Kritiker der warenproduzierenden Gesellschaft

100 Jahre Theodor W. Adorno

Kurz vor seinem Tode im Jahre 1969 musste Theodor W. Adorno von einem gewissen Dany le Rouge als "Agent der Bourgeoisie" sich beschimpfen lassen, weil er dem "Revolution?Spielen" der 68er?Aktionisten sich verweigerte. Der ehemalige Rebell, dessen Stimme vor lauter Radikalität damals fast sich überschlug, betätigt sich heutzutage als bürgerlicher Politiker, indem er zum Beispiel für den Krieg agitiert, um "humanitäre Katastrophen" (sic!) zu verhindern. Adorno hingegen hat ein Werk hinterlassen, in dem er die "bürgerliche Warenwirtschaft" kritisiert, weil sie der Grund für die üblen Zustände auf der Welt sei.

Dialektik der Aufklärung
Wie es zu dieser "neuen Barbarei" kam, haben Adorno und sein Co?Autor Max Horkheimer im geschichtsphilosophischen Teil der "Dialektik der Aufklärung" entwickelt. In dieser Schrift, die erstmals 1944 in hektographierter Form publiziert worden ist, unternehmen die Autoren den Versuch, den Doppelcharakter der Aufklärung nachzuweisen.
Zwiespältig sei Aufklärung deshalb, weil einerseits der "dunkle Horizont des Mythos von der Sonne der kalkulierenden Vernunft aufgehellt" werde, andererseits aber "unter deren eisigen Strahlen die Saat einer neuen Barbarei" heranreife. Diese "neue Barbarei" bestehe darin, dass in der "bürgerlichen Warenwirtschaft" eine verselbstständigte Wirtschaftsapparatur zum Subjekt über die Menschen, die doch die Produzenten dieser Wirtschaftsapparatur sind, sich aufgeworfen habe. Dergestalt sei Vernunft zum "bloßen Hilfsmittel der allumfassenden Wirtschaftsapparatur" geworden und trage so zur Perpetuierung des Immergleichen bei, weil Denken das Element der Reflexion auf sich selbst verloren habe. Aufklärung müsse dieses Element der Selbstreflexion zurückgewinnen, um sich aus ihrer "Verstrickung in blinder Herrschaft" zu lösen und den Weg ins Reich der Freiheit zu ebnen.

Reich der Freiheit
Der Weg ins Reich der Freiheit ? so ist bei Adorno zu lesen sei versperrt, weil die warenproduzierende Gesellschaft einen "Verblendungszusammenhang" erzeuge, der die Warenform der Produkte als naturgegeben (und somit unveränderbar) erscheinen lasse. Die "instrumentelle Vernunft", die das Denken der Menschen beherrsche, sei derart beschaffen, dass sie lediglich auf die Effektivierung des Bestehenden gerichtet sei. Eine Gesellschaft, in der es den Tauschwert nicht mehr gibt, sei für das Alltagsbewusstsein eine Denkunmöglichkeit. Der eindimensionale Mensch sei nicht in der Lage, auch nur an eine Wirtschaftsapparatur zu denken, deren Zweck nicht die Geldvermehrung, sondern die Herstellung von Produkten ist, die nicht warenförmig sind und deshalb allen Menschen ein angenehmes Leben ermöglichen.

Kulturindustrie
Zur Aufrechterhaltung des Verblendungszusammenhangs, der den Weg zum guten Leben blockiere, trage die "Kulturindustrie" bei, die Ausdruck der Regression der Aufklärung sei, die nun als "Massenbetrug" fungiere.
Die von den Massenmedien adaptierte Kunst, die aufs bloße Amüsement reduziert sei, müsse deshalb als die Verdoppelung jener Arbeitswelt kritisiert werden, von der sie wenigstens vorübergehend frei machen soll. Dergestalt wird Kulturkritik zur Gesellschaftskritik: "Sofern die Trickfilme neben Gewöhnung der Sinne ans neue Tempo noch etwas leisten, hämmern sie die alte Weisheit in alle Hirne, dass die kontinuierliche Abreibung, die Brechung allen individuellen Widerstandes, die Bedingung des Lebens in dieser Gesellschaft ist. Donald Duck in den Cartoons wie die Unglücklichen in der Realität erhalten ihre Prügel, damit die Zuschauer sich an die eigenen gewöhnen."

