LENINS SCHRIFT »DER 'LINKE RADIKALISMUS', DIE KINDERKRANKHEIT IM KOMMUNISMUS« - DIE VERURTEILUNG DER KÜNFTIGEN RENEGATEN
Seit über fünfzig Jahren ist diese Schrift das beliebteste Opfer aller opportunistischen Verdrehungen und Verfälschungen. Schon durch die Art und Weise, wie er von dieser Schrift Gebrauch macht, zeigt sich der opportunistische Verräter in seiner ganzen Niederträchtigkeit.
Lenins Schrift »Der 'linke Radikalismus', die Kinderkrankheit im Kommunismus« - die Verurteilung der künftigen Renegaten - Inhaltsverzeichnis und Vorwort
I. Die Szene des weltgeschichtlichen Dramas im Jahre 1920
II. Russische Geschichte oder Weltgeschichte
III. Kardinalsteine des Bolschewismus: Zentralisation und Disziplin
V. Kampf gegen die zwei antibolschewistischen Fronten: den Reformismus und den Anarchismus
VI. Der Schlüssel für die »von Lenin erlaubten Kompromisse«
VII. Anhang zu den italienischen Fragen
Im dritten Kapitel liefert Lenin einen kurzen Abriss der geschichtlichen Entwicklung, die aus der bolschewistischen Partei die Partei der Revolution machte. Eine verbreitete Legende erklärt, dass die Ereignisse und die Massenbewegung der Partei einen unerwarteten Weg eröffnet hätten; erst durch sie hätte die Partei den Schlüssel der revolutionären Geschichte in die Hand bekommen, und gerade diesen Schlüssel würde man nach dem russischen Siege in allen anderen Ländern benutzen können. Ein kurzer Blick auf Lenins Zusammenfassung der »Hauptetappen in der Geschichte des Bolschewismus« genügt jedoch, um diese Legende zu widerlegen. Allerdings hat der militante Opportunismus inzwischen selbst diese Legende fallen lassen, um sich einer noch niederträchtigeren Position zu verschreiben: Worte wie Lenin, Bolschewismus und Oktobertradition wurden in Gebetssprüche verwandelt, das »Wort« aber, das sich damals in Russland zum ersten Mal offenbart haben soll, darf in den anderen Ländern nicht mehr verkündet werden.
Lenins Werk scheint als Antwort auf eine solche Fälschung geschrieben worden zu sein. Der Grund dafür, dass die wesentlichen Linien der Entwicklung, die 1917 zum Oktobersieg führte, den proletarischen Kampf aller Länder kennzeichnen werden, liegt darin, dass sie nicht aus einem unvorhersehbaren Wunder in Russland erschienen, sondern die Vorhersagen einer universalen Lehre der proletarischen Revolution vollkommen bestätigten. Zu dem Zeitpunkt, da sich die russischen Revolutionäre diese Lehre mit so grossem Erfolg aneigneten, bestand sie bereits seit einem halben Jahrhundert. Sicherlich gab es besondere russische Bedingungen, darunter einige, die günstig und andere, die, wie die weitere Entwicklung zeigen sollte, widrig waren. Lenin schrieb dieses Buch und führte sein ganzes Leben einen harten Kampf, um jedoch die gemeinsamen Züge der russischen Revolution und aller proletarischen Revolutionen hervorzuheben.
Lenin geht vom Jahre 1903 aus, denn in jenem Jahr hatte sich die bolschewistische Partei von der menschewistischen Sozialdemokratie abgetrennt. Diese trat in die Fussstapfen des europäischen Revisionismus, d.h. jener Marxisten, welche die revolutionären Grundlagen der Lehre und der Aktion der internationalen proletarischen Partei ändern wollten. Von jenem Jahr an unterschied sich der Bolschewismus völlig von allen anderen Parteien der antizaristischen Opposition - welche in einem antifeudalen Sinne dennoch revolutionär waren - und wirkte auf die objektiven Situationen ein bzw. reagierte auf den Einfluss dieser Situationen auf eine vollkommen eigene Weise und mit einer Durchschlagskraft, die sich mit derjenigen der anderen Parteien nicht vergleichen lässt. Für den Bolschewismus hat der Oktober Bestätigung und Sieg bedeutet, für alle anderen Widerlegung und Niederlage.
Lenins Partei hatte sich also bereits vierzehn Jahre vor der Revolution die Richtlinien angeeignet, welche zum historischen Sieg führen. Es ist nicht der Sieg gewesen, der ihr diese Richtlinien beibrachte und zur Fabrikation einer Theorie führte. Dieser Sieg war im Gegenteil die grandiose und glorreiche Verifizierung einer bereits gegebenen Lehre, eine Verifizierung, die für die Lehren aller Gegner verheerend und tödlich war.
Dass die Revolution gegen die despotische Macht des Zaren und des Feudaladels bevorsteht, wird von allen gespürt. Für alle Klassen der russischen Gesellschaft und für ihre »Wortführer«, die politischen Parteien und Parteigruppen, die im Ausland in der Emigration arbeiten, ist die Lage revolutionär.
Wie Lenin ausdrücklich festhält, geht der ideologische Kampf zwischen den verschiedenen Klassen dem bewaffneten Kampf, der sich in den Jahren 1905-07 und auch 1917-20 entfalten wird, voraus. Die theoretischen Waffen schmieden sich also vor dem Zusammenstoss der sozialen Kräfte. Die Theorie des historischen Materialismus und des Klassenkampfes hat in ihrer Anwendung auf die Klassenrevolutionen (und zwar nicht nur auf die antikapitalistische) diesen allgemeinen Sinn.
Man stellt den Marxismus auf den Kopf, wenn man davon ausgeht, dass der Klassenkrieg erst nach seinem Ablauf theoretisch und ideologisch erfasst werden kann. Jede Klasse besitzt eine revolutionäre Ideologie noch lange bevor sie sich um die Macht schlägt. Auch die proletarische Klasse beginnt ihren Kampf zunächst auf dem Boden der politischen Auseinandersetzung und Agitation, um erst später den Boden des Aufstands zu betreten. Ihr Vorteil gegenüber den früheren revolutionären Klassen besteht darin, dass sie durch ihre politische Partei über die richtige Theorie der historischen Entwicklung und die richtige Erklärung für die Kämpfe der anderen Klassen, von denen diese Klassen selbst nur ein verzerrtes Bild besitzen, verfügt. Bereits vor ihrer Revolution besass die Bourgeoisie die kritischen und ideologischen Waffen, mit denen sie das Ende der feudalen und klerikalen Monarchien vorwegnahm. Ihre Zukunftsperspektive enthielt aber die falsche Auffassung, derzufolge das Aufkommen der demokratischen Freiheiten die Klassenkämpfe und Klassenunterschiede verschwinden lassen würde. Schon die französische Revolution, die im Gegensatz zur russischen eine »einfache« und nicht eine doppelte Revolution war, setzte ungeheure Massen in Bewegung und lieferte dadurch der Partei der neuen, der proletarischen Klasse, der Partei des »IV. Standes« die Möglichkeit, die neue Lehre, d.h. die neue Vorhersage der weiteren geschichtlichen Entwicklung zu gründen.
Lenin schildert die verschiedenen Klassen in Russland: liberale Bourgeoisie, städtische und ländliche Kleinbourgeoisie (die sich - wie Lenin sagt - hinter den Aushängeschildern der »sozialdemokratischen« und der »sozialrevolutionären« Richtung verbarg) und revolutionäres Proletariat, das durch die bolschewistische Partei vertreten wurde. Dies abgesehen von den verschiedenen »Zwischengebilden«.
Die polemischen Auseinandersetzungen zwischen diesen Richtungen liefern im voraus so etwas wie ein Photo des offenen Kampfes, den sie gegeneinander führen werden. Es waren also nicht dieser spätere Kampf und dessen Formen, die jeder Gruppierung das jeweilige Programm lieferten. Zweifelt man, dass Lenin so dachte? Lesen wir:
»Die Emigrantenpresse im Ausland wirft theoretisch alle Grundfragen der Revolution auf« (48).
Die von uns erwähnten politischen Strömungen
»nehmen im äusserst erbitterten Kampf der pro grammatischen und taktischen Auffassungen den kommenden offenen Kampf der Klassen vorweg und bereiten ihn vor. Alle Fragen, um derentwillen der bewaffnete Kampf der Massen in den Jahren 1905-1907 und 1917-1920 geführt wurde, kann (und soll) man, in ihrer Keimform, an Hand der damaligen Presse verfolgen« (49).
