. nach absoluten, einander ausschliessenden Begriffen. Solche Begriffe können sich niemals verbinden; weder kommen sie in Berührung, noch kann aus ihrer Verbindung irgend etwas Neues hervorgehen, was sich nicht auf die simple Behauptung der Anwesenheit des einen und der Abwesenheit des anderen, und vice versa, beschränken würde.
Um einige Beispiele zu nennen: in den metaphysischen Naturwissenschaften wird die Ruhe der Bewegung entgegengestellt; zwischen beiden Dingen gibt es keine Zusammengehörigkeit; Kraft des formalen Widerspruchsprinzips bewegt sich das, was ruht, nicht, und das, was sich bewegt, ruht nicht. Aber bereits die eleatische Schule bewies mit Zenon die Täuschung einer solch scheinbar sicheren Unterscheidung: der fliegende Pfeil, der während seiner Flugbahn einen Punkt passiert, ruht an diesem Punkt, er bewegt sich also nicht. Vom Ufer aus betrachtet, bewegt sich das Schiff; der Passagier bewegt sich auf der Brücke in entgegengesetzter Richtung: vom Ufer aus gesehen steht er still, er bewegt sich also nicht. Die sogenannten Sophismen zeigten die Möglichkeit, die Gegensätze: z.B. Ruhe und Bewegung, miteinander zu vereinen. Erst dadurch, dass die Bewegung in so und so viele punktförmige, räumliche und zeitliche Momente zerlegt wird, wird es der, für die metaphysischen Methode unannehmbaren Infinitesimalrechnung und der modernen Physik möglich, Fragen der nicht-geradlinigen und nicht-gleichförmigen Bewegungen zu lösen. Heute betrachtet man Ruhe und Bewegung als relative Begriffe: weder absolute Ruhe noch absolute Bewegung machen einen Sinn.
Ein anderes Beispiel: für die Astronomie der Metaphysiker sind alle himmlischen Körper unveränderlich und unvergänglich, ihre Gestalt und ihre Bahnen bleiben sich in alle Ewigkeit gleich. Die irdischen Körper hingegen sind auf tausenderlei Art veränderlich und vergänglich: zwischen den beiden entgegengesetzten Teilen des Universums gibt es keinen Zusammenhang. Heute jedoch wissen wir, dass dieselben Entwicklungsgesetze für die Sterne wie für die Erde gelten (die ein »Stück des Himmels« ist, ohne dass sie deshalb einen geheimnisumwobenen Adelstitel verliehen bekäme). Für Dante stellte der Einfluss der unvergänglichen Planeten auf die Geschehnisse der vergänglichen Menschheit ein grosses Problem dar, während für die moderne Wissenschaft der wechselseitige Einfluss zwischen der Erde und den anderen Teilen des Universums eine Sache tagtäglicher Beobachtung ist - weshalb sie aber noch lange nicht glaubt, dass die Sterne unser Schicksal bestimmen.
Auf menschlichem und gesellschaftlichem Gebiet schliesslich, führt die Metaphysik zwei absolute höchste Prinzipien ein: das Gute und das Böse, die auf ziemlich mysteriöse Art und Weise im Bewusstsein aller Menschen verankert oder in ausserirdischen Wesen personifiziert seien. Wir deuteten schon den Relativismus der moralischen Begriffe an, deren Wandelbarkeit und Veränderlichkeit - je nach Ort, Zeit und Klassenlage.
Mit ihren absoluten Identitäten und Widersprüchen ruft die metaphysische Methode, die in unserer Denkweise tiefe Wurzeln geschlagen hat, auch wenn wir uns dessen nicht bewusst sind, grobe Irrtümer hervor. Der Begriff der Antipoden schien - immer im Namen des formalen Widerspruchsprinzips - lange Zeit absurd zu sein: er lachte Kolumbus ins Gesicht, der den Osten im Westen suchte. So ist es ein metaphysischer Griff ins Leere angesichts der Menschheitsfragen, wie z.B. die der Gewalt und des Staates, nur zwei Lösungen anzuerkennen: entweder man ist für den Staat oder für die Gewalt, bzw. gegen den Staat oder gegen die Gewalt. Bei Anwendung der dialektischen Methode hingegen verbinden sich jene Fragen in einem historischen Moment und werden gleichzeitig eben mittels gegensätzlicher Formeln gelöst: so wenn Gewalt zur Abschaffung der Gewalt ausgeübt, der Staat zur Abschaffung des Staates gebraucht wird. Im Grunde sind die Fehlgriffe der Autoritären und Libertären gleichermassen metaphysisch.