Humane Gesellschaft
Dass von einem, der vor 100 Jahren geboren worden ist, zuweilen noch etwas zu lernen ist, zeigt ein Vergleich. Während Daniel Cohn?Bendit, so heißt unser Ex?Rebell mit bürgerlichem Namen, die Sisyphusarbeit sich aufbürdet, die bürgerliche als eine humane Gesellschaft erscheinen zu lassen, ist Theodor W. Adornos Intention bescheidener:
"Ich will ja gar nichts andres, als dass die Welt so eingerichtet wird, dass die Menschen nicht ihre überflüssigen Anhängsel sind, sondern dass in Gottes Namen die Dinge um der Menschen willen da sind und nicht die Menschen um der Dinge willen, die sie noch dazu selbst gemacht haben."
FA


Lektüreempfehlungen
Max Horkheimer und Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, Philosophische Fragmente, in: Max Horkheimer: Gesammelte Schriften, Band 5, Frankfurt am Main 1987
In dieser Ausgabe findet sich ein instruktiver Kommentar zu den Textvarianten der Schrift: Das Verschwinden der Klassengeschichte in der "Dialektik der Aufklärung"

Rolf Johannes: Das ausgesparte Zentrum. Adornos Verhältnis zur Ökonomie, in: Gerhard Schweppenhäuser (Hg): Soziologie im Spätkapitalismus. Zur Gesellschaftstheorie Theodor W. Adornos, Darmstadt 1995

Karl Marx: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Band 1, in: MEW, Band 23, Berlin (Ost) 1972
Im ersten Kapitel des Werkes analysiert Marx die Ware als die "Elementarform" der kapitalistischen Produktionsweise.

Christoph Türcke und Gerhard Bolte: Einführung in die kritische Theorie, Darmstadt 1994
Die Autoren untersuchen die Entwicklung der kritischen Theorie von Horkheimer/Adorno & Co und entfalten eine einleuchtende Kritik an der "kommunikationstheoretischen Wende" des Sozialdemokraten Habermas.

Kleines Adorno-ABC
Anhänger
Da ist zunächst die Gruppe von Akademikern, deren Nähe zu Adorno in Distanz zu seiner radikalen Gesellschaftskritik gründet. Als Hauptvertreter dieser Gruppe mag der Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas gelten, der den Begriff "Frankfurter Schule" prägte und zugleich deren Musterschüler wurde: Die kritische Theorie und ihre Diagnose vom Verblendungszusammenhang sei nicht normativ begründbar; statt um die Utopie der Versöhnung gehe es um die Verständigungsverhältnisse, um eine Verbesserung der Kommunikation: Wenn die Welt schon nicht vernünftig werde (beziehungsweise sei oder werden könne), so solle wenigstens vernünftig über sie gesprochen werden.
Kommunikation
Dem Versuch, kritische Theorie in eine Kommunikationstheorie zu überführen, um aus der Utopie der Versöhnung die realpolitische Forderung nach optimierten Verständigungsverhältnissen werden zu lassen, konnte Adorno nicht viel abgewinnen: "Die Kommunikation besorgt die Angleichung der Menschen durch ihre Vereinzelung."
Kritiker Adornos
Aus sozialdemokratischer Sicht Kritik an Adorno formulierten Theoretiker wie Jürgen Habermas, Albrecht Wellmer und Axel Honneth: Die Aporie des Verblendungszusammenhangs wird jedoch auf ein innertheoretisches Problem reduziert, wenn Habermas etwa feststellt, Adornos und Horkheimers "Dialektik. der Aufklärung" sei ihr "schwärzeste(s) Buch ( ... ), um den Selbstzerstörungsprozess der Aufklärung auf den Begriff zu bringen. ( ... ) Geleitet von Benjamins ironisch gewordener Hoffnung der Hoffnungslosen, wollten sie von der paradox gewordenen Arbeit des Begriffs gleichwohl nicht lassen. Diese Stimmung, diese Einstellung ist nicht mehr die unsere ( ... ) Die ,Dialektik der Aufklärung' wird dem vernünftigen Gehalt der kulturellen Moderne, der in den bürgerlichen Idealen festgehalten (und mit ihnen auch instrumentalisiert) worden ist, nicht gerecht."
Diese Auszüge wurden entnommen aus: Roger Behrens: Adorno?ABC, Leipzig 2003

Adornos Jünger

Zerlesen ist der Raubdruck,
den ich entstaube
nahe der Universität
im Antiquariat

Mit feinen Strichen
markiert und versehen
mit Randbemerkungen:
Verkehrung von Subjekt und Objekt

Ausrangiert
von einem,
den überwältigt hat:
die warenproduzierende Gesellschaft

Unnütz
für einen,
der schwadronieren will:
unsere Unternehmensphilosophie

Hektor Rottweiler

www.terz.org - 26.8.2003