Der Autor betont diesen Punkt:
»Richtiger: im Kampf der Presseorgane, Parteien, Fraktionen und Gruppen kristallisieren sich jene ideologischen und politischen Richtungen heraus, die wirklich klassenmässig bestimmt sind; die Klassen schmieden sich die nötigen ideologischen und politischen Waffen für die kommenden Schlachten« (50).
Für Lenin stellte also der ideologische Richtungskampf ebenso wie die offenen revolutionären Kämpfe der folgenden Jahre (1905-1907) eine Generalprobe der Revolution dar.
Das ist das genaue Gegenteil des »Konkretismus«. Dieser warnt: Wir müssen zunächst schauen, was geschieht, erst dann können wir reden. Geht man einen Schritt weiter, dann haben wir das in Italien hinlänglich bekannte Doppelspiel: Wir müssen zunächst schauen, wer der Stärkere ist, und dann schwören, dass wir schon immer dasselbe wie er gesagt haben, selbst dann, als wir darauf bedacht waren... zu schweigen.
Lenins Position steht also im Gegensatz zur alten, banalen Gegenüberstellung von Aktion einerseits und Polemik gegen andere Auffassungen andererseits: Keine Zeit mit Schreiben, Polemik und Spaltungen in Grüppchen verlieren; gehen wir auf die Strasse, und alles wird sich klären!
Lenin und wir ziehen daraus eine Schlussfolgerung, die sich so formulieren lässt: Für den Opportunisten folgt die Theorie der Aktion nach, für den Revolutionär geht die Theorie der Aktion voraus (51).
»Die Jahre der Revolution (1905-1907). Alle Klassen treten offen auf« (52).
Und in welchem Sinne bedeutet die Aktion der Massen eine notwendige Lehre?
»Alle programmatischen und taktischen Auffassungen werden durch die Aktion der Massen erprobt« (53).
Und wie geht diese »Erprobung« vor sich? In einer Situation, die objektiv reif ist (und hierfür war die Lage im Zarenreich beispielhaft: die dort herrschende Staatsordnung war im übrigen Europa seit fünfzig Jahren verschwunden, der Zar hatte soeben einen verheerenden Krieg gegen Japan geführt und verloren, und das Land befand sich folglich in einer tiefen ökonomischen und politischen Krise), in einer solchen Situation suchen die Massen die Führung jener Partei, deren Vorhersagen den Triebkräften, unter denen sie sich bewegen, an besten entsprechen.
Lenin weist sofort auf eine typische Erscheinung einer antidespotischen Revolution hin, in der infolge der bereits relativ fortgeschrittenen Entwicklung der kapitalistischen Produktion ein wirkliches Proletariat vor allem in den Grossstädten vorhanden ist. Zum ersten Mal handelt es sich nicht mehr um den Barrikadenkampf eines unbestimmten Volkes, sondern man greift auf die Waffe des Streiks zurück
(»Streikkämpfe von nie dagewesener Ausdehnung und Heftigkeit« (54)).
Den Streik hatte man von der westeuropäischen Arbeiterbewegung übernommen. Russland wird aber die Wirkungskraft dieser Waffe für die internationale Arbeiterbewegung enorm steigern. Zweck des Streiks ist nicht mehr die Entscheidung eines ökonomischen Kampfes in der Fabrik. Die neue Losung, welche die Linksmarxisten seit langem verfochten, siegt:
»Hinüberwachsen des wirtschaftlichen Streiks in den politischen und des politischen Streiks in den Aufstand« (55).
Im Europa des Jahres 1905 predigten die revolutionären Syndikalisten der Schule von Georges Sorel, von denen bereits die Rede war, den Generalstreik als höchstes Mittel des proletarischen Kampfes, als revolutionären Ausdruck der »direkten« Klassenaktion, d.h. einer Aktion der Arbeiter selbst ohne Einschaltung von Vertretern und Vermittlern. Unter Vertretern und Vermittlern verstanden sie nicht nur die sozialistischen Abgeordneten, sondern die sozialistischen politischen Parteien überhaupt Diese Haltung war extrem defätistisch, sie liess sich aber zum Teil durch die Haltung der sozialistischen Parteien jener Zeit rechtfertigen, die den Streikkämpfen auswichen, den Massenstreik verwarfen und sich seiner Anwendung widersetzten.
Aber um wieviel überlegener war die Position des russischen Proletariats! Es hatte nicht nur aus dem Beispiel der Arbeitermassen der entwickelteren und älteren Industrieländer gelernt, sondern folgte auch seit damals einer revolutionären politischen Partei, einer Partei, die fähig war, sich in die Mitte und an die Spitze der kolossalen Streiks von Moskau, Petersburg, Odessa, Warschau usw. zu stellen! Und natürlich konnte niemand den politischen Inhalt dieser Streiks und des ganzen Kampfes, des allgemeinen Zusammenstosses mit der Blutbäder und Massenmorde veranstaltenden zaristischen Polizei leugnen. Politischer Streik, der in den Aufstand hinüberwächst und an dessen Spitze eine revolutionäre Partei steht: Hier liegt die »Erprobung« der verschiedenen Auffassungen, die sich nicht nur in Russland, sondern in ganz Europa bekämpften.
Nur aufgrund einer dialektischen Auffassung von der Lage in Russland konnte die proletarische Politik Erfolg haben und das revolutionäre Potential und den Klassenkampf des Proletariats sowohl auf den Sturz der autokratischen als auch auf die Zerschlagung einer bürgerlich-liberalen Staatsordnung westlicher Prägung ausrichten. Diese Perspektive hatten die linken Marxisten in Europa verfolgt, und sie wurde durch den grossen Sieg der russischen Revolution im Oktober 1917 bestätigt.
Unser Text setzt die Darlegung der Tragweite der mächtigen geschichtlichen »Erprobung« fort:
»Praktische Erprobung der Wechselbeziehung zwischen dem führenden Proletariat und der zu führenden, schwankenden, unbeständigen Bauernschaft« (56).
Eine weitere grosse Lehre der russischen Revolution liegt in der herrschenden Rolle der Städte mit grosser Bevölkerung, die die Revolution anführen, weil in ihnen das grosse Industrieproletariat lebt. Das war die Lehre der 1848er Revolution in Europa gewesen, als sich Paris, Berlin, Wien, Mailand usw. mit Waffen erhoben. Damals hatten sich in jenen Städten die Intellektuellen, Studenten usw. an dem Kampf an der Seite der Arbeiter beteiligt, während die Arbeiter selbst noch nicht so reif waren und noch nicht so kompakt auftraten wie im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, und die Lehre vom Proletariat als vorherrschender Klasse war noch nicht vollständig. Provinz und Bauernschaft folgten nur langsam nach, wenn sie nicht gar die Reaktion beherbergten.
Was die Theorie und Taktik der Agrarfrage angeht, so hat Lenin, der sich in Russland noch mehr als auf die »armen Bauern« auf die proletarisierten Bauern zu stützen versuchte (was viele oft nicht begreifen wollen), auch das italienische Beispiel vor Augen gehabt.
In den Thesen Lenins ist der »arme Bauer« nicht so sehr der besitzende Kleinbauer, dessen Parzelle (damals) nur weit ärmlichere Lebensbedingungen erlaubte, als die des städtischen Lohnarbeiters, sondern eher und an erster Stelle der Landarbeiter, der in Russland wenig zahlreich war. Es gab Länder - und hierfür ist Italien klassisch -, wo die landlosen Landarbeiter, die reinen Tagelöhner, nicht nur zahlenmässig bedeutender waren als die anderen Schichten der Landbevölkerung, sondern auch eine erstrangige Tradition des Klassenkampfes hatten, die derjenigen der städtischen Proletarier nicht nachstand. Italien hatte bereits Beispiele für grosse politische Massenstreiks geliefert, in denen Stadt und Land eine gleichwertige Rolle gespielt und die Landarbeiter sich mit einem grossartigen revolutionären Geist geschlagen hatten. Der Faschismus war eine Bewegung der agrarischen Kleinbourgeoisie, die vom bürgerlichen Staat und der ländlichen wie städtischen Grossbourgeoisie gedungen wurde, um die Organisationen der Arbeiter auf dem Lande noch vor denjenigen des Stadtproletariats zu zerschlagen. Die Arbeiter auf dem Lande waren bestimmt nicht weniger kämpferisch als die der Städte, aber infolge der strategischen Bedingungen des Klassenkrieges konnte die Bourgeoisie, die mit dem Einsatz der Militärkräfte des Staates die Offensive ergriff, die roten Arbeiter auf dem Lande leichter angreifen, Banden aus jungen Bourgeois und Kleinbürgern, von Staatskräften flankiert, wurden gegen Ortschaften mit kleiner Bevölkerung, gegen die dortigen Proletarier, Gewerkschaften und Arbeitskammern konzentriert. Angesichts der ungünstigen Bedingungen, unter denen sie geführt wurde, war die Verteidigung der Landproletarier kurz und gut heldenhaft. Wenn die Stadtproletarier ihrerseits nach einem geringeren Widerstand fielen, so ist dies auf das Fehlen einer Entfesselung und Zusammenfassung des Kampfes in ganz Italien infolge der Sabotage durch die Rechten und Zentristen der sozialistischen Partei zurückzuführen.