Idealistische und wissenschaftliche Dialektik
[prev.] [content] [next]
In der Dialektik lassen sich jedoch zwei äusserst verschiedene Arten ihres Auftretens unterscheiden. Erstmals von den brillantesten kosmologischen Schulen der griechischen Philosophie als Methode zur Erkenntnis der Natur ausgesprochen und nicht an Apriorismen gefesselt, erlag sie in einer Wissenschaft nach der anderen der Autorität der aristotelischen Schriften; dies ist nicht so zu verstehen, dass Aristoteles die Bedeutung der Dialektik zur Auslegung der Wirklichkeit nicht gesehen hätte, sondern so, dass der wissenschaftliche Verfall und der herrschende Mystizismus der folgenden Epochen die aristotelischen Ergebnisse erstarren liessen und sie dadurch verknöcherten.
Die sogenannte moderne kritische Philosophie greift wieder auf die Dialektik zurück - vor allem Hegel, von dem Marx sie übernommen haben soll. Obwohl sich diese philosophischen Schulen in ihrer Argumentationsweise von den formalen und verbalen Fesseln der Scholastik befreiten, gründet sich ihre Dialektik auf der Prämisse, dass die Gesetze des Denkaufbaus vor dem wirklichen Aufbau der Welt liegen. Die menschliche Wissenschaft würde zunächst im Geist des Menschen selbst die Regeln auffinden, vermittelst derer die verkündeten Wahrheiten untereinander in Zusammenhang gebracht würden; dann ginge sie dazu über, alle Begriffe der äusseren Welt in dieses Schema einzuordnen. Logik und Dialektik liessen sich also mittels reiner Denkarbeit festlegen und formulieren: jede Wissenschaft hänge von einer im Schädel des Menschen, besser: im Kopf des einzelnen systemschaffenden Autoren aufzufindenden Methodologie ab. Dieser Anspruch wird mit dem gewöhnlich vorgebrachten Argument begründet, in der Wissenschaft verflechte sich der Faktor der zu untersuchenden äusseren Elemente unvermeidlich mit dem Faktor der menschlichen Person, durch die daher jede Wissenschaft bedingt sei. Folgerichtig trägt die dialektische Methode mit idealistischer Voraussetzung selbst einen metaphysischen Charakter, auch wenn sie ihre rein geistigen Konstruktionen als Wissenschaft statt als Offenbarung verstanden wissen will, als Kritik statt als absolute Apriorismen, als Immanenz der menschlichen Denkfähigkeit statt als deren Transzendenz (was auf die Religionen und die spiritualistischen Systeme zutreffe).
Die Dialektik hat für uns insofern Gültigkeit, wie der Anwendung ihrer Regeln durch experimentelle Überprüfungen nicht widersprochen wird. Diese Verifizierung ist mit Sicherheit notwendig, da wir die Resultate jeder Wissenschaft allein mit dem Instrument unserer Sprache und Überlegung handhaben müssen (unterstützt durch mathematische Berechnungen: jedoch gründet sich auch die Mathematik für uns nicht auf die blosse Eigenschaft des Denkens, sondern auf die wirkliche Eigenschaft der Dinge). Die Dialektik ist also ein Darlegungs- und Ausarbeitungswerkzeug und auch ein Instrument der Polemik und Didaktik; sie nützt einerseits zur Verteidigung gegen die von den traditionalistischen Methoden hervorgerufenen Denkfehler und sie versetzt uns andererseits in die Lage - was ziemlich schwer ist -, dass sich bei den zur Untersuchung vorliegenden Fragen nicht unbewusst auf Vorurteile gegründete willkürliche Daten einschleichen. Die Dialektik ist ihrerseits ein Reflex der Wirklichkeit und kann nicht aus sich selbst heraus die Wirklichkeit konstruieren oder erzeugen. Die Dialektik enthüllt niemals etwas aus sich selbst heraus, dennoch besitzt sie gegenüber der metaphysischen Methode einen riesigen Vorteil: sie ist dynamisch, während letztere statisch ist. Sie filmt die Wirklichkeit, statt sie zu fotografieren. Ich weiss wenig über ein Auto, wenn ich weiss, dass seine augenblickliche Geschwindigkeit 60 km/h beträgt, aber nicht weiss, ob sie sich erhöht oder verringert. Genauso wenig wüsste ich, wenn mir nur die einem Standbild gleiche Stelle bekannt wäre, wo sich das Auto gerade befindet. Selbst wenn ich weiss, dass es momentan mit 60 km/h fährt: ist dies innerhalb einer Beschleunigungsphase von 0 auf 120 der Fall, wird es schnell eine grosse Distanz zurücklegen; werden die 60 km/h jedoch während eines Bremsvorgangs gefahren, wird es wenige Meter später zum Halten kommen. Die Metaphysik, die mir das Wo und Wann des Phänomens angibt, weiss rein gar nichts gegenüber der Dialektik, die mir die Dependenz zwischen dem Wo (Raum) und dem Wann (Zeit) - was man Geschwindigkeit nennt - angibt. Mehr noch: nämlich die Dependenz zwischen der Geschwindigkeit und der Zeit (Beschleunigung). Diesem logischen Prozess entsprechen in der Mathematik die Funktionen der Differenzialrechnung.