Die Abschweifung hat uns nicht vom Thema weggeführt, denn Lenins Schrift soll uns ja beibringen, wie man Lehren aus der Niederlage zieht. Allerdings ziehen die Verbrecher der »sozialkommunistischen« Parteien Lehren, die in Widerspruch zu den geschichtlichen Tatsachen und zu Lenin stehen: Sie versuchen, die Tagelöhner zu entproletarisieren und stellen deren Interessen zugunsten der Interessen der Kleinbauern, Farmer und Pächter zurück - und zwar nicht nur der armen und halbarmen, sondern auch der mittleren und reichen, also gerade derjenigen Schichten, die die Bestände der faschistischen Banden lieferten (und die die grosse Bourgeoisie übrigens damals mit dem Faschismus betrog, wie sie sie heute mit den »sozialkommunistischen« Verrätern betrügt).
Wir möchten nur noch klarstellen, dass Lenins klassische Formel - führendes Proletariat, zu führende, schwankende, unbeständige Bauernschaft - die ländlichen Tagelöhner auf die Seite der führenden revolutionären Avantgarde und nicht in den Sumpf der kleinbürgerlichen Schwankung und Unbeständigkeit stellt. Was die schwankende Masse angeht, so wird sie sich auf die Seite der Revolution schlagen, wenn die Avantgarde eine Partei besitzt, die nicht verrät; wenn die Partei aber verrät, so wird jene Masse die umgekehrte Schwankung vollziehen und unter den Einfluss der Faschisten und Demokraten fallen, was gleichbedeutend ist mit Hörigkeit gegenüber der konterrevolutionären kapitalistischen Bourgeoisie.
Lenin will mit seiner ganzen Schrift den Beitrag der russischen »Erprobung« in den Dienst der Revolution im Westen stellen, und dies muss man sich bei der Lektüre vor Augen halten. So antwortet er auch auf die Frage, ob die Sowjets oder Arbeiter- und Bauernräte, die in der Revolution von 1905 entstanden waren und in der bolschewistischen Revolution von 1917 eine Hauptrolle spielten, eine Eigenart Russlands oder eine auf alle Länder anwendbare Form darstellten. Die Tatsache, dass das Industrieproletariat im damaligen Russland eine Minderheit gegenüber einer grossen Mehrheit aus Bauern bildete, könnte für die erste Ansicht zu sprechen scheinen, aber Lenin nimmt eine ausgesprochen dialektische Position ein. Trotz jener sozialen Bedingungen in Russland hatte die Aktion der proletarischen Partei, die die Sowjets den Händen der Opportunisten entriss, den Aufstand führte und die Regierung des proletarischen Staates bildete, die revolutionäre Rolle der Sowjets gesichert. Im Westen steht eine solche Entwicklung unter einem noch günstigeren Zeichen, denn hier haben die bäuerlichen und kleinbürgerlichen Klassen ein geringeres (aber keineswegs zu vernachlässigendes) soziales Gewicht. Dies setzt aber unabdingbar voraus, dass die revolutionäre marxistische Partei die Opportunisten in den revolutionären Organisationen und Vertretungsorganen schlägt, die Opportunisten, die im ersten Weltkrieg die halbproletarischen Schichten vor den Karren des bürgerlichen Staates spannten und selbst das authentische Proletariat neutralisierten (dasselbe, was die heutigen Opportunisten tun).
Lenin drückt sich knapp aus:
»In der elementaren Entwicklung des Kampfes entsteht die Organisationsform der Sowjets. Die damaligen Auseinandersetzungen über die Bedeutung der Sowjets nehmen den grossen Kampf von 1917 bis 1920 vorweg« (57).
Damit man sich gut vergewissert, dass die »neue Organisationsform« kein Wundermittel darstellt und dass man keineswegs davon ausgehen darf, dass »die Sowjets immer recht haben« o. ä., möchten wir vor dem notwendigen Kommentar noch eine andere Stelle zitieren, die bei Lenin einige Seiten weiter zu finden ist:
»Die Geschichte hat sich den Scherz erlaubt, dass in Russland 1905 Sowjets entstanden, dass sie von Februar bis Oktober 1917 von den Menschewiki verfälscht wurden, die Bankrott machten, weil sie die Rolle und Bedeutung der Sowjets nicht zu begreifen vermochten, und dass nunmehr die Idee der Sowjetmacht, in der ganzen geboren worden ist und sich mit unerhörter Schnelligkeit unter dem Proletariat aller Länder verbreitet, wobei die alten Helden der II. Internationale infolge ihrer Unfähigkeit, die Rolle und Bedeutung der Sowjets zu begreifen, überall ebenso bankrott machen wie unsere Menschewiki« (58).
Sobald er auf die zweite Revolution (Februar bis Dezember 1917) eingegangen ist, schreibt Lenin:
»Die Menschewiki und die 'Sozialrevolutionäre' eigneten sich in wenigen Wochen alle Methoden und Manieren, alle Argumente und Sophismen der europäischen Helden der II. Internationale, der Ministerialisten und des sonstigen opportunistischen Gelichters vortrefflich an« (59).
Und die neuen Helden, die auf dem Trümmerhaufen der III. Internationale stehen und die historische Rolle der Sowjets auf Russland allein verbannten, während sie im Westen die parlamentarische Form anbeten und ständig bereit sind, sich - wie gehabt - zu Ministern küren zu lassen - müssen sie nicht ebenso bankrott machen?
Das ist so offensichtlich, dass unser Kommentar zu Lenins Gedanken über die Sowjets kaum erforderlich ist.
Bekanntlich wird der erste zitierte Satz (über die Entstehung der Sowjets aus der elementaren Entwicklung des Kampfes) benutzt, um Lenin als Theoretiker der »Spontaneität« darzustellen: Ohne sich zu erkühnen, die Formen der Revolution vorherzusehen, soll die kommunistische Partei abwarten, dass die Massen diese Formen entdecken oder erfinden.
Diese banale Auffassung erinnert an die Denkweise der schlimmsten Feinde Lenins, die er auch hier geisselt, nämlich der Revisionisten, denen zufolge man nicht von Zielen, sondern nur von der Bewegung als Selbstzweck bzw. von der Bewegung, die sich unvorhersehbare Ziele setzt, reden kann. Diese Denkweise findet man auch bei Idealisten wie Gramsci, denen zufolge Lenin vom marxistischen Determinismus abgerückt wäre, um sich zum Erfinder von neuen Formen zu machen.
Die Sowjets - wird man entgegnen - waren von keinem Theoretiker prophezeit worden. In den Schriften von Marx sind sie nicht zu finden, und auch Lenin hatte sie nicht vorweggenommen. Dieser Trugschluss beruht auf der Unfähigkeit, die »Internationale Rolle und Bedeutung« der Sowjets zu begreifen, wobei Lenin den Menschewiki und Zentristen diese Unfähigkeit vorwirft. (Etwas weiter wird er die Idealisten angreifen, denn als solche betrachtet er die »Linksradikalen«; bei dieser Gelegenheit werden wir darauf hinweisen müssen, dass die italienische Linke immer den Materialismus und Determinismus verteidigte).
Die Sowjets sind die Organisationsform der proletarischen Macht; man könnte dies auch so ausdrücken, dass sie die Verfassungsform des proletarischen Staates sind. Die Beschreibung der Organisationsformen des zukünftigen Staates und der zukünftigen Gesellschaft würde uns direkt in die Utopie führen. Die Theorie ist nicht nur unerlässlich, sondern sie besteht in dem, worauf sich Lenin hier beruft. Wir sind bei der Theorie des wissenschaftlichen Kommunismus, wenn wir die Kräfte der Revolution und ihre Beziehungen, die ja ökonomische, soziale und politische Beziehungen zwischen den Klassen sind, beschreiben. Die Organisationsform der Arbeiter- und Bauernräte ist kein grundsätzlicher Bestandteil der Lehre, welche die Partei laut Marx und Engels nicht entbehren kann. Dazu gehören aber die nichtkapitalistischen Kennzeichen der Gesellschaft, die aus der Revolution hervorgehen wird, sowie die Kennzeichen des Klassenzusammenstosses (Klassenkampf, Aufstand, Diktatur, Terror).
All dies hatte die Theorie klar dargelegt, und Lenin beruft sich strikt darauf. Sie hatte aber nicht die Aufgabe, die Organisationsform des neuen Staates auszumalen. Theoretisch und grundsätzlich ist der organisierte Staat in unserer Auffassung eine so unentbehrliche wie historisch vorübergehende Waffe. Auch die Klassen sind historisch vorübergehende Erscheinungen und somit die Formen der Klassenorganisation (Gewerkschaften, Sowjets). Das einzige Klassenorgan, das als Organ der gesamten Menschheit weiterbestehen kann, ist die Partei. Die Partei wird durch ihren Inhalt bestimmt, also gerade durch die geschichtliche Theorie und die revolutionäre Aktion. Die anderen Organisationen werden durch die Form bestimmt und können sich mit verschiedenen Inhalten füllen.
Aber welches sind die Thesen, die Lenin in diesen Ausführungen über die Sowjets meisterhaft zusammenfasst?
1. Der Kampf in Russland brachte 1905 die Sowjetform in der Geschichte hervor.
2. Die revolutionären Marxisten erblickten im Sowjet das Organ der proletarischen Macht. Die Opportunisten ihrerseits behaupteten, dass der Sowjet nach dem Kampf verschwinden würde oder in einer demokratischen Republik Seite an Seite mit einem Parlament bestehen könnte; sie versuchten, ihn unter ihre Herrschaft zu bringen und seines Inhalts zu berauben, was sie oft erreichten.
3. Die Losung »Die ganze Macht den Sowjets« wird nicht gegeben, wenn diese sich in den Händen der Menschewiki und dgl. befinden, sondern nur, wenn sie zur Macht der Kommunistischen Partei führt.
4. (siehe I. Kongress der Komintern) In den westlichen Ländern soll man vor der Phase des unmittelbaren Kampfes um die Macht keine Sowjets künstlich schaffen, gerade weil keine Organisationsform an sich revolutionär ist (60).
In unserer Theorie war die proletarische Diktatur verankert, noch bevor sie in der Geschichte auftrat (hierzu siehe Marx über die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 und 1871 und Lenin, »Staat und Revolution«). Die Sowjets bringen diese Diktatur zum Ausdruck, denn sie schliessen Bürgerliche und Grundbesitzer von den Wahlen auf allen Ebenen aus. Würde neben den Sowjets eine parlamentarische Kammer bestehen und ein Kabinett bilden, so wären die Sowjets eine Parodie. Das haben wir Marxisten 1905 vertreten, und die Tatsachen haben diese Position 1917 bestätigt.
Die Lehre der Geschichte des XIX. und XX. Jahrhunderts ist folgende: Vor der französischen Revolution bestand bereits eine (allerdings falsche) Theorie dieser Revolution. Das Kräfteverhältnis war klar: Zerschlagung des ersten und zweiten Standes, d.h. von Adel und Monarchie einerseits und vom Klerus andererseits. Das Programm der neuen Macht war die Macht für alle Bürger, für das ganze Volk, in Wirklichkeit aber, wie der Marxismus zeigte (indem er das Wesen der Erscheinungen entdeckte), war es das Programm der Macht für den dritten Stand, für die Bourgeoisie. Die Theorie der Voltaire und Rousseau zeichnete im XVIII. Jahrhundert den Inhalt der Revolution, sie konnte aber nicht ihre Organisationsform schildern. Sie bewunderte die griechisch-römische Tradition. Dort herrschte aber in den Versammlungen aller freien Bürger die direkte Demokratie, die zugleich Demokratie einer Minderheit war, da die Mehrheit, die Sklaven, von ihr ausgeschlossen waren. Aus der elementaren Entwicklung des Kampfes auch nach dem Jahr 1789 entstanden die verschiedenen, unvorhergesehenen Formen: Nationalversammlung, Konstituante, Konventionen usw., die Grundformen der parlamentarischen Organisationen des XIX. Jahrhunderts. Selbst das historische Beispiel Englands mit den zwei Kammern wurde erst später befolgt und nur post festum theoretisiert. Es war seinerzeit aus dem Kampf zwischen zwei verschiedenen Klassen, Industriebourgeoisie und Grundbesitzer, entstanden.
Wir können also sagen, dass der Sowjet für die Revolution, die den Kapitalismus stürzt, dieselbe Bedeutung hat wie das konstitutionelle Parlament für die Revolution, die den Feudalismus zum Sturz brachte. Es handelt sich um die Strukturen, in denen sich die aus der Revolution, welche die alte Ordnung vernichtete, hervorgehenden Staaten organisieren. In diesem Sinne nennen wir sie Organisationsformen des Staates, was nicht zu verwechseln ist mit den aufeinanderfolgenden Gesellschaftsformen der Produktion oder Produktionsweisen. Dieser waren sich die alten Revolutionen nicht vorher bewusst, weil sie die Entstehung einer neuen herrschenden Klasse vor sich selbst verbargen. Unsere Revolution hat aber in ihrer eigenen Theorie dieses Bewusstsein. Sie kennt die wirklichen Charakteristika, welche die kommunistische Produktionsweise von der kapitalistischen unterscheiden und durch welche schliesslich die Klassen und damit eine herrschende Klasse verschwinden werden.
Die menschewistische und bürgerliche Auffassung von der bürgerlichen Revolution wollte diese mit der Bildung des staatlichen Räderwerks der kapitalistischen Länder, der parlamentarischen Demokratie, abschliessen. Die marxistische und bolschewistische Auffassung wusste und sagte im voraus, dass die Revolution sich erst mit dem Sieg des Proletariats als vorherrschender Klasse, als Führer der anderen armen Klassen, also mit seiner Diktatur, abschliessen würde. In unseren Arbeiten über die russische Revolution haben wir daran erinnert, wie Lenin schon vor 1903 die Losung der demokratischen Diktatur des Proletariats und der Bauernschaft vorgeschlagen hatte. 1917 verkündet er bei seiner Ankunft in Russland die vollständige, internationale, universale Losung, die den Kern der marxistischen Theorie der Revolution bildet: Diktatur des Proletariats.
Das ganze Werk Lenins dient dem Beweis, dass die russische Revolution sich nicht nach spezifischen, »lokalen« Formeln abspielt, sondern im Gegenteil. Denn, obwohl sie jahrelang als eine verspätete bürgerliche Revolution erwartet wurde, kämpften die arbeitenden Klassen seit 1905-07 in ihren vordersten Reihen und bringen im Kampfe eine eigene Form hervor, den Sowjet. Dadurch geht die Revolution unmittelbar in eine Revolution der proletarischen Klasse über. Mit diesem Inhalt wird die neue Form gefüllt. Aus ihr wird nicht eine »Volksvertretung«, nicht eine demokratische, populistische, alle Klassen zusammenfassende Organisationsform, sondern eine Klassenform, die international mit der proletarischen Vorhut verbunden ist und im Inneren von der marxistischen Partei geführt wird. Diese Form erscheint also, um sich mit dem Inhalt zu füllen, den die revolutionäre Theorie mit Sicherheit vorhergesagt hatte: Klassenmacht, Klassenstaat, Klassendiktatur, lauter Ziele, welche die Geschichte nur erreichen kann, wenn die Klasse sich zur Partei organisiert hat, wie es im »Manifest« von 1848 steht. Die Organisation des Proletariats zur herrschenden Klasse, um die in Klassen gespaltene Gesellschaft abzuschaffen, ist nur möglich, wenn die Klasse das Organ zur Ausübung der Macht, zur Führung des Staates, der Diktatur besitzt, nämlich die Partei.
Mit einer anderen These von Lenin, die wir mit ihm gegen die tatsächlich kindlichen »Linken« ständig verteidigten, haben wir uns schon befasst: Im Gegensatz zu dem, was viele in Europa dachten, ersetzt der Sowjet nicht die Partei, sondern verlangt ihre Anwesenheit und Aktion, denn der Sowjet ist eine einfache Organisationsform, die mit Inhalt gefüllt werden muss, und die Partei ist die einzige historische Kraft, die ihm diesen Inhalt geben kann.