Wenn ich die Dialektik kenne, vermeide ich zwei grobe Dummheiten: das Auto fährt schnell, also wird es binnen kurzem weit weg sein; das Auto fährt langsam, also wird es binnen kurzem noch nah sein. Ich wäre jedoch ebenso naiv wie die Metaphysiker, wenn ich aus Spass an der Dialektik folgern würde: das Auto fährt schnell, also wird es binnen kurzem noch nah sein, oder umgekehrt. Die Dialektik ist kein Sport der Paradoxe; sie macht geltend, dass ein Widerspruch eine Wahrheit enthalten kann, nicht, dass jeder Widerspruch eine Wahrheit enthält. In unserem angeführten Beispiel warnt mich die Dialektik, nicht rein vernunftmässig Schlussfolgerungen zu ziehen, solange mir weitere Daten fehlen. Die Dialektik ersetzt diese Daten nicht a priori, sondern zwingt mich dazu, die fehlenden Daten aus neuen, experimentellen Beobachtungen zu ziehen: d.h. die Geschwindigkeit muss einen Augenblick später ein zweites Mal gemessen werden. Auf historischer Ebene würde derjenige metaphysisch argumentieren, der sagt: angesichts der angewandten Mittel war der Terror eine reaktionäre Bewegung; ein schlechter Dialektiker aber wäre derjenige, der z.B. die Thiers-Regierung wegen der gewaltsamen Repression gegen die Kommunarden als revolutionär bezeichnen würde.
Kehren wir zur Negation der Negation zurück. Wenn die metaphysische Methode, die auf zwei entgegengesetzten, aber festen Prinzipien beruht, das eine negiert, kommt sie zu dem anderen; wenn sie dann letzteres negiert, ist sie wieder beim ersten: zwei Negationen kommen einer Bejahung gleich. Z.B.: es gibt gute und böse Geister. Tizio negiert, dass Luzifer ein böser Geist ist. Ich negiere, was Tizio sagt: folglich behaupte ich, dass Luzifer ein böser Geist ist. Der Mythos des Jehowa (der »Weltbaumeister«), der Satan in die Hölle stürzt und selbst den Himmelsthron usurpiert - ein primitiver Reflex im Denken der Menschen auf eine Umkehrung der Mächte und Werte, bleibt so ganz unverständlich.
Vom dialektischen Gesichtspunkt aus haben die Termini während der Negationen und Bejahungen ihre Charakteristiken und Stellungen verändert, so dass, wenn die ursprüngliche Negation negiert wird, nicht etwa die eigentliche und ursprüngliche Negation wieder auftritt, sondern man zu einem neuen Resultat gelangt. Beispielsweise strebt in der aristotelischen Physik jeder Körper an seinen Platz und deshalb fallen schwere Körper nach unten; die Luft oder der Rauch, die nach oben steigen, sind nicht schwer. Dieses falsche Schema im Kopf, sagten die Peripatiker unendliche Dummheiten, um die Bewegung des Pendels zu erklären, das sich bei jeder Schwingung hebt und senkt. Indes, im dialektischen Denken ist die Frage sehr viel besser gestellt (aber dazu reichte es nicht zu denken, man musste experimentieren - wie Galileo).
Das Schwere bewegt sich nach unten. Die Körper, die sich nicht nach unten bewegen, sind nicht schwer: Ist das Pendel nun ein schwerer Körper oder nicht? Hier haben wir die Schwierigkeit der Aristotelianer, hier ist das heilige »Prinzip von Identität und Gegensatz« verletzt. Sagt man hingegen, dass sich schwere Körper nach unten hin beschleunigen, dann können sie sich, unter der Voraussetzung der Verlangsamung, auch nach oben hin bewegen. Das Pendel hat eine bestimmte Geschwindigkeit, die sich erhöht, solange es fällt, und die sich verringert, solange es steigt. Erst haben wir die Richtung der Bewegung und dann die Bedeutung der Beschleunigung negiert. Dennoch haben wir einen Schritt nach vorn gemacht, nicht nur, weil wir mit Recht behaupten können, dass das Pendel immer ein schwerer Körper ist, sondern vor allem, indem wir aufgedeckt haben, dass die Schwere nicht die Ursache der Bewegung, sondern der Beschleunigung ist - eine Entdeckung, die durch Galileo zur modernen Wissenschaft führte. Dieser machte die Entdeckung nicht durch den Gebrauch der Dialektik, vielmehr mass er die Bewegung des Pendels: die Dialektik diente ihm nur dazu, die formelle und verbale Fessel der alten Aussagen zu zerreissen.
Wenn wir auf eine Negation einer Negation treffen, dürfen wir nicht glauben, zum Ausgangspunkt zurückgekehrt zu sein, sondern - dank der Dialektik - wir können erwarten, an einen neuen Punkt gekommen zu sein: wo er sich befinden mag und was er sein mag, weiss die Dialektik nicht - das kann nur die positive und experimentelle Forschung feststellen.