Die erste Zeitung der italienischen Linke war »Il Soviet«. Sie bekämpfte den Vorschlag der Maximalisten (Zentristen), 1919 in Italien Sowjets zu gründen. Sie zeigte, dass eine von den Opportunisten gesäuberte und mit einer klaren Theorie gewappnete revolutionäre Partei unabdingbar war. Gegen die spontaneistischen Auffassungen zeigte sie, dass die Sowjets kein Netz aus Gewerkschaftsorganisationen oder Betriebsräten waren, sondern das territoriale und zentralisierte Organisationsnetz des neuen proletarischen Staates, dessen Gerüst sich in der Phase des Machtkampfes bilden sollte. Sie waren also Organe mit einem politischen Charakter, ihre Struktur benötigte aber die aktive Funktion der revolutionären Partei, sonst konnte die Revolution nicht siegen. Wie Lenin sahen wir in diesen Positionen Lehren der russischen Revolution, die voll mit den Entwicklungslinien, die unsere Theorie gezeichnet hatte, übereinstimmten.
Die Wirklichkeit liefert die Formen, aber die Theorie sieht den Inhalt, d.h. die Kräfte und ihre Verhältnisse zueinander bzw. ihre Zusammenstösse gegeneinander voraus. In den lapidaren Sätzen seiner Schrift spricht Lenin immer wieder von Vorwegnahme.
»Die damaligen Auseinandersetzungen (1905-1907, IKP) über die Bedeutung der Sowjets nehmen den grossen Kampf 1912 bis 1920 vorweg« (61).
Treue zum Leninismus bedeutet nicht, der Zukunft auszuweichen und vor ihr zu zögern, sondern sie ernsthaft vorwegzunehmen.
Obwohl wir, wie bereits gesagt, den letzten Teil dieser Arbeit, der als eine Arbeit für sich zu betrachten sein wird, der Frage der Taktik gegenüber dem Parlament widmen werden, müssen wir uns schon hier damit befassen, und zwar im Zusammenhang mit dem Vergleich, den Lenin zwischen einerseits der historischen Erfahrung der bolschewistischen Partei im Laufe der zwei Revolutionen und andererseits den daraus gezogenen Folgerungen für die Taktik der Revolutionäre in den verschiedenen Ländern zieht. Die ganze Frage bestand darin, wie man richtig handeln musste, um die Revolution in den folgenden Jahren von Russland auf Europa auszudehnen, denn allein dieser Weg konnte zum Sieg des Sozialismus in Europa und in Russland selbst führen. Wer Lenin unterstellt, er wollte die europäische Revolution ihrem Schicksal überlassen, um in Russland allein zum Sozialismus fortzuschreiten, wer die Sache so erbärmlich fälscht, hat kein Recht, sich auf Lenins Schlussfolgerungen von 1920 oder auf die Art und Weise, wie er das Problem stellte und behandelte, zu berufen.
1920 äusserten sich in Europa viele Irrtümer in der Einschätzung der russischen Ereignisse. Die Partei und die Internationale mussten sich nicht nur mit den Fälschungen der Sozialchauvinisten, die die Oktoberrevolution verleumdeten und ihr jeglichen proletarischen und sozialistischen Inhalt absprachen, erstrangig befassen, sondern auch mit den sogenannten »linken« Deutungen, die antimarxistischen und konterrevolutionären Irrtümern verfielen. Wir haben diese Irrtümer bereits erwähnt: die Verneinung der Rolle der politischen Partei; die Auflösung der Partei zugunsten der Sowjets; jene Liebäugelei mit dem Anarchismus, auf die Lenin an mehreren Stellen hinweist; die Behauptung, dass die russische Revolution den Staat abgeschafft hätte und dass die Sowjets nur eine kurzweilige Gruppierung der aufständischen Mengen und nicht das Organisationsnetz des proletarischen Staates darstellten, dessen Existenz gewiss eine vorübergehende ist, sich allerdings mindestens solange erstrecken muss, bis die Revolution die grossen imperialistischen Mächte restlos besiegt hat und noch darüber hinaus.
Wenn es ganz klar ist, dass die parlamentarische Form, die für die antifeudale Revolution charakteristisch ist, im Laufe eines kurzen Kampfzyklus vernichtet werden muss, um der sowjetischen Form der proletarischen Diktatur Platz zu machen; wenn es ganz klar ist, dass dies keineswegs ein fernes und abschliessendes, sondern ein sofortiges Ziel der Revolution ist, dann stellt sich die strategische und taktische Frage, ob die Partei das Parlament als Mittel zum Zweck benutzen soll oder nicht.
Die traditionelle Wahlenthaltung des Anarchisten, welche die marxistische Linke immer bekämpft hat (und besonders entschieden in Italien), ist eine individuelle und keine Klassenposition. Es ist doch der kollektive Klassenkampf, der, wie wir Marxisten im Gegensatz zu den rechten Sozialverrätern behaupten, zu einer Gesellschaft ohne Staat führen wird. Es hat also keinen Sinn zu sagen: »Ich für meinen Teil habe das Problem in meinem 'Bewusstsein' erledigt. Ich boykottiere den Staat; ich boykottiere ihn durch Wahlenthaltung; ob man 1960, 1920 oder 1870 schreibt, ich gehe nicht zur Wahl«. Das ist natürlich keine historische Lösung, sondern eine Kinderei.
Worauf stützt sich Lenin, um diesen kleinbürgerlichen Opportunismus zu bekämpfen? Lenins dialektische Position ist nicht die einfachste, man muss sie aber verstehen.
Da jedermann mit Bewunderung oder Schrecken auf Russland hinschaut, bezeugt Lenin, was in Russland getan wurde, insbesondere, was das russische Proletariat und die bolschewistische Partei, die die proletarische Revolution führte, getan haben.
Es hatte zwei »Zeiten der Prüfung« für die bolschewistische Taktik gegeben, 1905-1907 und 1917-1920. Sie wurden durch »Wartezeiten« getrennt, und es wird für uns sehr nützlich sein, bei Gelegenheit darauf einzugehen, denn wir leben heute in einer noch viel längeren »Wartezeit«. Lenin zeigt, dass man siegen konnte, weil man sich zwei Gefahren vom Leibe gehalten hatte: den Sozialdemokratismus, der die liberale, d.h. bürgerliche Staatsordnung nicht sprengt, und den Anarchismus, der glaubt, sie durch ein ideologisches »Nein« sprengen zu können, wie Vogel Strauss, der den Kopf in den Sand steckt und meint, dem Feind dadurch zu entkommen, da er ihn nicht mehr sieht.
Im Laufe jener zwei Phasen der Prüfung benutzten die Bolschewiki eine breite Palette von taktischen Mitteln. Die erste fasst Lenin so zusammen:
»Der Wechsel der parlamentarischen und der ausserparlamentarischen Kampfformen, der Taktik des Boykotts des Parlamentarismus und der Taktik der Beteiligung am Parlamentarismus, der legalen und der illegalen Kampfformen sowie ihre gegenseitigen Beziehungen und Zusammenhänge - all das zeichnet sich durch einen erstaunlichen Reichtum des Inhalts aus. Jeder Monat dieser Periode (aus drei Jahren, IKP) kam, was die Unterweisung der Massen wie der Führer, der Klassen wie der Parteien in den Grundkenntnissen der politischen Wissenschaft betrifft, einem Jahr 'friedlicher' 'konstitutioneller' Entwicklung gleich. Ohne die Generalprobe' von 1905 wäre der Sieg der Oktoberrevolution 1917 nicht möglich gewesen« (62).
Zweite Phase:
»Der unglaublich überalterte und überlebte Zarismus hatte (mit Hilfe der Schläge und Lasten des äusserst qualvollen Krieges) eine ungeheure Kraft der Zerstörung erzeugt, die sich gegen ihn richtete. In wenigen Tagen (Februar 1917, IKP) verwandelte sich Russland in eine demokratische bürgerliche Republik, die - unter den Verhältnissen des Krieges - freier war als ein beliebiges Land der Welt« (63).
Dies ist eine zentrale Idee bei Lenin. Daraus wird aber keine Solidarität mit dieser »freiesten Republik« gefolgert, sondern dialektisch das Gegenteil.
»Die Regierung wurde nun - wie in den ausgesprochen 'streng parlamentarischen' Republiken - von den Führern der oppositionellen und revolutionären Parteien gebildet, wobei der Ruf, Führer einer Oppositionspartei im Parlament, und sei es auch in dem allerreaktionärsten Parlament, gewesen zu sein, es einem solchen Führer erleichterte, später eine Rolle in der Revolution zu spielen« (64).
Wir fragten Lenin 1920 zunächst, ob sich dieser Vorteil nicht ausschliesslich auf die »allerreaktionärsten« Parlamente beschränkte, und dann, ob er selber nicht doch alle diese parlamentarischen Führer wegen ihrer folgenden konterrevolutionären Rolle hatte anprangern müssen. Hier wollen wir aber nur Lenins Werk mit aller Genauigkeit referieren. Er schreibt etwas weiter:
»Ihren siegreichen Kampf gegen die parlamentarische (faktisch) bürgerliche Republik und gegen die Menschewiki haben die Bolschewiki sehr vorsichtig begonnen und gar nicht so einfach vorbereitet - entgegen den Auffassungen, die man jetzt mitunter in Europa und Amerika antrifft. Zu Beginn der erwähnten Periode forderten wir nicht zum Sturz der Regierung auf, sondern schafften Klarheit darüber, dass ihr Sturz ohne vorherige Veränderungen in der Zusammensetzung und Stimmung der Sowjets unmöglich ist. Wir proklamierten nicht den Boykott des bürgerlichen Parlaments, der Konstituante, sondern sagten - seit der Aprilkonferenz (1917) unserer Partei sagten wir es offiziell im Namen der Partei -, dass eine bürgerliche Republik mit einer Konstituante besser ist als eine solche Republik ohne Konstituante, dass aber eine 'Arbeiter- und Bauernrepublik', eine Sowjetrepublik, besser ist als jedwede bürgerlich-demokratische, parlamentarische Republik. Ohne diese vorsichtige, gründliche, umsichtige und langwierige Vorbereitung hätten wir weder den Sieg im Oktober 1917 erringen noch diesen Sieg behaupten können« (65).
Es ist richtig, dass Lenin im April 1917, als er, kaum nach Russland zurückgekehrt, die Partei stossartig und zum Staunen der Genossen in die Bahn der weiteren revolutionären Aktion trieb, es zugleich für erforderlich hielt, sich vor einem banalen Angriff des Menschewisten Goldenberg zu verteidigen. Auf Goldenbergs Vorwurf, er sei ein Wahnsinniger und Abenteurer (so betrachtet ein Menschewist selbst die vorsichtigste und umsichtigste revolutionäre Politik), entgegnete Lenin in der Prawda, gerade ihm könne man nicht den Vorwurf machen, gegen die schnelle Einberufung der Konstituante zu sein.
Durch eine Untersuchung der bolschewistischen Politik kann man aber Lenins Worte im Gesamtzusammenhang sehen und richtig verstehen: Um das glänzende Ergebnis einer gewaltsamen Auseinanderjagung der gewählten Konstituante zu erzielen, muss man eine auf ihre Wirkung genau berechnete Aktion entfalten, darf man sich auf keinen Fall mit solchen Kindereien abgeben, wie zum Beispiel den Massen zuzurufen: Lasst die doch alle möglichen Konstituanten wählen, Hauptsache wir gehen nicht wählen und betreten die Konstituante nicht!
Das geht an die Adresse der Verräter. Was bedeutet für sie die italienische Konstituante von 1946? Was bedeutet für sie diese Konstituante, die nicht aus der Massenbewegung entstand, sondern zusammen mit gedungenen Politikantencliquen von der Flotte und Armee der USA und der Alliierten an Land gebracht wurde? Die Garantie dafür, dass sie per Verfassungsmandat die Erwartungen des Proletariats erfüllen können durch die unentwegte Wiederholung von ewigen Stimmabzählungen im Laufe einer unbeweglichen Zeit, in der nicht jeder Monat einem Jahr, sondern jedes Jahr einem Monat oder einer Woche gleichkommt.
Da Lenin uns auf die Aprilkonferenz und auf die grossartige Plattform, die dort von der Partei offiziell angenommen wurde, zurückgeführt hat, scheint es uns angemessen, auf sie einzugehen.
Die provisorische Regierung wird hier als eine bürgerliche Klassenregierung gekennzeichnet. Ihr wird der Kampf angesagt.
Ihre Aussenpolitik wird als eine imperialistische Politik bestimmt, die an das englisch-französische imperialistische Kapital gekettet ist.
Die Übereinkunft der Sowjets mit der provisorischen Regierung wird als Beweis für den Einfluss namentlich erwähnter kleinbürgerlicher Parteien gebrandmarkt. Das damalige Russland wird als das kleinbürgerlichste Land unter allen europäischen Ländern bezeichnet, was zu einer Ansteckung des Proletariats mit kleinbürgerlichen Ansichten geführt hat.
Für den gegebenen Zeitpunkt wird nicht die Taktik des Aufstands gefordert, sondern diejenige, dass man »der süsslichen Limonade revolutionär-demokratischer Phrasen Essig und Galle« beimischt. Es könnte scheinen, dies sei bloss propagandistische Arbeit. In Wirklichkeit ist es im höchsten Grade praktische revolutionäre Arbeit, selbst wenn man die Losung des bewaffneten Kampfes nicht erteilt (die Lenin auch im Juli für falsch erklären wird). Die Taktik im April: eine Arbeit der Kritik; Schulung und Vereinigung der Elemente der bewussten proletarischen, kommunistischen Partei; Befreiung des Proletariats von dem allgemeinen kleinbürgerlichen Taumel. Zu beachten, dass das Parteibewusstsein den Gegensatz zur »blinden Vertrauensseligkeit« der Massen bildet.
Wir halten einen Augenblick an, um zu fragen, ob die künstliche Woge des Antifaschismus in Italien siebzehn Jahre nach dem Sturz des Faschismus und der Erfolg einer so völlig schwachsinnigen Komödie nicht doch einem Zustand der »blinden Vertrauensseligkeit« der Massen entspricht, wobei die bewusste Partei, die durch pseudolinke, kindliche Phrasendrescherei nicht ersetzt werden kann, nicht vorhanden ist.
Der nächste Abschnitt von Lenins Plattform richtet sich gegen die revolutionäre Vaterlandsverteidigung. (In dieser Beziehung wird sich 1918 aus Anlass des Brester Friedens eine ähnliche Situation wiederholen.) Lenin drückt sich hier mit äusserster Geduld für die Massen aus, die glauben, nach dem Sturz des Zaren ein revolutionäres Vaterland zu verteidigen zu haben. Die These erklärt aber ohne Umschweife:
»Das geringste Zugeständnis an die revolutionäre Vaterlandsverteidigung ist Verrat am Sozialismus, ist völlige Preisgabe des Internationalismus...«.
Frage der Beendigung des Krieges. Der erste Schritt ist die Umwandlung des imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg. Der zweite muss der Übergang der Staatsmacht an das Proletariat sein.
Frage der Staatsform. Die parlamentarische demokratische Republik ist die vollendetste, fortgeschrittenste Form des bürgerlichen Staates. Der neue Staatstypus erscheint mit der Pariser Kommune und wird heute durch die Sowjets reproduziert. Der demokratische Staat lastet mit seiner ganzen Unterdrückungsmaschine, die zerschlagen werden muss, von oben auf den Massen; der Sowjetstaat wird von unten bis oben durch unmittelbare Teilnahme der Massen aufgebaut.
Die Internationale. Mit derselben Kraft wie in der Schrift vom April 1920 werden in der Plattform vom April 1917 die rechten Sozialchauvinisten wie das Zentrum, dessen Vertreter von Kautsky bis Turati aufgezählt werden, gebrandmarkt. Die Zimmerwalder Mehrheit wird wegen ihres Sozialpazifismus kritisiert, die Gründung der III. Internationale angekündigt. Lenins Urteil über den Pazifismus ist heute von besonderem Interesse:
»Wer sich darauf beschränkt, von den bürgerlichen Regierungen zu 'fordern', sie sollten Frieden schliessen oder sie sollten den 'Friedenswillen der Völker kundtun' usw., der gleitet in Wirklichkeit zu Reformen ab. denn die Frage des Krieges kann, objektiv gesehen, nur revolutionär gestellt werden«.
Der Frieden und die Befreiung der Völker von den Folgen des Krieges (Kriegsschulden) sind nur möglich durch die proletarische Revolution,
»Es gibt keinen anderen Ausweg«.
Es ist nutzlos, die heutigen »offiziellen« Leninisten in Worten zu fragen, wie sie Positionen wie die folgenden mit diesen Thesen versöhnen wollen: erstens, der Aufbau des Sozialismus in einem Lande; zweitens, die Vermeidbarkeit der Kriege durch den Willen der Völker; drittens, die Entspannung und die friedliche Koexistenz, ob nun zwischen Staaten mit unterschiedlicher oder verwandter Staatsordnung.
Der Schlussteil der Aprilplattform betrifft die Änderung des Namens der russischen Partei, die sich nicht mehr sozialdemokratisch, sondern kommunistisch nennen muss.