Bevor wir die »Negation der Negation« an einem gesellschaftlichen Beispiel illustrieren, sollten wir noch etwas über den willkürlichen Charakter sagen, den Metaphysik und Dialektik unter idealistischer Voraussetzung gemeinsam haben.
Ausgehend von der Feststellung, dass wir die äussere Welt nur durch psychische Prozesse wahrnehmen - ob wir uns auf den Sensualismus beziehen, d.h. auf die Lehre, dass Erkenntnis auf Sinneswahrnehmungen beruht, oder auf den reinen Idealismus, der die Erkenntnis auf das Denken gründet (das geht soweit, wie in bestimmten Systemen, die äussere Welt gar als Projektion des subjektiven Denkens aufzufassen) -, vertreten alle traditionellen Philosophien, dass dem Erkenntnissystem, der konkreten Wissenschaft, irgendwelche Denkbestimmungen vorausgesetzt werden müssen, die sich ganz und gar in unserem Ich vorfinden lassen. Diese ersten Prinzipien, die unanfechtbar schienen, gerade weil sie unbeweisbar waren, wurden Kategorien genannt. Im aristotelischen System sind es die folgenden 10 Kategorien (deutlich ist, dass zwischen dieser Bedeutung des Begriffs und dem landläufigen »Klasse« oder »Einteilung« zu unterscheiden ist): Substanz, Quantität, Qualität, Relation, Ort, Zeit, Lage, Haben, Tun, Leiden; diese entsprechen den Fragen: Aus was ist es gebildet? Welche Grösse hat es? Von welcher Qualität? Im welchem Verhältnis steht es zu anderen Gegenständen? Wo? Wann? In welcher Lage befindet es sich? Mit welchen Eigenschaften ist es versehen? Was tut es? Was erleidet es (d.h. welche Einwirkungen erfährt es)? Beispielsweise: ein Mann ist von lebendiger und denkender Substanz; er ist 1,80 m gross; von weisser Rasse; er wiegt mehr als ein anderer; er befindet sich in Athen; lebt im Jahre 516 v.u.Z.; er sitzt; er legt die Rüstung an; er spricht; er wird von den Anwesenden angeschaut.
Die aristotelischen Kategorien wurden modifiziert und quantitativ reduziert. Kant gab ihnen einen etwas anderen Rahmen; aber stets wurden sie als »Formen a priori« definiert, durch die die menschliche Intelligenz beliebige Erfahrungen verarbeiten kann und soll. Nach Kant ist keine Erfahrung möglich, wenn sich nicht auf zwei »Anschauungen a priori« bezogen wird: die Begriffe Raum und Zeit, die vor jeder Erfahrung in unserem Geist präexistent seien. Aber die Errungenschaften a posteriori der modernen Wissenschaft haben diese verschiedenen Systeme »a priori« nacheinander zerbrochen, und zwar unrettbar, auch wenn man weit davon entfernt blieb, auf all die Fragen, deren Leere durch die Herstellung von »Formen a priori« gefüllt worden war, auf erschöpfende Weise zu antworten. Bereits Hegel konnte sagen, dass sich Qualität auf Quantität reduzieren lässt (ein Mensch ist weiss und nicht schwarz, weil bei der Analyse der Hautpigmente eine bestimmte Anzahl überwiegt). Kant wäre ziemlich baff darüber gewesen, dass die Physiker (Einsteins Relativitätstheorie) Raum und Zeit als eine einzige Grösse behandeln oder dass allgemein Übereinstimmung darüber besteht, die Entscheidung über Fusion oder Trennung der beiden nicht ableitbaren Kategorien irgendeiner positiven physikalischen oder astronomischen Erfahrung zu überlassen - während es Madame Intelligenz vorbehalten bleibt, sich an das jeweils erfolgreiche Resultat zu gewöhnen.