Die Argumente von Lenin sind klassisch und bekannt. An einige seiner Darlegungen werden wir aber erinnern, denn wie die bereits zitierten Stellen der im schwierigen Monat April 1917 veröffentlichten Parteithesen erbringen sie den unwiderlegbaren Nachweis dafür, dass Lenins taktische Vorsicht nichts zu tun hat mit der Verschleierung oder Zurückstellung der Prinzipien. Hier wird die wahre Natur des Opportunismus, dieser Seuche, die heute noch verheerender um sich greift als 1920, erneut betont.
Lenin beruft sich auf die wiederholten Warnungen von Marx und Engels und liefert zwei wissenschaftliche Argumente gegen den Namen Sozialdemokratie. Der erste Teil des Namens ist falsch, weil der Sozialismus für uns nur ein vorübergehendes Ziel ist, um zum Kommunismus zu gelangen. Der zweite Teil ist falsch, weil
»die Demokratie eine der Formen des Staates (ist), Indes sind wir Marxisten Gegner jedes Staates«. Unser programmatisches Endziel ist der Kommunismus ohne Staat, was soviel wie Kommunismus ohne Demokratie bedeutet (66).
»Wir müssen wiederholen, dass wir Marxisten sind und auf dem Boden des 'Kommunistischen Manifests' stehen, das von der Sozialdemokratie in zwei Hauptpunkten entstellt und verraten wurde:
1. Die Arbeiter haben kein Vaterland, die 'Vaterlandsverteidigung' im imperialistischen Krieg ist Verrat am Sozialismus;
2. Die Lehre des Marxismus vom Staat ist von der II. Internationale entstellt worden« (67).
Diese Stelle der Aprilthesen kann man im »Linksradikalismus« mehrmals und fast wörtlich wiederfinden.
Wenn es uns gestattet wird, den Inhalt eines sich über mehrere Jahrzehnte hindurchziehenden polemischen Kampfes in wenigen Worten zusammenzufassen, so würden wir sagen, dass das historische Phänomen des Opportunismus darin besteht, an jeder wichtigen Wende der Geschichte eine aufsehenerregende »Entdeckung« zu machen, um sich im Gegensatz zu den früheren und verbindlichen Parteibeschlüssen zu verhalten.
Die Geschichte des Verrats ist eine Geschichte von »Entdeckungen«, die dem Proletariat zu entscheidenden Zeitpunkten offenbart werden und die es zum Vorteil seiner Unterdrücker desorientieren und schwächen.
Eine Losung, die als sicher und endgültig galt, wird, gerade als sie zur Anwendung kommen müsste, durch eine solche »Entdeckung« ihres Inhalts beraubt und über den Haufen geworfen.
Eine dieser Losungen, die uns hier als handgreifliches Beispiel dient, ist aus dem von Lenin zitierten Manifest:
»Die Arbeiter haben kein Vaterland«.
Woraus folgt:
»Man kann ihnen nicht nehmen, was sie nicht haben«.
Klassische Antwort auf alte »Einwände« gegen den Kommunismus,
Als der Krieg von 1914 ausbrach, war die Mehrheit der proletarischen Bewegung in Russland nicht der Ansicht, dass die Arbeiter ein vom Zaren personifiziertes Vaterland zu verteidigen hätten. Nur wenige sozialistische Führer, darunter leider auch Lenins ehemaliger Lehrer Plechanow, wagten es, die These der »Verteidigung« gegen die vermeintliche deutsche »Aggression« zu vertreten.
Nach dem Sturz des Zaren im Februar 1917 gewann die Vaterlandsverteidigung jedoch an Boden. Mit der Errichtung einer parlamentarischen Demokratie (die aber, wie Lenin zeigte, sich auf eine provisorische Regierung aus den Parteiführern der alten Duma reduzierte) erklärten fast alle sozialistischen Führer, dass die Massen jetzt ein Vaterland gewonnen hätten und dass man zu den Waffen greifen müsste, um es zu verteidigen, was wohlgemerkt die englische und französische Demokratie zutiefst befriedigte.
Wie wir oben gesehen haben, musste Lenin diese widerwärtige »Entdeckung« mit ganzer Kraft bekämpfen.
In Italien spielte sich ähnliches ab. Bei Kriegsausbruch hatten bekanntlich nur sehr wenige Parteimitglieder die Vaterlandsverteidigung der deutschen, französischen usw. Sozialisten gerechtfertigt. Solche hat es allerdings seit den ersten Kriegsmonaten und noch vor Mussolinis dreckigem Verrat durchaus gegeben.
Zu diesen Elendsgeschöpfen gehörte unter anderem ein gewisser Paoloni, an den wir hier nur wegen des merkwürdigen Zufalls erinnern, dass er zugleich Fachmann für die populäre Propaganda, die man damals »Groschenheft-Propaganda« nannte, war. Er leitete eine Zeitung, »Il Seme« (»Der Samen«), die soviel wie heute ein Pfennig kostete. Natürlich hatte er jahrelang Propaganda des »Kommunistischen Manifests« gemacht. Als wir diesem Herrn den bekannten Satz entgegenhielten, gab er auf Anhieb eine unverschämte Erklärung, die er früher nicht im Traum geschrieben oder ausgesprochen hätte: Ja - sagte er - Marx sagte 1848, dass die Proletarier kein Vaterland hätten, weil er sich auf Länder bezog, wo es keine parlamentarische Demokratie gab; seitdem sie aber besteht, gilt der Satz nicht mehr; die Proletarier einer parlamentarischen Republik oder auch einer konstitutionellen Monarchie haben sich ein Vaterland erobert, das sie auf den Schlachtfeldern verteidigen müssen.
Dies war die »Entdeckung«, und zwar nicht deshalb eine »Entdeckung«, weil man eine Wahrheit gefunden hätte, sondern weil man eine Erklärung ausgeheckt hatte, auf die früher, d.h. von 1848 bis zum Ausbruch des imperialistischen Krieges 1914 niemand gekommen war.
Entdeckung. Überraschung. Solche Wellen des schamlosen Betruges können jedoch in wenigen Tagen die Arbeit zunichte machen, welche die Partei oder mindestens ihr gesundester Flügel jahrzehntelang geleistet haben.
Die Frage der Demokratie und des Staates erfuhr dieselbe Behandlung. Jahrzehnte hindurch hatte man unverändert die marxistische Kritik verbreitet, derzufolge der Staat auch in Form der demokratischsten Republik eine Maschine zur Unterdrückung des Proletariats im Interesse der Bourgeoisie ist. In den ersten Tagen des Monats August 1914 »entdeckte« man, dass dies nicht gilt, wenn der Staat angegriffen wird, wenn man zwischen zwei unterschiedlich demokratischen Staaten eine »Wahl« treffen muss, wenn man ein Gebiet der eigenen Nationalität und Sprache dem eigenen Staat anschliessen muss usw. usf.
Diese Fragen lassen sich nicht leicht auf eine einfache Formel bringen. Der Marxismus hatte sie jedoch eingehend untersucht und dabei die Verschiedenheit der geographischen Zonen und ihrer historischen Entwicklungsstufe berücksichtigt. Man konnte annehmen, dass die Fragen geklärt waren. Man hatte in Stuttgart (1907) und Basel (1912) internationale Beschlüsse gefasst. Doch als gerade die Situation eintrat, für die diese Beschlüsse getroffen worden waren, da erklärte man, dass es zwar richtig gewesen war, für diese Beschlüsse zu stimmen, dass aber die Lage sich anders als damals gedacht, entwickelt hätte, da »entdeckte« man, dass es gute Gründe gab, die Beschlüsse gerade dann zu verletzen, als sie in die Praxis umgesetzt werden mussten.
Die Lehre aus dem Kampf, den Lenin und die III. Internationale gegen den Opportunismus führten, liegt darin, dass man den Opportunismus nur niederwerfen kann, wenn man davon ausgeht, dass es möglich ist, die Regeln im voraus festzulegen, die man an den entscheidenden Wendepunkten der Geschichte strikt einhalten muss. Die Partei sieht also die zukünftigen Situationen voraus und zeichnet die damit übereinstimmenden Aktionspläne. Die Untersuchung der Leninschen Schrift und der ergreifenden Geschichte seines Lebens und seines Kampfes verbietet jede andere Schlussfolgerung. Er wollte eine Theorie und eine Organisation wiederaufbauen bzw. aufbauen, welche nicht mehr fortgerissen werden könnten, wie es Anfang August 1914 mit den Lehren des »offiziellen« Marxismus und der Organisation der II. Internationale geschehen war. Dies geht aus jeder Seite und aus jeder Zeile seines Werkes hervor, vorausgesetzt man treibt mit ihnen nicht die kleinliche Exegese des Haarspalters, sondern sieht ihre sicheren und klaren Darlegungen im Zusammenhang mit den geschichtlichen Tatsachen.