Marx weist den kalten Empirismus jener Denker zurück, die nur das Sammeln von Daten der äusseren Welt, als viele voneinander unabhängige Feststellungen für möglich erachten, ohne zu ihrer Gliederung zu kommen und ohne auch nur danach zu fragen, ob sichere Resultate über die objektive Realität gesammelt werden oder nur in unsere Sinnesgewebe eingegangene und fest eingeprägte Verdachtsmomente. Eine derartige Methode - auf die das bürgerliche Denken nach den ersten kühnen Systematisierungen (z.B. in der Ökonomie) zurückwich - passt zum Konservatismus derjenigen, die an die Macht gelangt sind und ihre Privilegien vor allzu zersetzenden Untersuchungen schützen wollen. Obwohl Marx dem Materialismus der französischen Enzyklopädisten grosse gesellschaftliche Bedeutung beimass, war er nicht wirklich zufrieden damit; trotz seiner revolutionären Kraft und der rücksichtslosen Niederwerfung religiöser Vorurteile konnte sich dieser nicht von der Metaphysik losmachen und keinen anderen Sozialismus als den mit seinem historischen Mangel behafteten Sozialismus der Utopisten hervorbringen. Und, drittens, obwohl Marx sich stark an die Resultate der Systeme der kritischen deutschen Philosophie angelehnt hatte, brach er, kaum dass er die gesellschaftlichen Fragen angepackt hatte, also schon 1842, mit deren idealistischem Inhalt. Mit dem Materialismus jenseits des Rheins hatte der reine deutsche Kritizismus gemeinsam, die religiösen Phantasmen zu vertreiben und jedes dogmatische sowie jedes, die Verstandesmöglichkeiten des Menschen per definitionem transzendente Element zu beseitigen. Überlegen war der deutsche Kritizismus, was die Überwindung der Metaphysik und die allgemeine Anschauung der Bewegung der Dinge und Tatsachen betrifft; unterlegen, was die historische Kraft angeht, eine Revolution gegen die alte deutsche Ordnung hervorzubringen - gleich etwa der grossartigen Revolution, die Voltaires, Rousseaus und d'Alemberts Schüler verwirklicht hatten. Östlich des Rheins war die bürgerliche Klasse nicht imstande, von der Theorie zur Aktion überzugehen; das Hegelsche System wurde geradezu zu vorbürgerlichen und reaktionären Zwecken benutzt; der Marxismus zerbrach diesen »Gang der Dinge«, indem er die Ablösung der Bourgeoisie (deren theoretische Möglichkeiten erschöpft und deren revolutionäre Fähigkeiten nicht vorhanden waren) durch eine neue Klasse öffentlich verkündete.
Nachdem wir die authentische marxistische Position bezüglich der früheren Schulen wiederhergestellt haben, liegt uns jetzt daran, deutlich zu machen, dass die Vorbehalte gegenüber dem konkretistischen Empirismus (vor allem dem englischen) und gegenüber dem metaphysischen Materialismus (vor allem dem französischen) keinesfalls als Anerkennung des abstrakten Kritizismus der Deutschen und ihrer abstrusen Erforschung der »Formen a priori« misszuverstehen sind.
Es genügt, an die Marxsche Polemik gegen Proudhon im »Elend der Philosophie« von 1847 zu erinnern, wo dessen Hegelianisch-Kantsche Hybride angegangen wird. Zusammen mit dem Anspruch Proudhons, ein... deutscher Philosoph zu sein, werden die Kategorien des Denkens und der Vernunft liebenswürdig verspottet. Scherzhaft wird eine schlagfertige Antwort auf das gegeben, was wir über Empirismus und Kritizismus gesagt haben:
»Wenn der Engländer die Menschen in Hüte verwandelt, so verwandelt der Deutsche die Hüte in Ideen« (5).
In der »ersten Bemerkung« folgt eine prächtige Darstellung und gleichzeitige radikale Kritik der dialektischen Methode Hegels, die sich auf eine unnütze »angewandte Metaphysik reduziert«. Der Empiriker belässt das Individuum und das Ding isoliert in ihrer Sterilität. Der Kritizist abstrahiert vom einzelnen Ding sämtliche Elemente und Schranken, bis schliesslich die reine »logische Kategorie« übrigbleibt.
»Dass alles, was existiert, dass alles, was auf der Erde und im Wasser lebt, durch Abstraktion auf eine logische Kategorie zurückgeführt werden kann, dass man auf diese Art die gesamte wirkliche Welt ersäufen kann in der Welt der Abstraktionen, der Welt der logischen Kategorien - wen wundert das?« (6).
Wir können hier nicht die ganze Seite wiedergeben und erläutern. Es ist jedenfalls sicher, dass die »logischen Kategorien« und »Formen a priori« infolge des dialektischen Materialismus denselben Weg gehen werden, den die Denker der revolutionären Bourgeoisie die Entitäten der übernatürlichen Welt, die Heiligen und die verstorbenen Seelen nehmen liessen.
Die Negation des kapitalistischen Eigentums
[prev.] [content] [next]
Die Textstelle, die wir am Schluss unseres Studiums über die marxistische Wirtschaftslehre zitierten (7), benutzte Dühring, um Marx in Widersprüche zu verwickeln (8), da die neue Form, die das kapitalistische Eigentum ablösen wird, erst als »individuelles Eigentum« und dann als »gesellschaftliches Eigentum« bezeichnet wird.
Engels stellt die Bedeutung dieser Ausdrücke wieder richtig, indem er zwischen Eigentum an den Produkten oder Konsumgütern und dem an Produktionsmitteln unterscheidet.
Die Anwendung des dialektischen Schemas der »Negation der Negation« wird von Marx deutlich dargestellt. Bevor wir sie wiedergeben, wollen wir einige klärende Angaben über die Bedeutung der verwendeten Begriffe hinzufügen. Die Terminologie ist für uns Marxisten äusserst wichtig, sowohl weil wir bei unserer Arbeit immer wieder mit verschiedenen Sprachen zu tun haben, als auch weil wir aus polemischer und propagandistischer Notwendigkeit oft die den verschiedenen Theorien eigene Sprache anwenden müssen.