Wie Lenin die Vertreter der Vaterlandsverteidigung und der parlamentarischen Demokratie gebrandmarkt hat, so muss man heute die Vertreter der Auffassung brandmarken, derzufolge die Interessen der Arbeiterklasse auf der Grundlage der demokratischen Verfassung legal durchgesetzt werden können, pazifistische Kampagnen den Krieg verhindern, ja den Krieg ersetzen können durch einen friedlichen Wettbewerb zwischen Staaten »unterschiedlicher Gesellschaftsordnung« (sie ist es übrigens nicht!) und die Zusammenwürfelung der proletarischen Forderungen mit denjenigen der kleinbürgerlichen (und sogar mittelbürgerlichen!) Schichten keine Ansteckung des Proletariats und keine Abstumpfung der revolutionären Kraft bedeutet, sondern einen proletarischen Erfolg sichert.
Sollten die Leute, die heute derartiges und noch schlimmeres (im Hinblick auf Patriotismus, Legalität, Moralismus usw.) vertreten, zugeben, dass sie auf die Positionen der Kerenski, Scheidemann, Turati, Renaudel und aller anderen, die Lenin mit Schimpf und Schande bedeckt hat, zurückgegangen sind, so würde der jetzige Opportunismus ein siamesischer Zwilling des damaligen sein, Diese Verräter wollen sich aber auf die Schriften von Lenin berufen - und auf diejenigen von Marx und Engels, nachdem gerade Lenin letztere wieder endgültig ins richtige Licht gestellt hat. So darf man keine Gnade gegenüber dem heutigen Opportunismus kennen; noch weit mehr als der damalige ist er zu verdammen; noch weit mehr als der damalige hat er die Reihen des Proletariats zersetzt, wie man überall feststellen kann. Die bürgerliche Konterrevolution ist sein Verdienst.
In den vorhergehenden Seiten haben wir versucht, die richtige Methode für die Anwendung der wesentlichen Texte der revolutionären Theorie aufzuzeigen. Man muss sie wieder in den Rahmen der Zeit und der Kämpfe stellen, in denen sie entstanden, man muss die Beweggründe, die zu ihrer Niederschrift und Verbreitung führten, sowie die Ziele, welche die revolutionären Führer mit ihnen verfolgten, im Laufe ihrer ganzen Argumentationskette im Auge behalten. Wir haben einen Gesamtüberblick der Leninschen Schrift gegeben und uns hierfür insbesondere mit der Darlegung und dem Kommentar ihrer ersten Kapitel befasst. Wir wollen einen Leitfaden liefern, damit jeder Militant und die Sektionen unserer Organisation aus der Lektüre der ganzen Schrift die richtigen Schlussfolgerungen ziehen können.
Nicht weil ihr Autor als solcher berühmt ist, wird eine bestimmte Parteischrift zu einem allgemeinen Bezugspunkt, der von allen zitiert wird. Wenn sie von Hand zu Hand - und das heisst nicht so sehr von einem individuellen Leser zum anderen, sondern vielmehr von einer Sektion der Partei zur anderen, von einer Gruppe der Bewegung zur anderen - geht, so ist das darauf zurückzuführen, dass sie einem realen Bedürfnis des Kampfes entsprach und eine fruchtbare, mächtige Lösung für die Klassenprobleme an einem bestimmten Zeitpunkt der Geschichte und - sofern es sich um einen Text handelt, der sich in der richtigen Perspektive mit der Entwicklung der Revolution befasste - auch für die Probleme der Zukunft brachte.
Diese Methode, sich mit einem Parteitext zu befassen, steht im diametralen Gegensatz zu den Betrügerpraktiken, einzelne Zitate aus ihrem Kontext zu reissen, sie gegen ihren Entstehungszusammenhang und gegen ihre Zielsetzungen zu benutzen, um sie dadurch zu entstellen und unkenntlich zu machen. Lenins Todfeinde haben sich so an die Werke von Marx und Engels und an die »Tafeln« der Parteilehre herangemacht, während Lenin seinerseits uns beibrachte, wie man kollektiv die Lehren aus der Vergangenheit zieht und sich richtig mit der Geschichte befasst, um aus ihr den für jede und insbesondere für unsere Kampfbewegung lebensnotwendigen Sauerstoff zu holen.
Da wir nicht die Absicht haben, den »Linksradikalismus« mit Tausend Anmerkungen zu versehen und wie eine kommentierte Dante-Ausgabe zu veröffentlichen (diese Aufgabe wäre übrigens nicht zu verachten; in diesen erstickenden Zeiten fehlen uns aber die hierfür erforderlichen Arbeitskräfte und Vertriebsmöglichkeiten; quod differtur non aufertur), scheint es uns, unsere Methode, Lenin zu lesen, oben ausreichend illustriert zu haben. Wir können jetzt aus Lenins Schrift Folgerungen hinsichtlich der allgemeinen Kampfmethode des Weltproletariats ziehen.
Ein kurzer Hinweis auf die »italienischen« Fragen wird dazu dienen, zu zeigen, dass die taktischen Meinungsverschiedenheiten zwischen Lenin und uns, die in der hier in Frage stehenden Situation von 1920 überwunden wurden, und selbst die späteren taktischen Auseinandersetzungen zwischen der Internationale und uns in den Jahren von Lenins Krankheit und unmittelbar nach seinem Tode keine grundlegenden Differenzen darstellen, und zwar aus zwei Gründen. Der erste Grund liegt darin, dass die marxistische Linke Italiens, wie Lenin, nach seiner Schrift zu urteilen, geahnt hat, auf seiner Seite im Kampf gegen den kleinbürgerlichen, anarchistischen Radikalismus stand und diesen Radikalismus, den wir lieber spontaneistisch als »links« bezeichnen würden (unsere Schule hat immer bestritten, dass die Anarchisten »links« vom Marxismus stünden), als eine opportunistische Gefahr, die zum rechten Opportunismus parallel läuft, betrachtete. Dies hinderte uns nicht daran zu versuchen, die Strömung, die in Italien von dieser »Kinderkrankheit« am meisten befallen war, nämlich diejenige von Gramsci (Ordinovismus, Betriebsräte-Sozialismus), loyal und durch die Annahme einer möglichst flexiblen Parteidisziplin (selbst auf dem Gebiet der Beteiligung am Parlament) auf den Boden des Marxismus zu ziehen. Der zweite Grund betrifft den Kampf gegen die Rechten. Wie Lenin den rechten sozialdemokratischen Opportunismus immer als den schrecklichsten Feind betrachtet hat, so hat auch die italienische Linke die Entstehung dieser Gefahr in der Kommunistischen Internationale als erste festgestellt und in den folgenden Kongressen bekämpft. Die jüngste Geschichte beweist die Richtigkeit unserer heftigen damaligen Reaktion, eine Reaktion, die in unseren und Lenins Augen nicht zu rechtfertigen wäre, wenn sie von einem Abrutschen auf den Boden des »Linksradikalismus« begleitet würde, die aber in unserem Fall auf dem Boden des reinen Marxismus stand, weshalb es ihr auch möglich war, die Entartung der folgenden Jahrzehnte genau vorauszusehen.
Den Beweis dafür kann man ziehen aus einer Gegenüberstellung der Leninschen Schrift, deren Worte wir 1920 bei der Lektüre in Moskau in uns aufsaugten, mit dem schändlichen »Manifest«, das die 81 pseudokommunistischen und pseudoproletarischen Parteien auf ihrer Versammlung in Moskau in diesem Jahr 1960 verfassten. Hier wird die Abschwörung aller Lehren des Bolschewismus, des Leninismus, der Oktoberrevolution zum Prinzip erhoben, die Abschwörung all der Lehren, in deren Verteidigung sich Lenin im »Linksradikalismus« mit seiner ganzen Grösse, wenn auch manchmal mit zuwenig Pessimismus im Hinblick auf eine mögliche Rückkehr des »senilen« Pazifismus und der » senilen« Zusammenarbeit mit dem Kapitalismus, aufrichtete.
Wir überlassen dem Genossen und Leser die detaillierte Gegenüberstellung der zwei Texte und fassen die Kernpunkte des »Linksradikalismus« zusammen.
Notes:
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Source: »Kommunistisches Programm«, Nr. 19, August 1978.
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