Halten wir uns also kurz bei drei terminologischen Unterscheidungen auf: Produktions- und Konsumtionsgüter - Eigentum und Anwendung ersterer, Eigentum und Verwendung letzterer - privates, individuelles, gesellschaftliches Eigentum.
Die erste Unterscheidung ist auch in der bürgerlichen Ökonomie geläufig. Die Produkte der menschlichen Tätigkeit dienen entweder dem direkten Konsum, wie ein Lebensmittel oder ein Kleidungsstück, oder sie werden in anderen Arbeitsprozessen weiterverwendet, wie eine Hacke oder Maschine. Nicht immer ist die Unterscheidung so einfach: es gibt auch Zwischenformen. Jedenfalls versteht es jeder, wenn wir bei den Produkten zwischen Konsum- und Produktionsgütern unterscheiden.
Es wäre richtiger, das Eigentum an Konsumgütern im Moment ihrer Verwendung nicht mit dem Begriff des Eigentums zu versehen, auch dann nicht, wenn ihnen die Adjektive »persönliches«, »individuelles« vorangehen. Dies Verhältnis besteht dann, wenn derjenige, der seinen Hunger stillen will, ein Brot in der Hand hält und ihm niemand verbietet, es zum Mund zu führen. Auch in den Rechtswissenschaften wird dieses Verhältnis nicht als Eigentum, sondern eher als Besitz bezeichnet. Der Besitz kann de facto und materiell, oder auch de jure und legal existieren, aber er impliziert stets das »in der Hand halten«, die physische Verfügung über das Ding. Das Eigentum bezeichnet das Verhältnis, über eine Sache zu verfügen, ohne es in der Hand halten zu müssen, einfach durch den Besitztitel in Form eines Stück Papiers oder durch gesellschaftliche Norm.
Das Eigentum verhält sich zum Besitz wie in der Physik die Newtonsche »actio in distans« [Fernwirkung] zur »Kontaktwirkung«, auf direkten Druck hin. Da auch in den Begriff »Besitz« eine juristische Bedeutung eingeht, könnten wir im Sinne der praktischen Auffassung für die Tatsache, ein Stück Brot essen oder die Schuhe anziehen zu können, den Begriff »Verfügbarkeit« nehmen (da in »verfügen« die Bedeutung steckt, was mit etwas »geschehen soll«).
Den Begriff Eigentum behalten wir den Produktionsgütern vor: Werkzeuge, Maschinen, Werkstätten, Gebäude, Boden, etc.
Da auch die Verfügbarkeit über z.B. das eigene Kleid oder den eigenen Bleistift als Eigentum bezeichnet wird, sagt das »Manifest« hierzu, dass die Kommunisten das bürgerliche Eigentum abschaffen wollen, nicht das persönliche.
Dritte Unterscheidung: privates, individuelles, gesellschaftliches Eigentum. Privates Recht an, private Macht über Dinge, Konsum- oder Produktionsgüter (anfangs auch über Personen und die Tätigkeit anderer Menschen) bedeutet nicht auf alle ausgedehntes, sondern nur einigen vorbehaltenes Recht. Beim Begriff »privat« überwiegt, auch buchstäblich genommen, die negative Bedeutung; also nicht das Vermögen, ein Ding zu geniessen, sondern eben das gesetzlich geschützte Vermögen, andere des Genusses zu berauben (aus dem Lateinischen: privare). Herrschaft des Privateigentums ist, wenn einige Eigentümer sind und ganz viele andere es nicht sind. Zu Zeiten Dantes sind die »uman privati« die Latrinen, ein Ort, wo normalerweise nur ein einziger herrscht; ein hübsches Symbol für die ideologischen Düfte der Bourgeoisie.
Individuelles Eigentum hat nicht denselben Sinn wie privates. Die... Denkenden denken die Person, das Individuum als Bourgeois-Persönlichkeit, als bürgerliches Individuum (»Manifest«). Aber eine Herrschaft des individuellen Eigentums hätten wir nur, wenn jedes Individuum das Eigentum an einigen Dingen erlangen könnte - etwas, was es in der bürgerlichen Epoche de facto, trotz juristischer Frömmelei, weder in bezug auf die Produktions- noch auf die Konsumgüter gibt.
Gesellschaftliches Eigentum, Sozialismus, ist das System, in dem es kein festes Verhältnis mehr zwischen der nämlichen Sache und einer bestimmten Person bzw. einem bestimmten Individuum gibt. Hier sollte nicht mehr von Eigentum gesprochen werden, denn das Adjektiv »eigen« bezieht sich auf ein einzelnes Subjekt, nicht auf die Allgemeinheit. Da man jedoch täglich von nationalem, staatlichem Eigentum redet, sprechen wir, um uns verständlich zu machen, von gesellschaftlichem, kollektivem, gemeinschaftlichem Eigentum.
Folgen wir nun der Synthese der drei gesellschaftlichen und historischen Phasen, mit der Marx den ersten Band des »Kapital« krönt.
Lassen wir die vorhergehenden Epochen des Sklavenhaltertums und des grundherrlichen Feudalismus beiseite, in denen das persönliche [Abhängigkeits-] Verhältnis (zwischen Mensch und Mensch) gegenüber dem Eigentumsverhältnis (zwischen Mensch und Ding) vorherrschte.
Erste Phase. Die Gesellschaft der Kleinproduktion - der Handwerker in der Werkstatt, der Bauer in der Landwirtschaft. In welchem Verhältnis steht jeder Werkstatt- oder Landarbeiter zu den von ihm benutzten Produktionsgütern? Der Bauer ist Herr über seinen Acker, der Handwerker über seine Werkzeuge. Verfügung über ihre und Eigentum an ihren Produktionsmitteln. In welchem Verhältnis steht jeder Werkstatt- oder Landbearbeiter zu seinen Produkten? Er verfügt frei über sie, die Konsumgüter verwendet er nach Belieben. Wir können also sagen: individuelles Eigentum an Produktionsgütern, persönliche Verfügung über die Produkte.
Zweite Phase. Kapitalismus. Beide Formen werden negiert. Boden, Werkstatt oder Werkzeug sind nicht mehr Eigentum des Arbeitenden. Die Produktionsmittel sind Privateigentum einiger weniger Industrieller, der Bourgeoisie geworden. Der Arbeiter hat keinerlei Recht mehr auf die Produkte, auch nicht auf die Konsumgüter, die ihrerseits Eigentum des Land- oder Fabrikherrn geworden sind.
Dritte Phase. Negation der Negation.
»Die Expropriateurs werden expropriiert« (9),
und zwar nicht dahingehend, dass die Industrie- und Agrarkapitalisten expropriiert würden, um allgemein ein individuelles Eigentum an Produktionsgütern wiederherzustellen. Das ist kein Sozialismus; das ist die Formel: »Alle sind Eigentümer« der Kleinbürger, heute der Kleinstbürger. Die Produktionsgüter werden gesellschaftliches Eigentum - auf »Grundlage der Errungenschaften der kapitalistischen Ära«, die die Produktion »vergesellschaftet« hat. Es gibt nicht länger Privateigentum. Und was ist mit den Konsumgütern? Diese werden von der Gesellschaft allen Konsumenten, d.h. jedem Individuum zur allgemeinen Verfügung gestellt.
In der ersten Phase war also jedes Individuum Eigentümer einiger weniger Arbeitsgeräte und jedes Individuum verfügte über einige wenige Produkte und Konsumgüter. In der dritten Phase ist jedem Individuum das Privateigentum an Produktionsgütern, die gesellschaftlicher Natur sind, untersagt - es hat jedoch stets die ihm vom Kapitalismus genommene Verfügung über Konsumgüter. Dies heisst: mit dem gesellschaftlichen Eigentum an den Maschinen, den Fabriken etc. haben wir wieder das »individuelle Eigentum« (aber was für ein Unterschied!) eines jeden Arbeiters an einem Teil der konsumtiven Produkte - in der vorkapitalistischen Handwerker- und Bauerngesellschaft existierte es als Privatverhältnis, nunmehr als gesellschaftliches Verhältnis.
(Es genügt, auf ein Zitat aus dem »Bürgerkrieg in Frankreich« hinzuweisen, falls irgend jemand unsere Darstellung der Marxschen Worte über die »Wiederherstellung des individuellen Eigentums« oder auch über die kontinuierliche Strenge in der marxistischen Terminologie bezweifelt:
»(...) kaum nehmen die Arbeiter irgendwo die Sache in ihre eignen Hände, so ertönen auch sofort wieder die apologetischen Redensarten der Fürsprecher der jetzigen Gesellschaft mit ihren beiden Polen: Kapital und Lohnsklaverei (der Grundbesitzer ist jetzt nur noch der stille Gesellschafter des Kapitalisten), als lebte die kapitalistische Gesellschaft noch im Stande reinster jungfräulicher Unschuld, alle ihre Grundsätze noch unentwickelt, alle ihre Selbsttäuschungen noch unenthüllt, alle ihre prostituierte Wirklichkeit noch nicht blossgelegt! Die Kommune, rufen sie aus, will das Eigentum, die Grundlage aller Zivilisation, abschaffen! Jawohl, meine Herren, die Kommune wollte jenes Klasseneigentum abschaffen, das die Arbeit der vielen in den Reichtum der wenigen verwandelt. Sie beabsichtigte die Enteignung der Enteigner. Sie wollte das individuelle Eigentum zu einer Wahrheit machen, indem sie die Produktionsmittel, den Erdboden und das Kapital, jetzt vor allem die Mittel zur Knechtung und Ausbeutung der Arbeit, in blosse Werkzeuge der freien und assoziierten Arbeit verwandelt. - Aber dies ist der Kommunismus, der 'unmögliche' Kommunismus!« (10).)
Beide Negationen haben uns nicht zum Ausgangspunkt der Ökonomie der zersplitterten, molekularen Produktion zurückgeführt, sondern darüber hinaus und noch viel weiter: zur kommunistischen Leitung aller Güter, wo schliesslich solche Begriffe wie Eigentum, Vermögen, persönlicher Anteil jeder Grundlage entbehren werden.
Nachdem wir dieses Schema des historischen Übergangs verdeutlicht haben, ist jetzt die Widerlegung Dührings durch Engels für unsere Anwendung der dialektischen Methode wichtig.
»Erst jetzt, nachdem Marx mit seinem historisch-ökonomischen Beweis fertig ist«, bezeichnet er »den Vorgang als Negation der Negation (...). Nachdem er geschichtlich bewiesen hat, dass der Vorgang in der Tat teils sich ereignet hat, teils noch sich ereignen muss, bezeichnet er ihn zudem als einen Vorgang, der sich nach einem bestimmten dialektischen Gesetz vollzieht«.
Marx verlangt nicht,
»man solle auf den Kredit der Negation der Negation hin sich von der Notwendigkeit der Boden- und Kapitalkommunität (welche selbst ein Dühringscher leibhaftiger Widerspruch ist) überzeugen lassen« (11).
Kurz und gut, die Dialektik nutzt uns (wie Marx im Nachwort zum »Kapital« sagt (12)), sei es, um das, was die analytische Untersuchung ergeben hat, darzulegen, sei es, um die in den traditionellen Theorien bestehenden Schranken einzureissen. Die Marxsche Dialektik ist die mächtigste Zerstörungskraft. Die Philosophen mühten sich bei der Konstruktion von Systemen ab. Die Revolutionäre zerstören durch die dialektische Kraft die verknöcherten Formen, die den Weg in die Zukunft versperren. Die Dialektik ist die Waffe, um die Grenzen zu durchbrechen - einmal niedergerissen, ist auch der Zauber einer ewigen Unveränderlichkeit der Denkformen gebrochen; Denkformen, die sich als unaufhörlich wandelnd erweisen und sich infolge der revolutionären Veränderung der Gesellschaften herausbilden.
Unsere Erkenntnis-Methodologie muss uns zum entgegengesetzten Pol einer Aussage führen, die wir einer wichtigen Quelle entnehmen, der Benedetto Croces; in einer seiner ungestümen Anmerkungen gegen allgemein verbreitete stalinistische Schriften (über den dialektischen Materialismus) heisst es:
»Die Dialektik findet einzig Anwendung auf die Beziehungen zwischen den Kategorien des Geistes und bezweckt die Lösung des alten, verbitterten, scheinbar hoffnungslos festgefahrenen Dualismus zwischen Wert und Nichtwert, Wahrem und Falschem, Gutem und Bösem, Positivem und Negativem, Sein und Nichtsein«.
Für uns indes findet die Dialektik Anwendung auf die sich fortwährend verändernden Darstellungen, mit denen das menschliche Denken die Naturvorgänge reflektiert und deren Geschichte erzählt. Diese Darstellungen sind ein Beziehungs- oder Transformationsgeflecht, das behandelt werden muss, ohne irgendeine dem »Geist« und seinen einsamen Übungen abverlangte absolute Vorgabe zugrundezulegen, das mit Hilfe einer Methode behandelt werden muss, die sich in nichts von der unterscheidet, die auch für die Wechselwirkungen in Bereichen der physischen Welt gilt.
Als das konservative »moderne« Denken versuchte, den Empirismus und den Kritizismus zu vermählen, um durch diesen »Bund fürs Leben« die Möglichkeit der Erkenntnis sowohl der Naturgesetze als auch die der menschlichen Gesellschaft gemeinsam zu negieren, war es Lenin, der die konter-revolutionäre Falle bemerkte und für Abhilfe sorgte.
Der gegenwärtigen Ordnung in Russland, die an den Konformismus bestehender Positionen gebunden ist, fehlt jede Möglichkeit, diesen Kampf (auch auf wissenschaftlichem Gebiet) fortzuführen. Die geordnete Verteidigung und der geordnete Angriff der marxistischen Schule auf theoretischem Gebiet drohen durch den verzweifelten Gegenangriff der kapitalistischen Weltintelligenzia und deren kolossaler Propagandamittel gesprengt zu werden, wenn für unsere Schule nicht neue Grundlagen durch die radikale Parteiarbeit entstehen - die Parteiarbeit ist ungebunden, weshalb sie die Flamme der Dialektik auf all die Nähte richten kann, die die künstlichen Privilegien- und metaphysischen Glaubensstrukturen zu allerneuesten Unfehlbarkeiten zusammenschweissen.
Die Lehre der kommunistischen Revolution bedarf keiner Hohepriester und keiner Mekkas.
Notes:
[prev.] [content] [end]
Source: »Prometeo«, »Sul metodo dialettico«, Serie II, Nr. 1, 3.11.1950
[top] [content] [last] [home] [mail] [organisations] [search] [webmaster]